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Kollegi Nr. 10 vom März 2011 - Kantonale Mittelschule Uri

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Lehrer und Lehrerinnen als „Übersetzer“<br />

Die didaktische Reduktion in der Unterrichtspraxis<br />

Von Ulrich Köchli<br />

Ich kann mich noch recht gut an<br />

den ersten Kontakt mit der Universität<br />

erinnern: Mein älterer Bruder<br />

nahm mich mit in eine Vorlesung<br />

über lineare Algebra für Studierende<br />

im ersten Semester. Meine<br />

Mathematik-Kenntnisse waren<br />

so schlecht nicht – Aufgabenstellungen<br />

nach „Schema F“, wo<br />

blosses Handwerk ohne Kür verlangt<br />

war, gingen mir eigentlich<br />

recht flott von der Hand. Aber was<br />

der Professor im voll besetzten<br />

Hörsaal in unglaublichem Tempo<br />

vorne an die Wandtafel mehr kritzelte<br />

denn schrieb, überforderte<br />

mich komplett. Da half auch die<br />

– wohl tröstend gemeinte – Bemerkung<br />

meines Bruders wenig, auch<br />

er verstünde die Hälfte nicht, auch<br />

er müsse das alles zuerst in Ruhe<br />

zuhause noch einmal durchgehen.<br />

Und damit sind wir bereits mitten<br />

im Thema: Unterrichtsinhalte müssen<br />

so weit vereinfacht werden,<br />

dass sie für die Schülerinnen und<br />

Schüler der jeweiligen Schultypen<br />

und Stufen verständlich und nachvollziehbar<br />

sind. Auf eine gewisse<br />

Art und Weise betätigt sich der Pädagoge<br />

jeder Stufe und Provenienz<br />

als „Übersetzer“. Er „übersetzt“ die<br />

jeweiligen Stoffe in verständliche<br />

Inhalte. Man nennt diesen Vorgang<br />

auch die didaktische Reduktion<br />

oder didaktische Transformation.<br />

Mein Mathematiklehrer am Gymnasium<br />

hat den Stoff offensichtlich so<br />

weit reduziert bzw. transformiert,<br />

dass Algebra grosso modo für mich<br />

verständlich war. Die im Grunde<br />

wohl immer noch hohe Reduktionsstufe<br />

an der Vorlesung für Erstsemestrige<br />

hatte meinen damaligen<br />

Verständnishorizont überschritten.<br />

Die didaktische Reduktion ist in jedem<br />

Unterrichtsfach des Gymnasiums<br />

Vorraussetzung des Unterrichtens,<br />

wie jede Lehrperson aus der<br />

entsprechenden fachdidaktischen<br />

Ausbildung weiss. Die in regelmässigen<br />

Abständen zu erarbeitenden<br />

Sachanalysen und methodisch-didaktischen<br />

Überlegungen<br />

im Rahmen von Übungslektionen<br />

oder Unterrichtspraktika konnten<br />

einem bisweilen schwer im Magen<br />

liegen. Zumal zu solchen Gelegenheiten<br />

im Fach Geschichte auch<br />

schon mal so randständige Themen<br />

wie „Die Entkolonialisierung<br />

der südamerikanischen Staaten<br />

in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“<br />

u.ä. didaktisch reduziert<br />

werden mussten. Welche Fakten<br />

sind relevant? Welches Vorwissen<br />

kann vorausgesetzt werden?<br />

Solche Fragen galt es zu beachten<br />

und die gewaltige Stoffmenge<br />

entsprechend „einzukochen“ und<br />

aufzuarbeiten, damit der Stoff für<br />

Schüler und Schülerinnen verständlich<br />

und aufnehmbar wurde.<br />

Dabei liegt auf der Hand, dass nur<br />

kompetent reduzieren kann, wer<br />

selber fundierte Kenntnisse in den<br />

jeweiligen Wissenschaften besitzt.<br />

Formelsprache<br />

Die Grundprinzipien der didaktischen<br />

Reduktion hat bereits der<br />

tschechische Philosoph Johann<br />

Amos Comenius (1592-1670) im 17.<br />

Jahrhundert festgehalten: „Schreite<br />

<strong>vom</strong> Nahen zum Entfernten, <strong>vom</strong><br />

Einfachen zum Zusammengesetzten,<br />

<strong>vom</strong> Leichten zum Schweren,<br />

<strong>vom</strong> Bekannten zum Unbekannten<br />

fort“, heisst es in einem seiner<br />

Hauptwerke, der „Didactica magna“<br />

(„Grosse Didaktik“) von 1632. Die<br />

moderne Didaktik unterscheidet im<br />

Wesentlichen zwischen „Reduktion“<br />

und „Transformation“. Mit ersterem<br />

meint man die Vereinfachung<br />

von umfangreichen, komplexen<br />

Wissensgebieten durch Weglassen<br />

von Inhalten. Alternativ wird<br />

dieses Vorgehen auch als „quantitative<br />

Reduktion“ oder als „vertikale<br />

Reduktion“ bezeichnet. Die<br />

didaktische „Transformation“ dagegen<br />

meint insbesondere die Umformung<br />

schwieriger Sachverhalte in<br />

andere Darstellungsformen. Dies<br />

kann beispielshalber geschehen<br />

durch die Verwendung von Bildern<br />

(Analogien, Metaphern), durch das<br />

Erarbeiten von Modellen und Skizzen,<br />

mittels konkreten Beispielen<br />

oder einfach auch, indem man etwa<br />

verständlichere Formulierungen<br />

gebraucht. Für „Transformation“<br />

werden auch die Begriffe „qualitative<br />

Reduktion“ oder „horizontale<br />

didaktische Reduktion“ verwendet.<br />

Bei allen Formen der didaktischen<br />

Reduktion gilt natürlich: Die Reduktion<br />

darf keinesfalls auf Kosten<br />

der fachwissenschaftlichen Korrektheit<br />

gehen, was mitunter auch<br />

eine Gratwanderung sein kann und<br />

jeder Lehrperson bekannt sein<br />

dürfte: Wie stark vereinfachen darf<br />

man zum Beispiel, um die Ursachen<br />

des Ersten Weltkrieges darzulegen,<br />

ohne sich dem Vorwurf der<br />

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