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Vor der Barackentür rutscht die Frau vom Sozialamt aus. Sie hat Mühe sich auf<br />
den Beinen zu halten. Ihre Wildlederstiefel tanzen eine Art Step, bis sie sich<br />
wieder gefangen hat. Schlecht gestreut, denkt die Frau vom Sozialamt. Die<br />
Asche ist im Eis eingebacken, schon seit Tagen. Wahrscheinlich kommt die<br />
Töpfert nur noch selten vor die Tür. Ob sie jetzt noch schläft? Gleich ist<br />
Mittag. Da ist ein Mensch, der auf sich hält, aus dem Bett. Auch dann, wenn er<br />
nicht mehr im Erwerbsleben steht. Aber ich kann mir denken, warum sie den<br />
halben Tag verschläft.<br />
…Hier geht´s <strong>weiter</strong>:<br />
An der Barackentür schaut die Frau vom Sozialamt auf den Namen, der in<br />
Sütterlinschrift unbeholfen aufs nackte Holz gekritzelt ist: Eveline Töpfert. Die<br />
Frau vom Sozialamt will heftig klopfen, als die Barackentür aufgerissen wird.<br />
Zwei Mädchen, die Mäntel und Schals unterm Arm, stürzen verlegen und mit<br />
roten Gesichtern heraus. Sie stürzen wirklich: Nacheinander purzeln sie die<br />
schlinderbahnglatte niedrige Treppe hinunter. Ein Nein kommt aus der Baracke.<br />
Ein Nein, das wiederholt wird, abgehackt, hintereinander gesprochen ist, jetzt<br />
als gedämpfter Aufschrei verklingt. Die Mädchen bleiben einige Sekunden liegen.<br />
Sie schauen in den Barackenflur zurück, als ob sie etwas erwarteten. Ihre<br />
Gesichter sind grüblerisch, versuchen zu begreifen.<br />
Die Frau vom Sozialamt hilft mit einer Hand den Mädchen auf. Na, wie heißt ihr<br />
denn? fragt sie. Sie fragt ohne Grund. Aus beruflicher Gewohnheit fragt sie<br />
immer zuerst nach dem Namen. Marlies, sagt das magere blonde Mädchen.<br />
Hedda, sagt die rundliche Schwarzhaarige. Die beiden Mädchen ziehen ihre<br />
Mäntel über und bleiben da stehen, wo sie hingefallen sind. Der Blick geht zum<br />
einzigen Fenster der Baracke. Die Frau vom Sozialamt betritt den Barackenflur.<br />
Sie zieht schnuppernd die Luft durch die Nase. Es riecht nach mancherlei. Nach<br />
Schmierseife. Nach gekochtem Grünkohl. Nach Kohlenstaub.
Aber es riecht nicht nach dem, was die Frau erwartet hat. Vielleicht gleich,<br />
denkt sie. Gleich werde ich es spüren. Hallo! ruft die Frau vom Sozialamt. Aus<br />
der Tür zum Küchenverschlag kommt langsam und gebückt Frau Töpfert. Nein!<br />
sagt sie in den dämmrigen Flur hinein, dessen offene Tür nach draußen in die<br />
verschneite Landschaft hinaus sie zunächst blendet. Nein! sagt sie. Ihr sollt<br />
nicht mehr wiederkommen! Ich kann euch nicht mehr - -! Da merkt Frau Töpfert,<br />
daß die Schritte im Flur nicht von den Mädchen stammen. Jetzt erkennt sie die<br />
Frau vom Sozialamt. Was wollen Sie? fragt Frau Töpfert. Ich wollte Sie vor dem<br />
Fest noch besuchen, Frau Töpfert, wegen Ihrer Eingabe, wegen Ihres Briefes an<br />
unser Amt.<br />
Ja, die Eingabe, erinnert sich Frau Töpfert. Vor drei Wochen - - kommen Sie<br />
doch rein, bitte. Frau Töpfert öffnet die an zwei Lederschlaufen hängende Tür<br />
zum zweiten Raum dieser Baracke. Das Zimmer sieht groß aus, weil wenig darin<br />
ist. Ein Wohn-Schlafzimmer, offenbar aus Sperrmüllsammlungen möbliert. Ein<br />
ausgedienter Diwan mit einem glattgebürsteten synthetischen Fell. Zwei<br />
verschiedenförmige Sessel. Ein Ausziehtisch, dem die Ausziehflächen fehlen.<br />
Ein Radio aus der Nierentisch-Zeit mit Zierleisten und magischem Auge. Ein<br />
Kanonenofen, davor in einer Waschpulver-Papptonne zerbröselnde Eierkohlen.<br />
Setzen Sie sich doch, Frau --? Heideck, sagt die Frau vom Sozialamt. Darf ich<br />
Ihnen einen Tee? fragt Frau Töpfert. Die Frau vom Sozialamt wehrt rasch ab.<br />
Nein, sagt sie. Ich kann nur kurz hierbleiben. Hab´ noch ein Dutzend <strong>weiter</strong>er<br />
Fälle, ich meine, Besuche zu machen. Sie verstehen. Jetzt kurz vor Weihnachten.<br />
Ja, ich verstehe, sagt Frau Töpfert und setzt sich ein wenig schräg in den<br />
quietschenden Sessel; sie kennt die Stelle, an der sie nicht zu tief einsinkt. Die<br />
Frau vom Sozialamt blickt prüfend auf Frau Töpfert. Die alte Frau trägt ein<br />
Kleid, das bessere Zeiten erlebt hat und jetzt als Küchenkittel herhalten muß.<br />
Sie sucht jetzt in Frau Töpferts Gesicht und sieht rötliche Flecken auf den<br />
Backenknochen, sieht Ansätze von Tränensäcken, sieht Augen von kränklichem<br />
Glanz. Es stimmt überein, denkt die Frau vom Sozialamt. Ihre Eingabe, Frau<br />
Töpfert. Ich soll da noch ein bisschen nachfragen. Darum bin ich zu einem<br />
Schwätzchen bei Ihnen. Sie schreiben, daß Sie so um die sechzig Mark im Monat<br />
mehr von uns bekommen müßten, um einigermaßen leben zu können. Warum sind<br />
es gerade die sechzig Mark? Ich bin gespannt, welche Ausreden Frau Töpfert<br />
sich zurechtgelegt hat. Was wird sie sagen? Es wird alles teurer, wird sie sagen.
Ich kann wegen meiner Diabetes keine normal gezuckerten Sachen essen. Und<br />
Diät- Lebensmittel kosten fast das Doppelte. Ich bin so - allein, sagt Frau<br />
Töpfert stockend. Und da --! Aha, jetzt beginnt das Bekenntnis, denkt die Frau<br />
vom Sozialamt. Sie ist so allein, sagt sie. Die alte Töpfert ist ans heimliche<br />
Trinken geraten, wie viele alleinstehende Frauen. Das fängt mit dem<br />
Magenbitter vorm Schlafengehen an und hört mit dem Schuß Rum in jede Tasse<br />
Tee nicht auf. Und schließlich braucht man das tägliche Quantum, wenigstens ein<br />
Viertelliter Schnaps. Für zwei Mark gibt's die flache Flasche Korn oder<br />
Wacholder. Das Ganze mit dreißig multipliziert, und dann weiß man, wie sich die<br />
fehlenden sechzig Mark im Monat zusammenläppern. Kann ich der Frau vom<br />
Sozialamt alles erzählen? denkt Eveline Töpfert. Kann ich ihr sagen, wie es mit<br />
Marlies und Hedda zustande kam?<br />
Wo sind die Mädchen jetzt? Frau Töpfert steht mühsam auf und geht mit<br />
schweren Bewegungen zum Barackenfenster. Marlies und Hedda stehen immer<br />
noch da. Sie haben ihre Wollschals um den Kopf gewickelt und die Mantelkragen<br />
hochgeschlagen. Manchmal trampeln die Mädchen auf der Stelle. Jetzt sehen sie<br />
die alte Frau am Fenster. Trotzig schauen sie zu ihr auf. Frau Töpfert humpelt<br />
zurück und läßt sich in den Sessel fallen. Ihre Hände auf den Lehnen zittern. Sie<br />
zittert, denkt die Frau vom Sozialamt. Auch ein Zeichen. Zwar kann ich noch<br />
immer keinen Alkohol riechen, aber vielleicht nimmt sie nach einem kräftigen<br />
Schluck eine Tablette, die den Geruch überlagern soll? Vor drei Jahren sind<br />
Marlies und Hedda zum erstenmal gekommen, denkt Frau Töpfert. Ihre Eltern<br />
hatten sie geschickt. Die Mädchen brachten ein Bügeleisen zurück, das ich zur<br />
Reparatur gegeben hatte.<br />
Als ich Marlies und Hedda einlud, etwas Grießmehlpudding zu essen, sind sie eine<br />
Weile bei mir geblieben. Sie haben munter drauflos erzählt. Von ihrer Schule,<br />
ihren Lehrern, ihren kindlichen Abenteuern. Zum erstenmal seit Jahren war<br />
wieder jemand zu mir gekommen. Es sprach wieder jemand zu mir, sprach richtig<br />
mit mir und nicht so wie die Stimmen in meinem Radio. Schnuckelige<br />
Plaudertaschen, so habe ich Marlies und Hedda genannt und sie gebeten, bald<br />
wiederzukommen. Ein paar Tage später waren sie auch wieder bei mir. Sie sagen<br />
ja nichts, Frau Töpfert! mahnt die Frau vom Sozialamt. Was soll ich sagen? fragt<br />
Frau Töpfert. Die sechzig Mark. Warum Sie sechzig Mark zusätzlich brauchen.<br />
Sie haben uns geschrieben, daß ihr Haushaltungsgeld um sechzig Mark zu knapp<br />
ist.
Haben Sie irgendwelche Sonderausgaben?<br />
Ja, man muß kaufen, sagt Frau Töpfert.<br />
Was kaufen?<br />
Ja, Menschen, sagt Frau Töpfert dumpf.<br />
Der Blick der Frau vom Sozialamt wird noch schärfer, noch kontrollierender.<br />
Was redet die alte Frau daher? Ist das greisenhaftes Daherreden oder sind das<br />
schon die Folgen ihrer Trunksucht? Menschen kaufen! Marlies und Hedda kamen<br />
wieder, denkt Frau Töpfert. Sie standen im Barackenflur und drucksten herum,<br />
als ich sie bat, in dieses Zimmer zu kommen. Und Marlies, die von den beiden<br />
immer ein bißchen vornweg ist, sagte: Wir sind gern bei dir, Oma Töpfert. Aber<br />
weißt du, wir können nicht so ohne <strong>weiter</strong>es eine Stunde bei dir bleiben. Wir<br />
geben einigen Schülern aus den unteren Klassen Nachhilfeunterricht in Rechnen<br />
und Englisch. Und man bezahlt uns dafür. Jedem achtzig Pfennig für die Stunde.<br />
Das müßten wir auch von dir haben, Oma Töpfert.<br />
Jeder von uns müßte für eine Stunde bei dir achtzig Pfennig kriegen. Frau<br />
Töpfert, damit kann ich mich nicht zufriedengeben, mit Ihrer merkwürdigen<br />
Antwort von Menschenkaufen, sagt die Frau vom Sozialamt. Ja, aber es kostet<br />
doch alles was, heute, sagt Frau Töpfert dumpf. Und sie denkt: Ich hatte Angst,<br />
Marlies und Hedda würden sofort wieder gehen, und ich wäre wieder allein mit<br />
den Radio-Stimmen. Und weil ich mich an das angenehme Sprechen und Nahesein<br />
der Kinder gewöhnt hatte, mochte ich sie nicht mehr missen. Ich zahlte ihnen<br />
achtzig Pfennig, sobald sie auf der Schwelle standen, in die offene Hand. Jedem<br />
Mädchen achtzig Pfennig. Dann kamen sie herein und waren fröhlich und<br />
erzählten. Sie kamen schließlich jeden Tag und verdienten sich ihr Geld. Sie<br />
erzählten immer neue Geschichten und so viele, dass wahrscheinlich eine Menge<br />
davon erfunden war. Sie strengten sich richtig an für ihren Lohn.<br />
Und nach einigen Monaten verlangten sie von mir eine Erhöhung ihres<br />
Stundengeldes, weil auch der Betrag für die Nachhilfestunden aufgestockt<br />
worden sei. Und so ging es mit den Zuschlägen allmählich <strong>weiter</strong>. Aus den achtzig<br />
Pfennig wurde eine Mark, dann eine Mark fünfzig. Und seit einem halben Jahr<br />
sind es für jedes Mädchen zwei Mark. Das sind die sechzig Mark, Frau Heideck<br />
vom Sozialamt! Aber werden Sie das verstehen? Kann ich Ihnen das erzählen?<br />
Die Frau vom Sozialamt steht auf. Es hat keinen Zweck, sagt sie. Das ist keine<br />
brauchbare Auskunft für meinen Bericht. Damit komme ich nicht <strong>weiter</strong>. Frau<br />
Töpfert bleibt sitzen.
Heute erst, denkt sie. Heute erst hatte ich den Mut, Marlies und Hedda<br />
wegzuschicken. Sie verlangten von mir im voraus den doppelten Betrag an<br />
Stundengeld, wenn sie auch Weihnachten zu mir kommen sollten.<br />
Weihnachtstarif, sagten sie. Das ist überall so üblich, Oma Töpfert, überall, wo<br />
Menschen Weihnachten arbeiten müssen! - Und da habe ich nein gesagt. Da<br />
konnte ich nicht anders und habe zu Marlies und Hedda nein gesagt. Ich bin<br />
nicht froh über dieses Nein. Aber ich bin auch nicht traurig darüber. Doch, ich<br />
bin traurig, wenn ich denke, daß ich Weihnachten wieder allein bin. Die Frau vom<br />
Sozialamt sieht den gesenkten Kopf von Frau Töpfert, spürt etwas von der<br />
Verlorenheit der alten Frau. Die Stimme der Beamtin wird weicher. Ich komme<br />
nach den Festtagen noch einmal wieder, Frau Töpfert. Wenn Sie sich -- wenn Sie<br />
sich etwas gefaßt haben und ich etwas mehr Zeit mitbringe, ja?<br />
Ja ja, sagt Frau Töpfert. Nach den Festtagen, Zeit mitbringen ... Aber die Frau<br />
vom Sozialamt ist schon aus dem Zimmer. Sie hat eine Kehrschaufel mit Asche<br />
neben dem Kanonenofen mit hinausgenommen. Von der Schwelle der Baracke aus<br />
streut sie die Asche auf die vereisten Treppenstufen und auf den Weg bis zur<br />
Gartentür, an den beiden Mädchen vorbei, die noch immer auf das Fenster<br />
blicken, als warteten sie auf einen Wink.<br />
Titel: Frau Töpfert verweigert den<br />
Weihnachtstarif<br />
Autor: Josef Reding<br />
Aus:<br />
Geschichten vom anderen Weihnachten.<br />
Hrsg. v. Regine Hildebrandt. - Freiburg,<br />
1996, S. 147-153.