2009 Journalistenpreis Osteuropa - Siegerbeiträge - Renovabis
2009 Journalistenpreis Osteuropa - Siegerbeiträge - Renovabis
2009 Journalistenpreis Osteuropa - Siegerbeiträge - Renovabis
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<strong>Journalistenpreis</strong><br />
<strong>Osteuropa</strong> <strong>2009</strong><br />
Beiträge<br />
der Preisträger<br />
Die Aktion der<br />
evangelischen Kirchen<br />
mit den Menschen in<br />
Mittel- und <strong>Osteuropa</strong>
In der Sowjetunion war der Tod ausgemerzt, sozusagen liquidiert.<br />
Im raubkapitalistischen Russland war und ist das Leben noch immer<br />
nicht viel wert. Leonid Winogradow beschreibt einen Antihelden,<br />
der dem Sterben Sinn verleiht, den Schmerz der Sterbenden lindert<br />
und der Gesellschaft ein Stück Würde zurückgibt.<br />
Matei Martin zwingt uns zum Nachdenken über spannende,<br />
weil zuvor nie gestellte Fragen: Ist Literatur nicht immer auch<br />
Erinnerung und Bewältigung? Und: Dürfen wir also Ost- und<br />
Westliteratur voneinander trennen, gleichsam in<br />
unterschiedliche Schubladen stecken?<br />
Aus der Laudatio von Andreas Braun,<br />
ehemaliger Chefredakteur Sonntag Aktuell und<br />
<strong>Osteuropa</strong>experte der Stuttgarter Zeitung
„Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“ und <strong>Renovabis</strong><br />
verleihen auch <strong>2009</strong> wieder gemeinsam den<br />
<strong>Journalistenpreis</strong> <strong>Osteuropa</strong>.<br />
Mit diesem Wettbewerb sollen vor allem<br />
junge osteuropäische Journalistinnen und Journalisten gefördert<br />
und zu einem kritikfähigen Journalismus ermutigt werden.<br />
Die Verleihung des Preises findet in festlichem Rahmen<br />
am Mittwoch, 30. September <strong>2009</strong>,<br />
im „Fruchtkasten“ des Landesmuseums Württemberg,<br />
Schillerplatz 1, in Stuttgart statt.<br />
Wir beglückwünschen die Preisträger<br />
Matei-Marcel Martin und Leonid Winogradow.<br />
Ihre Beiträge haben beide gleich überzeugt.<br />
Deshalb teilen sie sich den diesjährigen <strong>Journalistenpreis</strong>.<br />
Unser Dank geht auch an die Jurorinnen und<br />
Juroren und an den Laudator unseres Wettbewerbs.<br />
Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel<br />
Direktorin von „Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“<br />
Pater Dietger Demuth C.Ss.R.<br />
Hauptgeschäftsführer von <strong>Renovabis</strong>
Die Juroren<br />
des <strong>Journalistenpreis</strong>es <strong>Osteuropa</strong><br />
Pfarrer Klaus Möllering<br />
Evangelische Medienakademie/Journalistenschule, Berlin<br />
Karsten Frerichs<br />
epd – Evangelischer Pressedienst, Zentralredaktion, Redaktion Nachrichten, Frankfurt<br />
Bernhard Rude<br />
Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp), München<br />
Caroline Schulke<br />
KNA – Katholische Nachrichten-Agentur, Auslandsredaktion, Bonn<br />
Dr. Thomas Gutschker<br />
Rheinischer Merkur, Redaktion Außenpolitik, Bonn<br />
Matthias Echterhagen<br />
n-Ost-Netzwerk für <strong>Osteuropa</strong>-Berichterstattung e.V., Geschäftsführer, Berlin<br />
Yvonne Ayoub<br />
Diakonisches Werk der EKD – Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong><br />
Öffentlichkeitsarbeit und Werbung, Stuttgart<br />
Burkhard Haneke<br />
<strong>Renovabis</strong>, Abteilung Kommunikation und Kooperation,<br />
Geschäftsführer, Freising<br />
Inge Bell<br />
Fernsehjournalistin, Leipzig<br />
Arnd Brummer<br />
chrismon – Das evangelische Magazin, Chefredakteur, Frankfurt<br />
4
Die prämierten Beiträge<br />
des <strong>Journalistenpreis</strong>es <strong>Osteuropa</strong> <strong>2009</strong><br />
Ein Arzt, der mit seinen Märchen<br />
das Leid mildert<br />
von Leonid Winogradow<br />
Der Beitrag ist im September 2008 auf dem<br />
russisch-orthodoxen Internetportal<br />
www.neskuch.ru erschienen.<br />
Kann man das Leben genießen, wenn man<br />
jeden Tag mit dem Tod konfrontiert ist? Viele werden<br />
diese Frage mit Nein beantworten. Unser Titelheld<br />
hat jedoch schon seit über 30 Jahren jeden<br />
Tag mit todkranken Menschen zu tun. Er kann<br />
ihnen nicht mehr auf die Beine helfen und versucht<br />
nun wenigstens ihren Schmerz zu lindern, hilft<br />
ihnen, sich auf den Tod vorzubereiten. Dabei ist es<br />
für ihn nicht einfach, Freude am Leben zu finden.<br />
Der habilitierte Doktor der Medizin, der Psychotherapeut<br />
des Hospizes von St. Petersburg Andrej<br />
Wladimirowitsch Gnesdilow, ist mit seinen 68 Jahren<br />
ein großes Kind geblieben. Einen bedeutenden<br />
Platz nehmen in seiner Psychotherapie … Märchen<br />
und Puppen ein.<br />
Der fremde Schmerz des Balu-Arztes<br />
Stellen Sie sich einen verschlossenen, schüchternen<br />
Jungen vor, der die Kommunikation mit seinen Altersgenossen<br />
durch eigene Fantasien ersetzt. Alle um<br />
ihn herum schlagen Alarm: Das Kind lebt in einer<br />
virtuellen Welt und ist zum Leben nicht bereit. Alle<br />
versuchen das in ihre eigenen Vorstellungen mit aufzunehmen.<br />
Genauso war Andrej Wladimirowitsch in<br />
seinen Kinderjahren. Seine Fantasien hat Andrjuscha<br />
aufgezeichnet – so entstanden seine ersten Märchen.<br />
Bereits seit mehr als 30 Jahren heilt er mit eigenen<br />
Märchen die seelischen Wunden seiner Patienten.<br />
Die Patienten des Kinderkrankenhauses haben ihn<br />
Doktor Balu genannt zu Ehren des Bären Balu aus<br />
dem Dschungelbuch. Dieser Name, den ihm die Kinder<br />
gegeben haben, wurde sein Schriftstellername.<br />
Seit 1973 arbeitet er mit Krebspatienten. Seine<br />
erste Patientin war eine Frau, die er, damals ein Arzt<br />
des Psychoneurologischen Instituts W. M. Bechterew,<br />
für einen onkologischen Eingriff vorbereitet hatte.<br />
Sie wusste, dass sie diesen Eingriff braucht, konnte<br />
jedoch ihre Angst nicht überwinden und sich ins<br />
Krankenhaus bringen lassen: Alleine bei dem Gedanken,<br />
dort bleiben zu müssen, ging es ihr schlecht. Ihre<br />
Bekannten rieten ihr, einen Psychotherapeuten aufzusuchen,<br />
und erst nach den Gesprächen mit Doktor<br />
Gnesdilow konnte die Frau ihre Angst überwinden.<br />
Bei seinen Besuchen im Krankenhaus hat Andrej<br />
Wladimirowitsch Dutzende solcher leidenden Menschen<br />
gesehen und verstanden, dass die Mehrheit der<br />
Krebspatienten psychotherapeutische Hilfe braucht.<br />
Bald wurde extra für Gnesdilow am Onkologischen<br />
Institut die Arbeitsstelle eines Psychoneurologen<br />
geschaffen, die er zehn Jahre lang innehatte.<br />
1990 wurde im Küstenstadtbezirk Lachta in St. Petersburg<br />
das erste Hospiz in Russland gegründet und<br />
Doktor Gnesdilow übernahm dort die Leitung. Die<br />
ersten Mitarbeiter des Hospizes waren Volontäre aus<br />
der Gesellschaft „Miloserdie“ (russisch für „Barm-<br />
5
herzigkeit“), die der Schriftsteller Daniil Granin 1980<br />
gegründet hatte. Andrej Wladimirowitsch fuhr mit<br />
seinen Kollegen nach England, um aus dortigen Erfahrungen<br />
zu lernen, danach kamen die Engländer<br />
nach Lachta zu Besuch. Heute gibt es in Russland<br />
mehr als hundert Hospize und viele der Organisatoren<br />
besuchten St. Petersburg, um die Erfahrungen<br />
von Gnesdilow sowie seine kunsttherapeutischen<br />
Methoden kennenzulernen.<br />
Die psychotherapeutischen Märchen stützen sich<br />
auf Geschichten, die die Patienten über sich selbst<br />
erzählen, und der Arzt macht aus diesen Geschichten<br />
Märchen. Das Erzählte entwickelt sich in dem<br />
Märchen anders als im wahren Leben. Darauf zu<br />
kommen, dass es um eine „korrigierte“ Biografie<br />
geht, ist unmöglich. Die Art der Darstellung ist wie<br />
in einem richtigen Märchen: Es geht um alte Zeiten,<br />
erdichtete Länder, geheimnisvolle Namen, Zauberer<br />
und Wunder.<br />
Von den üblichen Märchen unterscheiden sie sich<br />
dadurch, dass „die Andeutungen und die Lehren für<br />
die braven Kinder“ nur derjenige Kranke versteht,<br />
dem das konkrete Märchen gewidmet ist. Nur er und<br />
der Verfasser wissen, was für eine Lebenstragödie<br />
hinter diesen Fantasien steckt. So erlahmen im Märchen<br />
„Traum“ bei dem romantischen Mädchen Talia<br />
die Beine. Für immer ans Bett gefesselt, lernt sie in<br />
einem Traum einen wunderschönen Prinzen auf einem<br />
märchenhaften Pferd kennen. Einmal erfährt<br />
Talia in einem Traum, dass der Prinz in Wirklichkeit<br />
ihr Leidensgenosse, ein Junge namens Ton ist, der<br />
kranke Beine hat. Dieses Märchen wurde für ein<br />
Mädchen geschrieben, das mit 18 Jahren im Hospiz<br />
gestorben ist. Es hat dieses Märchen einem jungen<br />
Mann erzählt, der hier auch im Sterben lag und bald<br />
wurden beide enge Freunde.<br />
„Solche Märchen helfen den Menschen, die Lage,<br />
in der sie sich befinden, zu begreifen und zu akzeptieren.<br />
Vielen Patienten hat ein Märchen, das ihr<br />
Leben neu interpretierte, geholfen, die eigene Lage<br />
anzunehmen und Leiden ertragen zu können“, so<br />
Gnesdilow.<br />
In seinem eigenen Leben war es kein Märchen,<br />
sondern ein Gedicht, das ihn in seiner Kindheit stark<br />
beeindruckte und das er schließlich verwirklichte.<br />
Wenn der kleine Andrjuscha nicht einschlafen konnte,<br />
setzte sich seine Mutter ans Klavier und sang Balladen.<br />
Den empfindsamen Junge beeindruckte insbesondere<br />
ein Gedicht von A. N. Tolstoj:<br />
Der Zarentochter ist es bange<br />
Der Glöckner kommt, um sie zu holen<br />
Und wieder still im altem Schlossturm<br />
Der Tod schleicht hin, das Licht bedeckend<br />
„Das Gedicht habe ich mir sofort gemerkt“, erinnert<br />
sich der Doktor. „Und ich habe beschlossen: Ich<br />
brauche eine Zarentochter …, eine kranke … Die<br />
ständige Konfrontation mit dem Tod wurde zu<br />
meinem Beruf. Und ein Schloss errichtete ich bei<br />
mir zu Hause.“<br />
Der Natur nach ein Märchenerzähler sammelte er<br />
alte Sachen, wie Glocken, Harnische, Helme, und<br />
häufte sie in einem Türmchen in seiner alten Petersburger<br />
Wohnung an. Dieses Türmchen sieht heute<br />
wirklich wie ein Schloss aus. Als er eine Blaubart-<br />
Puppe geschenkt bekam, erhielt das Türmchen einen<br />
neuen Namen: das Blaubart-Schloss. Dort betreibt<br />
Gnesdilow Image-Therapie mit den Verwandten der<br />
Patienten und mit dem Heilpersonal des Hospizes.<br />
Diese verkleiden sich, treten zum Spiegel und betrachten<br />
ihre neue Gestalt.<br />
Wie kann jedoch die Verkleidung dem Verwandten<br />
eines Schwerkranken helfen? Ist es nicht ein Betrug?<br />
Viele haben gewiss schon die Erleichterung verspürt,<br />
die man erfährt, wenn man mit einem verständnisvollen<br />
Menschen über Gefühle sprechen kann, die einen<br />
über eine lange Zeit sehr belastet haben. Hier geschieht<br />
das Gleiche: Die in einem Gespräch geäußerten oder<br />
in Zeichnungen zum Ausdruck gebrachten und bei der<br />
Gestaltung einer neuen Kleidung verarbeiteten schweren<br />
Gefühle und Ängste, die einen Menschen insgeheim<br />
quälen, werden bloßgelegt und lassen sich so<br />
überwinden. Manchmal, wenn der Arzt eine neue Gestalt<br />
vorschlägt, hilft er dem Menschen zu verstehen,<br />
dass in ihm nicht alles stirbt. Als ob er sagen würde:<br />
Du bist mehr als deine Krankheit und dein leidender<br />
Körper. Für viele, besonders für Religionslose, ist das<br />
eine wahre Offenbarung, die Hoffnung bringt.<br />
Die Puppen sind wie die Menschen<br />
In seiner Sammlung zu Hause hat er auch etwa 200<br />
Designerpuppen. Manche davon sind gekauft, die<br />
6
meisten aber sind Geschenke von Designern und sogar<br />
extra für Gnesdilow angefertigt. Regelmäßig<br />
werden eine oder auch mehrere Puppen ins Hospiz<br />
gebracht, weil sie ja keine Spielzeuge sind. Eine personenbezogene<br />
Puppentherapie ist eine weitere seiner<br />
Therapien. „Für einen Kranken ist die Puppe ein<br />
Bote aus seiner Kindheit. In jedem Menschen lebt<br />
ein Kind und er überträgt die Gestalt des Arztes auf<br />
die Puppe mit der Natürlichkeit eines Kindes“, erzählt<br />
der Arzt. Als Beweis für seine Worte führt er<br />
wie immer ein Beispiel aus eigener Erfahrung an.<br />
Ein 23-jähriges Mädchen erfuhr von einem Krebsarzt,<br />
dass es sterben muss. Nachdem es nach Hause<br />
gegangen war, legte sich das Mädchen ins Bett und<br />
begann auf den Tod zu warten: Es wollte nicht essen,<br />
nicht trinken, mit niemandem sprechen. Die Eltern<br />
waren verzweifelt und holten Andrej Wladimirowitsch<br />
zu ihrer Tochter. Dort erinnerte er sich, dass<br />
er in seiner Tasche die Puppe des Prinzen dabei hatte,<br />
holte sie heraus und gab sie der Sterbenden. „Was<br />
ist das?“, fragte das Mädchen überrascht. „Ich bin<br />
der Prinz, der Nussknacker, hab’ über dein Unglück<br />
erfahren und bin gekommen, um Dir zu dienen“, antwortete<br />
er. „Und Du wirst mich nicht verlassen?“ –<br />
„Nein. Ich bleib bei Dir für immer“, antwortete der<br />
Arzt, ließ die Puppe da und ging. Das Mädchen ist<br />
bald darauf gestorben, mit der Puppe in ihren Händen.<br />
„Ich habe verstanden, dass ich bei ihr bleiben<br />
und ihr helfen sollte, ihr Leiden durchzustehen, ich<br />
konnte es aber nicht“, erinnert sich Doktor Gnesdilow.<br />
Der Arzt kann nicht Tag und Nacht am Bett<br />
eines Kranken bleiben, doch der Mensch braucht bei<br />
seinen Leiden wenigstens ein Zeichen, dass es jemanden<br />
gibt, der ihn unter keinen Umständen verlassen<br />
wird.<br />
Die älteren Leute vermitteln häufig den Eindruck,<br />
dass sie es nicht gemerkt haben, dass man ihnen eine<br />
Puppe ins Bett gelegt hat. Nach einer bestimmten<br />
Zeit aber, wenn Gnesdilow versucht, ihnen die Puppe<br />
wegzunehmen, geben sie sie nicht zurück.<br />
Mit den Puppen spielen nicht nur konfessionslose<br />
Menschen, sondern auch die, die wissen, dass Gott<br />
stets bei ihnen bleibt. Darin steckt ein Rätsel. Psychologen<br />
sagen, dass die Puppe für den Kranken häufig<br />
das Bedürfnis nach jemandem symbolisiert, mit<br />
dem man alles – Freude und Schmerz – teilen kann<br />
und vor dem man nichts zu verbergen hat (es ist doch<br />
schwierig, auch den Allernächsten alles zu sagen:<br />
Man hat oft Angst, ihnen weh zu tun, man klagt nicht<br />
gerne vor ihnen). Ein Kranker ist aber sehr oft wie<br />
ein Kind. Und häufig reichen eigene Seelen- und<br />
Geisteskräfte einfach nicht aus, um zu beten. Allen,<br />
die zu ihm nach Hause zu Beratungsstunden kommen,<br />
schlägt Andrej Wladimirowitsch zuerst vor,<br />
sich eine Puppe auszusuchen. Und immer hat diese<br />
Puppe Ähnlichkeit mit dem, der sie ausgesucht hat.<br />
In der Sammlung des Petersburger Arztes, der mit<br />
seinen Puppen heilt, gibt es Könige, Königinnen,<br />
Prinzen und Prinzessinnen aus unterschiedlichen<br />
Epochen. Sie werden von den jungen Patienten des<br />
Hospizes bevorzugt, da sie sich trotz ihrer Krankheit<br />
weiter mit Jugend und Schönheit identifizieren.<br />
Es ist selten, aber es kommt auch vor, dass man<br />
mit eigenen Puppen ins Hospiz kommt. Eine alte<br />
Frau brachte einen violettfarbenen Teddybären mit<br />
und spielte gerne mit ihm. „Darüber, dass die Alte<br />
mit einem Teddybär spielt, hat keiner gelacht. Er<br />
war für sie eine Verbindung zur Vergangenheit und<br />
sie fühlte sich nicht so einsam“, erinnert sich der<br />
Doktor.<br />
Zum Glauben kommt man durch Liebe<br />
Andrej Wladimirowitsch ist überzeugt: Ohne seinen<br />
Glauben würde er diese Arbeit nicht verkraften können.<br />
Er betont mehrmals, wie stark ihn seine Mutter,<br />
die bekannte Bildhauerin Nina Slobodinskaja, beeinflusst<br />
hat. Sie war eine tief religiöse Frau, die auch<br />
unter den Sowjets religiöse Skulpturen modellierte,<br />
selbst wenn ihr das nur Ärger gebracht hat.<br />
Doktor Gnesdilow glaubt, dass diese Skulpturen<br />
zu den besten Werken seiner Mutter gehören: Christus<br />
Acheiropoietos (Mandylion), ein Gipsbasrelief<br />
von einem „Christus-Kopf“, eine Kopie davon befindet<br />
sich in der Fjodorowski Zarenkathedrale in<br />
Zarskoje Selo; die Darstellungen der Gottesmutter<br />
wie „Die Rührung“ und „Die Schutzpatronin von Leningrad“<br />
– in einem halbrunden Tor sperrt die Gottesmutter<br />
mit ihren Händen den Stadteingang, eine solche<br />
Darstellungsweise fehlt in der Ikonenmalerei; die<br />
Skulptur wurde zum Andenken an die Blockade geschaffen,<br />
die seine Mutter zusammen mit dem kleinen<br />
Andrjuscha miterlebt hat, sowie ein Kruzifix.<br />
7
Leonid Winogradow wurde am 7. Juli 1964<br />
in Moskau geboren. Er studierte an der Moskauer<br />
Hochschule für Wirtschaft und Statistik. 1988 bis<br />
1993 arbeitete er als Programmierer und 1994 bis<br />
1997 als Grundstücksmakler. Seit 1997 ist er im<br />
Journalismus tätig. Er war auch bei den Zeitschriften<br />
„Mir kartotschek“, „Elitnoje Obrasowanie“, „Promyschlennik<br />
Rossii“, „Moja Moskwa“ und bei der<br />
Föderalen Nachrichtenagentur beschäftigt. Seit September<br />
2004 ist er Korrespondent der Zeitschrift „Neskutschnyj Sad“ und der Webseite<br />
„Miloserdie ru“. Der Autor lebt und arbeitet in Moskau. <br />
„Es entstand ein Christus, der nicht nur leidet, sondern<br />
auch ruft: ,Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt<br />
und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch<br />
Ruhe verschaffen’“, erzählt Gnesdilow. Da sie viel<br />
„für die Schublade“ gearbeitet hat, verstand seine<br />
Mutter sehr gut, wie schwierig es für einen Künstler<br />
ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wohl deswegen<br />
schickte sie ihren Sohn nicht in einen künstlerischen<br />
Zirkel oder in ein Kunststudio. Er trat in die<br />
Fußstapfen seines Vaters, der Leiter des Lehrstuhls<br />
für Biologie und Parasitenkunde bei der Militärmedizinischen<br />
Akademie war. Und die von seiner Mutter<br />
geerbte Liebe zur Kunst verwirklichte er in seiner<br />
Art-Therapie.<br />
Als Doktor Gnesdilow mit den onkologischen Patientinnen<br />
zu arbeiten begann, gehörte er noch nicht<br />
der Kirche an, glaubte aber an Gott. „Den Atheismus<br />
habe ich immer für Aberglauben gehalten. Ist doch<br />
die Welt nicht ganz von selbst entstanden!“ In den<br />
atheistischen 1970er-Jahren konnte er es sich als Psychotherapeut<br />
erlauben, mit den Kranken über Gott zu<br />
sprechen. Auch zu jener Zeit verstanden viele, dass<br />
der Glaube die beste Psychotherapie für die Überwindung<br />
der Todesangst ist: „Wenn ein Sterbender<br />
glaubt, dass er nach dem Tod verschwindet, verschwindet<br />
auch seine Aussicht auf einen zukünftigen<br />
Raum. Wenn man ihm aber über das Reich Gottes<br />
erzählt und er daran glaubt, dass er nicht vor dem<br />
Verschwinden, sondern vor dem Übergang in ein anderes<br />
Leben steht, dann dehnt sich der betreffende<br />
Raum aus.“<br />
Aus Erfahrung durch die Kontakte zu Sterbenden<br />
weiß Doktor Gnesdilow, dass religiöse Menschen ruhiger<br />
und in einer größeren Harmonie mit der Welt<br />
und mit sich selbst aus diesem Leben gehen. Er hält<br />
es für sehr wichtig, dass zum Todeszeitpunkt des<br />
Kranken seine Nächsten anwesend sind. Der Tod<br />
gleicht seiner Meinung nach der Geburt und ebenso<br />
wie es in der frühen Kindheit ganz wichtig ist, die<br />
Wärme liebender Hände zu spüren, so ist es auch<br />
leichter aus dem Leben zu gehen, wenn man sich in<br />
liebenden Händen spürt.<br />
„Für jedermann ist es wichtig, sich auf diese oder<br />
jene Weise mit dem Tod zu beschäftigen, zu sehen,<br />
was er ist. Wenn ein Mensch nicht in einem verwirrten<br />
Seelenzustand ist, aber ein tiefes Verständnis für<br />
den Sinn des Todes hat, so können auch wir, die wir<br />
bei ihm sind, spüren, dass der Tod kein Schrecknis,<br />
sondern ein Sakrament ist.“ Andrej Wladimirowitsch<br />
erinnert sich, wie einmal der Vater einer Familie im<br />
Sterben lag und neben ihm seine Frau und seine Kinder<br />
saßen und sich mitquälten. Die Ärzte und die<br />
Schwestern wussten nicht, wie sie sie unterstützen<br />
sollten. Jemand vom Personal hat ihnen dann eine<br />
Bibel gegeben. Sie begannen mit halblauter Stimme<br />
zu lesen. Einige Stunden später kamen sie auf Zehenspitzen<br />
aus dem Zimmer und sagten im Flüsterton:<br />
„Er ist gegangen.“ Auf ihren Gesichtern war keine<br />
Spur von Verzweiflung mehr: Sie haben den Tod als<br />
ein Sakrament wahrgenommen. Dabei haben sie<br />
möglicherweise die Bibel zum ersten Mal in der<br />
Hand gehabt.<br />
8
Ein Malermeister hat zu Doktor Gnesdilow einmal<br />
gesagt: „Es ist egal, wo ich sterbe, wichtig ist,<br />
dass ich mit einem Gebet sterbe.“ Nicht alle Patienten<br />
sind in einem körperlichen Zustand, um zu beten,<br />
daher ist es wichtig, dass jemand neben ihnen ein<br />
Gebet spricht. „Ein tönendes Gebet, das eingeschaltete<br />
Licht, das den Sterbenden umstrahlt und ihm in<br />
der schwierigsten Minute, im Augenblick des Übergangs<br />
hilft ...“ Deswegen ist es im Hospiz zu einer<br />
Tradition geworden: Wenn jemand im Sterben liegt,<br />
sitzen die Caritasschwestern neben ihm und beten<br />
(wenn er nicht gegen Gott und gegen die Kirche eingestellt<br />
ist, dann beten sie laut). Die Schwesterngemeinschaft<br />
zu Ehren der Heiligen Märtyrerin Jelisaweta<br />
Fjodorowna wurde 1994 dank der Bemühungen<br />
des Priesters Artemij Temirow gegründet, der heute<br />
Chefarzt des Krankenhauses der Glückseligen Xenia<br />
von Petersburg ist.<br />
Es ist bekannt, dass einige Ärzte, Krankenschwestern<br />
und Volontäre sehr danach Streben, alle Patienten<br />
zum Glauben zu bekehren. Wenn man mit Sterbenden<br />
zu tun hat, dann ist die Versuchung besonders<br />
stark: Wie kann man es lassen, den Menschen nicht<br />
zu retten? Zum Arbeiter der elften Stunde kann man<br />
aber auch nur freiwillig werden. Das Beispiel der<br />
Schwestern mit den Kreuzchen auf den Kopftüchern,<br />
die sich ohne Ekel um die Patienten sorgen, hilft vielen<br />
Patienten, die eigene Lage zu akzeptieren. Andrej<br />
Wladimirowitsch erzählt, wie vorsichtig man den<br />
Kranken zum Glauben führen muss: „Die erste Reaktion<br />
der meisten, die von ihrer Krankheit erfahren, ist<br />
ein Schock. In diesem Augenblick darf man keinesfalls<br />
versuchen, den Menschen von irgendetwas zu<br />
überzeugen. Er braucht eher unser Mitgefühl, das<br />
Gefühl, dass wir sein Unglück, seine Verzweiflung<br />
oder seine Angst teilen. Nach dem Schock kommt die<br />
Zeit der Verdrängung der Angst, es keimt Hoffnung<br />
auf. In diesem Stadium versuchen viele, sich zu Gott<br />
zu bekennen, jedoch oft nur mit dem Wunsch, die<br />
Heilung zu „kaufen“. Danach erscheinen Aggression<br />
und Protest: Wofür werde ich so bestraft? Und zum<br />
Gegenstand dieser Aggression werden nicht nur die<br />
Menschen, die ihn umgeben und die angeblich an<br />
seiner Erkrankung schuld sind, sondern auch er<br />
selbst. Das ist ein sehr gefährliches Stadium: Wenn<br />
man nicht rechtzeitig medizinische und psychotherapeutische<br />
Hilfe leistet, kommen Gedanken an Selbstmord<br />
auf. Der Aggression folgt schließlich die Depression:<br />
Der Mensch ist verzweifelt, verabschiedet<br />
sich von allen. Seltsamerweise können gerade nach<br />
der Depression Friede und die Akzeptanz des eigenen<br />
Schicksals eintreten. (Dieses Stadium kommt jedoch<br />
nicht von alleine, hier wird die Hilfe eines erfahrenen<br />
Arztes oder der feinfühligen Krankenschwestern gebraucht.)<br />
Und erst dann beginnt der Mensch, nach<br />
dem Sinn des Unglücks, das ihn getroffen hat, und<br />
überhaupt nach dem Sinn des Lebens zu suchen.<br />
Bei einer schweren Krankheit gibt es fast unvermeidlich<br />
die Zeit, in der das eigene Leben sinnlos<br />
erscheint, die Vernunft jedoch die Sinnlosigkeit der<br />
Welt nicht akzeptieren kann. Die Sinnlosigkeit einer<br />
Welt, wo jedes Stäubchen die Naturgesetze vorführt,<br />
die der Mensch nicht geschaffen hat, sondern nur entdecken<br />
darf. Die Aufgabe der Ärzte und der Nächsten<br />
ist es dabei, dem Menschen zu helfen, ehe er an der<br />
Grenze der Verzweiflung ist, wo alles sinnlos zu sein<br />
scheint. Und wenn der Mensch versteht, dass die<br />
Welt einen vernünftigen Anfang hat, dann bleibt nur<br />
ein Schritt, um diesen Anfang als Gott zu bezeichnen.<br />
Wenn es Gott gibt, dann gibt es keinen Tod, und wenn<br />
es den Tod gibt, dann gibt es keinen Gott. Diese Alternative<br />
ist ein Anreiz zur Suche nach einer geistigen<br />
Tür. Das richtige, von Herzen kommende Gespräch<br />
mit Gott geschieht in einer Phase, in der der<br />
Mensch einen geistigen Anfang findet. Damit diese<br />
Phase eintritt, ist von den Umgebenden viel Taktgefühl<br />
erforderlich. Wenn der Mensch nicht gläubig ist<br />
und sich bei Gesprächen über Gott verschließt, so ist<br />
die Pflicht des Arztes, ihm dennoch zu helfen, sich<br />
auf irgendwas zu stützen, was für ihn im Laufe seines<br />
Lebens von Wert war. Für manche sind das die Familie,<br />
die Kinder, für die anderen ist es die Lieblingsbeschäftigung.<br />
Manche schätzen es, dass sie Teil des<br />
Lebens, des Jahreszeitenwechsels, der Schönheit der<br />
Natur sind.<br />
Die tödliche Krankheit hilft vielen zum ersten<br />
Mal über Gott nachzudenken und das freut Doktor<br />
Gnesdilow und seine Kollegen immer. Die meisten,<br />
die im Hospiz beschäftigt sind, werden mit der Zeit<br />
gläubig.<br />
Die Caritasschwestern arbeiten auch mit den Kindern,<br />
deren Eltern im Hospiz gestorben sind. Es gibt<br />
schon etwa dreißig solcher Kinder. Darunter sind<br />
Vollwaisen, die in einem speziellen Haus bei der<br />
9
Schwesternschaft leben, die übrigen Kinder verbringen<br />
dort ihre freie Zeit nach der Schule. Am Wochenende<br />
und in der Ferienzeit unternehmen die<br />
Schwestern mit den Kindern Ausflüge oder Pilgerfahrten.<br />
Ohne Burn-out<br />
Im Westen gelten vier bis fünf Jahre als optimale<br />
Beschäftigungszeit in einem Hospiz. Danach ist<br />
man ausgebrannt. Theoretisch ist Gnesdilow damit<br />
einverstanden, in der Praxis aber … In Russland<br />
ist die Arbeit in einem Hospiz bis heute<br />
noch keine Prestigearbeit: Es fehlen ständige<br />
Sponsoren, das Gehalt ist klein, weitere Perspektiven<br />
fehlen. Deswegen arbeiten hier viele<br />
Caritasschwestern schon seit dem ersten Tag,<br />
das heißt seit bereits 18 Jahren. Andrej Wladimirowitsch<br />
selbst arbeitet schon mehr als 30 Jahre<br />
lang mit onkologischen Patienten und betont immer<br />
wieder, wenn er durchhält (und er denkt, er<br />
hält nur gerade so durch), dann nur dank seines<br />
Glaubens. „Wir vergessen, dass wir bei jedem<br />
Appell an Gott unbedingt eine Antwort bekommen<br />
werden. Mich tröstet und leitet der Gedanke,<br />
dass ich Gott wie das Leben selbst brauche,<br />
ich denke jedoch auch immer daran, dass auch<br />
Gott mich braucht. Das ist das Erhabene, womit<br />
man rechnen kann: zu begreifen, dass Gott Dich<br />
braucht und dass Er über Dich den anderen<br />
helfen kann.“<br />
Oft wollen diejenigen, die in ihrem Beruf etwas<br />
Herausragendes geleistet haben, nicht, dass<br />
ihnen ihre Kinder und Enkelkinder nachfolgen.<br />
Die Tochter von Doktor Gnesdilow ist Kunstwissenschaftlerin,<br />
sie studiert Bildhauerei, mit<br />
der sich ihre Großmutter ihr ganzes Leben lang<br />
beschäftigt hat. Sein Enkelkind ist jetzt zwei<br />
Jahre alt. Auf die Frage, ob er will, dass sein Enkelkind<br />
in der Zukunft im Hospiz arbeitet oder<br />
ob er ihm ein solch schweres Kreuz niemals<br />
wünschen würde, antwortet der Arzt, der mit<br />
seinen Märchen das Leid mildert: „Es ist ein<br />
schweres jedoch segenspendendes Kreuz. Unsere<br />
Patienten bringen uns das bei, was uns kein<br />
anderer Mensch beibringen könnte. Die Begegnung<br />
mit ihnen, ihr Leben und ihre Kümmernisse<br />
kennenzulernen sind unschätzbar.“ Es scheint,<br />
dass Doktor Gnesdilow von einem Burn-out<br />
noch weit entfernt ist. <br />
10
Im Osten nichts Neues<br />
von Matei Martin<br />
Dieser Artikel ist im Januar <strong>2009</strong><br />
in der Monatszeitschrift „Dilemateca“<br />
erschienen.<br />
Die Literatur aus dem Osten Europas hat seit<br />
Kurzem Einlass zum westlichen Buchmarkt erhalten.<br />
Es ist ein neues Phänomen: Bis noch vor nicht allzu<br />
langer Zeit konnte man weder in Paris noch in Rom<br />
und nicht einmal in Berlin die Übersetzung einer Neuerscheinung<br />
aus einem ehemaligen kommunistischen<br />
Land finden. Ausnahmen waren sicherlich die bekannten<br />
Dissidenten Adam Michnik, Václav Havel und einige<br />
andere zeitgenössischen Klassiker. Für die Autoren<br />
ist diese Öffnung ein Segen. Beinahe zwanzig<br />
Jahre nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges ist<br />
das Eis auch auf dem Buchmarkt endlich gebrochen.<br />
Die Minderwertigkeitskomplexe und die West-Besessenheit<br />
der Schriftsteller aus dem Osten werden gerade<br />
jetzt, in einem Europa ohne Grenzen, aufbereitet …<br />
Die Himmelsrichtung spielt beinahe keine Rolle mehr,<br />
dafür werden aber die Vergangenheit und ihre Fiktionalisierung<br />
zu aktuellen Kriterien.<br />
Vor drei Jahren, beim Festival „Tage und Nächte der<br />
Literatur“ in Neptun am Schwarzen Meer, lautete das<br />
von Nicolae Manolescu gewählte Thema: „Europäische<br />
Erwartungen an die Literatur der neuen EU-Mitgliedsländer“.<br />
Die eingeladenen Schriftsteller – einige<br />
aus dem Osten, andere aus dem Westen – haben ihre<br />
Erfahrungen ausgetauscht und sind zu dem vorhersehbaren<br />
Schluss gekommen, dass der Westen keinerlei<br />
Erwartungen an die Literatur aus dem Osten stellt: Von<br />
etwas Unbekanntem kann man nichts erwarten. Inzwischen<br />
haben sich die Gegebenheiten etwas verändert,<br />
denn Bücher von Autoren aus dem Osten sind – wenigstens<br />
auf den internationalen Buchmessen, wenn<br />
nicht auch in Buchhandlungen – gefragt. Was hat das<br />
Interesse der Leser aus dem Westen geweckt? Vielleicht<br />
gerade die Aufnahme dieser Länder in das, was<br />
allgemein als „Westen“ bezeichnet wird, also die Europäische<br />
Union. Die „alten“ Europäer wollen sehen,<br />
wie es um die „neuen“ Europäer steht.<br />
Die Frankfurter Buchmesse 2008 hat diese Öffnung<br />
bestätigt. In den letzten Jahren haben das Rumänische<br />
Kulturinstitut, das Kultusministerium und nicht zuletzt<br />
die Verlage die zeitgenössische Literatur verstärkt<br />
beworben. Ob zufällig oder kalkuliert – sie haben auf<br />
zeitgenössische Prosa gesetzt und (vor allem) auf Autoren,<br />
die über ihr Leben im kommunistischen Regime<br />
schreiben. Die Strategie – wenn es denn eine war –<br />
war erfolgreich. „Zum ersten Mal haben Verleger aus<br />
dem Ausland nach rumänischen Autoren gesucht“,<br />
sagt Silviu Lupescu, Leiter des Verlags Polirom. Lucian<br />
Dan Teodorovici vom selben Verlag nennt auch<br />
Zahlen: In den letzten drei Jahren habe er 50 Lizenzen<br />
an ausländische Verlage verkauft. Der Westen sucht<br />
zeitgenössische Prosa: „Kleine Finger“ von Filip Florian,<br />
„Die Wissenden“ von Mircea Cartarescu, „Unser<br />
Sonderberichterstatter“ von Florin Lazarescu, „Das<br />
Hühnerparadies“ von Dan Lungu usw.<br />
Die Besessenheit nach internationaler Anerkennung<br />
ist im Grunde ein Zeichen der lokalen Nichtanpassungsfähigkeit.<br />
Der rumänische Autor ist auf der<br />
Suche nach Märkten; er hofft, dass er, in einer Pariser<br />
Buchhandlung angekommen, mehr verkauft und dadurch<br />
sein Bekanntheitsgrad steigt. Dabei sind die<br />
Auflagen der übersetzten Bücher sehr klein, gerade<br />
auch im Vergleich mit dem heimischen Buchmarkt.<br />
Eine Veröffentlichung im Ausland setzt aber vor allem<br />
Akzente im Herkunftsland: Durch den Bumerangeffekt<br />
steigt mit jeder Veröffentlichung im Ausland<br />
die Verkaufsquote des Autors im Inland.<br />
Die Vergangenheit, ein wertvolles Trauma<br />
„Über den rumänischen Kommunismus habe ich am<br />
meisten aus der Literatur erfahren. Die Fiktion sagt<br />
mehr, als es ein Geschichts- oder ein soziologisches<br />
Buch sagen können“. Dieser Meinung ist Alistair Ian<br />
Blyth, der viele Bücher aus dem Rumänischen ins<br />
Englische übersetzt hat. In der Tat ist die Literatur ein<br />
sehr nützliches Mittel der Vergangenheitsbewältigung.<br />
Da es an Politikern oder Institutionen mangelt, die ex-<br />
11
Matei Martin wurde am 20. Juni 1978 in Bukarest<br />
geboren. Er studierte Politikwissenschaften und<br />
Jura in der Universität Bukarest. Seit 2000 arbeitet<br />
er als Redakteur für verschiedene Medien, u. a. beim<br />
Wochenmagazin „Dilema Veche“ und dessen Literaturbei<br />
lage „Dilemateca“. Seit Februar 2006 macht<br />
er als Kulturkorrespondent eine tägliche Sendung bei<br />
Radio France Internationale Rumänien. Außerdem<br />
schreibt Martin als freier Journalist u. a. für „Esquire“ und die französischsprachige<br />
Monatszeitschrift „Regard“. 2008 erhielt er den Preis für Kulturjournalismus des<br />
Rumänischen Presseclubs. Der Autor lebt und arbeitet in Bukarest. <br />
plizit die Erinnerungskultur des Kommunismus verwalten,<br />
spielt die Literatur fast überall im ehemaligen<br />
Ostblock die Rolle einer besseren Erinnerungsstütze.<br />
Eine vor Kurzem an der Freien Universität Berlin<br />
durchgeführte Studie hat den Lehrern, die die Lehrpläne<br />
erstellen, die rote Karte gezeigt: 600 von 750 befragten<br />
Schülern der 10. und 11. Klasse sagten, sie<br />
wüssten fast nichts über die ehemalige DDR. Viele<br />
von ihnen hatten nicht einmal von der Berliner Mauer<br />
gehört; über zehn Prozent glaubten, Helmut Kohl habe<br />
die DDR nach 1989 regiert, und das ist noch nicht alles:<br />
Viele Schüler konnten den Unterschied zwischen<br />
Demokratie und Diktatur nicht erklären. Jörg Magenau,<br />
ein bekannter Literaturkritiker der Nach-89-Generation,<br />
ist der Meinung, dass weniger die Lehrpläne<br />
als vielmehr die Lokalbehörden daran Schuld seien,<br />
da sie alles dafür getan hätten, die Spuren der ehemaligen<br />
DDR aus den Stadtbildern verschwinden zu lassen.<br />
So seien die Straßen, die die Namen der Gründer<br />
des Kommunismus trugen, umbenannt, die Statuen<br />
von ihren Sockeln entfernt, in Berlin sei die Mauer<br />
abgerissen und vor Kurzem der Palast der Republik<br />
komplett abgetragen worden. Auf den Straßen erinnere<br />
fast nichts mehr an früher, die DDR hätte sich in die<br />
Geschichtsbücher zurückgezogen. Jörg Magenau verweist<br />
die jungen Ahnungslosen aber nicht auf die Geschichtsbücher,<br />
sondern auf die zeitgenössische Literatur:<br />
In den letzten zehn bis zwölf Jahren wurde in<br />
Deutschland sehr viel über die nahe Vergangenheit geschrieben.<br />
Nach dem Fall der Mauer verspürten die<br />
Autoren aus Ostdeutschland das Bedürfnis, ihren<br />
Landsleuten aus dem Westen zu erzählen, was sie<br />
durchgemacht haben und / oder wie sie sich mit der<br />
Übergangszeit arrangiert haben. Die gegenseitige Entdeckung<br />
durch die Literatur – auch einige Autoren aus<br />
dem Westen haben angefangen, ihre Vorstellungen<br />
über ein Leben im Osten niederzuschreiben – war sehr<br />
wichtig für die Versöhnung mit der Vergangenheit und<br />
das Zusammenwachsen Deutschlands.<br />
Der Kommunismus zwischen Fiktion<br />
und Realität<br />
Wäre diese Geschichte exportfähig? Ja. Vor allem,<br />
nachdem sich die Ostalgie zu einem klaren Trend entwickelt<br />
hat, erfahren die persönlichen Geschichten<br />
aus der kommunistischen Zeit im Westen eine größere<br />
Nachfrage. Das Interesse wird vor allem durch den<br />
politischen Kontext geweckt: Bei der letzten EU-Erweiterung<br />
wurden zwei Länder Mitglieder, über deren<br />
Kultur nichts oder beinahe nichts bekannt war. In der<br />
Literatur wird der Kommunismus zu einer mythologischen,<br />
von seltsamen Figuren bevölkerten Landschaft.<br />
Jörg Magenau meint, es dauere normalerweise 200 bis<br />
300 Jahre, bis die Geschichten „aufgegangen“ und zu<br />
Legenden angewachsen seien. „Die Geschichte des<br />
Kommunismus ist jedoch viel schneller gereift“ – weil<br />
die Menschen in den ehemaligen sozialistischen Ländern<br />
in einer mythologisierten Beziehung zum Staat<br />
und den politischen Anführern standen. Die Realität,<br />
in der sie lebten, war so zerbrechlich, dass sie eine<br />
Stütze benötigten; die Literatur aus dieser Gegend ist<br />
wahrscheinlich deshalb so interessant, weil sie an den<br />
Gelenken dieses Mythensystems zu rütteln versucht.<br />
12
Der Kommunismus ist in allererster Linie eine persönliche<br />
Geschichte, deshalb sind die meisten Romane<br />
autobiografisch.<br />
Wojciech Kuczok und die totalitäre Peitsche<br />
Teilweise autobiografisch ist auch Wojciech Kuczoks<br />
Roman „Dreckskerl“. Teilweise, da der Autor mehr<br />
auf das Erdichten der Vergangenheit setzt als auf das<br />
Erinnern. Seine Vorgehensweise ist programmatisch<br />
und durch und durch literarisch. Der erwachsene Kuczok<br />
versucht aus Erinnerungsbruchstücken die Welt<br />
der Kindheit zu rekonstruieren – eine unglückliche,<br />
traumatische Kindheit, der es aber dennoch nicht an<br />
Zärtlichkeit mangelt. Der Roman besteht aus eigenständigen<br />
Episoden, die beinahe unabhängig voneinander<br />
dastehen und in denen der Autor die komplizierten<br />
Verhältnisse zwischen den Familienmitgliedern<br />
verfolgt. In der Familie herrscht eine angespannte<br />
Stimmung, die von einem strengen, autoritären und<br />
gewalttätigen Vater dominiert wird, der sich mithilfe<br />
von Faust und Peitsche durchsetzt. Der kühle, ironische<br />
und klare Stil ist exemplarisch für diesen „Familienroman“;<br />
Wojciech Kuczok analysiert seine Kindheit<br />
und ihre Traumata ähnlich einem Archäologen,<br />
der irgendwelche uralte Artefakte entdeckt hat … Die<br />
Familiendramen legen sich über die Dramen der Geschichte<br />
und lassen den Roman mit einem unvorhersehbaren<br />
Epilog enden.<br />
„Für mich hat sich der Kommunismus wie eine<br />
Haut über die Kindheit gelegt, sodass ich mich nicht<br />
in einen Krieg mit der Vergangenheit begeben kann.<br />
Ich habe eine Anti-Biografie geschrieben, weil ich<br />
mich gegen das Schlechte in der Biografie auflehnen<br />
wollte, ich wollte ein Trauma verarbeiten. Andererseits<br />
ist diese Anti-Biografie eine Montage aus Negativbildern.<br />
Ich habe mit den Bildern, die nicht mehr<br />
benutzt wurden, die geheim gehalten wurden, eine Art<br />
Familienalbum erstellt. Dieses Buch ist eine Anti-Biografie<br />
und ein Anti-Familienalbum.“<br />
„Dreckskerl“ ist im Grunde eine Form des Exorzismus<br />
oder eine Art Therapie, denen sich der Autor<br />
selbst unterzieht. Der Vater, der alte K., ist ein Verweis<br />
auf Kafkas Prosa, auf das absurde Leben im Totalitarismus,<br />
auf die willkürliche Autorität in der kommunistischen<br />
Zeit. „Ich kann ihnen jedoch sagen, dass ich<br />
mit zunehmendem Alter bezüglich der Kindheit immer<br />
nostalgischer wurde. Ich sehne mich nach der<br />
Kindheit, nicht nach dem Kommunismus“, sagt Wojciech<br />
Kuczok.<br />
Wojciech Kuczok ist Lyriker, Prosa- und Drehbuchautor<br />
sowie Filmkritiker. 1999 debütierte er mit<br />
dem Kurzgeschichtenband „Gehörte Geschichten“,<br />
für den er den Preis des Vereins der Buchverleger aus<br />
Polen erhielt. Seine neueste Veröffentlichung ist ein<br />
Roman mit dem Titel „Schläfrigkeit“; der Roman<br />
„Dreckskerl“ stand wiederum Pate für das Filmdrehbuch<br />
„Peitschenspuren“.<br />
„Die Rezeption meiner Bücher variiert selbstverständlich<br />
von Land zu Land. Ich habe festgestellt, dass<br />
sich die Menschen in Rumänien sehr für den autobiografischen<br />
Aspekt und für das Verhältnis zur Vergangenheit<br />
interessieren. In Deutschland waren die Leser<br />
vor allem an den Bezügen zu Schlesien interessiert.<br />
Ich glaube, man kann zusammenfassend eine Tendenz<br />
feststellen: Im Westen richtet sich das Interesse vor<br />
allem auf die Analyse des Familienlebens, im Osten<br />
sind die Leser an den Bezügen zum kommunistischen<br />
System interessiert.“<br />
György Dragoman und der perfide Terror<br />
György Dragoman ist nicht am historischen Realismus<br />
interessiert, er schafft es aber, in seinem Puzzle-<br />
Roman „Der weiße König“ ein überzeugendes literarisches<br />
Bild der Machtstrukturen zu liefern. „Ich wollte<br />
ein im psychologischen Sinn realistisches Buch schreiben,<br />
ich wollte untersuchen, wie Angst und Unterdrückung<br />
parallel zur Freiheit existieren können“, so<br />
der Autor. Der in 18 Kapitel, in 18 eigenständige Geschichten<br />
unterteilte Roman handelt von den Abenteuern<br />
des kleinen Dzsata, eines elfjährigen Jungen. Er ist<br />
kein Huckleberry Finn. Dzatas Abenteuer sind mal komisch,<br />
mal dramatisch, sie finden alle in der Zeit der<br />
Diktatur statt, in einer Zeit, in der ein Witz das ganze<br />
Leben ändern, eine Beschwerde direkt ins Gefängnis<br />
oder ins kommunistische Arbeitslager führen konnte.<br />
Die Gesellschaft, in der Dzsata lebt, lässt das Rumänien<br />
der 80er-Jahre erkennen. Durch den literarischen<br />
Filter erzählt, hat diese Vergangenheit aber keine klare<br />
geografische Verortung mehr, die Lebenserfahrungen<br />
im Kommunismus werden schnell zu Anhaltspunkten<br />
für die ganze Region. Wie persönlich auch immer das<br />
von Dragoman beschriebene Universum sein mag,<br />
Dzsata schwirrt in einem Überall-Nirgendwo umher,<br />
in der kalten und nebligen Welt hinter dem Eisernen<br />
13
Vorhang; die Figuren „navigieren“ in einer Welt, die<br />
zugleich lustig und dunkel ist. Sie sind fröhlich, aber<br />
die Atmosphäre ist sehr dicht, beschwert von einer unabwägbaren<br />
Spannung.<br />
György Dragoman wurde 1973 in Tirgu-Mures, im<br />
Westen Rumäniens, geboren. 1988 ist er mit seiner Familie<br />
nach Ungarn ausgewandert. Er ist Literaturwissenschaftler<br />
und schreibt an einer Doktorarbeit über<br />
Samuel Becketts Prosa. Seinen ersten Roman, „Das<br />
Buch der Öffnung“, veröffentlichte er 2002; er handelt<br />
ebenfalls vom Kommunismus. Das Theaterstück „Nirgendwo“,<br />
2003 entstanden, und der Roman „Der weiße<br />
König“, 2005 veröffentlicht, haben ihm mehrere Literaturpreise<br />
und internationale Anerkennung eingebracht.<br />
Die Erfahrung des Kommunismus und die osteuropäische<br />
Herkunft bringen ihn nicht dazu, sich „anders“<br />
zu fühlen. Die Sprache, in der er schreibt, sei die einzige<br />
Form von Anderssein. „Thematisch und mental bestehen<br />
keine Differenzen zwischen Ostlern und Westlern.<br />
Auch im Westen gibt es Bücher zum Thema Unterdrückung.<br />
Gerade die Tatsache, dass wir zusammen<br />
mit Autoren aus dem Westen publiziert werden, dass<br />
wir gemeinsam mit ihnen in einer Reihe erscheinen,<br />
weist darauf hin, dass wir nicht als andersartig wahrgenommen<br />
werden und dass die Verleger nicht auf Unterschiedlichkeit<br />
beharren wollen. Ich glaube nicht an die<br />
Möglichkeit einer geografischen Aufteilung der Literatur.“<br />
Dragomans literarisches Vorbild ist Beckett.<br />
Wollte man ihn nach literaturgeografischen Kriterien<br />
einordnen, könnte er ein Autor aus dem Osten sein,<br />
denn, er schreibt ständig über Peripherien. „Ich fühle<br />
mich vielen Menschen sehr nah, seien sie aus dem<br />
Westen oder Osten. Unbestimmt und bedingungslos.“<br />
Was die Rezeption seiner Bücher angeht, habe er auch<br />
keine großen Unterschiede feststellen können: „In Rumänien<br />
und Ungarn haben mir die Leser gesagt, dass<br />
sie ihre eigene Vergangenheit wiedererkennen. Mein<br />
Buch ist aber auch in Chile gelesen worden und dort<br />
haben mir die Menschen gesagt, dass sie sich in einigen<br />
Geschichten wiedergefunden haben.“<br />
Juli Zeh: überall zu Hause<br />
Zurück zu den deutschen Schriftstellern: Juli Zeh<br />
könnte als Osteuropäerin durchgehen, obwohl sie eine<br />
waschechte Deutsche ist. „Es ist erstaunlich, ich fühle<br />
mich überall in Europa „zu Hause“. Vielleicht müsste<br />
ich mich anders fühlen – haben wir doch eine unterschiedliche<br />
Geschichte, sind wir doch in verschiedenen<br />
Kulturen aufgewachsen – die Unterschiede sind<br />
aber beinahe unmerklich. Wenn man bedenkt, dass wir<br />
in den letzten 60 Jahren eine komplett unterschiedliche<br />
Geschichte erlebt haben, ist es wahrlich verblüffend.“<br />
Juli Zeh hat nicht in einem totalitären Regime<br />
gelebt. Sie hat im Westen gelebt, wo sie von Traumata<br />
verschont blieb, die die oben Genannten durchgemacht<br />
haben. Deswegen fühlt sie sich aber nicht anders.<br />
Es zählen weder die Vergangenheit noch die<br />
Himmelsrichtungen. Und auch wenn sie zählen würden,<br />
wären der Norden und der Süden sowieso stärker<br />
gespalten als der Osten und der Westen. „Der Süden<br />
hat eine ganz eigene Beziehung zu der Zeit. Der Norden<br />
ist disziplinierter und fleißiger. Auch die Generationen<br />
trennen uns. Die älteren Menschen sind sensibler,<br />
was die kulturellen Unterschiede angeht, die jüngeren<br />
sind toleranter, eher bereit, zu integrieren, offener,<br />
Unterschiede zu akzeptieren.“ Aber das sei nicht<br />
auf den Bereich der Literatur anwendbar.<br />
Zuletzt gibt sie aber zu, dass die Geschichte ein<br />
perfektes literarisches Material sei: „Erzählen bedeutet<br />
eigentlich, über die Vergangenheit sprechen. Und<br />
die Aufgabe des Schriftstellers ist es, zu erzählen. Also<br />
auch, sich an die Vergangenheit zu erinnern.“<br />
In Polen, Frankreich und Schweden hatte sie Erfolg.<br />
Nicht so gute Verkaufszahlen hatte sie hingegen in Israel<br />
und Korea. „Ich glaube, die Gesetze der Nähe lassen<br />
sich sehr gut auf die Literatur anwenden: In den Nachbar-<br />
und nahen Ländern ist das Interesse viel größer als<br />
in weit entfernten Ländern“, behauptet Juli Zeh.<br />
Beim internationalen Literaturfestival in Bukarest,<br />
wo ich alle oben genannten Autorinnen und Autoren<br />
getroffen habe, war T. O. Bobe der kategorischste. Da<br />
die Organisatoren – der Verlag Polirom – auf das Anderssein<br />
gesetzt hatten, hat T. O. Bobe sofort Anhaltspunkte<br />
gefunden, um sich selbst in ein besseres Licht<br />
zu stellen: Er fühle sich gegenüber den Chinesen als<br />
Wessi und in Bezug zu den Bulgaren komme er aus<br />
dem Norden. „Das, was zählt, ist das, was wir zu sagen<br />
haben, wir Ostler. Die im Westen wollen uns, weil<br />
wir pittoresk sind.“ <br />
14
Partnerschaft mit <strong>Osteuropa</strong> – <strong>Renovabis</strong><br />
Als „Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den<br />
Menschen in Mittel- und <strong>Osteuropa</strong>“ wurde <strong>Renovabis</strong> im<br />
März 1993 von der Deutschen Bischofskonferenz ins Leben<br />
gerufen. Die Gründung des <strong>Osteuropa</strong>-Hilfswerks hatte das<br />
Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) angeregt.<br />
Die Aktion sollte „eine Antwort der deutschen Katholiken<br />
auf den gesellschaftlichen und religiösen Neuanfang in den<br />
Staaten des ehemaligen Ostblocks nach dem Zusammenbruch<br />
der kommunistischen Systeme“ sein. Leitgedanken<br />
des angestrebten Engagements waren – und sind bis heute<br />
– die Prinzipien Solidarität, Subsidiarität und Partnerschaft.<br />
„<strong>Renovabis</strong>“, der lateinische Name der Aktion, stammt aus<br />
Psalm 104: „<strong>Renovabis</strong> faciem terrae – Du (Gott) wirst das<br />
Antlitz der Erde erneuern“.<br />
In den 16 Jahren seines Bestehens half <strong>Renovabis</strong> benachteiligten<br />
Menschen in 29 Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas.<br />
Für mehr als 16.500 Projekte stellte Reno vabis<br />
seinen Partnern vor Ort bisher über 450 Millionen Euro<br />
bereit. Dieses Geld stammt wesentlich von deutschen<br />
Katholiken, im Entwicklungsbereich zum Teil von der<br />
deutschen Bundesregierung. Es kommt kirchlich-pastoralen,<br />
sozial-caritativen sowie Bildungs- und Medienprojekten<br />
zugute. Dabei steht der Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ im<br />
Mittelpunkt. Die Mittel fließen in den Bau von Kirchen<br />
und Gemeindezentren, in die Ausstattung von Familien-,<br />
Frauen- und Jugendzentren, in den Unterhalt von Heimen<br />
für Waisen- und Straßenkinder, in die Ausbildung von<br />
Priestern, Ordensleuten und in der Seelsorge tätigen Laien.<br />
Außerdem fördert <strong>Renovabis</strong> den journalistischen Nachwuchs<br />
sowie Studierende und Lehrer.<br />
<strong>Renovabis</strong> begleitet viele hundert Partnerschaften zwischen<br />
West und Ost und fördert so den Erfahrungsaustausch,<br />
die menschliche Begegnung und das gemeinsame Lernen.<br />
Mit mehr als 1.800 Partnerschaftsgruppen steht <strong>Renovabis</strong><br />
in enger Verbindung. Diese meist ehrenamtlich engagierten<br />
Gruppen bauen lebendige Brücken der Verständigung zu<br />
den Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Weil diese<br />
in vielfältigen Traditionen leben und über ein reiches spirituelles<br />
Erbe verfügen, bietet das die Chance für einen fruchtbaren<br />
„Austausch der Gaben“ zwischen Ost und West. Eine<br />
große Herausforderung für <strong>Renovabis</strong> stellt die europäische<br />
Integration dar: Wenn Europa nach einer langen Phase der<br />
Trennung des Kontinents nun wieder neu zusammenwächst,<br />
darf die geistige, kulturelle und religiöse Dimension nicht zu<br />
kurz kommen.<br />
www.renovabis.de<br />
Ein Netzwerk der Hilfe<br />
„Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“ wurde 1994 als Antwort auf die<br />
Not der Menschen in Mittel- und <strong>Osteuropa</strong> gegründet. In<br />
diesem Netzwerk der Hilfe arbeiten<br />
• die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und<br />
die Evangelischen Landeskirchen<br />
• das Diakonische Werk der EKD und die Diakonischen<br />
Werke der Landeskirchen<br />
• das Gustav-Adolf-Werk<br />
• der Martin-Luther-Bund<br />
• einige Freikirchen<br />
zusammen, um mit Spenden beim Aufbau sozialer Strukturen<br />
und diakonischer Einrichtungen zu helfen.<br />
Ein weiteres Anliegen der Aktion „Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“<br />
ist es, Verständnis für die unterschiedlichen Lebenssituationen<br />
und Kulturen in Ost und West zu wecken.<br />
Zudem ergänzt und unterstützt „Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“<br />
das Engagement zahlreicher Initiativen, die sich im Bereich<br />
der evangelischen Kirchen in Deutschland für die Menschen<br />
in Mittel- und <strong>Osteuropa</strong> engagieren.<br />
Ziele<br />
„Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“ arbeitet immer mit einheimischen<br />
Partnern zusammen, die die Strukturen in ihrem Land am<br />
besten kennen. Der Aktion ist es wichtig, dass durch Erfahrungsaustausch<br />
und Kooperation mit den einheimischen<br />
kirchlichen oder zivilgesellschaftlichen Partnern „Hilfe zur<br />
Selbsthilfe“ geleistet wird.<br />
Erfolgreiche Sozialprojekte sollen als Symbole der Hoffnung<br />
wahrgenommen werden und zur Nachahmung motivieren.<br />
Deshalb erhalten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
Kenntnisse durch Fort- und Weiterbildung, es entstehen<br />
Arbeitsplätze im sozialen Bereich.<br />
„Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“ will in Ost und West Verständnis<br />
wecken für die verschiedenartigen Lebenssituationen<br />
und Traditionen. Internationale Begegnungen und Partnerschaften<br />
zwischen den Kirchen sollen zur Völkerverständigung<br />
beitragen und die Ökumene stärken.<br />
Projekte<br />
Zu den Projekten, die in den letzten Jahren von „Hoffnung<br />
für <strong>Osteuropa</strong>“ gefördert wurden, gehören insbesondere:<br />
• Einrichtungen für Straßenkinder<br />
• Heilpädagogische Zentren für Kinder mit<br />
Behinderungen<br />
• Kinder- und Jugendbegegnungsstätten<br />
• Diakonie- und Sozialstationen<br />
• Alten- und Pflegeheime und Hospizarbeit<br />
• Projekte zur Prävention von Menschenhandel,<br />
Sucht, HIV/Aids, Häuslicher Gewalt<br />
www.hoffnung-fuer-osteuropa.de<br />
Herausgegeben von den Aktionen „Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“ und <strong>Renovabis</strong>, September <strong>2009</strong>;<br />
Redaktion: Anja Wieland, Thomas Sandner (verantwortl.) („Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong>“);<br />
Gestaltung: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau; Druck: Wittmann Druck, Roding;<br />
Fotos: Christoph Püschner (Seite 3, oben), privat, <strong>Renovabis</strong><br />
Hoffnung für <strong>Osteuropa</strong> Art.-Nr. 319 100 080
Mit welchen Problemen haben Menschen im östlichen Teil Europas zu kämpfen? Was<br />
unterscheidet ihre Situation von der ihrer Nachbarn im Westen des Kontinents? Wo gibt<br />
es Gemeinsamkeiten? Was treibt die Menschen im Osten Europas um? Worauf hoffen sie?<br />
Wovor fürchten sie sich? Mit diesen oder ähnlichen Fragen haben sich die Autorinnen und<br />
Autoren in ihren Beiträgen für den „<strong>Journalistenpreis</strong> <strong>Osteuropa</strong>“ auseinandergesetzt.<br />
Die Aktion der<br />
evangelischen Kirchen<br />
mit den Menschen in<br />
Mittel- und <strong>Osteuropa</strong><br />
Diakonisches Werk der EKD<br />
Postfach 10 11 42<br />
D-70010 Stuttgart<br />
www.hoffnung-fuer-osteuropa.de<br />
Kardinal-Döpfner-Haus<br />
Domberg 27<br />
D-85354 Freising<br />
www.renovabis.de