Kollegi Nr. 10 vom März 2011 - Kantonale Mittelschule Uri
Kollegi Nr. 10 vom März 2011 - Kantonale Mittelschule Uri
Kollegi Nr. 10 vom März 2011 - Kantonale Mittelschule Uri
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Die Römer übersetzen<br />
Während die Griechen in der Folge<br />
der Schriftübernahme ihre Literatur<br />
entwickelten, beschäftigten<br />
sich die Römer mit der Eroberung<br />
Italiens und kamen mit Literatur<br />
eigentlich erst in Kontakt, als sie<br />
nach Sizilien übersetzten. In den<br />
dort ansässigen Griechenstädten<br />
trafen sie auf für sie unbekannte<br />
Literatur und fanden Gefallen daran.<br />
Deshalb begann Livius Andronicus<br />
(284-204), ein griechischer<br />
Sklave aus Tarent, mit der Übersetzung<br />
griechischer Texte ins Lateinische:<br />
Es dauerte nicht lange, bis<br />
diese Kennenlernphase durch eine<br />
Konkurrenzphase abgelöst wurde.<br />
Schriftsteller wie Catull, Cicero,<br />
Ovid, Vergil oder Horaz verliessen<br />
den Weg der reinen Übersetzung<br />
und versuchten, ihre griechischen<br />
Vorbilder zu übertreffen.<br />
So wörtlich wie möglich,<br />
so frei wie nötig!<br />
Die Werke der Dichter, die selber<br />
aus einer Übersetzungs- und<br />
Weiterentwicklungstradition stammen,<br />
liegen heute auf den Pulten<br />
von SchülerInnen und werden<br />
ihrerseits übersetzt.<br />
In der englischen und französischen<br />
Sprache haben sich die<br />
lateinischen Begriffe transferre<br />
(translator, translation, to translate)<br />
und traducere (traducteur, traduction,<br />
traduire) erhalten. Diese<br />
Begriffe stehen in der lateinischen<br />
Grundbedeutung allerdings eher<br />
mit der Überwindung eines Hindernisses<br />
(z.B. eines Flusses) in Verbindung,<br />
als mit der Übertragung<br />
von einer Sprache in die andere.<br />
Dafür benutzte der Lateiner lieber<br />
convertere oder interpretari.<br />
Gerade der letzte Begriff impliziert<br />
in eine Übersetzung nicht nur die<br />
mechanische Wort-für-Wort-Übertragung<br />
von einer Sprache in die<br />
andere, sondern setzt auch voraus,<br />
dass ein Text verstanden und zu<br />
einem gewissen Mass auch gedeutet<br />
oder erklärt werden muss. Und<br />
genau hier liegt nun die Schwierigkeit<br />
des Übersetzens: Sollen<br />
möglichst alle Aspekte eines Ausgangstextes<br />
wie beispielsweise<br />
Satzmuster und Metaphern wortgenau<br />
wiedergegeben werden,<br />
um dem Original möglichst nahe<br />
zu bleiben? Oder soll die Übersetzung<br />
weitgehend an den heutigen<br />
Sprachgebrauch heranreichen, indem<br />
auch veränderte Lebensumstände<br />
und Sprachphänomene<br />
berücksichtigt werden? Der interpres<br />
steht hier also zwischen der<br />
Bindung an den Originaltext und<br />
die Anforderungen des Zielpublikums,<br />
zwischen „rückwärts oder<br />
vorwärts gerichtetem Übersetzen“:<br />
Entweder zeigt die Übersetzung<br />
die Charakteristika des Originals,<br />
bzw. der Sprache des Autors auf<br />
(rückwärts) oder entspricht möglichst<br />
dem heutigen Sprachfluss<br />
(vorwärts). Wie viel an Texteingriffen<br />
darf sich der interpres erlauben?<br />
Ein Beispiel dazu liefert<br />
Ovid (Metamorphosen X 262f):<br />
Pygmalion bringt seiner kunstvoll<br />
gestalteten Frauenstatue verschiedene<br />
Geschenke, darunter ab arbore<br />
lapsas / Heliadum lacrimas<br />
(„<strong>vom</strong> Baum geglittene Tränen der<br />
Heliaden“). Der Leser dieser Übersetzung<br />
wird jetzt wohl noch immer<br />
in Unkenntnis sein, was Pygmalion<br />
der Statue bringt. Das dürfte das<br />
Lesevergnügen wohl einschränken.<br />
Der interessierte Leser wird<br />
sich nun in einem Lexikon über<br />
die Bedeutung der Heliaden schlau<br />
machen und feststellen, dass die<br />
Heliaden Töchter des Sonnengottes<br />
Helios sind, die nach dem unglücklichen<br />
Absturz ihres Bruders<br />
Phaëton, der unerlaubterweise und<br />
auch ungelenk den Sonnenwagen<br />
gefahren hat, dessen Tod beweinen<br />
und sich in Pappeln oder Erlen<br />
verwandeln – und ihre Tränen in<br />
goldgelben Bernstein. Wäre es nun<br />
besser gewesen, den Vers direkt so<br />
zu übersetzen (Pygmalion brachte)<br />
„<strong>vom</strong> Baum geglittene Bernsteine“?<br />
Das wäre für den heutigen Leser<br />
sicherlich verständlicher, lässt aber<br />
ausser Acht, dass den Zeitgenossen<br />
Ovids absolut klar gewesen ist,<br />
welcher Mythos hinter den Heliaden<br />
steckt, und der Poet mit dem<br />
Wissen des Publikums spielte.<br />
Egal wie man die Frage nach der<br />
richtigen Übersetzung beantwortet:<br />
Sicher ist, dass eine Übersetzung,<br />
die <strong>vom</strong> interpres selber<br />
nicht verstanden wird oder<br />
sinnlos wirkt, wohl eher falsch ist<br />
und einer Überarbeitung bedarf:<br />
Troiani non armis, sed<br />
dolo superari debent.<br />
Die Trojaner lieben nicht,<br />
aber sie werden den Schmerz<br />
überwinden müssen.<br />
(Die Trojaner müssen nicht<br />
mit Waffen, sondern mit List<br />
überwunden werden.)<br />
Mos partium paulo ante Romae<br />
ortus est.<br />
Die Sitte des Gebärens war erst<br />
kurz vorher in Rom aufgekommen.<br />
(Die Gewohnheit, politische Parteien<br />
zu bilden, war erst kurz<br />
vorher in Rom entstanden.)<br />
Der eine oder die andere wird<br />
sich hier schmunzelnd an eigene<br />
Übersetzungserfahrungen<br />
– vielleicht auch in Latein<br />
oder Griechisch – erinnern.<br />
http://de.wikipedia.org/wiki/Griechische_Schrift<br />
7