Kollegi Nr. 10 vom März 2011 - Kantonale Mittelschule Uri
Kollegi Nr. 10 vom März 2011 - Kantonale Mittelschule Uri
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lungswelt der Lernenden angepasst,<br />
fachspezifische Methoden<br />
unterstrichen und Eigenarten der<br />
wissenschaftlichen Inhalte bewahrt<br />
werden. Wie es jeder Dolmetscher<br />
tut. Franz Hohler übersetzte mit<br />
Bedacht im Lied des französischen<br />
Dichters Boris Vian das Wort „Deserteur“<br />
mit „Dienstverweigerer“,<br />
wie er in einem Interview sagt:<br />
„Bei Boris Vian ist der Deserteur<br />
ganz klar definiert als jemand, der<br />
im Krieg aus der Armee flüchtet.<br />
Die Schweiz hat keine Krieg führende<br />
Ar mee, also habe ich einen<br />
Dienstverwei gerer daraus gemacht.<br />
Diese kleinen An passungen an unsere<br />
Realität haben mich immer<br />
gereizt.“ Übersetzen<br />
heisst<br />
ja immer<br />
auch interpretieren,<br />
deuten.<br />
Das Wort<br />
„deuten“ hat<br />
indessen zwei<br />
Seiten: Einerseits<br />
meint seine<br />
Grundbedeutung<br />
„dem Volk<br />
etwas verständlich<br />
machen“,<br />
etwas „dütsch<br />
und dütlich“ sagen, oder andererseits<br />
„auslegen“ oder gar „in die<br />
Zukunft blicken“. Beiden Bedeutungen<br />
folge ich nur zögerlich.<br />
Wir Lehrpersonen wissen oft nicht,<br />
wie die Lernenden den vermittelten<br />
Stoff verarbeiten und deuten. Mitunter<br />
nehmen wir es dann mit Erstaunen<br />
an Prüfungen zur Kenntnis!<br />
Aber eben: Schülerinnen und Schüler<br />
sind keine trivialen Maschinen<br />
wie ein Getränkeautomat: Hier<br />
weiss ich, was raus kommt, bei<br />
den Lernenden nicht, zumindest<br />
nicht immer - und das zum Glück.<br />
In der Tat sind die Resultate des<br />
gymnasialen Bildungsprozesses,<br />
der Output des Gymnasiums, wie<br />
es heisst, nicht in allen Teilen<br />
mess- und fassbar. Im Gegenteil:<br />
Manchmal erinnert der Bildungsgang<br />
an das bekannte Wortkettenspiel<br />
oder das Entstehen von Gerüchten<br />
oder urbanen Legenden im<br />
Internet. Dies irritiert. Insbesondere<br />
manchmal Eltern, mehr noch<br />
Bildungspolitiker. Um es gleich<br />
klarzustellen: Harmonisierungen im<br />
Schulwesen sind notwendig, ebenso<br />
Standards: Vergleiche können<br />
die Schulqualität verbessern, die<br />
Transparenz zum Bespiel der Benotung<br />
der Lehrpersonen und die<br />
Leistungen der Lernenden erhöhen.<br />
Sicher kann damit die Arbeit<br />
der Schule gegenüber der Öffentlichkeit<br />
besser legitimiert werden.<br />
Allzu oft interpretieren<br />
wir das Verhalten der anderen<br />
nach unseren eigenen<br />
Vorstellungen und<br />
Deutungsmustern, allzu<br />
oft suchen und finden wir<br />
Zusammenhänge, wo vielleicht<br />
keine sind. Dies versperrt<br />
uns den Blick aufs<br />
Andere, Neue, Fremde.<br />
Sonderfälle und Ausnahme sind schwieriger<br />
zu erklären und zu begründen als Regeln und<br />
Standards. Aber das macht lediglich einen<br />
Teil der gymnasialen Bildung aus. Im Gegensatz<br />
zur Uniformität und zum Benchmarking<br />
braucht es die Förderung der Differenz und<br />
der Diversität. Fachkompetente Lehrpersonen<br />
führen die Lernenden in Fachbereiche ein,<br />
in ihre spezifischen Inhalte und Methoden.<br />
Die Schülerinnen und Schüler lernen damit<br />
den Umgang mit unterschiedlichen Wissenschaftssprachen<br />
und Sprachspielen. Sie lernen,<br />
Differenzen dort einzuführen wo nicht<br />
differenziert wird, wie dies oft in der heutigen<br />
Medienwelt geschieht. Solche Bildung<br />
entspräche der heutigen Welt, - einer Welt<br />
voller Klippen und Kanten, voller Turbulenzen<br />
und Paradoxien, reich an unvorhersehbarem<br />
Neuem und Durcheinander<br />
von Verschiedenartigem.<br />
Das verlangt neben<br />
blitzschneller visueller<br />
und intellektueller Auffassungsgabe<br />
auch rasches<br />
Antizipieren, Kombinieren<br />
und gewitztes Switchen.<br />
Der Umgang mit<br />
Diversität ist schwierig<br />
und anforderungsreich,<br />
für die Lernenden,<br />
für die Lehrpersonen und<br />
für die Schulleitung.<br />
Allzu oft interpretieren wir<br />
das Verhalten der anderen nach unseren eigenen<br />
Vorstellungen und Deutungsmustern,<br />
allzu oft suchen und finden wir Zusammenhänge,<br />
wo vielleicht keine sind. Dies versperrt<br />
uns den Blick aufs Andere, Neue, Fremde.<br />
Nein, in das Innere des Gegenübers haben<br />
wir keinen unmittelbaren Zugang, ausser<br />
übers Wort, so wie es in der schönen<br />
Parabel Wittgensteins steht: „Angenommen,<br />
es hätte Jeder eine Schachtel, darin<br />
wäre etwas, was wir ›Käfer‹ nennen. Niemand<br />
kann je in die Schachtel des Andern<br />
schaun; und Jeder sagt, er wisse nur <strong>vom</strong><br />
Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist.“<br />
Vielleicht müssten wir weniger deuten, sondern<br />
vermehrt einfach übersetzen, so wie<br />
es das lateinische Wort interpretari ursprünglich<br />
meint. Weniger zwischen den<br />
Zeilen lesen, sondern die Zeichen selbst<br />
lesen und sie sprechen lassen, das Wort<br />
beim Wort nehmen, - es geht ums„Hinüber-<br />
Setzen“, die Überquerung, die Zuwendung<br />
zum Anderen, was grosses Einfühlungsvermögen<br />
und grosse Sensibilität voraussetzt,<br />
für alle, Schülerinnen, Schüler,<br />
Lehrpersonen und Schulleitung.<br />
Man sieht einmal mehr das Jahresmotto<br />
„übersetzen“ ist mehrdeutig, dafür<br />
zeugen auch die Artikel und die Bilder<br />
in dieser Nummer. Die Vieldeutigkeit<br />
soll nicht zuletzt ausdrücken, dass das<br />
Gymnasium sich nicht nur an den<br />
konkreten Zielen orientiert, sondern<br />
auch einen Raum der Reflexion darstellt.<br />
Das Poetische, das Prosaische und<br />
das Technische – bilden das Geschäft<br />
des Gymnasiums.<br />
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