06.11.2013 Aufrufe

Volltext Prokla 105

Volltext Prokla 105

Volltext Prokla 105

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

16. Jahrg.,ng· Nr.4 . Dezember 1996· KI0719F<br />

Zeitschrift<br />

fUr kritische<br />

Sozialwissenschaft<br />

PROKLA <strong>105</strong><br />

Fragmentierte<br />

Staatsbiirgerschaft<br />

ANTJE WIENER<br />

Editorial. fragmentierte St.,atsburgerschMI<br />

ANTlE WIENER<br />

(Staats)Burgerschalt ohne StaM. Ortsbezogene<br />

Partizipalionsmusteram Beispiel derEuropJ.i·<br />

schen Union<br />

lANE JENSON/SUSAN PHILLIPS<br />

Staatsburgerschaftsregime im Wandel oder:<br />

Ole Gleichberechtigung wird zu Markle<br />

getragen. Oas Beispiel Kanada<br />

ULRICH K. PREUSS/MICHELLE EVEHSON<br />

Konzeptionen von ·Burgerschafr in Europa<br />

KLAUS-DIETER TANGERMANN<br />

Po iitik in Oemokratien ohne demokratischen<br />

Souveran. Das Scheitern der demokratischen<br />

Konsolidierung in Mittelamerika<br />

ERIC HERSHBERG<br />

Demokratischer Ubergilllg und Sozialdemokra<br />

tie inSpanlen. Kritische Uberlegungen zur<br />

Konstruktion von Idealtypen<br />

SERGIO COSTA<br />

Medien. livilgesellschaft und . Kiez •. Kontexte<br />

des Aulbaus der politischen Olfentlichkelt in<br />

Brasilien<br />

Jahresreglster 1996<br />

WESTFAUSCHES DAMPFBOOT


jahriich<br />

Redaktion:<br />

herausgegeben von »Vereinigung der politischen<br />

Vollversamrnlung Redaktion der '7 ~;'001_,.;", wiihlt<br />

(geschdfl4uhrend),<br />

Klaus<br />

lie:rellcnen der<br />

der<br />

106<br />

\' K",jl'Ll" 107<br />

Numsein.<br />

an die Redaktion (Postfach) adressieren,<br />

vier Numrnern 'U'''"lHlUlIIWllg von mindc ..<br />

18-,<br />

halten<br />

kooperiert~ eine Vorausrechnung fUr die<br />

die HefIe jeweils nach Erscheincn sofar! zugeschickt.<br />

Postanschrift:<br />

Postfach ] 00<br />

66<br />

Dampfboot, Dorotheenstr. 26a, 48145 MUnster, TeIefon<br />

http://www.]ogini.com/dampfboot<br />

Copyright] 996 Verlag<br />

Druck Bindung:<br />

ISSN 0342-8176 3·929586·]5,0<br />

Diesel' Ausgabe<br />

such das<br />

vorbehalten.


Antje Wiener: Editorial. Fragmentierte Staatsbiirgerschaft ................. ..488<br />

Antje Wiener: (Staats )Biirgerschaft ohne Staat. Ortsbezogene<br />

Partizipationsmuster am Beispiel der Europiiischen Union ................ ..497<br />

Jane Jenson, Susan Phillips: Staatsbiirgerschaftsregime im Wandeloder:<br />

Die Gleichberechtigung wird zu Markte getragen.<br />

Das Beispiel Kanada ........................................................................... 515<br />

Ulrich K. Preufi, Michelle Everson: Konzeptionen<br />

von 'Biirgerschafi' in Europa ................................................................ 543<br />

Klaus-Dieter Tangermann: Politik in Demokratien ohne<br />

demokratischen Souveriin. Das Scheitem der demokratischen<br />

Konsolidierung in Mittelamerika ......................................................... 565<br />

Eric Hershberg: Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie<br />

in Spanien. Kritische Uberlegungen zur Konstruktion<br />

von Idealtypen ......................................................................................... 595<br />

Sergio Costa: Medien, Zivilgesellschaft und »Kiez«. Kontexte des<br />

Aufbaus der politis chen Offentlichkeit in Brasilien ............................. 611<br />

Summaries ........................................................................................... 633<br />

Zu den Autoren .................................................................................... 634<br />

Themenfruherer Hefte ......................................................................... 635<br />

Gesamtinhalt des 26. Jahrgangs 1996 ..................................................... 644


Antje Wiener<br />

Fragmentierte Staatshiirgerschaft*<br />

Die Entwicklung von Staatsburgerschaft in ihrer heutigen Verwendung ist<br />

eng mit der Entstehung von Nationalstaaten verbunden, die Individuen<br />

konstitutionell in ein Gemeinwesen einbanden. Obwohl dieser EntwicklungsprozeB<br />

kontextabhangig verschieden verlief, laBt sich verallgemeinernd<br />

festhalten, daB er 'von oben' durch Staatspolitik und 'von unten'<br />

durch die Mobilisierung sozialer Krafte vorangetrieben wurde und in der<br />

Institutionalisierung staatsbUrgerlicher Rechte, Pflichten und Partizipationsstrukturen<br />

mundete (Tilly 1975, Turner 1990). Dieser ProzeB hat einerseits<br />

zu der Entstehung des Nationalstaates als einem der zentralen politischen<br />

Mythen der Moderne beigetragen (Anderson 1983), andererseits umfaBt<br />

er die Herausbildung von Institutionen, die Teil der politischen Organisation<br />

von Gesellschaften sind. Ais Ansatzpunkt fUr eine kritische Position<br />

in der Staatsburgerschaftsdebatte ist vor aHem die politische Bedeutung<br />

dieser Verknupfung von Mythos und Institutionenbildung wichtig.<br />

So wurde beispielsweise durch die diskursive Abbildung von Nation und<br />

Staat auf dasselbe Terrain nationale Identitat ZUlli zentralen Bestandteil des<br />

modernen Staatsbfugerschaftsdiskurses. Dieser Diskurs ist politisch in<br />

zweierlei Weise funktional: er wirkt innenpolitisch integrierend und au­<br />

Benpolitisch konsolidierend. Der Erwerb der StaatsangehOrigkeit und der<br />

damit verknupfte Anspruch auf politische Partizipation und Reprasentation<br />

trag en zum integrativen Aspekt bei, wahrend die Basis nationaler Einheit<br />

die Reprasentation von Nationalstaaten im internationalen Staatensystem<br />

festigt. Die forcierte Abbildung von Nation und Staat auf dasselbe Terrain<br />

trug zur Konsolidierung der Idee eines Hobbes'schen internationalen Staaten<br />

systems bei, das durch die Politik zwischen Staaten innerhalb einer internationalen<br />

Staatengemeinschaft strukturiert wird.<br />

Generell dmckt Staatsbfugerschaft ZugehOrigkeit aus (Grawert 1973, Kaplan<br />

1992). ZugehOrigkeit meint einerseits einen legalen verfassungsmaBig verankerten<br />

Status und andererseits eine emotionale Bindung (Heater 1990, EversonJPreuss<br />

1995). Legale ZugehOrigkeit ist tiber die StaatsangehOrigkeit -<br />

* Anm. der PROKLA-Redaktion: Der Schwerpunkt dieses Heftes wurde maflgeblich von<br />

Antje Wiener konzipiert und organisiert. Wir danken ihr ganz herzlich fur ihr Engagement<br />

und die in dieses Heft investierte Arbeit.


Editorial: Fragmentierte Staatsbiirgerschaft 489<br />

--------~--------~~~--------------------------<br />

hiiufig als 'Nationalitat' bezeichnet - definiert und schlieBt Rechte und<br />

Pflichten von StaatsburgerInnen gegenuber dem Staat bzw. dem Gemeinwesen<br />

ein. Emotionale ZugehOrigkeit ist dagegen abhiingig von Identitat, die<br />

ebenfalls oft und miBverstandlich als Nationalitat verstanden wird. Dieses<br />

Modell von Staatsbiirgerschaft basiert auf dem Prinzip von Inklusion und Exklusion:<br />

StaatsangehOrige haben das Recht auf Zugang zu Partizipation, Nicht­<br />

AngehOrige werden von diesem Recht ausgeschlossen.<br />

Trotz einer Vielzahl von Ansatzen zu dem sehr kontrovers diskutierten<br />

Konzept von Staatsburgerschaft, ist es moglich, eine minimale Definition<br />

anzugeben, die fUr eine Analyse des institutionsbildenden Aspekts von<br />

Staatsburgerschaft zentral ist. So definiert Staatsburgerschaft die Beziehung<br />

zwischen BurgerIn und politischer Gemeinschaft. 1m Prinzip ist diese<br />

Beziehung zwischen Individuum und souveraner Einheit durch die Geschichte<br />

hinweg vom griechischen Stadtstaat uber den Nationalstaat bis<br />

zum europaischen Protostaat einem grundlegenden Muster gefolgt und jede<br />

Arbeit uber Staatsburgerschaft muB sich in der einen oder anderen Form<br />

mit drei konstitutiven Elementen von Staatsburgerschaft befassen. Zu diesen<br />

zahlen (l) der Staat, (2) das Individuum und (3) die Staatsbiirgerschaflspraxis,<br />

die durch die Staatsburgerschaftspolitik des jeweiligen<br />

Staates einerseits und die Politik der BurgerInnen, Interessengruppen, Parteien,<br />

sozialen Bewegungen andererseits praktiziert wird.<br />

Die Kritik an Staatsbiirgerschaft als Konzept und als Politikfeld hat sich<br />

bisher vomehmlich an zwei Grundfragen orientiert: dem Recht auf gleiche<br />

Staatsburgerschaft und die Schaffung von Zugang zur Ausubung der mit<br />

der Staatsbiirgerschaft verbundenen Rechte. Kritische Arbeiten haben daher<br />

vor aHem die Frage der Inklusion von Frauen auf der Basis von gleichen<br />

politischen Rechten mit Manneml und des verbesserten Zugangs basierend<br />

auf sozialstaatlicher Gesetzgebung2 untersucht. Eine drittes Problem<br />

ergibt sich aus der Frage der ZugehOrigkeit. Feministische und antirassistische<br />

Arbeiten sowie die Entstehung post-nationaler Perspektiven<br />

machen deutlich, daB StaatsangehOrigkeit einen groBen Teil derjenigen<br />

ausschlieBt, die sich als BurgerInnen eines Staates empfinden.3<br />

Aufgrund dieser prozeBhaften und kontextabhangig verschiedenen Entwicklung<br />

und Konzeption von Staatsburgerschaft ist es, so haben diese und<br />

Susan Okin steHte zum Beispiel die Frage »can citizenship and political life be modified -<br />

while retaining the essentials of the participatory ideal - so as to be inclusive rather than<br />

exclusionary?« und antwortete selbst »1, in the company of a great many other feminist<br />

political theorists, answer »yes« to this question« (Okin 1992: 59).<br />

2 Fur geschlechtsspezifische Ansatze zu sozialen Rechten und Staatsburgerschaft, siehe u.a.<br />

Balbo (1992), Fraser/Gordon (1992), Jenson (1993), MeehaniSevenhuisen (1991), Nelson<br />

(1990), Siim (1993).<br />

3 Siehe z. B. Bakan/Stasiulis (1994), Lwanga (1994) und Yval-Davis (1991).


490 Antje Wiener<br />

andere Arbeiten4 gezeigt,<br />

neben der Gruppe der konstitutiven<br />

Elemente auch die historischen Dimensionen von Staatsburgerschaft zu berUcksichtigen.<br />

Diese drei historischen Dimensionen sind (1) Rechte, die die<br />

Beziehung zwischen Individuum und Staat betreffen, (2) Zugang, der den<br />

prozeBhaften,<br />

von Staatsburgerschaft regelt, d.h. die<br />

Frage, wie die Beziehung zwischen Individuum und Staat praktiziert wird,<br />

und (3) ZugehOrigkeit. Dieser letzte Aspekt bezieht sich auf gemeinsame<br />

soziokulturelle Erfahrungen und betont so die Bedeutung von Zugehi:irigkeit<br />

zu einer Gemeinschaft, sie ist also verschieden von dem Begriff der<br />

Staatsangeh6rigkeit. Die Essenz von StaatsbUrgerschaftspolitik basiert<br />

dann auf den drei Momenten Rechte, Zugang und Zugehi:irigkeit. Dabei<br />

umfassen Rechte die eher statischen, Zugang und Zugehi:irigkeit die dynamischen<br />

Aspekte von StaatsbUrgerschaft (Wiener 1995).<br />

StaatsbUrgerschaftspolitik wird einerseits kontextabhangig von AkteurInnen<br />

unterschiedlich praktiziert. Sie steht jedoch andererseits in einem<br />

balen Zusammenhang, denn mit der zunelunenden Interdependenz von<br />

Nationalstaaten haben sich supranational geteilte Wertvorstellungen wie<br />

z.E. allgemeine und freie Wahlen, Demokratie, gleicher Lohn fUr gleiche<br />

Arbeit u.a. herausgeschiilt. Sie wurden zum Teil in der Allgemeinen ErkHirung<br />

der Menschenrechte von 1948 formuliert und gelten seither im Zusammenhang<br />

mit den Verfassungen def Unterzeichnerstaaten.5<br />

Wahrend also supranational akzeptierte Werte wie das Recht auf Freiheit<br />

und Gleichheit den universellen Anspruch von Staatsburgerschaft konzeptionell<br />

reflektieren, schaffen gleichzeitig Konstruktionen national vermittelter<br />

Identitaten kontinuierlich Ungleichheiten. Staatsbiirgerschaftspolitik<br />

ist daher, zumindest seit in der Modeme Staat und Nation weitgehend<br />

territorial angeglichen wurden, immer Ausdruck einer immanenten<br />

Spannung zwischen universalem (supranational geteiltem) Postulat und<br />

partikularer (national verschiedener) Praxis. Die Konflikte entstanden vor<br />

aHem daraus, daB sich innerhalb des Territoriums von Nationalstaaten<br />

raumliche ZugehOrigkeit ganz unterschiedlich und als Spiegel multipler<br />

Identitaten clef BurgerInnen entwickelte.6 Diese Spannung hat seit Jahr-<br />

4 Als weitere Arbeiten, die die Prozeflhaftigkeit von Staatsbiirgerschaftspolitik als Strategie<br />

und Politikfeld betonen und an T.H. Marshalls bahnbrechendem Essay iiber »Staatsbiirgerschaft<br />

und soziale Klassen« (1950) oder an Habennas »Theorie des Kommunikativen<br />

Handelns« (1986) ankniipfen, siehe u.a. Garcia (1992; 1993); Giddens (1990); Held<br />

(1989,1991); Meehan (l993); Tumer(1986, 1990, 1993).<br />

5 Diese allgemeine Erkliirung stellt vor aHem fur eine nicht -staatsgebundene Debatte um Staatsbiirgerschaft<br />

eine wichtige rechtliche und nonnative Grundlage dar (Aron 1974, Bas 1994).<br />

6 Zu der Entwicklung des Konzepts von multipler Identitat als konzeptionelle Antwort auf<br />

die Ratlosigkeit der orthodox en MarxistInnen in den 80er lahren, siehe Laclau/Mouffe<br />

(1986); fiir die Konzeption von multiplen geschlechtsspezifischen Identitiiten, die gleichzeitig<br />

politisch-strategisch einsetzbar sind, siehe Butler (1990) und Hark (1995).


Editorial: Fragmentierte StaatshLlrgerschafl 491<br />

------~~--------~~~------------------------~<br />

hunderten zu Konflikten zwischen Interessengruppen der Zivilgesellschaft<br />

und staatlichen Organisationen gefiihrt. Ergebnisse dieser Auseinandersetzungen<br />

haben sich in veranderten institutionellen Arrangements widergedie<br />

sich sowohl auf staatliche<br />

wie auch auf die Bedeutung<br />

von Staatsbiirgerschaft selbst beziehen.<br />

Zentrales Strukturmerkmal der modernen Konzeption von Staatsburgerschaft<br />

bleibt bis heute die diskursive Uberschneidung von !dentitat und<br />

Nationalitat, obwohl dieser Diskurs und seine praktischen Auswirkungen<br />

bereits urn die Jahrhundertwende von del' Frauenbewegung und mit fortschreitender<br />

Industrialisierung auch von der ArbeiterInnenbewegung, die<br />

Geschlechter- bzw. Klassendifferenzen als ausschlaggebend fur defizitare<br />

staatsbiirgerliche Rechte anprangerten, in Frage gestellt wurde (Gerhard<br />

Turner 1990, Wobbe 1989) und insbesondere die Neuen Sozialen<br />

der 70er, 80er und 90er Jahre dazu beigetragen haben, das<br />

Konzept von staatsbfugerlicher »Gleichheit« zu dekonstruieren, indem sie<br />

Differenz und multiple Identitaten thematisierten (Butler 1990, Laclau/<br />

Mouffe 1986, Hark 1995). Wenn zutrifft, daB Identitat ein wesentlicher<br />

Bestandteil von Staatsbiirgerschaft ist und daB Staatsburgerschaft nicht<br />

gleich Nationalitat ist, dann mi.iBte Partizipation als ein Schliisselelement<br />

fUr die Konzeption von Zugehorigkeit untersucht werden.<br />

***<br />

Gegenwartig wird die Vorstellung einer Wechselbeziehung zwischen einer<br />

Gruppe von 'gleichen' StaatsbiirgerInnen und zentral organisierten Staaten<br />

in der Staatsburgerschaftsdebatte zunehmend dysfunktional. 1m Zuge von<br />

Globalisierungsprozessen verliert die nationalstaatliche Fixierung von<br />

Staatsbi.irgerschaft an Ausdrucks- und Einbindungskraft (Held 1991). Neue<br />

soziale Bewegungen haben Begriffe von Differenz und Identitatsschichten<br />

in die Debatte gebracht und Diskussionen um »Weltburgerschaft«<br />

(Habennas 1992: 660), »globale StaatsbUrgerschaft«<br />

siulis 1992: »kosmopolitische Burgerschaft« (Held 1991, Archibugi/<br />

Held 1995) oder Unionsbiirgerschaft werfen<br />

ein neues Licht auf das Verhaltnis von Staatsburgerschaft und<br />

indem sie den global en oder mehr unmittelbar supranationalen Raum als<br />

Bezug fur die Bedeutung von Staatsbiirgerschaft hervorheben. Andere ardaB<br />

mit der Krise des Fordismus auch das »Staatsbiirgerschaftsregime«<br />

in die Krise geraten sei (Jenson/Phillips in diesem Heft).<br />

In der Tat verliert das Konzept von Staatsbiirgerschaft in seiner traditionellen<br />

Funktion an Bedeutung. So zeigt z.E. der doppelte politische Effekt<br />

von Staatsburgerschaft deutliche Krisenerscheinungen. Dies manifestiert<br />

sich nicht zuletzt im Diskurswandel von Regierungsdokumenten (z.E. in<br />

den<br />

EU) die sich in den 90er Jahren mit dem


492 Antje Wiener<br />

Thema Staatsburgerschaft befassen. Der Regierungsdiskurs zur Verfassung<br />

von Staatsburgerschaft trifft in den 90er Jahren auf einen Diskurs der Differenz,<br />

del' das Produkt jahrzehntelanger Mobilisierung gegen die Nieht­<br />

Gleichheit ist.<br />

So fordem z.B. IndianerInnen wie in den Hillen von Chiapas (Mexiko) und<br />

den »First Nations« in Kanada, die Akzeptanz von Differenz innerhalb des<br />

nationalen Diskurses. Sie beziehen sich dabei auf den Begriff der Nation,<br />

urn die Versehiedenheit von Nationen innerhalb eines sog. Nationalstaates<br />

hervorzuheben, in ihrer politischen Auswirkung zu benennen und politische<br />

Reprasentation einzufordem. Andererseits hat die politische Fragmentierung<br />

in Mittel- und Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion im<br />

Zuge der Reorganisierung kleinerer politischer Einheiten Nationalitat als<br />

entseheidendes Kriterium politiseher Organisation hervorgehoben. 1m<br />

Falle der EU, die die Unionshiirgerschaft bisher von der StaatsangehOrigkeit<br />

in einem Mitgliedstaat abhangig macht, wird einerseits Staats burgerschaft<br />

nieht frei von Nationalitat gedacht, andererseits legt die Diskursanalyse<br />

der Staatsburgersehaftspolitik nahe, daB die Unionsburgerschaft ohne<br />

das partizipatorische Element nicht durchsetzbar ware.<br />

Ais zentrales Problem bleibtjedoch, nicht nur in der EU, die Frage der politisehen<br />

Rechte versehiedener BurgerInnen. Wahrend soziale und kulturelle<br />

Eingliederung im Fall von Migration in der Regel moglieh sind<br />

(Brubaker 1989, BoeslWenzel 1995), bleiben den Zugewanderten politisehe<br />

Rechte (Zugang zu politischer Partizipation via aktiven und passiven<br />

Wahlrechts) oft verschlossen. Die gegenwartige Debatte in der europaischen<br />

Union maeht dies deutlieh (Bundnis '90/Griine 1993, Europaisches<br />

Parlament 1991, ARNE 1995).<br />

Konzeptionelle Vorschlage, die den Aspekt von Differenz aufnehmen, sind<br />

die »differenzierte StaatsbUrgerschaft« (Young 1989) und die »multikulturelle<br />

StaatsbUrgerschaft« (Kymlicka 1995). Problematisch bleibt bei diesen<br />

Ansatzen jedoeh die Definition von Identitaten, die nicht partizipatorisch,<br />

sondem askriptiv begriindet werden. Dagegen wird im Kontext der<br />

EU wie auch in Kanada u.a. das Konzept einer »ortsabhangigen Staatsburgerschaft«<br />

(Europaisches Parlament 1992, Jenson 1991) diskutiert. Das<br />

heiBt, politische Staatsburgerrechte werden nieht vom legalen Status<br />

(StaatsangehOrigkeitlNationalitat) abgeleitet, sondem auf partizipatoriseher<br />

Grundlage gewahrt. Diese partizipatorische Grundlage und ihr Einwirken<br />

auf die Hervorhebung verschiedener Identitaten, die sich jeweils sowohl<br />

akteursorientiert als auch strukturell bedingt in den politisehen Diskurs<br />

einbringen, hat sieh bisher als auBerst widerspenstig mr die Sozialforsehung<br />

erwiesen. Sie ist jedoeh, so argumentiert die Mehrzahl der Beitrage<br />

in diesem Heft, unabdingbar fur eine neue partizipatorisch begriindete<br />

Konzeption staatsburgerlieher Identitat.


Editorial: Fragmentierte StaatsbUrgerschaji 493<br />

------~~--------~~~--------------------------<br />

* * *<br />

In diesen jeweils unterschiedlichen Kontexten ist eine Spannung zwischen<br />

Identitiit und Nationalitat festzustellen, die dem Struktunnerkmal von Gleichheit<br />

im Sinne von modem gepragter nationaler Identitat als eines von zwei<br />

zentralen Elementen von Staatsbiirgerschaft widerspricht: die Definition von<br />

Identitiit Hillt sich kaum noch politisch uberzeugend von Nationalitat ableiten.<br />

Die Attribute von Identitiit lassen sich nicht definieren, sie werden erst, so zeigen<br />

es am eindrucksvollsten Studien uber soziale Bewegungen, durch Mobilisierung<br />

sichtbar gepragt (LaclaulMouffe 1985, Hark 1995, Jenson 1993).<br />

Angesichts dieser Turbulenzen stellt sich die Frage, ob die Staatsbiirgerschaftspraxis<br />

nach dem Ende des Kalten Krieges womoglich zu der Herausbildung<br />

neuer Staatsbiirgerschaftsregime fuhrt und welches die strukturellen<br />

und institutionellen Merkmale solcher Veranderungen waren.<br />

Staatsburgerschaft wurde in ihrer politischen und konzeptionellen Bedeutung<br />

in historischen Momenten der Turbulenz jeweils redefiniert. Der<br />

Staatsburgerschaftsdiskurs nach dem Ende des Kalten Krieges deutet auf<br />

Fragmentierung als neuem Struktunnerkmal der Staatsburgerschaftspraxis<br />

hin. Statt zentralstaatlich fonnulierter Staatsangehorigkeit wird der Blick<br />

auf partizipatorisch gebundene ZugehOrigkeit (Identitat) gelenkt. Wenn<br />

trotz und vennutlich gerade aufgrund def gegenwartigen, bedeutsamen politischen<br />

Veranderungen, Staatshiirgerschaft als Konzept und als Politikfeld<br />

nach wie vor von zentraler Bedeutung fUr politische Entscheidungsprozesse<br />

ist, dann stellen sich zwei Fragen: Erstens, wie durch die gegenwartigen<br />

Grenzverschiebungen die territorial vennittelte V orstellung einer<br />

homogenen staatshiirgerlichen Identitat zugunsten differenzierter, multipler<br />

Identitaten aufgebrochen wird, und zweitens, wie sich diese uber geographische,<br />

kulturelle und soziookonomische Raume vennittelte Identitat in<br />

ihrer Bedeutung fUr ein Gefuhl von ZugehOrigkeit institutionell und konzeptionell<br />

begreifen laBt.<br />

Wahrend sich die Sprache (Theorie) von Staatsburgerschaft traditionell auf<br />

den Nationalstaat und dementsprechend auf die legal definierte Nationalitat<br />

von Biirgerlnnen bezieht, deutet die gegenwartige Praxis (Diskurs) auf ein<br />

neues Verstandnis von Staatsburgerschaft hin, dem fragmentierte statt homogenisierte<br />

Identitaten zugrunde liegen. Mit der Feststellung, daB Identitat<br />

facettenreich und nicht homogen ist, stellt sich nicht nur ein konzeptioneHes<br />

Problem, auch die politische Funktion von StaatsbUrgerschaft wird<br />

in Frage gestellt. Welches sind die konzeptionellen und institutionellen<br />

Auswirkungen des Wandels im modemen Staatsbiirgerschaftsdiskurs? Gibt<br />

es Ansatze zu einer Neuformulierung der Beziehung zwischen BurgerIn<br />

und Staat? Und schlieBlich, gibt es erkennbare Struktunnerkmale dieses<br />

V eranderungsprozesses?


494 Antje Wiener<br />

Urn sich diesen moglichen Veranderungen der Staatsburgerschaftspraxis<br />

und entsprechend auch dem Konzept von Staatsburgerschaft anzunahem,<br />

sind Fallstudien wichtig. Es ist daher die Intention dieses Heftes, mit Studien<br />

in unterschiedlichen Kontexten, in denen jeweils das traditionelle Bild<br />

nationalstaatlich begrundeter Staatsburgerschaft in Frage gestellt wird,<br />

Staatsburgerschaftspraxis in eine politische Perspektive zu setzen. Statt<br />

zentralstaatlich formulierter StaatsangehOrigkeit (legaler Status) wird so<br />

der Blick frei fur die an partizipatorische gebundene Zugehorigkeit<br />

(Identitat). Wenn es zutrifft, daB Momente von Turbulenz zu einer Redefinition<br />

von Strukturmerkmalen beitragt, dann konnen Fallstudien zur<br />

Staatsburgerschaftspraxis in unterschiedlichen, turbulenten Kontexten zur<br />

Klarung beitragen.<br />

Literatur<br />

Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities, London: Verso, 1993.<br />

Antiracist Network For Equality in Europe (1995): Modifications to the Maastricht Treaty in<br />

Sight of the 1996 Inter-Governmental Conference. Rome, 14-15 July Unpub!. Ms.<br />

Aron, Raymond (1974): Is Multinational Citizenship Possible? in: Social Research, Winter, S.<br />

638-656.<br />

Archibugi, Daniele; Held, David (eds.) (1995): Cosmopolitan Democracy. An Agenda for a<br />

New World Order. Polity.<br />

Bakan, Abigail; Stasiulis, Daiva (1994): Foreign Domestic Worker Policy in Canada and the<br />

Social Boundaries of Modern Citizenship in: Science and Society 58, 1, S. 7-33.<br />

Balbo, Laura (1992): The Strategy of Social Citizenship, in: Z. Ferge/J. E. Kolberg (Hg.),<br />

Social Policy in a Changing Europe, Frankfurt a. M.lBoulder, Col.<br />

Bas, Mathias (1993): Die Ethnisierung des Rechts? Staatsbiirgerschaft in Deutschland, Frankreich,<br />

Grossbritannien und den USA, KOiner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie<br />

45,4, S. 619-643.<br />

Bas, Mathias; Wenzel, Uwe (1995): Immigration and the Structure of Membership in the Modem<br />

Welfare State. Paper prepared for the GAAC-SSRC-Wissenschaftskolleg Summer Institute<br />

II 1995, Unpub!. Ms.<br />

Brubaker, William Rogers (ed). (1989: Immigration and the Politics of Citizenship in Europe<br />

and North America. Lanham: UP of America.<br />

Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York.<br />

European Parliament (1992): Citizens' Europe: Action Taken by the European Parliament to<br />

Create a European Com unity to Serve Its Citizens. Citizens' Europe Series, E 1.<br />

European Parliament (1991): PE 153.099/fin. Report of the Committee on Institutional Affairs<br />

on Union Citizenship. Rapporteure: Mrs Rosamaria Bindi.<br />

Everson, Michelle C.; Preuss, Ulrich K. (1995): Concepts, Foundations, and Limits of European<br />

Citizenship. Bremen: ZERP-Diskussionspapier # 2.<br />

Fraser, Nany; Gordon, Linda (1992): Contract Versus Charity: Why Is There No Social Citizenship<br />

in the United States?, in: Socialist Review 3, S. 45-68.<br />

Garcia, Soledad (1992): "Europe's Fragmented Identities and the Frontiers of Citizenship",<br />

RlIA, Discussion Papers 45, London.<br />

Garcia, Soledad (ed.) (1993): European Identity and the Search for Legitimacy. Royal Institute<br />

of International Afairs: Pinters Pub!.<br />

Gerhard, Ute (1990): Biirgerliches Recht und Patriarchat, in: U. Gerhard et al. (Hg.) DifJerenz<br />

und Gleichheit, Frankfurt a. M., S. 188-204.<br />

Giddens, Anthony (1990): The Consequences of Modernity. Stanford UP.<br />

Grawert, Rolf (1973): Staat und StaatsangehOrigkeit. Berlin: Duncker & Humblot.


Editorial: Fragmentierte StaatsbUrgerschaft 495<br />

Habennas, Jilrgen (1992): Staatsbilrgerschaft und nationale ldentitat, in: J. Habern1as, Faktizitiit<br />

und Geltung, Frankfurt a.M., S. 632-660<br />

Habennas, Jilrgen (1986): Theorie des Kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.<br />

Hark, Sabine (1995): Deviante Subjekte. Bewegung - Diskurs - PolWk. Uber die Paradoxien<br />

lesbischer Jdentitdtspolitik, Dissertation, Freie Universitat Berlin.<br />

Heater, D. (1990): Citizenship: The Civic Ideal in World History, Politics and Education.<br />

London/N ew Yark: Longman.<br />

Held, David (1995): Between State and Civil Society: Citizenship, in: Andrews, Geoff (Hg,),<br />

Citizenship, London: Lawrence & Wishart, S. 19-25.<br />

Held, David (1989): Citizenship and Autonomy, in: D. Held IJ. B. Thompson (Hg.) Social<br />

Theory and Modern Societies,. New York, S. 162-184.<br />

Jenson, Jane (1993): De-constructing Dualities: Making Rights Claims in Political Institutions,<br />

in: Drover, Glenn; Kerans, Patrick (eds.): New Approaches to Welfare Theory, Cambridge,<br />

S. 127-142.<br />

Jenson, Jane (1992): Citizenship and Equity. Variations Across Time and Space, in: J. Hiebert,<br />

(Hg.), Political Ethics: A Canadian Perspective, Vol. 12 of the Research Studies of the<br />

Royal Commission on Electoral Refonn and Party Financing. Toronto.<br />

Kaplan, William (1993): Who Belongs? Changing Concepts of Citizenship and Nationality,<br />

in: Kaplan, William (ed.), Belonging: The Meaning and Future oj Canadian Citizenship,<br />

Montreal: McGill-Queen's UP, S. 245-264.<br />

Kymlicka, Will; Nonnan, Wayne (1994): Return of the Citizen: A Survey of Recent Work on<br />

Citizenship Theory, in: Ethics (January), S. 352-381.<br />

Laclau, Ernesto; Mouffe, Chantal (1985): Hegemony & Socialist Strategy, London.<br />

Lwanga, Gotlinde Magiriba (1994): Das Konzept von Staatsangehiirigkeit und Bilrgerinnenrechten<br />

im Blick auf Europa, in: E. Biester u. a. (Hg.), Das unsichtbare Geschlecht der Europa,<br />

Frankfurt a. M., S. 141-158.<br />

Marshall, T.H. (1950): Citizenship and Social Class. Cambridge: Cambridge UP.<br />

Meehan, Elizabeth (1993): Citizenship and the European Community, London et al.: Sage.<br />

Meehan, Elizabeth; Sevenhuijsen, Selma (Hg.) (1991): Equality Policits and Gender, London.<br />

Nelson, Barbara J. (1990): The Origins of the Two-Channel Welfare State: Workmen's Compensation<br />

and Mother's Aid, in: Gordon, L. (Hg.), Women, the State, and Welfare, Madison,<br />

S.123-151.<br />

Okin, Susan M. (1992): Women, Equality, and Citizenship, Queens Quarterly 99,1, S. 56-71.<br />

Pateman, Carole (1991): Der Geschlechtervertrag, in: W.-D. Narr/K. Vack (Hg.) Velfassung.<br />

Oder: Wie konnen wir in ZukunJt leben?, Sensbachtal, S. 112-124.<br />

Pateman, Carole (1989): The Fraternal Social Contract, in: C. Pateman, The Disorder oj Women,<br />

Stanford, S. 33-57.<br />

Pateman, Carole (! 988): The Sexual Contract, Stanford.<br />

Siim, Birte (1993): Gender, Citizenship and Political Citizenship in the Scandinavian Welfare<br />

States, Paper presented to the Annual ECPR Joint Session of Workshops, Leyden University,<br />

April 2-7.<br />

Tilly, Charles (ed.) (1975): The Formation of National States in Western Europe. Princeton,<br />

NJ: Princeton UP.<br />

Turner, Bryan S. (ed.) (1993): Citizenship and Social TheOlY. London et al.: SAGE.<br />

Turner, Bryan S. (! 990): Outline of a Theory of Citizenship, in: Sociology 24, 2, S. 189-217.<br />

Turner, Bryan S. (1986): Citizenship and Capitalism. The Debate Over Reformism, London.<br />

Wiener, Antje, (1995), Building Institutions: The Emerging Practice oj European Citizenship.<br />

Carleton University, Department of Political Science, Unpub!. Ph.D. dissertation.<br />

Wobbe, Theresa (1989): Gleichheit und DifJerenz. Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen<br />

um die lahrhundertwende, Frankfurt a. M.<br />

Young, Iris M. (1990): Polity and Group Difference: A Critique of the Ideal of Universal Citizenship,<br />

in: Sunstein, C. (Hg.), Feminism and Political Theory, Chicago, S. 117-142.<br />

Yuval-Davis, Nira (1991): The Citizenship Debate: Women, Ethnic Processes and the State,<br />

in: Feminist Review 39, S. 58-68.<br />

Yuval-Davis, Nira (1993): Gender and nation, in: Ethnic and Racial Studies 16,4, S. 621-632.


Ulrich MOckenberger/<br />

Rainer Zoll (Hrsg.)<br />

,,,,,.,.,,,,-,-, Schmidt/<br />

(Schriftenreihe Hans-Bockler-Stiftung)<br />

1996 - 333 S. - OM 44,00 - 6s 321 - SFR 44,00<br />

ISBN 3-929586-67-3<br />

Basso-Sekretariat (Hrsg.)<br />

Festung<br />

Dokumentation des Basso-Tribunals zum Asylrecht in Europa<br />

Mit Beitragen von E. Altvater, J.-Y. earlier, H. Leuninger, K. Ndumbe,<br />

O. Neg! u.a.<br />

(einsprOche Band 5)<br />

1995 - 292 S. - OM 19,80 - 6s 145 - SFR 21,00 - ISBN 3-929586-57-6<br />

Veit-Michael Bader<br />

Rassismus,<br />

schaU.<br />

Soziologische und philosophische<br />

Oberlegungen<br />

(einsprOche Band 4)<br />

1995 - 181 S. - OM 25,00 - 6s 183 - SFR 26,30<br />

ISBN 3-929586-47-9<br />

lIElT I¥IKHA~U!ADER<br />

IlASSISMUS,<br />

~THNIZITAt<br />

IIURGERSCHAFT<br />

£OlIOLOGI5CHE<br />

UND PHILOSOPHlseliE<br />

UBERLEGUNGEN<br />

WEsnAUSCHES DAMPFBOOT<br />

oort<br />

Oorotheenstr. 26a' 48145 MOnster' Tel. 02 51/6 08 60 80<br />

Telefax 0251/6 08 60 20· http://www.login1 .com/damplboo!


Wiener<br />

Staat<br />

Die Einfiihrung einer Unionsbiirgerschaft durch die Maastrichter Vertrage<br />

(Artikel 8 EG-Vertrag) von 1992 hat eine Vielzahl von Reaktionen hervorgerufen,<br />

die von juristischer Seite bis hin zu progressiven Nicht-Regierungs-Organisationen<br />

(NROs) reichen. Weitgehende Ubereinstimmung besteht<br />

in diesen Reaktionen dahingehend, daB der Staatsbiirgerschaftsartikel<br />

Mangel auf weist. Von dieser gemeinsamen Basis ausgehend, lassen sich<br />

dann zwei unterschiedliche Handlungsstrange feststellen. BeobachterInnen,<br />

die den konkreten Inhalt der Unionsbiirgerschaft untersuchen und mit<br />

den bekannten Typen formal etablierter nationaler Staatsbiirgerschaften<br />

vergleichen, heben vor aHem die Einschrankungen hervor, denen die Unionsbiirgerschaft<br />

als legales Konzept unterliegt.2 Davon unterscheiden sich<br />

die Debatten, in denen die Unionsbiirgerschaft als »Entwicklungskonzept«<br />

diskutiert wird. In letzterem Sinne sind beispielsweise die von NROs, Interessengruppen<br />

und sozialen Bewegungen ausgehenden V orschHige zu<br />

verstehen, die darauf abzielen, den Unionsbiirgerschaftsartikel in Richtung<br />

deutlicher ortsbezogener Biirgerlnnenrechte zu verandem.3<br />

Dieser Beitrag ist die iiberarbeitete und leicht veranderte Fassung eines Aufsatzes, der zuerst<br />

im Oxford International Review, Vol. VII, NO.3 (1996) S. 44-51 erschienen ist.<br />

2 Charakteristisch fiir diese Perspektive ist die Forderung von Kovar und Simon, daB die<br />

Untersuchung der Unionsbiirgerschaft auBerhalb der »Ieidenschaftlich« gefiihrten politischen<br />

Debatte stattfinden miisse, und deswegen allein juristische Studien deren Charakter<br />

gerecht werden konnten (Kovar/Simon 1994: 288). Weitere iiberwiegend juristische Ansatze<br />

finden sich u.a. bei O'Leary (1995), O'Keeffe/Twomey (1994), Closa (1992; 1995),<br />

Hailbronner (1995), Konig/Pechstein (1995).<br />

3 Der Ausdruck »developing concept« wird sowohl von der Europaischen Kommission<br />

(European Commission 1995: 7), als auch vom Europaischen Parlament verwendet<br />

(European Parliament 1996, 5). Forderungen nach einer ortsbezogenen Staatsbiirgerschaft<br />

wurden beispielsweise vom Antiracist Network for Equality in Europe (1995: 4) vorgetragen,<br />

das verlangte, daB Staatsbiirgerschaft an »every person holding the nationality of a<br />

Member State and every person residing within the territory of the European Union« verliehen<br />

werden solie. Ahnliche Forderungen sind vom Euro Citizen Action Service (1996:<br />

I) vorgelegt worden. Der ortsbezogene Ansatz zur Staatsbiirgerschaft ist von Jane Jenson<br />

im kanadischen Kontext diskutiert worden. Jenson nennt diesen Ansatz »place-sensitive«<br />

(Jenson 1992).<br />

PROKLA. Zeitschriftfor kritische Sozialwissenschaj;, Heft <strong>105</strong>,26. Jg. 1996, Nr.4, 497-513


498 Anlje Wiener<br />

Die Dnterscheidung zwischen diesen Debatten, bei denen es urn EinfluB<br />

auf die Politikfonnulierung geht, findet ihre Entsprechung in der wissenschaftlichen<br />

Diskussion, in der sich eine Dnterscheidung zwischen »minimalistischen«<br />

und »dynamischen« Ansiitzen zur Unionsbiirgerschaft abzuzeichnen<br />

beginnt. So verfolgen die MinimalistInnen einen fonnalen Ansatz,<br />

der sich auf die Beurteilung legaler Rechte in der ED konzentiert,<br />

wiihrend der dynamische Ansatz sich aus einer politikwissenschaftlichen<br />

Schule entwickelt hat, die neue Politikoptionen in Betracht zieht und diskutiert<br />

ob und wie (Staats)Biirgerschaft4 neu gedacht werden kann.5 Diese<br />

konstruktive Perspektive baut auf der Feststellung eines politis chen Spannungsverhiiltnisses<br />

auf, das aus den Mustem von EinschluB und AusschluB<br />

resultiert, die allen (Staats)Biirgerschaftspolitiken zugrundeliegen. Diese<br />

Muster, die sowohl im intemationalen Staatensystem wie auch in der nationalen<br />

Politik eine zentrale Rolle einnehmen, werden zunehmend von<br />

den ausgeschlossenen Gruppen kritisiert. Sie sind gegenwiirtig ein zentraler<br />

Bestandteil der politischen Steuerung von Migrationspolitik und sie<br />

stellen dariiberhinaus ein kontinuierliches Thema politischer Auseinandersetzungen<br />

dar. Die innen- und auBenpolitisch wichtige Abgrenzungspolitik<br />

steht also in einem Spannungsverhiiltnis zu nonnativ oder politischpartizipatorisch<br />

begriindeten F orderungen nach Rechten auf demokratische<br />

Partizipation. Konstruktive Ansiitze versuchen, dieses Spannungsverhiiltnis<br />

auf konzeptioneller Ebene in Angriff zu nehmen. 6<br />

Dieser Artikel untersucht im Ralnnen des dynamischen Ansatzes die konzeptionellen<br />

und politischen Implikationen, die sich aus der Anwesenheit<br />

von AngehOrigen von Drittstaaten (d.h. Personen, die sich innerhalb der<br />

ED niedergelassen haben, jedoch nicht StaatsangehOrige eines ED Mit-<br />

4 Ich verwende folgende deutsche Ubersetzungen von citizenship: (1) »Staatsbiirgerschaft«<br />

mit bezug auf das modeme, nationalstaatlich begriindete Konzept; (2) »(Staats)Biirgerschaft«<br />

mit bezug auf das klassische Konzept, das auf die republikanische Konzeption<br />

von Staatsbiirgerschaft in der griechischen polis zuriickgefuhrt wird; (3) »BiirgerInnenschaft«<br />

im Hinblick auf eine neu gedachte, ortsbezogene und historisch konstruierte Konzeption<br />

der beiden o.g. Konzepte.<br />

5 Elizabeth Meehan (1996) hat die Unterscheidung zwischen diesen zwei Denkschulen vorgeschlagen.<br />

6 Der dynamische Ansatz zur Staatsbiirgerschaft ist nicht nur in bezug auf die europaische<br />

Integration entwickelt worden. Er ist ebenfalls in einer Unterdisziplin der Intemationalen<br />

Beziehungen hinsichtlich einer entstehenden »globalen Gesellschaft« diskutiert worden.<br />

Beispiele fur ersteres finden sich bei Meehan (1993), Preuss (1995), Wiener (1995);<br />

Beispiele fur letzteres bei Kratochwil (1994), Linklater (1996), Archibugil Held (1995). -<br />

Die Urspriinge dieses Ansatzes liegen in friihen Studien zur Staatenbildung, vgl.<br />

beispielsweise Bendix (1964), Tilly (1975); aber auch zu Staatsbiirgerschaft und<br />

Wohlfahrtsstaat (Balbo 1992), Marshall (1950), Hemes (1987) sowie zu liberalfeministischen<br />

Kritiken an Sozialkontraktstheorien, beispielsweise Okin (1992), Pateman<br />

(1988), Young (1990) und anti-rassistischen Studien wie AnthiaslYuval-Davis (1992),<br />

BakaniStasiulis (1994).


(Staats)Biirgerschaji ohne Staat 499<br />

gliedslandes sind) rur die Unionsburgerschaft ergebenJ Die Wahl dieses<br />

Ansatzes beruht auf zwei Beobachtungen. Erstens der »inkrementalen«<br />

Dimension der EU8 ein evolutionares Konzept von BurgerInnenschaft<br />

am besten da Artikel 8e zu einem ausbaufahigen >"\.'-"'".0(01."<br />

der Unionsbilrgerschaft beitragt, besitzt er ein kreatives Potential).9 Der inkrementale<br />

Charakter der EU ist vorwiegend im<br />

mit der<br />

Wirtschaftsintegration diskutiert worden. Diese beruht auf der fortschreitenden<br />

Verwirklichung des freien Guterverkehrs und der Freizugigkeit von<br />

Dienstieistungen, Kapitalverkehr und Personen innerhalb der EU. IO Zweitens<br />

stell en zunehmende Migrationsbewegungen und steigendes Interesse<br />

an Auslandserfahrungen (insbesondere unter jungen Menschen) - in vielerlei<br />

Hinsicht eine beabsichtigte Konsequenz europaischer Staatsburgerschaftspolitik<br />

- die Mitwirkungsstrukturen der polity und deren institutionelle<br />

Auspragungen vor neue Herausforderungen. Dies hat Auswirkungen<br />

auf neu entstehende institutionellen Beziehungen zwischen den<br />

BurgerInnen und den Gemeinschaften, in denen sie sich bewegen, leben<br />

und arbeiten. ll Falls beide Beobachtungen zutreffend sind, wird die Uni-<br />

7 O'Keeffe weist darauf hin, daB diese Personenegruppe Schatzungen zufolge zwischen<br />

acht und dreizehn Millionen Menschen umfasst (O'Keeffe 1994: 104). Ich bin mir bewuBt,<br />

daB sich anderen innerhalb der EU lebenden Gruppen andersgeartete, aber doch<br />

iihnliche Probleme stellen. Hierbei denke ich etwa an die »transnationals« (d.h. Kinder,<br />

die mit ihren Eltern in einen Mitgliedsstaat gezogen sind, dessen Staatsangeharigkeit sic<br />

nieht besitzen, sich aber dann als Erwachsene nieht in ihrem Herkunftsland haben registrieren<br />

lassen). In diesem konzeptionell orientierten Aufsatz gehe ich nur auf die Probleme<br />

einer einzelnen Gruppe ein, urn an diesem Beispiel, die politisehen Spannungen aufzuzeigen,<br />

die in Verbindung mit einer zukiinftigen Unionsbiirgerschaftspolitik auftreten<br />

kannen. Der Ausdruck »transnationals« stammt von Helen Wallace.<br />

8 Diese »inkrementale» Dimension kann am besten anhand der vieldiskutierten »ErweiterungslVertiefungsproblematik«<br />

erklart werden. »Erweiterung« bezieht sieh auf den Prozess<br />

der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten, wahrend sich »Vertiefung« iiber die Konstitutionalisierung<br />

neuer Institutionen der Euro-Polity definiert (vgl. Wessels 1991).<br />

9 Manfred Degen und Lode van Outrive, die beide maBgeblichen Anteil an den Diskussionen<br />

und der Ausfonnulierung der Unionsbiirgerschaftspolitik hatten, haben wiederholt<br />

auf die Bedeutung dieses Artikels hingewiesen (vgl. Degen 1993). Artikel 8e des EG­<br />

Vertrages bestimmt daB »[t]he Commission shall report to the European Parliament, to the<br />

Council and to the Economic and Social Committee before 31 December 1993 and then<br />

every three years on the application of the provisions of this Part. This report shall take<br />

account of the development of the Union« (meine Hervorhebungen).<br />

10 Vgl. beispielsweise den dynamischen Policy Entwurf des Weissbuches der Kommission:<br />

»Completing the Internal Market« (COM(85) 310 final, Brussels, 14 June 1985).<br />

11 Freiziigigkeit fiir Arbeitnehmerlnnen (und ihre Familien) wurde hergestellt, urn eine gro-<br />

13ere F1exibilitat auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Freiziigigkeit von Akademikerlnnen<br />

und Studentlnnen hatte die Konstruktion eines Zugeharigkeitsgefuhls zur Europaischen<br />

Gemeinschaft zum Zie!. Sie wurde durch Programme, die auf den Adonnino-Bericht folgten,<br />

angeregt (»A People's Europe«, Bulletin of the European Communities, Supp!. 7,<br />

J 985). Eine eingehende Darstellung der Verbindungen zwischen diesen Initiativen und<br />

der Unionsbiirgerschaftspolitik findet sich bei Wiener (1995). Als Kommissionsvorschlag<br />

zur Lasung des »demokratischen Defizits«, das durch die zunehmenden innergemein-


500 Antje Wiener<br />

onsburgerschaft nicht nur zu Debatten uber deren Verwirklichung in den<br />

Mitgliedsstaaten fiihren.12 Sie wird auch zum Gegenstand eines stetigen<br />

politischen Spannungsverhaltnisses zwischen den politischen Partizipationsrechten,<br />

die den Unionsburgerlnnen zuteil werden und denen, die von<br />

Drittstaatsangehorigen in Anspruch genommen werden konnen. Die Burgerschaftspolitik<br />

in der EU muJ3 deswegen ein inharentes politisches Problem<br />

lasen.<br />

Urn dieses Problem angehen zu konnen, schlagt dieser Artikel vor, den dynamischen<br />

Ansatz zur Unionsburgerschaft zu verfolgen. 13 Ich argumentiere,<br />

daB die Spannungsverhaltnisse innerhalb der Staatsburgerschaft, sowie<br />

deren Herkunft und mogliche Losungsmuster am besten erfasst werden<br />

konnen, wenn man Staatsburgerschaft als eine »Praxis« versteht. 14 Dieser<br />

Artikel gibt eine Zusammenfassung des dynamischen Ansatzes, urn dann<br />

aufzuzeigen, wie Staatsburgerschaftspraxis in einem bestimmten historischen<br />

Kontext dazu beitragen kann, das Staatsburgerschaftskonzept neu zu<br />

uberdenken. Ein solches Konzept konnte durch institutionelle Innovationen<br />

politische Mitwirkungsrechte an DrittstaatsangehOrige verleihen, indem es<br />

diese auf das Aufenthaltsrecht bezieht. 1m ersten Abschnitt des Aufsatzes<br />

wird der Begriff der Staatsbiirgerschaftspraxis definiert. 1m zweiten Abschnitt<br />

wird die Staatsburgerschaftspraxis, verstanden als Rechte, Zugang<br />

und Zugehorigkeit, auf die EU angewandt und untersucht wie der Anspruch<br />

der AngehOrigen von Drittlanderu auf politische Mitwirkung auf<br />

einer konzeptionellen Ebene angegangen werden kann.<br />

Staatshiirgerschaftspraxis: Rechte, Zugang, Zl.I.gehorigkeit<br />

1m weitesten Sinne beschreibt (Staats)Burgerschaft das Verhaltnis zwischen<br />

Individuum und politi scher Gemeinschaft. Das Konzept definiert<br />

den Anspruch auf Teilhabe an einer politischen Gemeinschaft (Staat), die<br />

von der Gemeinschaft (Volk) dazu ermachtigt ist, als Souveran Hoheitsinteressen<br />

gegenuber anderen StaatenlGemeinschaften wie auch gegenuber<br />

den BurgerInnen zu vertreten. Dieses Modell einer Beziehung zwischen<br />

zwei Einheiten, also def BurgerIn einerseits, and dem Souveran (Monarchln/Stadt/Nationalstaat)<br />

andererseits, unterliegt dem heute dominanten<br />

Gedanken moderner StaatsbUrgerschaft. 15 Aus diesen Ansatzen folgen drei<br />

sehaftlichen Migrationsbewegen verscharft wurde vgl. den Bericht »Voting rights in local<br />

elections for Community nationals«, Bulletin of the European Community, Supp!. 7,<br />

1986.<br />

12 Als Beispiel fur derartige Probleme bei der Umsetzung der Bestimmungen zur Teilnahme<br />

von Unionsburgerlnnen an Gemeindewahlen in Frankreieh, vgl. McMahon (1995).<br />

13 Fur einen weiteren minimalistischen Ansatz, vgl. Peers (1996).<br />

14 leh habe diesen Ansatz in Wiener (1995) entwickelt.<br />

15 Evans und Oliveira wei sen daraufhin, daB Staatsburgerschaft »a concept denoting the le-


(Staats)Burgerschqfi ohne Staat 501<br />

notwendige Elemente fur eine Konzeptionalisierung von (Staats)Burgerschaft:<br />

BurgerIn, Staat/Gemeinschaft und das Verhiiltnis zwischen beiden.<br />

16<br />

Da jegliche Untersuchung von Staatsbilrgerschaft auf die eine oder andere<br />

Weise auf diese drei Elemente Bezug nehmen muB, konnen diese als konstituierende<br />

Elemente der Staatsbilrgerschaft bezeichnet werden. Wiihrend<br />

die ersten beiden Elemente, BilrgerIn und Staat/Gemeinschaft, insbesondere<br />

von klassischen Ansatzen zur Staatsbilrgerschaft hervorgehoben worden<br />

sind, ist das dritte, beziehungsabhangige Element, bislang vemachHissigt<br />

worden. (Staats)Bilrgerschaftstheorie bietet nicht die notwendigen Werkzeuge,<br />

urn Staatsbilrgerschaft als historisch konstruierten Prozess oder als<br />

konstitutive Praxis zu untersuchen. Diese Ahistorizitiit tragt zu der fortlaufenden<br />

Auseinandersetzung ilber das Konzept von (Staats)Bilrgerschaft<br />

bei. 17 AuBerdem wird zunehmend akzeptiert, daB (Staats )Bilrgerschaft<br />

nicht allein auf der Basis formaler Kriterien behandelt werden kann (Kratochwil<br />

1994; Habermas 1992).<br />

Die mangelhafte Erfassung des Verhaltnisses zwischen BilrgerIn und Staat<br />

als relevante, wenn nicht sagar ausschlaggebende historische Dimension<br />

von (Staats)Bilrgerschaft ist ein bisher ungelOstes Problem fur die meisten<br />

(Staats)Bilrgerschaftsforscherlnnen geblieben, obwohl die grundlegende<br />

Bedeutung dieser Beziehung fur den ProzeB modemer Staatenbildung<br />

weithin anerkannt ist. Ich schlage eine Anniiherung an dieses Verhaltnis<br />

anhand des Konzepts von »Staatsbilrgerschafispraxis« vor. 18 Staatsbilrgerschaftspraxis<br />

wird als das Set derjenigen Handlungen verstanden, die zur<br />

Verleihung von Bilrgerlnnenrechten, zur Schaffung von Zugang und zur<br />

Entwicklung von Zugehi:irigkeit zu einer Gemeinschaft beitragen. Diese<br />

Praxis schlieBt sowohl Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftligal<br />

consequences, which attach to the existence of a special connection between a defined<br />

category of individuals and a state« ist und deswegen im wesentlichen »a provision which<br />

is made for participation by a defined category of individuals in the life of a state«<br />

(Evans/Jessurun d'Oliveira 1989: 2). Vgl. ebenfalls Turners Feststellung von »[t]wo parallel<br />

movements whereby a state is transfonned into a nation at the same time that subjects<br />

are transformed into citizens« (Turner 1990: 208).<br />

16 Ahnliche Elemente sind von Charles Tilly als grundlegende Kriterien der Staatenbildung<br />

identifiziert worden. Er bemerkt daB »[i]n its simplest version the problem [of statemaking]<br />

has only three elements. First, there is the population which carries on some<br />

collective political life - if only by virtue of being nominally subject to the same<br />

central authority. Second, there is a governmental organisation which exercises control<br />

over the rincipal concentrated means of coercion within the popUlation. Third, there are<br />

routinised relations between the governmental organisation and the population« (Tilly<br />

1975: 32).<br />

17 Tillys Bemerkung, daB »no standard definition of citizenship has yet gained scholarly<br />

consensus«, ist in diesem Sinne zu verstehen (Tilly 1995: 5). Vgl. ebenfalls Held (1991),<br />

KymlickalNorman (1994) und Turner (1993) fur ahnliche Beobachtungen.<br />

18 2ur Entwicklung dieses Konzepts siehe Wiener (1995: Kapitel 3).


502 Antje Wiener<br />

chen Kraften wie auch den GestaltungsprozeB von Politik (policy-making)<br />

innerhalb der Institutionen der Polity ein. 19<br />

Ein wesentlicher Aspekt von Staatsbiirgerschaftspraxis daB sie den<br />

konstitutierenden Elementen def Staatsburgerschaft Dynamik verleiht.<br />

Staatsbiirgerschaft ist kein statisches Konzept. Das Zusammenwirken der<br />

konstitutiven Elemente iiber Zeit und Raum verleiht dem Konzept eine historische<br />

Dimension und damit ein dynamisches Moment. Der Charakter<br />

der drei konstutiven Elemente hat sich mit der Zeit gewandelt: Der<br />

Staat bzw. die Gemeinschaft hat sich mit der Etablierung neuer Institutionen<br />

vedindert. Erfolgreiche Auseinandersetzungen um Biirgerrechte<br />

haben zu deren Ausweitung auf neue Gruppen von BiirgerInnen gefiihrt,<br />

wahrend andere als Nichtstaatsbiirgerlnnen ausgeschlossen blieben. (3)<br />

Politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel haben die Bildung<br />

neuer Institutionen initiiert bzw. bestehende institutionelle Mechanismen<br />

zur Regelung des Verhaltnisses von BurgerIn und Staat/Gemeinschaft<br />

umgestaltet. Somit hat Staatsbiirgerschaftspraxis in ihrer Erscheinungsforrn<br />

als Kampfum Biirgerrechte einerseits und in Verbindung damit<br />

als staatliche Politik andererseits zum Wandel politischer Organisation innerhalb<br />

und zwischen Gemeinschaften beigetragen. Staatsbiirgerschaftspraxis<br />

schlieBt deswegen historische Veranderbarkeit ein.<br />

Historische Studien zur Staatsbiirgerschaftspraxis, die diese Veranderbarkeit<br />

ernst nahmen, haben drei Elemente der Staatsbiirgerschaft aufgezeigt.<br />

Das erste Element betrifft Rechte, d.h. die gesetzlich geregelten Beziehungen<br />

zwischen Individuum und Staat/Gemeinschaft.20 Es schlieBt mehrere<br />

Arten von Rechten ein, beispielsweise biirgerliche, politische und soziale<br />

Rechte. 21<br />

Das zweite Element der Staatsbiirgerschaft betrifft Forrnen des Zugangs.<br />

Es gibt AufschluB fiber die Bedingungen, unter denen das Verhaltnis zwi-<br />

19 Konflikthafte Prozesse als Teil der Institutionenbildung im modemen Nationalstaat wie<br />

auch in der europiiischen Polity werden u.a. in Tillys Arbeit zur Staatenbildung (Tilly<br />

1975) und Tarrows Analyse der »Europeanisation of conflict« betont (Tarrow 1995). Im<br />

vorliegenden Aufsatz argumentiere ich, daB diese Prozesse ebenfalls eine grundlegende<br />

Bedeutung fur einen dynamischen (Staats)Burgerschaftsbegriffhaben.<br />

20 Held entwickel! diese Perspektive weiler, indem er konstatiert, daB »[ c ]itizenship rights<br />

are entitlements. Such entitlements are public and social [ ... ] They are 'of right' and can<br />

only be abrogated by the state under clearly delimited circumstances« (Held 1995: 20).<br />

21 Diese Perspektive, die (Staats)Biirgerschaft als inkrementale Erweiterung von Rechten<br />

sieht, ist vor allem mit T.H. Marshall verbunden, def Biirgerschaft in drei Phasen der Etablierung<br />

ziviler, politischer und sozialer Biirgerrechte unterteilt hat (Marshall 1950: 10).<br />

Dabei schlieBen zivile Rechte das Freiheitsrecht der Person, Redefreiheit, Gedankenfreiheit<br />

und Religionsfreiheit, Privateigentum und Vertragsfreiheit ein. Politische Rechte beinhalten<br />

das Mitwirkungsrecht an der Ausiibung politi scher Macht. Soziale Rechte umfassen<br />

das Recht auf ein MindestmaB an sozialer Wohlfahrt und Sicherheit, Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Erbe und die M6glichkeit, ein zivilisiertes Leben fiihren zu k6nnen (ebd.:<br />

10-11).


~~_ta_a_~~)_B_ur~g~er_~_ch_a~~_o_h_n_e_S_ta_a_t _____________________________________ 503<br />

schen BiirgerInnen und Staat/Gemeinschaft wird. Es wird traditionell<br />

vorwiegend juristisch als Zugang zu einem spezifischen Hoheitsgebiet,<br />

mit anderen Worten, als StaatsangehOrigkeit, definiert. Diese minimalistische<br />

Definition von Zugang regelt den Zugang zu bzw. den AusschluB<br />

von politischen Territorien. Das Konzept der Staatsbiirgerschaftsist<br />

jedoch von einem anderen Zugangsbegriffs abgeleitet. Dieser<br />

Begriff von Zugang ist nicht auf territorial definierte, politische Grenzen<br />

reduziert, sondem schlieBt auch<br />

und okonomisch definierte<br />

Kriterien, iiber die Zugang etabliert werden kann, ein. 22 Dieser Zugangsist<br />

besonders von kritisch-feministischen, sozialdemokratisch gepragten<br />

und anti-rassistischen Arbeiten entwickelt die den ausschlieBenden<br />

Charakter politi scher Staatsbiirgerschaft kritisieren. In solchen<br />

Kritiken wird hervorgehoben, daB lediglich die Verleihung von<br />

Rechten keine ausreichende Garantie dafur bietet, daB diese auch in Anspruch<br />

genommen werden konnen, wenn die Mittel zur Ausiibung dieser<br />

Rechte wie zum Beispiel sozialpolitische Einrichtungen (Schule, Trans-<br />

Sozialversicherung) fehlen.<br />

Das dritte historische Element ist die ZugehOrigkeit zu einer Gemeinschaft.<br />

Es besteht zum einen aus den rechtlichen Bindungen an ein souveranes<br />

Gemeinwesen, die sich zur Zeit entweder auf das ius solis oder das ius<br />

sanguis (Boden bzw. Blutsrecht) stiitzen und zum anderen in identitatsbezogenen<br />

Bindungen an eine Gemeinschaft, die sich durch eine bestimmte<br />

Identitat ausdriicken.23<br />

Zusammenfassend laBt sich festhalten, daB ein dynamischer Ansatz damit beginnt,<br />

die dreiteilige Konstruktion von Rechten, Zugang und ZugehOrigkeit als<br />

Essenz der Staatsbiirgerschafi zu verstehen. Wahrend es zwar moglich ist, diese<br />

Elemente gesondert zu betrachten, ist es wichtig, zu beachten, daB sie<br />

stets zueinander in Beziehung stehen und sich wechselseitig beeinfluBen.<br />

Diese drei Elemente ergeben einen prozeBorientierten, dynamischen Biirgerschaftsbegriff<br />

und werden deshalb als die historischen Dimensionnen<br />

von Biirgerschaft betrachtet. Sie fugen dem Konzept der idealen (Staats)<br />

Biirgerschaft eine kontextbezogene Bedeutung hinzu. Dadurch ermoglichen<br />

sie einen Blick auf (Staats)Biirgerschaft als Praxis. Schaubild 1 stellt<br />

dieses dreiteilige Model der Staatsbfugerschaftspraxis dar.<br />

22 Diese Perspektive wird von Brubaker hervorgehoben: »[i]ndeed political territory as we<br />

know it today - bounded territory to which access is controlled by the state - presupposes<br />

membership. It presupposes some way of distinguishing those who have free access to the<br />

territory from those who do not, those who belong to the state from those who do not«<br />

(Brubaker 1992: 22).<br />

23 Liberale Perspektiven zur Identitat finden sich insbesondere in Youngs Konzept der<br />

»differentiated citizenship« (Young 1990), aber auch bei KymlickaINom1an (1994). Als<br />

holistischen Ansatz zu Identitat und Staatsbiirgerschaft vgl. Habennas (1992).


504 Antje Wiener<br />

Dieses Modell verdelltlic:ht, daB sich Rechte und L..U,5CU'5"'JlHV5m,H1'I."m,11<br />

nicht nur aus der<br />

kulturell oder sozial definierter Riiume bestimmt wird, Diese Riiume iibersich<br />

teilweise und stellen damit die<br />

gezogenen<br />

Schaubild 1:<br />

Rechte<br />

sozial<br />

Identitat durch<br />

III<br />

- wirtschaftlichen<br />

Raumen<br />

- kulturellen<br />

- allgemeine Steuerpflicht<br />

- Militarpflicht<br />

(in/out) - Nationalitat<br />

Grenzen in Frage, Politisches Wahlrecht und okonomisch bedingte Steuerpflicht<br />

beziehen sich beispielsweise haufig aufunterschiedliche geographische<br />

Grenzen, Grenzen sind daher wesentlich fur die Definition von StaatsbUrgerschaftspraxis.<br />

ZugehOrigkeitsgefuhl hangt immer von Grenzziehungsprozessen<br />

ab, die das Gebiet der »zugehorigen« BiirgerInnen markieren.24 ZusammengefaBt<br />

liiBt sich dann festhalten, daB Abgrenzungsprozesse innerhalb<br />

und zwischen (National)staaten grundlegend fur den Prozess nationaler<br />

Identifikation sind,25 der ZugehOrigkeitsaspekt der Staatsbiirgerschaft<br />

doch auch von gesellschaftlich konstruierten Grenzen beeinfluBt wird,<br />

und ZugehOrigkeit folgen jedoch in def<br />

oftmals unterschiedlichen strategischen Mustem: Grenzen treten sowohl<br />

24 Kratochwil bemerkt, »[i]t is perhaps best to conceive of citizenship as a space within a<br />

discourse on politics that institutionalised identities and differences by drawing boundaries,<br />

both in terms of membership and in terms of the actual political practices that are connected<br />

with this membership. An explication of the concept, therefore, is not governed by<br />

the atemporal criteria of adequacy or correspondence. It necessarily becomes historical,<br />

requiring an examination of the genealogy of the concept and its temporary reconciliations«<br />

(Kratochwil 1994: 486).<br />

25 Cohens Studie problematisiert beispielsweise die »Frontiers of Identity« als grenziibergreifende<br />

Schranken (Cohen 1994),


(Staats)Burgerschaft ohne Staat 505<br />

~~--~--~--------------------------------------<br />

als sichtbare, wie auch als unsichtbare Institutionen von Einschlussen und<br />

Ausschlussen auf. Sichtbare Grenzen finden ihre institutionelle Manifestierung<br />

in Einreiseregelungen in ein bestimmtes Land (bei der Einreise auf<br />

dem Luft- oder Seeweg muB man eine Grenze uberschreiten, einen<br />

Grenzposten einen Reisepass vorweisen)0 Unsichtbare Grenzen<br />

auBem sich als<br />

zu einem Land oder zu einer bestimmten<br />

die ZoBo ethnisch oder klassenbedingt<br />

definiert ist Zahlreiche Studien haben<br />

daB diese<br />

unsichtbaren Grenzen oft eine vollstandige<br />

verhindemo Die<br />

Notwendigkeit, zwischen diesen beiden Arten von Grenzen zu unterscheiden,<br />

ist deswegen eine Pramisse dynamischer Ansatze zur Staatsburgerschaft<br />

Der erste Grenztypus ist in bezug auf eine Gemeinschaft innerhalb<br />

eines eingegrenzten Raumes definiert Er ist durch politische Burgerrechte<br />

undloder Zugang zu politischer Partizipation definierto Der<br />

zweite Grenztypus beruht auf weit subtileren EinschluB- und AusschluBmechanismen,<br />

die zutreffender als ZugehOrigkeitsgefUhl zu einer Gemeinschaft<br />

verstanden werden konneno Dieses GefUhl basiert auf tatsachlich<br />

praktiziertem EinschluJ3 uber soziale oder burgerliche Rechte, deren Erwerb<br />

aber auch mit AusschlieBungsprozessen einhergehen kanno Die Auswei<br />

tung der Sozialpolitik hat beispielsweise in vie len europaischen Landem<br />

Immigrantlnnen ungeachtet des anhaltenden Ausschlusses von politischen<br />

Partizipationsrechten den Zugang zu Sozialleistungen ennoglicht<br />

Die Grenzen innerhalb des politis chen Raumes, die beispielsweise im eingeschranktem<br />

Wahlrecht ihren Ausdruck finden, sind nicht notwendigerweise<br />

deckungsgleich mit den Grenzen soziookonomisch oder kulturell<br />

definierter Raumeo ZugehOrigkeit nimmt also unterschiedliche Ausdrucksfonnen<br />

an, denn sie steht im Wechselverhaltnis mit unterschiedlich<br />

verlaufenden Prozessen der Grenzziehungo Da derartige Trennungslinien<br />

oft nicht mit territorial definierten Grenzen zusammenfallen, fOrdem sie<br />

die Entstehung multipler<br />

die Burger und NichtbUrger<br />

chermaBen betreffen, jedoch unterschiedlich politisch mobilisierto26<br />

Auf der Grundlage der oben skizzierten dekonstruktiven Annaherung an<br />

eine historische Definition von<br />

werde ich mich mit der EU<br />

als Fallbeispiel fUr eine historisch neue Situierung von (Staats)Burgerschaft<br />

beschaftigeno Dabei steht die zunehmende Bedeutung unsichtbarer<br />

Grenzen innerhalb politi scher Gemeinwesen im Zentrumo Sie sind grundlegend<br />

fur das Verstandnis der problematischen Situation von BfugerInnen<br />

aus Drittstaaten in der EU<br />

26 Ein zunehmendes Interesse fur derartige Grenzen spiegel! sich in einer Reihe jtingerer<br />

Studien tiber Migration, Multikulturalismus und Staatsbtirgerschaft wider (vgL beispielsweise<br />

AnthiaslYuval-Davis (1992), Bakan/Stasiulis (1994), Bas (1993), Jenson (1995),<br />

KymlickaINonnan (1994), Young (1990), Yuval-Davis (1993).


506 Antje Wiener<br />

in del' un)p~iis(:hen Union<br />

Die Unionsbiirgerschaft muB von der nationalen<br />

unterschieden<br />

werden. Jede<br />

genieBt in erster Linie nationale<br />

Rechte in einem bestimmten Mitgliedsstaat und in zweiter Linie zusatzliche<br />

Rechte in allen<br />

Die Bezugnahme auf<br />

Rechte allein reicht jedoch nicht aus, urn den Charakter dieser neuen supranationalen<br />

zu erfassen. Meehan hat<br />

stellt daB eine Unionsbiirgerschaft bereits vor deren Aufnahme in den Uniexistierte.<br />

Sie rekonstruierte den entstehenden europaischen<br />

von Biirgerschaft, indem sie die sich wandelnde Bedeutung von<br />

»citizenship« tiber einen Zeitraum hinweg zusammenfaBte. Aus<br />

einem Vergleich dieser Bedeutungen mit dem Biirgerschaftstypus der EU<br />

sie, »that it is not meaningless to of European ""'''''-''''''''1-'<br />

at the coexistence of national and European "'H.1L"1li)Jll1jJ'"<br />

1993: xii).<br />

W orin nun der Inhalt dieser europaischen Wie entwickelte<br />

er sich, und was ist seine politische Bedeutung im Rahmen der Unionsbiirgerschaft?<br />

Dies sind Fragen, die gestellt werden miissen, wenn die politische<br />

Sprengkraft dieser oft als rein formal bezeichneten Biirgerschaft bestimmt<br />

werden solI. Der folgende Abschnitt gibt eine kurze Zusammenfassung einer<br />

Fallstudie, die diesen Fragen nachgegangen ist, wieder.<br />

Die Geschichte der Biirgerschaftspraxis in der EG/EU begann in den siebziger<br />

Jahren, als von EG Politikerlnnen die Notwendigkeit einer europaischen<br />

Identitat angemahnt wurde. Debatten iiber eine solche Identitat<br />

fuhrten zum Ziel »besonderer Rechte« fur GemeinschaftsbiirgerInnen, 80-<br />

wie zum Aufbau einer »Passunion«. Beide Vorhaben zielten darauf ab, eine<br />

Identitat zu schaffen, die auf einem ZugehOrigkeitsgefuhl beruhte. Das<br />

zweiteilige historische Element der ZugehOrigkeit war somit Bestandteil<br />

der sich entwickelnden Staatsbiirgerschaftspraxis. Zunachst wurde der policy-Gegenstand<br />

der besonderen Rechte als mogliche juristische Regelung<br />

von Fragen der Mitgliedschaft mit Blick auf die Entwicklung einer europaischen<br />

Identitat<br />

wahrend der policy-Gegenstand der Passunion,<br />

die den Biirgerlnnen die<br />

eines gemeinsamen Passes iiber offene<br />

interne Grenzen hinweg ermoglichen sollte, auf die Schaffung eines<br />

ZugehOrigkeitgefuhls abzielte (identitatsbezogene Bindungen). Der nachste<br />

Abschnitt der Unionsbiirgerschaftspolitk in den achtziger Jahren stand im<br />

Zeichen einer Entwicklungsphase der Gemeinschaft, in welcher die Ermoglichung<br />

einer zunehmenden grenziiberschreitenden Mobilitat von Arbeiter-BiirgerInnen<br />

als Voraussetzung fur wirtschaftliche Flexibilitat angesehen<br />

wurde. Die Freiziigigkeit verschiirfte die Diskrepanz zwischen 80-<br />

zialer und politischer Gleichheit zwischen »Auslandern« und »Staatsange-


(Staats)Burgerschaft ohne Staat 507<br />

hOrigen«. Die<br />

Konnnission formulierte dies toIgellde:rmtaJ.:Ien:<br />

»[t]his situation - seemingly incompatible with the idea of European Union - has given rise to<br />

two conflicting positions. [One is that] foreign residents are campaigning for voting rights in<br />

the municipality or residence since they have the same duties and obligations as national residents.<br />

[The other is that] member States are refusing to drop nationality as the essential criterion<br />

for granting the right to vote.« (Bulletin of the European Communities, Supp!. 7, 1986: 6)<br />

Ein zunehmendes Offentliches BewuBtsein eines »demokratischen Defisowohl<br />

im instititutionell<br />

als auch im normativ substantiellen<br />

stellten die Frage der Partizipation in den V ordergrund der<br />

EG-Biirgerschaftspolitik. Der Konflikt zwischen funktional angelegten<br />

Bediirfnissen der Wirtschaftsintegration und normativen<br />

und Gleichheitsforderungen fUhrte zu VorschHigen,<br />

onsmoglichkeiten zu verbessem, einen einheitlichen Pass einzufUhren<br />

Ratsbeschluss OJ EC, No. C 19.9.8 sowie zur Verabschiedung der<br />

»Connnunity Charter of Fundamental Rights for W orkersK 27 F orderungen<br />

nach verbesserten Mitwirkungsmoglichkeiten, sowohl in politi scher als<br />

auch in sozio-okonomischer wurden im geanderten politischen<br />

Kontext der neunziger Jahre verstarkt geauBert. Sie fUhrten zur Aufnahme<br />

politi scher Biirgerrechte in Artikel 8 EG-Vertrag, der Herstellung von<br />

Freizugigkeit von Personen und der Niederlassungsfreiheit, nicht nur fUr<br />

ArbeitnehmerInnen und deren Familien, sondem auch fUr andere Personen,<br />

die die Bedingungen der wirtschaftliehen Sieherheit und der Nationalitat<br />

erfUllten.<br />

Ohne dies im Detail weiterzuverfolgen, kann festgehalten werden, daB die<br />

Unionsbfugerschaft mehr als lediglich eine Ansannniung formaler Rechte<br />

bedeutet. Vielmehr laBt sich feststellen, daB die sich entwickelnde Biirgerschaftspraxis<br />

Rechte, Zugang und ZugehOdgkeit, historische Elemente, die<br />

veranderbar sind, in bestinnnter Weise konstruiert hat (Meehan 1993;<br />

Wiener 1995). Die Untersuchung europaischer Biirgerschaftpraxis aus 80-<br />

zialgesehichtlicher Perspektive fuhrt zur Problematisierung def Identitat als<br />

eines der drei historischen Elemente von<br />

tierte Identitaten schaff en<br />

Wahrend die EG/EU Politik auf<br />

beide Arten von ""'UFo"'CXV"Fo"',-,n<br />

deutung von den Entseheidungstragerlnnen zuerst anvisiert.<br />

Eine soIche Identitat wurde jedoch weder als nationale Identitat verstandie<br />

EG gemaB deren Nationalitat noeh zielte sie<br />

darauf ab, nationale Identitat dureh eine europaische zu ersetzen. Und aus<br />

def diskursiv differenzierten Staatsbiirgerschaftspraxis damber hinaus,<br />

daB sich die Schaffung von ZugehOrigkeit zur EG/EU in bezug auf die<br />

27 Vgl. COM(89) 568 final, die beim Treffen des Europaischen Rates in Strassburg (8.-9.<br />

Dezember 1989) angenommen wurde.


508 Anlje Wiener<br />

wirtschaftliche und politische Partizipation von Individuen herausbildete.<br />

Zu diesem Prozess gehOrten folgende zentrale Aspekte: (1) die Moglichkeit<br />

der Uberschreitung nationalstaatlicher Grenzen innerhalb der EG/EU<br />

durch ArbeitnehmerInnen, (2) die Grenziiberschreitung von Reisenden, die<br />

an Binnengrenzen den Grenzposten lediglich mit dem ungeOffueten Pass<br />

winkten (die sogenannte »Bangemann wave«), (3) der wissenschaftliche<br />

Austausch von ForscherInnen und StudentInnen, (4) die gemeinsame Wahl<br />

des europaischen Parlaments durch alle UnionsbiirgerInnen, (5) geteilte<br />

Regierungsverantwortung auflokaler Ebene.<br />

ZugehOrigkeit wurde also in der Tat schrittweise und gruppenweise geschaffen<br />

und von einem Bereich auf den nachsten ausgedehnt. Wahrend<br />

die friiheren Bestrebungen, eine europaische Identitiit uber besondere<br />

Rechte zu schaffen, auf dem AusschluBprinzip basierte, da diese Rechte<br />

ausschlieBlich durch Unionsbiirger beansprucht werden konnten, kann die<br />

Entwicklung der Staatsbiirgerschaftspolitik in den letzten zwanzig Iahren<br />

treffender als eine Politik, die auf die verschiedenen Gruppen innerhalb der<br />

EGIEU ausgerichtet war, charakterisiert werden. Es kann in der Tat festgestellt<br />

werden, daB Staatsbiirgerschaftspolitik nicht eine auf besonderen<br />

Rechten basierende, einheitliche europaische Identitat, sondem eine VielfaIt<br />

spezialisierter Rechte hervorgerufen hat, die somit zum Auftreten<br />

multipler Identitaten innerhalb eines gemeinsamen europaischen Rahmens<br />

beigetragen hat.<br />

Dieser kurze Uberblick uber die sich entwickelnde europaische Biirgerschaftspraxis<br />

baut auf der Beobachtung auf, daB die Dynamik der Staatsburgerschaftspolitik<br />

in einen zweifachen Rahmen von Wirtschaft und<br />

Polity eingebettet ist. Sie stUtzt sich auf die Errichtung des Binnenmarktes<br />

und auf Fragen der demokratischen Mitwirkung. Diese beiden Prozesse<br />

haben sich jedoch nicht im Gleichschritt fortentwickelt. Wahrend<br />

auslandische EU-Burger in einer Gemeinde an wirtschaftlichen, gesellschaftlichen<br />

und kuIturellen Aktivitaten teilhaben konnen, sind ihre politischen<br />

Partizipationsrechte stark eingeschrankt. Es darf deswegen<br />

nicht uberraschen, daB Studien zur europaischen Staatsburgerschaft eine<br />

Fragmentierung der Burgerschaftspraxis aufzeigen: Es ist fUr Unionsburger<br />

moglich, in einer Gemeinde eines bestimmten Mitgliedstaates zu<br />

wahlen und sich zur Wahl zu stellen, Krankenversicherungsbeitrage zu<br />

leisten, Sozialleistungen zu empfangen und ihren LebensunterhaIt zu<br />

verdienen, wahrend sie gleichzeitig in einem anderen Mitgliedsstaat an<br />

regional en und national en Wahlen teilnehmen und sich zur Wahl stell en<br />

konnen, Einkommensteuer bezahlen und die StaatsangehOrigkeit besitzen.28<br />

Schaubild 2 zeigt, wie die Staatsbiirgerschaftspolitik zur Erkla-<br />

28 Koslowski hiilt es fur sinnvoll, die )}segmentierte Biirgerschaft« in der EU mit den Verei-


(Staats)BiirgerschaJt ohne Staat 509<br />

~~~~--~--------------------------------------<br />

in der<br />

Schaubild 2:<br />

Recht auf:<br />

Wahlen<br />

Aufenthalt<br />

Niederlassung<br />

Petition<br />

zu:<br />

(a)<br />

EinwohnerIn,<br />

MigrantIn<br />

(iii) SteuerzahlerIn<br />

(b) legal<br />

(i) Nationalitat<br />

(ii) Ort<br />

Wenn wir der konzeptionellen Perspektive von Staatsburgerschaft, die in<br />

diesem Aufsatz gewahlt wurde, folgen, konnen die politischen Spannungen,<br />

die in der EU durch das ungleiche Verhaltnis zwischen politischen<br />

Rechten und einer Vorstellung von ZugehOrigkeit hervorgerufen werden,<br />

erklart werden. Die Einruhrung politischer Rechte rur Unions bUrger bedeutete<br />

die Institutionalisierung einer sich schrittweise entwickelnden<br />

Konzeption von ZugehOrigkeit als europeanness, die auf den fragmentierten<br />

Mitwirkungsmustem auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen<br />

Bereichen des Euro-Alltags aufbaute.29 Unionsburger sind nun - indirekt<br />

uber deren mitgliedsstaatliche Institutionen - an die<br />

gebunden.<br />

Diese bringen nicht Rechte in dem Umfang<br />

mit in dem sie sonst Bestandteil demokratischer Verfassungen<br />

sind. Die MinimalistInnen haben darauf wiederholt und zu Recht hingewiesen.<br />

Tatsachlich hat also die neue Festlegung<br />

Rechte mit den Maastrichter<br />

nicht nur positive, sondem auch<br />

nigten Staaten zu vergleichen (Koslowski 1994).<br />

29 Arbeiten, die sich dem entstehenden Stil politi scher Mobilisierung auf unterschiedlichen<br />

Ebenen der Eum-Polity widmen, finden sich vor aHem in Beitragen zum Thema Regieren<br />

im Mehrebenensystem (»multi-Ievel govemance«), beispielsweise bei Hooghe (1995),<br />

Bomberg (1996), Hooghe/Marks (1996).


510 Anlje Wiener<br />

negative Implikationen. Einerseits geniessen ehemalige Euro-AuslanderInnen<br />

inzwischen das gleiche Gemeindewahlrecht wie ihre MitbfugerInnen.<br />

Andererseits muB jedoch eine neuartige Diskriminierung zwischen UnionsbiirgerInnen<br />

und Nicht-UnionsbfugerInnen, die sich innerhalb der EU<br />

aufhalten und arbeiten, festgestellt werden (vgl. Schiesser 1995: 24).<br />

Wenn wir uns Schaubild 2 zuwenden, ergeben sich einige Anregungen fur<br />

das Hauptanliegen dieses Aufsatzes, namlich die Rekonzeptionalisierung<br />

der Unionsbfugerschaft dahingehend, Politikoptionen und -moglichkeiten<br />

(und/oder Einschriinkungen) aufzuzeigen, die sich :fur AngehOrige von<br />

Drittstaaten aus dieser neuen Geschichte der (Staats)Bfugerschaft ergeben.<br />

Erstens konnte diese Bfugerschaft auch AngehOrigen von Drittstaaten zuganglich<br />

gemacht werden, indem eine ortsbezogene Option als eine Voraussetzung<br />

der Unionsbfugerschaft in Betracht gezogen wird. Sie konnte<br />

Wahlrecht und Wahlbarkeit in Gemeindewahlen und Freiziigigkeit uber die<br />

Binnengrenzen der Union hinweg, einschlieBen, ohne sich jedoch in dem<br />

politisch sensiblen Thema der doppelten Staatsbfugerschaft zu verstrikken.<br />

30 Diese Ansicht wird vom europaischen Parlament und einer ganzen<br />

Reihe von Bfugerrechtsorganisationen geteilt. Bislang haben Bedenken der<br />

Mitgliedsstaaten in bezug auf eine mogliche Harmonisierung der Asyl- und<br />

Einwanderungsgesetzgebung eine derartige Ausweitung der Unionsbfugerschaft<br />

auf AngehOrige von Drittstaaten verhindert (vgl. Hailbronner 1995).<br />

Wenn jedoch liberal-demokratische Prinzipien die Grundlage der Polity<br />

darstellen, und wenn die Globalisierung von Miirkten weiter fortschreitet,<br />

dann wird ein Staatsbfugerschaftskonzept, das politische Rechte auf der<br />

Basis der Nationalitat und nicht auf der Basis ortsbezogener wirtschaftlicher<br />

und gesellschaftlicher Mitwirkungsfaktoren erteilt, eine Quelle politischer<br />

Spannungen bleiben.<br />

Die Einrichtung der Unionsbiirgerschaft als Institution innerhalb der Euro-Polity<br />

stellt einen ersten Schritt in Richtung einer Aufiosung dieser<br />

Spannungen dar. Das Dilemma politischen Ausschlusses ist auf der EU­<br />

Ebene identifiziert und analysiert worden;31 neuartige politische Rechte<br />

sind an AngehOrige eines Mitgliedsstaates, die in einem anderen Mitgliedsstaat<br />

leben, verliehen worden. Wahrend der Artikel zur Unionsbfugerschaft<br />

zweifellos die Bedingungen der politischen Mitwirkung fur<br />

UnionsbfugerInnen verbessert, hat er jedoch gleichzeitig Anteil an der<br />

relativen Verschlechterung des politischen Status von EU-EinwohnerInnen,<br />

die nicht StaatsangehOrige eines Mitgliedstaates sind. Die dadurch ge-<br />

30 O'Keeffe stellt fest, »Union citizenship could be conferred on third country nationals lawfully<br />

resident in the Union. It would be made subject to the satisfaction of certain criteria,<br />

modelled on those required in nationallaw« (O'Keeffe 1994: IDS; vgl. auch McMahon<br />

1995).<br />

31 Zum »c1osure/disclosure« Konzept vgl. Brubaker (1989), Soysal (1994) und Bos (1993).


(Staats)Burgerschaft ohne Staat<br />

~~~~--~--------------------------------------<br />

schaffene Situation ist auf normativ-demokratischer Basis nicht vertretbar<br />

und und politisch instabil.<br />

1m Zuge des Inkrafttretens des Unionsvertrages im November 1993 wurden<br />

diese Personen ihrer in gesellschaftlichen,<br />

kulturellen und wirtschaftlichen Raumen und ihrer oft<br />

Arbeits-<br />

und<br />

uber Nacht zu »DrittauslanderInnen« gemacht.<br />

Sie genies sen in ihren Aufenthaltsorten weniger politische Rechte<br />

als StaatsangehOrige eines anderen Mitgliedsstaates, die dort das<br />

Recht zu wahlen und zu werden, in Anspruch nehmen konnen.<br />

Solange politische Biirgerrechte auf einer Nationalitatsbasis verliehen werwerden<br />

derartige Dilemmata von EinschluB und AusschluB daraus<br />

folgende Spannungen) fortbestehen. Urn diese Spannung in Angriff zu<br />

nellmen, wurde in diesem Aufsatz vorgeschlagen, den Begriff der Staatsburgerschaft<br />

radikal zu hinterfragen, das Konzept mit Bezug auf seine konstitutiven<br />

Elemente historisch zu rekonstruieren und Burgerschaft in Richtung<br />

auf die ortsbezogene Definition<br />

Burgerrechte konzeptionell<br />

neu zu uberdenken.<br />

Literatur<br />

5 J I<br />

Aus dem Englischen ubersetzt von Ulrich Sedelmeier<br />

Anthias, Floya; Yuval-Davis, Nira (1992): Racialized Boundaries - Race, Nation. Gender,<br />

Colour and Class and the Anti-racist Struggle, London: Routledge.<br />

Antiracist Network For Equality in Europe (1995): Modifications to the Maastricht Treaty in<br />

Sight of the 1996 Inter-Governmental Conference, Rome, unv. Ms.<br />

Archibugi, Daniele; Held, David (eds.) (1995): Cosmopolitan Democracy. An Agenda for a<br />

New World Order. Polity.<br />

Bakan, Abigail; Stasiulis, Daiva (1994): Foreign Domestic Worker Policy in Canada and the<br />

Social Boundaries of Modern Citizenship in: Science and Society 58, I, S. 7-33.<br />

Balbo, Laura (1992): The Strategy of Social Citizenship, in: Z. Ferge/J. E. Kolberg (Hg.),<br />

Social Policy in a Changing Europe, Frankfurt a. M.lBoulder, Col.<br />

Bendix, Reinhard (1964): Nation Building and Citizenship, New York: John Wiley.<br />

Bomberg, Elizabeth (1996): European Decision-Making: The Role of Sub-National Authorities,<br />

Vortrag bei der Political Studies Association Conference, Glasgow, 10.-12. April.<br />

B6s, Mathias (1993): Die Ethnisierung des Rechts? Staatsbiirgerschaft in Deutschland, Frankreich,<br />

Grossbritannien und den USA, KOiner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie<br />

45, 4, S. 619-643.<br />

Brubaker, William Rogers (1992): Citizenship and Nationhood in France and Germany Cambridge,<br />

MA: Harvard UP.<br />

Brubaker, William Rogers (ed.) (1989): Immigration and the Politics of Citizenship in Europe<br />

and North America. Lanham: UP of America.<br />

Closa, Carlos (1992): The Concept of Citizenship in the Treaty on European Union, in: Common<br />

Market Law Review, 29, S. 1137-1169.<br />

Closa, Carlos (1995): Citizenship of the Union and Nationality of Member States, in: Common<br />

Market Law Review, 32, S. 487-518.<br />

Cohen, Robin (1994): Frontiers of Identity. The British and the Others (London et a!.: Longman.<br />

Degen, Manfred (1993): Die Unionsbiirgerschaft nach dem Vertrag iiber die europiiische Union<br />

unter besonderer Berucksichtigung des Wahlrechts, in: Die OjJentliche Verwaltung,<br />

Heft 17 (September), S. 749-758.


512 Antje Wiener<br />

Euro Citizen Action Service (ECAS) (1996): Revision of part two of the Treaty (draft<br />

15103/96).<br />

European Commission (1985): Completing the Internal Market, COM(85) 310 final, Brussels,<br />

14. Juni.<br />

European Commission (1995): Report on the Operation of the Treaty on European Union,<br />

Brussels, 10. Marz, SEC(95) final.<br />

European Parliament, Task-Force on the Intergovernmental Conference, No. 10 (1996): Briefing<br />

on European Citizenship; PE 165.793, Luxembourg, 15. Januar.<br />

Evans, A.C.; Jessurun d'Oliveira, A.C. (1989): Nationality and Citizenship. Rapport realise<br />

dans Ie cadre d'une recherche efJectuee a la demande de la Communautee europeenne.<br />

Strasbourg, 20 - 21 November.<br />

Habelmas, Ji.irgen (1992): Staatsbi.irgerschaft und nationale Identitat, in: J. Habermas, FaktizitlU<br />

und Geltung, Frankfurt a.M., S. 632-660<br />

Hailbronner, Kay (1995): Third-country nationals and EC law, in: Rosas, Allan; Antola, Esko<br />

(Hrsg.), A Citizens' Europe. In Search of A New Order London: Sage, S. 182-206.<br />

Held, David (1995): Between State and Civil Society: Citizenship, in: Andrews, Geoff (Hg,),<br />

Citizenship, London: Lawrence & Wishart, S. 19-25.<br />

Hernes, Helga Maria (Hrsg.) (1987): Welfare State And Woman Power, Oslo et al.: Norwegian<br />

UP/Oxford UP.<br />

Hooghe, Liesbet (1995): Subnational Mobilisation in The European Union', in: West European<br />

Politics 18:3, S. 175-198.<br />

Hooghe, Liesbet; Marks, Gary (1996): Birth of a Polity: The Struggle Over European Integration,<br />

Vortrag bei der lath International Conference of Europeanists, Chicago, 14.-16.<br />

Marz.<br />

Jenson, Jane (1992): Citizenship and Equity. Variations Across Time and Space, in: Hiebert,<br />

Janet (Hrsg.), Political Ethics: A Canadian Perspective, vo!' 12 of the Research Studies of<br />

the Royal Commission on Electoral Reform and Party Financing, Toronto: Dundum<br />

Press.<br />

Jenson, Jane (1995): Mapping, Naming and Remembering: Globalization at the End of the<br />

Twentieth Century, in: Review of International Political Economy, 2:1, S. 96-116.<br />

Konig, Christian; Pechstein, Matthias (Hrsg.) (1995): Die Europdische Union Tiibingen:<br />

J.C.B. Mohr.<br />

Koslowski, Rey (1994): Intra-EU Migration, Citizenship and Political Union, in: Journal of<br />

Common Market Studies, 32:3 (September), S. 389-91.<br />

Kovar, Robert; Simon, Denys (1994): La Citoyennete Europeenne, CDE.<br />

Kratochwil, Friedrich (1994): Citizenship: The Border of Order, in: Alternatives 19, S. 485-<br />

506.<br />

Kymlicka, Will; Norman, Wayne (1994): Return of the Citizen: A Survey of Recent Work on<br />

Citizenship Theory, in: Ethics (January), S. 352-381.<br />

Linklater, Andrew (! 996): Citizenship and Sovereignty in the Post-Westphalian State, in:<br />

European Journal of International Relations, 2: I (Miirz), S. 77-103.<br />

Marshall, T.H. (1950): Citizenship and Social Class. Cambridge: Cambridge UP.<br />

McMahon, Richard (1995): Maastricht's Third Pillar: Load-Bearing or Purely Decorative?, in:<br />

Legal Issues of European Integration 1, S. 51-64.<br />

Meehan, Elizabeth (1993): Citizenship and the European Community, London et al.: Sage.<br />

Meehan, Elizabeth (1996): Vortrag bei der KonJerenz '1996 and Beyond. A Constitution for<br />

Europe', South Bank University, London, 18.-19. April.<br />

O'Keeffe, David; Twomey, Patrick M. (Hrsg.) (1994): Legal Issues of the Maastricht Treaty.<br />

London: Wiley Chancery Law.<br />

O'Leary, Siofra (1995): The Relationship Between Community Citizenship and the Protection<br />

of Fundamental Rights in Community Law, in: Common Market Law Review, 32, S. 519-<br />

554.<br />

akin, Susan M. (1992): Women, Equality, and Citizenship, Queens Quarterly 99, I, S. 56-71.<br />

Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract, Stanford.<br />

Peers, Steve (1996): Towards Equality: Actual and Potential Rights of Third-country Nationals<br />

in the European Union, in: Common Market Law Review 33, S. 7-50.


(Staats)Biirgerschaft ohne Staat 513<br />

Preuss, Ulrich K. (1995): Citizenship and Identity: Aspects of a Political Theory of<br />

Citizenship, in: Bellamy, Richard u. a. (Hrsg.), Democracy and Constitutional Culture in<br />

the Union of Europe, London: Lothian FP, S. 107-120<br />

Schiesser, Giaco (1995): Migration, Rassismus und Citoyennete. lIber die Grenzen hinaus,<br />

WochenZeitung 42,20. Oktober, S. 24.<br />

Tarrow, Sidney (1995): The Europeanisation of Conflict: Reflections from a Social Movement<br />

Perspective, in: West European Politics, 18:2 (April), S. 223-251.<br />

Tilly, Charles (1995): Citizenship, Identiy and Social History, in: Tilly, C. (Hrsg.), Citizenship,<br />

Identiy, and Social History, Cambridge: University Press.<br />

Tilly, Charles (ed.) (1975): The Formation of National States in Western Europe. Princeton,<br />

NJ: Princeton UP.<br />

Turner, Bryan S. (1990): Outline of a Theory of Citizenship, in: Sociology 24, 2, S. 189-217.<br />

Turner, Bryan S. (ed.) (1993): Citizenship and Social Theory. London et al.: SAGE.<br />

Wessels, Wolfgang (1991): Deepening and/or Widening - Debate on the Shape of EC-Europe<br />

in the Nineties', in: Auf3enwirtschaft, 46:3/4, S. 157-169.<br />

Wiener, Antje, (1995), Building Institutions: The Developing Practice of European Citizenship.<br />

Carleton University, Department of Political Science, Unpub!. Ph.D. dissertation.<br />

Young, Iris M. (1990): Polity and Group Difference: A Critique of the Ideal of Universal Citizenship,<br />

in: Sunstein, C. (Hg.), Feminism and Political Theory, Chicago, S. 117-142.<br />

Yuval-Davis, Nira (1993): Gender and nation, in: Ethnic and Racial Studies 16,4, S. 621-632.


Die Neue<br />

Gesellschaft<br />

Frankfurter<br />

Refte<br />

DIE NEUE GESELLSCHAFT/FRANKFURTER HEFTE erscheint monatlich.<br />

8inzelheft DM 14,80/08 108,-/sF!' 14,80. Jahresabonnement DM 99,-/(iS 723,-/sFr<br />

92,- frei Haus. Abonnements und altere Probehefte bei: Redaktion DIE NEUE<br />

GESELLSCHAFT/FRANKFURTER HEI


Jane D.<br />

»Kanadierlnnen konnen sich nicht auf eine gemeinsame Religion oder Ethnizitat oder auf<br />

Jahrhunderte von Mythen und Legenden beziehen, urn eine einfache Antwort auf die Frage<br />

nach der national en ldentitat zu bekommen ... die Offentliche Krankenversicherung hat den ...<br />

en011llen Vorteil eines konkreten, praktischen Beispiels gemeinschaftlichen Staatsbiirgerrechts.«<br />

(Valpy 1996)2<br />

»Der Gesundheitsminister [von Ontario] Jim Wilson sagte bei Anhiirungen in Toronto, daB er<br />

nicht die Absicht habe, die quietschenden Rader 'besonderer Interessen', die von den Krankenversicherungs(provisionen)<br />

des Gesetzes betroffen waren, zu olen. 'Die Regierung wird<br />

nicht denen, die am lautesten sehreien, eine Sonderbehandlung zukommen lassen .. .' Roxanne<br />

Felice sehreit nieht, aber sie findet, daB def Staat ihr trotzdem zuhoren sollte. Sie g!aubt nicht,<br />

daB ihr gemeinnUtziger Sozialdienst, den sie in Niagara Falls !eitet, eine besondere Interessengruppe<br />

ist, befurchtet aber, daB er als solehe angesehen wird. 'Ich glaube, Gruppen werden oft<br />

als besondere lnteressengruppe abgestempelt, aber ich denke, daB Leute Gruppen bilden, wei!<br />

sie iiffentliche Interessen haben.'« (Campbell 1996: Dl)<br />

Warum rufen Kurzungen und Reform des kanadischen Krankenversicherungssystems<br />

Bedrohungen nationaler Identitat und Auseinandersetzungen<br />

uber staatsburgerliche Teilhaberechte hervor? Warum stehen die Grundlagen<br />

von Staatsburgerschaft - nationale Identitat, soziale Rechte, Demokratie<br />

- in dem Moment zur Debatte, da Bundesregierung und Provinzen<br />

anfangen, die Finanzierungsweise und die Schliessung von Krankenhausem<br />

zu diskutieren? Diese Fragen sollen mittels einer Analyse der gegenwi:irtigen<br />

Veranderungen des kanadischen Staatsbfugerschaftsregimes<br />

beantwortet werden. Die ausgewahlten aber typischen Zitate der<br />

kanadischen »Nationalzeitung« sollen daher als<br />

der Untersuchung<br />

dienen.<br />

Die im zweiten Zitat erwahnten Offentlichen AnhOrungen sind von der<br />

konservativen Regierung Ontarios im Januar 1996 organisiert worden. Die<br />

Regierung sah sich nach einer vehementen Kritik der Opposition gegen die<br />

Dieses Papier wurde auf der Konferenz zu Social and Political Citizenship in a World of<br />

Migration, im Rahmen des European Forum am Europaisehen Universitatsinstitut in Florenz,<br />

Italien, 22.-24. Februar 1996 vorgestellt.<br />

2 Dies sind die Worte eines Okonomen, Lars Osberg, die Valpy zustimmend zitiert.<br />

PROKLA. Zeitschrififur kritische Sozialwissenschaft. H~ft <strong>105</strong>, 26. Jg. 1996, Nr.4, 515-542


516 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

Omnibus Bill die im November 1995 verabschiedet worden war,<br />

zu dieser Aktion gezwungen. Dieses Gesetz war<br />

».oo dazu bestimmt, der Regierung Flexibilitat im Umgang mit Ontarios hartnackigem Haushaltsdefizit<br />

zu verleihen. Es sah vor, Queen's Park [die Provinzregierung] zu ermachtigen,<br />

Arzten vorzuschreiben, wo sie praktizieren konnten, sowie die Schliessung von Krankenhausern<br />

einzuleiten. Gemeinden sollten das Recht zur Erhebung neuer Steuern sowie zur Angleichung<br />

von Lizenzgebiihren erhalten. Auflerdem war die Deregulierung von Medikamentenpreisen<br />

... geplant.« (Campbell 1996: 01)<br />

- Liste beabsichtigte die<br />

unljs3,tzllCDle Umgestaltung der Gewalten einzuleiten: zwischen Regle;rulllg~;ebenlen,<br />

zwischen Staat und BfugerInnen und zwischen Offentlichem<br />

und Sektor. Auf def Basis solcher »Flexibilitat« milJ3te die<br />

Regierung bei einer ganzen Reihe von Eingriffen die Legislative nicht<br />

mehr konsultieren. Mehr als 1200 Zeuglnnen hatten sich rur die AnhOrungen<br />

lassen, nur 367 wurden zugelassen.<br />

Obwohl dieser Vorfall nur eine von 10 kanadischen Provinzen betrifft, ist<br />

er beispielhaft rur die Veranderungen des Staatsburgerschaftsregimes, die<br />

in den 90er Jahren im ganzen Land stattfanden. Vor zwei Jahrzehnten war<br />

die Situation eine ganz andere. Das kanadische Staatsbilrgerschaftsregime,<br />

wie es sich in der Nachkriegszeit herausgebildet hatte, umfaBte Mitte der<br />

70er Jahre landesweite Institutionen, die die BurgerInnen als individuelle<br />

»KanadierInnen« ansprach und damit rur einige kurze Dekaden ganz Ka··<br />

nada zu einem einzigen politischen Raum mit dem sich die BilrgerInnen<br />

identifizieren konnten.3 Gleichzeitig gab es jedoch auch eine programmatische<br />

Anerkennung besonderer Kategorien von BilrgerInnen und<br />

damit eine Legitimitat rur die intermediaren Verbande der Zivilgesellschaft,<br />

die diese besonderen Interessen reprasentierten.4<br />

Die Herausbildung dieses Regimes begann bereits in den Kriegsjahren.<br />

Seine ausgereifteste Form erreichte es mit der Charter of Rights and Freedoms,<br />

die 1982 in die Verfassung eingerugt wurde (Campbell 1996:<br />

Das Staatsburgerschaftsregime wurde in verschiedener Weise institutionalisiert,<br />

am deutlichsten durch die Verfassung und die zugehOrigen Dokumente<br />

wie den Citizenship Act. Jedoch haben auch die staatliche Burokratie,<br />

beratende fOderale und andere Institutionen<br />

insbesondere das Parteiensystem diskursiv und praktisch zu diesem<br />

Regime beigetragen.<br />

Obwohl die Normen des Regimes definitiv institutionalisiert und durch eine<br />

Reihe von Verbands- und Staatspraktiken materialisiert waren, blieben<br />

3 Dem ging ein Staatsbiirgerschaftsregime voraus, das sich als eines von »InselcGemeinschaften«<br />

beschreiben liiBt, siehe Jenson (1991).<br />

4 M.a.W., kanadische Politik driickte we it weniger Befiirchtungen vor dem »mischief of<br />

faction« aus als zooB. in den USA vorherrschen. Siehe dazu Cohen/Rogers (1995).


StaatsbUrgerschaJtsregime im Wandel 517<br />

Sle me<br />

Die Definitionen von Nation und ge:sarntl~:anadischer<br />

Identitat wurden zumindest seit den 60er Jahren von den nationalistischen<br />

..., ../->,•••, .•• Volkem AuBerdem<br />

vrnnnlPrll1nlYP,.., und die traditionelle Rechte die aktive<br />

Rolle des Staates ab,<br />

Nichtsdestotrotz es tiber eine Reihe von Jahrzehnten einen bemerkenswerten<br />

Konsens uber die Konstruktion der<br />

also<br />

iiber die Normen und die das Verhaltnis von Staat und Geselldie<br />

von Ein- und Ausschluss und die Grenzen des<br />

Nationalen regulierten, Diesen Konsens gibt es inzwischen nicht mehr. Er<br />

ist durch die<br />

iiber die okonomische Umund<br />

die<br />

mung des<br />

Raums infolge nationalistischer Auseinandersetzungen<br />

aufgebrochen worden. Die Politik des Neoliberalismus, die im Staat wie<br />

in der<br />

fest verankert 1st, liefert viele der<br />

mit denen Staatsbiirgerschaft heute neu konstituiert wird.<br />

Diese Veranderung des kanadischen Staatsburgerschaftsregimes steht im<br />

IVlJ.W.,l[.HUU" des vorliegenden Aufsatzes. Das Regime, dag sieh naeh dem<br />

Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte, war dureh eine breite und koharente<br />

institutionelle Verbindung zwischen Staat und BurgerInnen gepragt.<br />

Als Reaktion auf die okonomischen und politisehen Bedingungen des spaten<br />

zwanzigsten Jahrhunderts wurde dieses Regime abgebaut und neu konstituiert.<br />

Statt Gleichberechtigung wird jetzt die Starkung von marktwirtsehaftliehen<br />

Strukturen angestrebt. Damit reduziert sich der Raum erhebin<br />

dem BiirgerInnen gemeinsam, sozial und politisch handeln kennen.<br />

Die Anerkennung der Legitimitat und Notwendigkeit von intermediaren<br />

Verbanden, welche die Kluft zwischen den formalen Staatsburgerschaftsrechten<br />

und dem tatsachlichem Zugang zu denselben verringem sollen,<br />

nimmt deutlich abo wurde die breit geteilte<br />

daB def Staat eine aktive Rolle bei der Uberwindung dieser Kluft<br />

sollte, durch die waehsende Unterstiitzung fur neoliberale Definitionen von<br />

Staat und<br />

Trotzdem bleiben in dieser<br />

noch andauemden Rekonfiguration des Staatsburgersehaftsregimes die Positionen<br />

interessanterweise offen, denn demokratisehe Staatsbiirgerrechte<br />

sind immer noch ein bedeutendes und mobilisierendes Konzept innerhalb<br />

der Zivilgesellsehaft. Ein Beispiel dafur ist Frank Gue, ein Sprecher der<br />

Coalition Burlington Inc., einer Gruppe, deren fiskalischer Konservatismus<br />

sie eigentlich zu narurlichen Verbundeten der Regierung machen<br />

sollte. »Reform«, erklarte er Mitgliedem des Provinzparlaments im<br />

Hinblick auf Bill 26, »ist effektiv, wenn sie mit dem Yolk, nicht fur es gemacht<br />

wird« 1996, D3).


518 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

1. Stllatsbi.i.rll:en;chaft:sn~gilme: Raum und Stabilitat und Wandel<br />

Die Arbeit historischer Soziologlnnen hat von den Untersuchungen Marshalls<br />

am Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu der jilngsten »Interessenexplosion«,<br />

die von und Norman (1994: 352) beschrieben<br />

gezeigt, daB eine soziale Konstruktion die ilber<br />

Raum und Zeit variiert. Wie viele<br />

Marshall eingeschlossen,<br />

bemerkt war die von ihm dargestellte Geschichte der Zunahme zipolitischer<br />

und sozialer Rechte britische Geschichte.5 Andere Lander<br />

hatten eine andere Geschichte. Eine zweite Lehre Marshalls ist die Idee<br />

vom zeitlichen Wandel der Staatsbilrgerschaft. Seine Geschichte handelt<br />

von neuen die werden, und von neuen die Zugang<br />

zur Staatsbilrgerschaft erreichen, sowie von Definitionen von Gemeinschaft,<br />

die sich mit der Zeit verandem.<br />

Mit diesen beiden Einsichten Marshalls als Grundlage steht das Konzept<br />

von Staatsbilrgerschaft auf zwei - theoretischen - Beinen. Erstens ist<br />

Staatsbilrgerschaft eine historische Konstruktion, ihre Form daher veriinderbar.<br />

Von den Formen cler Staatsbilrgerschaft sind dann auch die besonderen<br />

politischem Auseinandersetzungen, Entwicklungsprozesse und InstitutionengefUge<br />

wie auch die zeitlich bestimrnte Erlangung von Rechten<br />

beeinfluBt. Da die Idee der Staatsbilrgerschaft parallel mit den modemen<br />

Staaten entstand, ist der Raum, in dem diese Auseinandersetzungen ausgetrag<br />

en sowie Institutionen und Rechte etabliert wurden, bis heute in nationalen<br />

Grenzen eingebunden. Insofem konnen wir von Staatsbilrgerschaftsregimen<br />

genauso wie von W ohlfahrtsstaatsregimen sprechen; das Staatsbilrgerschaftsregime<br />

formt die institutionellen Arrangements, die Regeln<br />

und die Konzeptionen, die im Hinblick auf gegenwiirtige Policy-Entscheiclungen,<br />

Staatsausgaben und Problemdefinitionen von Staaten und<br />

BilrgerInnen sowie fUr die Forderungen der BilrgerInnen einfluBreich<br />

sind.6<br />

Ein Staatsbilrgerschaftsregime beinhaltet die Repriisentation von IdentiHiten,<br />

der »nationalen« wie auch derjenigen der »Modellbilrgerln« und der<br />

»Nicht-Burger/in«. Es enthiilt zusiitzlich Repriisentationen def gewohnli-<br />

5 Marshall selbs! hat dies sehr deutlich gemacht, siehe z. B. Marshall (1965:91). Die weitverbreitete<br />

Ansicht, daB er die von ihm dargestellte Entwicklung als eine allgemeine Geschichte<br />

der »Modernisierung« ansah, ist eher denen zu verdanken, die ihn popular machen<br />

wollten. Siehe z. B. Lipsets Einfiihrung in die Anchor Collection (Marshall, 1965),<br />

die Marshall in die Modemisierungsliteratur einordnet.<br />

6 Diese Definition ist eine modifizierte Version der Definition des Wohlfahrtsstaatsregimes<br />

in Esping-Anderson (1990:80). Obwohl wir die Definition Esping-Andersens iibemommen<br />

haben, ist es wichtig darauf zu verweisen, daB unser Aufsatz eine Fallstudie ist und<br />

keine Festlegung von Regimetypen anstrebt. Der Vergleich mehrerer Typen von Regimen<br />

war dagegen der Ausgangspunkt von Esping-Andersons Analyse.


Staatsbiirgerschaftsregime 1m Wandel 519<br />

----~--~--~------------------------------------<br />

chen und sozialen Verhaltnisse zwischen und innerhalb dieser<br />

Kategorien, wie auch der Grenzen des<br />

und des<br />

»Privaten«.7<br />

Diese Reprasentation von Identitaten und sozialen Verhaltnissen stell en die<br />

Grundlage von Anspruchen der BurgerInnen dar. Durch die Reprasentation<br />

ihrer Identitat k6nnen Gruppen und Individuen sich selbst und andere sowie<br />

die Interessen verstehen. Dabei auch der Staat eine<br />

wichtige Rolle, da er die Macht hat, BurgerInnen im allgemeinen wie auch<br />

unter besondearen Kategorien anzuerkennen. Auf dieser Basis kann def<br />

Staat dann die Anspriiehe von BurgerInnen verhandeln.<br />

Das zweite theoretisehe Standbein des Staatsburgersehaftsregimes baut auf<br />

den Vorstellungen uber Stabilitat und Wandel sozialer Verhaltnisse<br />

wie sie insbesondere von der Regulationsschule entwickelt wurden. Ohne<br />

diesen Ansatz im Detail zu beschreiben, geniigt es festzustellen, daB RegulationistInnen<br />

von einer gewissen Stabilitat sozialer, okonomiseher und<br />

politischer Grundverhaltnisse ausgehen, die uns erlauben, von der Existenz<br />

von Regimen zu spree hen. Mit dem Eintreten einer Krise - die grundsatzlich<br />

als eine Zunahme der immer prasenten Widerspruche eines Regimes<br />

definiert wird - kann es zu einem tiefgreifenden Wandel und einer Neuorientierung<br />

kommen. Ordnungs- und Legitimationsprinzipien konnen dabei<br />

zusammenbreehen und andere Konzeptualisierungen ermoglichen. Inhalt,<br />

Richtung und die langfristige Stabilitat einer solchen Bewegung sind jedoch<br />

nicht von vomherein festgelegt, sondem das Produkt konkreter Auseinandersetzungen<br />

an bestimmten Orten (Lipietz 1987, Boyer 1986, Jenson<br />

1989a).<br />

Dementsprechend konnen auch Staatsburgerschaftsregime nur als Festschreibung<br />

dnes allgemeineren Modells von Staatsburgerschaft an bestimmten<br />

Orten und im Wechselverhaltnis mit einer allgemeinen Regulationsweise<br />

existieren. Genauso, wie wir von »Fordismus« nur abstrakt sprechen<br />

k6nnen und die jeweilige Form des Fordismus zu verschiedenen<br />

Zeitpunkten bestimmen mussen, nimmt auch ein allgemeines Modell von<br />

Nachkriegsstaatsbiirgerschaft in jedem einzelnen Fall untersehiedliche<br />

Formen an. 8 Jedes Staatsburgerschaftsregime entsteht aus den politisehen<br />

Zusammenhangen eines nationalen Staates heraus.9<br />

7 Ausfuhrlich werden diese Argumente in Brodie/Jenson (1988: Kapitel I) und Jenson<br />

(I 989b ) entwickelt.<br />

8 Zur Variabilitat des »Fordismus« und der spezifischen Charakteristika von Kanadas<br />

durchlassigem Fordismus, siehe Jenson (I 989a),<br />

9 Offensichtlich stellt die Entstehung supranationaler politi scher Einheiten mit Staatsburgerschaftsvorgaben,<br />

wie zum Beispiel die Europiiische Union mit dem Maastrichter Vertrag<br />

diese Behauptung zukunftig in Frage (Meehan 1993, Wiener 1995). Daruber hinaus<br />

sind Menschenrechtsbewegungen und andere transnationale Krafte dabei, ein alternatives<br />

Modell von Mitgliedschaft hervorzubringen.


520 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

Als stabil kann man ein Regime uc"",,,,uVvU, in dem der offiziell erkHirte<br />

und der erwartete Status so daB die def<br />

durch den Staat<br />

a~rp01mp:n im GroBteil von Westeuropa<br />

existierte eine<br />

Dieses<br />

dell war »sozialdemokratisiert«. Re:prilsent~ltl war urn und durch klasseribezo!~ellie<br />

Akteure V'5U'''0'V' Eine urn die Produktion zentrierte Politik<br />

war bestimmend fur die Praxis der sozialdemokratischen Nordischen Uinder<br />

wie auch fur die Lander Soziale<br />

Rechte fUr die die in den meisten Landem durch<br />

wurde. Die Rechte anderer<br />

von BurgerInnen existierten als eine<br />

von dieser<br />

Grundform. Andere Lebenssituationen wurden auf diese Grundform bezogen:<br />

so es Renten rur »alte« Arbeiter; Arbeitslosengeld fUr<br />

»ohne Arbeit«; und fUr die und<br />

Arbeiter«.<br />

die nicht auf die entlohnte Arbeit bezogen wurden<br />

(Kinder gebaren und aufziehen zum Beispiel) wurden entweder durch ein<br />

getrenntes - und unterbewertetes - Programm oder als Zuschlag fUr die<br />

»Familien von Arbeitem« eingestuft. Dieses kam in die Krise, als<br />

es nicht Hinger m6g1ich war, aIle Widerspriiche aufzufangen, die daraus redaB<br />

der entlohnte (mannliche) Arbeiter nicht mehr als<br />

Staatsburgerschaftsnom1 konnte. Sowohl okonomische Umstrukturierungen<br />

als auch die Forderungen neuer Gruppen nach<br />

trugen<br />

zu einer Verschiebung der verschiedenen Repdisentationen beL Das<br />

wurde daher in den letzten beiden Jahrzehnten<br />

gnmasatZ!H;nen Umgestaltung - der »Krise des Fordismus« -<br />

U11\-,~a·C"'l'vl1 verandert.<br />

verandert sich ein Staatsburgerschaftsregime weder noch<br />

VUlvlJLllV~. In Zeiten okonomischer und fYV1.H"'YH'vl<br />

otr.,lrtnrlPn.no- def Rolle des<br />

die Definitionen des »Nationalen« wie<br />

verschieben. 10 uc


Staatsbiirgerschaftsregime im Wandel 521<br />

Die theoretische Annahme der<br />

daB das<br />

dieser Auseinandersetzungen um neue ldentitaten und<br />

nie im voraus festliegt. Wahrend man einerseits erwarten daB die historisch<br />

geschaffenen<br />

und das institutionalisierte<br />

Einflu13 auf die Entwicklungsrichtung haben ist es andererdaB<br />

die Krisenpolitik desselben Entverlauft.<br />

Umbruch und<br />

sind HRI;.(U"ll.<br />

Daher konnen nur Fallstudien daruber AufschluB geben, ob und wie sich<br />

moglicherweise allgemeine Muster herauskristallisieren. Ais<br />

dazu prasentiert dieser Aufsatz den Zerfall des kanadischen U",«""VCH!',""<br />

der<br />

2. Die von<br />

Grob verallgemeinernd kann man sagen, daB<br />

ein<br />

stem von Einschlu13 und Ausschlu13 etabliert. Sie definiert Grenzen, indem<br />

sie den Staatsburgerschaftsstatus der Eingeschlossenen anerkennt und ihn<br />

den Ausgeschlossenen verweigert. Diese Feststellung von innen und auBen<br />

fuhrt direkt zu zwei weiteren Dimensionen von Staatsburgerschaft: Staatsbiirgerschaft<br />

als Zuschreibung von Rechten und Staatsbiirgerschaft als<br />

Grundlage des Gefuhls von ZugehOrigkeit zu einer besonderen Gemeinschaft<br />

(KymlickaINorrnan, 1994:352). Einige Studien zur Staatsbiirgerschaft<br />

haben EinschluB und Ausschlu13 auf die politische Grenze del' Nationalitat<br />

bezogen (BurgerIn eines<br />

12 Abgrenzungen sind jedoch<br />

nie auf nationale Grenzen eingeschrankt geblieben. Interne Abgrenzungen<br />

haben schon citizens, Personen, die aIle Burgerrechte inne hatten,<br />

von nationals mit eingeschrankten Rechten, also einer Art »zweiter<br />

Klasse Burgerln«<br />

13 Diese internen Unterschiede zeigen, wie<br />

11 Diese drei Dimensionen von Staatsbiirgerschaft sind von Wiener (1995) iibemommen.<br />

12 Dies ist ein Element von Staatsbiirgerschaft, das Brubaker (1992) anspricht und dabei<br />

grundsatzlich die beiden Konzepte von Staatsbiirgerschaft und Nationalitiit als iiberlappend<br />

darstellt. SoysaJ (1994) konzentriert ihre Studie aueh auf Nationalitat, jedoch mit der<br />

Intention, die Durchlassigkeit von Staatsbiirgerschaftsregimen gegeniiber Nicht-Biirgerlnnen<br />

in Landem mit Gastarbeiterlnnen zu demonstrieren.<br />

13 Verschiedene Untersuchungen haben die rechtliche Dimension von Staatsbiirgerschaft<br />

noeh weiter spezifiziert, um so das AusmaB von Ungleichheit oder eine Hierarchie von<br />

Rechten innerhalb desselben Staatsbiirgerschaftsregimes zu bestimmen. Die Grundfrage<br />

ist dabei, welche Biirgerlnnen haben Zugang zu welchen Rechten. Auch der reale Zugang<br />

zu dem verfassungsmassig definierten Ideal >>universeller Rechte« wurde untersucht. So<br />

zeigten z. B. Studien zu Staatsbiirgerschaft und Geschlecht die ungleiche Verteilung sozialer<br />

Staatsburgerschaftsrechte durch Wohlfahrtsstaatsregime, die den miinnlichen Erniihrer<br />

als Modellbiirger betrachteten (Hemes 1987). Es resultieren auch Unterschiede<br />

daraus, daB einige Sozialprogramme als Staatsbiirgerschaftsrechte definiert wurden, wahrend<br />

andere Programme ehef als Hilfe oder WohlfahrtsmaBnahme betrachtet wurden<br />

(Nelson 1990),


522 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

die verschiedenen Formen der<br />

von<br />

sind.<br />

Viele<br />

tiber die Identitatsdimension von<br />

gehen von der Annahme aus, daB die Staatsburgersehaftspraxis ein GefUhl<br />

von unter den auslOst, als eine<br />

Art von Dankbarkeit. Tatsaehlieh wurde seit dem 19. Jahrhundert vielfach<br />

angenommen, daB die Ausdehnung politischer und mehr noeh sozialer<br />

Reehte, die in der Staatsburgersehaft eingeschlossen sind, den revolutionaren<br />

Drang der Arbeiterklasse beruhigen wiirde. Die Begriindung von Identitat<br />

erfolgt hier iiber Reehte: Zugang zu Rechten wird ein GefUhl von ZugehOrigkeit<br />

schaffen. 14<br />

Eine solche Formulierung jedoeh zu um den Inhalt staatsbiirgerlicher<br />

Identitat zu beschreiben.Wie erkennen wir eine BiirgerIn? Wie<br />

sieht eine ModellstaatsburgerIn in unterschiedlichen Staatsbiirgersehaftsregimen<br />

aus? Was ist die Modellbeziehung zwischen Biirgerlnnen und<br />

Staat? Das Schweigen iiber solche Fragen ist zweifellos auf drei Tendenzen<br />

zuriiekzufUhren: Staatsbiirgerschaft gilt als nationenbildend, daher<br />

wird angenommen, daB eine »nationale« Identitat aus der Ausdehnung<br />

von Reehten resultiert; »universelle« Forderungen des Staatsbilrgerschaftsdiskurses<br />

werden fUr die Realitat gehalten, ohne daB man sich Reehensehaft<br />

darilber ablegt, daB BilrgerInnen zweiter-Klasse existieren<br />

konnten; und eine »gesellschaftszentrierte« Staatstheorie verstellt den<br />

Blick auf mogliche »Interessen des Staates« an besonderen Reprasentationen<br />

staatsbilrgerlicher Identitaten. 15 Wenn wir zu verstehen beginnen,<br />

daB Staatsbilrgerschaft weit mehr als eine Abgrenzung zwischen NationalbiirgerInnen<br />

und nicht-NationalbilrgerInnen bedeutet, daB Unterschiede<br />

zwischen BilrgerInnen bestehen und daB staatliehe Institutionen<br />

an der Politik der Anerkennung sind, dann milssen<br />

wir uns fragen, unter welehen Umstanden der Staat die Reprasentation<br />

seiner BilrgerInnen andern und wann sieh staatsbilrgerliche Ansprilche<br />

verandern.<br />

14 Genau diese FOlmulierung wurde von den Institutionen der Europaischen Union angewandt,<br />

die seit den 70er Jahren explizit an einem Konzept fur eine gemeinsame Staatsbiirgerschaft<br />

als die Union stiitzender Strategie gearbeitet haben (Wiener 1995: Kapite13).<br />

15 Sozialdemokraten verschiedener Couleur haben am ehesten Staatsbiirgerschaftspolitik als<br />

eine »politische Auseinandersetzung« angesehen, die nonnalerweise von der organisierten<br />

Arbeiterlnnenklasse gefuhrt wird. Aber klassische MarxistInnen, die wenig Interesse<br />

an »Staatsbiirgerschaft« gezeigt haben und den Staat als »bestes politisches Gehiiuse fur<br />

den Kapitaiismus« betrachtet haben, sahen Rechte lediglich als Belange der biirgerlichen<br />

Gesellschaft. Zwar wurden einige Korrektive dieser Sichtweise angeboten, denoch gibt es<br />

relativ wenig Reflexionen zu der Frage warum der Staat daran interessiert sein kiinnte,<br />

seine Anerkennung bestimmter Identitaten zu veriindem.


Staatsburgerschaftsregime im Wandel 523<br />

1m vorliegenden Aufsatz suchen wir nach der Art und Weise, in der staatliche<br />

Institutionen - sowohl intendiert als auch nicht-intendiert - eine Politik<br />

der Anerkennung betreiben. Tatsachlich beinhaltet die staatliche Festlegung<br />

von Rechten und Zugangen, daB der Staat an der Reprasentation von<br />

BfugerInnen untereinander teilhat. Staatliche Institutionen haben jedoch<br />

nie die Macht, diese Identitaten zu »etablieren«. Ansprtiche auf Anerkennung<br />

werden in der Zivilgesellschaft gebildet, oft in Form von Forderungen<br />

nach veranderten Machtverhaltnissen. Der Staat kann solche Ansprtiche<br />

anerkennen und dadurch einige Identitaten festigen, aber die Identitat<br />

bleibt Besitz der AnspruchstellerIn und wird durch eine kollektive Politik<br />

geschaffen (vgl. Jenson 1991).16<br />

In Kanada, wie auch in vielen anderen Landern, ist das Staatsburgerschaftsregime<br />

in der Krise und wird unter Druck umstrukturiert. Die neuen<br />

Bedingungen sind deutlich andere als in Marshalls Welt, die die bertihmten<br />

dreifachen Rechte etabliert hatte. Sie sind sogar verschieden von der Welt,<br />

in der soziale Bewegungen eine differenzierte Staatsbiirgerschaft zu schaffen<br />

versuchten. Mehr als ein Jahrzehnt neokonservativ gepragter Politik hat<br />

neue Definitionsangebote fUr eine marktorientierte und individualisierte<br />

Staatsbfugerschaft hervorgebracht.<br />

3. Gleichberechtigte Staatsbiirgerschaft:<br />

Anerkennung von Kategorien, Offnen von Zugang<br />

Das kanadische Staatsburgerschaftsregime war ein integrierter Teil des<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschenden Entwicklungsmodells.<br />

Wie bei zahlreichen anderen Industrielandern auch war das kanadische<br />

Modell ein fordistisches, allerdings eines, das ungewohnlich offen gegenuber<br />

den Auswirkungen der international en Wirtschaft war. AuBerdem<br />

war es weniger sozialdemokratisiert als viele europaische Staatsburgerschaftsregime<br />

(Jenson 1989a). Die besondere Pragung dieses Modells<br />

ist auf einen Wandel der Machtverhaltnisse zwischen Bund und<br />

Provinzen zurtickzuflihren. Als Ergebnis der Finanzkrise der Provinzen<br />

in den 30er Jahren und den Anforderungen der Kriegsmobilisierung<br />

konnte die bundesstaatliche Ebene in Wirtschaft und Gesellschaft weit<br />

mehr Autoritat als je zuvor gewinnen. Daher war sie in der Lage, den kanadischen<br />

W ohlfahrtsstaat einschlieBlich des Staatsbfugerschaftsregimes<br />

zu formen sowie neue soziale Rechte zu etablieren, was in zwei Schuben<br />

16 Dies wird hier hervorgehoben, da es in der kanadischen Politikwissenschaft eine starke<br />

Tendenz gibt, die gegenwiirtige Spannbreite der Anspriiche von AkteurInnen an staatliche<br />

Politik fast ausschlieBlich auf das Handeln von Staatsinstitutionen zuriickzufiihren. Siehe<br />

z. B. Cairns (1995: 182, 190,202), der die gegenwiirtige Art von Identitiitspolitik auf die<br />

Charta zuriickfiihrt. Die These von Pals (1993: 279) ist, daB der Staat durch das Innenministerium<br />

die Gruppenidentitiiten schafft, indem er die Gruppen unterstiitzt.


524 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

in einem zu del' 40er Jahre und einem weiteren in den<br />

60er lahren.17<br />

Die<br />

Regelung del' kanadischen Staatsbiirgerschaft im »Citizen-<br />

Act« von 1946 fiel in die ersten Jahre des fordistischen Entwicklungsmodells.<br />

18 Die Turbulenzen der okonomischen und<br />

Bedingungen<br />

zu den AnstoB zu der eines<br />

der das Staatsburgerschaftsregime uber die<br />

nachsten vier Dekaden hinweg bestimmte (Bourque/Duchastel LE.)<br />

BefUrchtungen uber mangelnde von aus<br />

schen Staaten sowie die<br />

UnterstUtzung fur den Krieg zu<br />

bildeten die Basis fur eine neue staatliche<br />

die<br />

»Staatsbiirgerschaftsabteilung«<br />

branch), die schlieBlich im Innenministerium<br />

angesiedelt wurde. 1944 wurde dieser neuen Abteilung ein<br />

Sammelsurium von Kompetenzen ubertragen, einschlieBlich der<br />

weiblicher Teilnahme an den Kriegsanstrengungen und »Fitnessprogrammen<br />

mit Volkstanz«. Die<br />

war jedoch das Staatsburgerschaftsausbildungsprogramm<br />

(Pal 1993: 75-76).<br />

In der Nachkriegsjahren wurde die Sorge urn Loyalitat durch Identitat ersetzt.<br />

Zur EinfUhrung des Staatsburgerschaftsgesetzes sagte der Innenminister,<br />

daB dieses Gesetz »einen Gemeinschaftsstatus fur alle Menschen in<br />

diesem Lande bring en def sie als KanadierInnen zusammenhalt«<br />

1993: 79). Diese Identitat zu schaff en und die Staatsburgerschaft auszuformen,<br />

lag jedoch nicht allein in der Verantwortung des Staates. Diese<br />

Aufgabe wurde geteilt, bzw. »ausgelagert«. Schon 1951 vergab die Abtei-<br />

Gelder an freiwillige Organisationen fur Programme im Staatsbfugerschaftsbereich<br />

1993: 85). Diese Teilung der Verantwortung war eine<br />

.~",'~""_ Foige der Gesellschaftssicht der StaatsbUrgerschaftsabteilung.<br />

»Die [StaatsbiirgerschaftsJAbteilung hat wiederholt deutlich gemacht, daB ihr Konzept von<br />

Staatsbiirgerschaft auf einem Pankanadismus aufbaut, der eine gemeinsame »kanadische« Geschichte<br />

beinhaltete, einige aJte Vomrteile ausraumte und ntichtem seine Verantwortung einzuschatzen<br />

vermochte .... die Abteilung operierte in der Tat mit einem eigentiimlich organischen<br />

Verstandnis von Gesellschaft: ihre Mission war es, den Gmppen zu helfen, die Individuen<br />

in einer Gemeinschaft miteinander zu verkniipfen, die sich iiber ihre Aufgabe, eine verantwortliche,<br />

demokratische Regiemng zu unterstli!zen im klaren war.« (Pal 1993: 85-86)<br />

17 Jedoch blieb der Fiideralismus die zentrale politische Institution in Kanada. Allerdings<br />

gaben die nationalen Institutionen, die in der Ara von Kanadas durchlassigem Fordismus<br />

etabliert wurden, den Kanadierlnnen dieselben sozialen und iikonomischen Rechte und<br />

Vergiinstigungen, ohne Rticksicht auf ihren Wohnort. Dies war aufgrund eines Finanztransfers<br />

miiglich, obwohl die Provinzen die Hoheit tiber zahlreiche Sozial- und Arbeitsbereiche<br />

sowie den Ausbildungs- und den Gesundheitssektor hatten. Verhandlungen und<br />

Vertrage zwischen dem Bund und den Provinzen wurden zum Herzstiick dieses Modells.<br />

18 Wie Tilly (1989) gezeigt hat, gingen Staatswerdung und Krieg historisch Hand in Hand.<br />

Das Kanada der 40er Jahre stellt darin keine Ausnahme dar.


Staatsbiirgerschaflsregime im Wandel 525<br />

----~--~--~------------------------------------<br />

Daher waren die<br />

des<br />

mes auch nicht einfach als liberale zu be2~el(;nnen:<br />

lichkeit existierte und der Staat hatte seinen Platz als Ausdruck und Garant<br />

dieser Gemeinschaftlichkeit. j 9 Auch war die ",,,,i-"-,.,',,,,,,'" d,-um_'''-''~~Fi''~<br />

em 5"dU"W'-


526 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

Rechte kanadischer Staatsburgerlnnen noch deutlicher von denen in den<br />

USA (Noel et al. 1993: 185-86).<br />

Der Diskurs von Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit war uberzeugend<br />

und fuhrte zu einer ganzen Reihe von VorschHigen: von der Parteienfinanzierung<br />

bis zur KrankenfUrsorge. Eine breite Vielfalt von Institutionen<br />

beteiligte sich den StaatsburgerInnen Zugang zum Staat zu<br />

verschaffen. Dabei waren nicht<br />

sondem Organisationen die<br />

In den 40er Jahren und dann wieder in den 60em gewannen<br />

die Gewerkschaften an Bedeutung und erreichten das kollektive VertreuUF,''''-'VHL<br />

fUr ihre gegenuber Arbeitgebem und Staat. Die Parteien<br />

veranderten ihre Gestalt und entwickelten elaboriertere Methoden der<br />

intemen Diskussion und der Auswahl ihres Fuhrungspersonals. SchlieBlich<br />

organisierte sich auch die New Democratic als Vertretung der Interessen<br />

von ArbeiterInnen und ihren Organisationen. In den 80er lahren<br />

brachte die nationalistische Bewegung Quebecs, gefolgt von der englischkanadischen<br />

nationalistischen Bewegung, Parteien und Verbande hervor.<br />

Frauen in Quebec grundeten in den 60er lahren einen Dachverband, um fUr<br />

Frieden und gegen Atomwaffen zu arbeiten.<br />

Die Sorge um dne »kanadische« Identitat bliihte. Teilweise war dies auf die<br />

Quebecer NationalistInnen zurUckzufuhren, die das ubrige Kanada mit der<br />

Frage konfi'ontierte, was die Existenz zweier Sprachgruppen fUr die Definition<br />

des Landes bedeutete. Ergebnisse dieser Herausfordemng waren der Official<br />

Languages Act (1969) und die Erarbeitung einer multikulturellen PaUtik<br />

(1971), sowie ein neues Interesse an der Staatsburgerschaftsabteilung des<br />

Innenministeriums, die die Verantwortung fUr multikulturelle Programme<br />

und fUr die Official Language Minority Groups (Anm.d.D.: Gmppen, deren<br />

Sprache als eine Minoritatensprache anerkannt ist) erhie1t.<br />

Die Herausforderung bestand jedach nicht lediglich in der Sprache. Die<br />

Strategie der Quebecer NationalistInnen war es, den Staat fUr ihr EntlC~:lUngisprOl


Staatsburgerschaftsregime im Wandel 527<br />

----~~~--~------------------------------------<br />

war. Angesichts des wachsenden Einflusses der USA in Wirtschaft und<br />

Kultur wamten sowohl die Linke als auch die daB Kanada einen<br />

Verlust von Souveriinitat und Identitat riskiere<br />

Nur ein der aktiv eine okonomische ~>A'~W."'"~<br />

nadischer<br />

scher »Besonderheit« verfolge, konne diese Kplirnhl<br />

okonomischer und Autonomie abwehren.<br />

Nationalistische Bewegungen haben diese Themen in die<br />

getragen,<br />

aber dieser Diskurs wurde mittels verschiedener Kommissionen zur<br />

Zukunft Kanadas auch in den staatlichen Institutionen gefuhrt. Insbesondere<br />

die Commission on and Biculturalism war eine wichtige<br />

QueUe neuer Ideen. Das emeute Aufleben def Sozialdemokratie mit der<br />

der NDP Democratic Party) 1961 zwang die Liberalen,<br />

uber ihre<br />

nachzudenken. Wahrend dessen ging die<br />

stadtische Linke - angefuhrt von einer Leitfigur des kanadischen Nachkriegsintemationalismus,<br />

Lester B. Pearson, und danach von Pierre Trudeau<br />

auf die Liberalen zu. Der progressive Diskurs sozialer<br />

erlangte so eine sHirkere Position innerhalb der Liberalen Partei.21<br />

Die Refonn des Wahlsystems und der Parteienfinanzierung wurde durch<br />

das Ziel einer gleichen Behandlung aller Parteien durch die Medien sowie<br />

durch die Anerkennung der Tatsache, daB die Ressourcen der verschiedenen<br />

sozialen Gruppen recht ungleich waren, bestimmt. Nachdem das<br />

Wahlsystem erstmals 1974 von allen Parteien anerkannt<br />

konnte in der Folge der Zugang der Parteien zu den Medien reguliert, die<br />

Wahlkampffinanzierung der reichsten Parteien begrenzt und Offentliche<br />

Gelder fur die weniger bemittelten Kandidaten bereitgestellt werden<br />

(Paltiel 1970). Auch wurden Gesetze zur Regulierung des Verhaltens von<br />

professionellen Lobbyistlnnen fonnuliert 1993: 1<br />

~U5U"5 und fairer Wettbewerb wurden als ein integraler<br />

Bestandteil der Demokratie Die der<br />

Staatsburgerschaftsrechte erforderten sowohl<br />

auch<br />

staatliche<br />

fur diese<br />

Zugang zu ihren Rechten<br />

Zusatzlich erhohte der Staat<br />

Organisationen. So erweiterte die<br />

des Innenministeriums<br />

ihre identitatsbildenden Aktivitaten in den fruhen 70er Jahreno<br />

Sie finanzierte verstarkt die<br />

sierten, deren Identitat durch die staatliche Politik ",,",'V"',",""<br />

inbesondere multikulturelle und Official<br />

21 Kanada's »Makler-Parteien« (wie die Liberalen) umfallten immer ein breites Spektrum<br />

von Positionen. Daher is! bei ihnen VOT aHem das interne Kraftegleichgewicht wichtig.


528 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

Das Ministerium unterstUtzte auch<br />

Frauen- und<br />

Bernard<br />

verantwortlicher Beamter<br />

»hauptsachlich durch Programme, die die Partizipation unterstiitzten und das Gefiihl sozialer<br />

Ungleichheit minderten, ein Gefiihl kanadischer Staatsbiirgerschaft zu entwickeln und zu verstiirken«<br />

(zit n. Pal, 1993: I 09).<br />

1974 wurde das »Women's als des Ministeriurns<br />

geschaffen. Ziel des<br />

()',..


Staatsbiirgerschaftsregime im Wandel 529<br />

erhielten neue soziale und okonomische Rechte<br />

und es wurden<br />

'"''','SUIle',ll fUr einen<br />

Macht<br />

unternommen.<br />

Der Diskurs dieses n.'"'!,;WL1""<br />

FreedomSK Einerseits stattete sie die<br />

mit e"'>CU1.H"QH


530 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

U"'t;Ullll, nicht nur<br />

zu<br />

sondern auch die UHOctfJ11WC!fJ'v" der sozialen und okonomischen<br />

Staatsbiirgerschaft tiber eine Sozialreform neu zu definieren, wurde er von<br />

den verschiedensten die Interessen<br />

angegriffen.<br />

In den 90er Jahren der Staat damber ob es sinnvoll<br />

war, weiterhin seine Kritikerlnnen zu finanzieren.<br />

kann die gektirzte<br />

Unterstiitzung der intermediiiren Institutionen nicht nur als Konsequenz<br />

eines schlau gewordenen Staates, der sich von seinen nervenden<br />

KritikerInnen trennen<br />

werden. Das Staatsbtirgerschaftswurde<br />

rekonstituiert. Die<br />

ver-<br />

H1C"HUUVH'~H, stattdessen wurde die<br />

flir die Harten des Lebens individualisiert. In einer iihnlichen<br />

Weise veriinderte sich der Diskurs tiber den Zugang zu indem<br />

die Reprasentation buchstablich zu Markte getragen wurde.<br />

4. Die des VerhiHtnisses von Staat nnd Gesellschaft<br />

Die Krise des fordistischen Entwicklungsmodells, die in allen entwickelten<br />

IndustrieUindern in der Mitte der 70er Jahre eintrat, traf Kanada in besonderer<br />

Weise, da es sich hier sowohl urn eine hochindustrialisierte Wirtschaft<br />

als auch urn eine umfangreiche Rohstoffproduktion handelte. Die<br />

Erkenntnis der Ernsthaftigkeit der Krise und die Entwicklung einer<br />

schen Gegenstrategie wurde aber bis spat in die 80er Jahre hinausgeschoben<br />

(Noel et al. 1993).<br />

Da die politische Regulation innerhalb des Nachkriegsmodells vor aHem<br />

die Institutionen des Foderalismus beeinfluBt manifestierte sich die<br />

Krise des Fordismus auch als Verfassungskrise (Jenson 1989a). Verfas­<br />

"CU'5"Ii-'V'HH~ war das Gebiet, auf dem der groBte Teil der aktuellen Debatten<br />

tiber die wirtschaftliche<br />

wurde. Ein<br />

Wandel konnte nur schwer<br />

da er das Handeln von<br />

Regierungen voraussetzte. Und schliel3lich ist eine<br />

auch<br />

eine auBerst umstandliche<br />

in der Wirtschafts- und So­<br />

daB die<br />

werteten die<br />

auf<br />

resultierte die Zunahme i:iffentlicher


StaatsbiirgerschaJtsregime im Wandel 531<br />

»Anhorungen« und neuer Formen von »Partnerschaften« in der Ausruhrung<br />

Programme Obwohl beides als Ausdehnung<br />

des Raumes Aktivitat angesehen werden ist<br />

es sie in ihrem jeweiligen Kontext zu betrachten: sie wurden beide<br />

durch institutionelle Aktivitaten des Staates oder der Parteien<br />

wodurch ihre Rolle als<br />

fUr organisierte Interessen<br />

wurde.<br />

Das veranderte Verhiiltnis von Staat und Gesellschaft wirkte sich in einer<br />

der Unterstutzung von Gruppen, die benachteiligte Interessen<br />

reprasentieren, aus. Es wurden nun weniger Kategorien von Staatsburgednnen<br />

als untersrutzungswurdig anerkannt und die Mittel zur Durchsetzung<br />

ihrer Belange wurden gekurzt. Am deutlichsten war hier die zunehmende<br />

Veranderung des Women's State im Jahre 1995. Auch wurde die<br />

aH.'5".vn der »advocacy-groups« BfugerInnen gegenuber dem Staat zu reprasentieren,<br />

in Frage gestellt. Schliel3lich wurden auch soziale Dienstleistungen<br />

und Programme umstrukturiert. Sie waren nun weniger von 80-<br />

zialer Gerechtigkeit und dem Pan-Kanadismus gepragt. Stattdessen wurden<br />

sie dezentralisiert, was vermutlich viele verschiedene Formen von ZugehOrigkeit<br />

und unterschiedliche Leistungsniveaus produzieren wird. Berucksichtigt<br />

man diese Zusammenhiinge, dann wird auch klar (was schon das<br />

Zitat am Anfang des Papiers andeutete), daB die Kurzungen in der Gesundheitsrursorge<br />

auch die Definition der Nation in Frage stellen.<br />

Institutioneller Wandel<br />

Der institutionelle Wandel ilmerhalb def Bundesregierung hat die Zahl der anerkannten<br />

Interessengruppen vermindert und zur SchlieBung verschiedener<br />

kritisch orientierter Zentren So begann man die Abteilung der Regierung,<br />

die am weitestgehenden in die Staatsbiirgerschaftspolitik und die<br />

Entwicklung von sozialen Programmen involviert war, abzubauen. Nachdem<br />

1993 Kim Campbell das Amt der Premierministerin angetreten<br />

wurden viele Programme des Innenministeriums aufgegeben oder in anderen<br />

Abteilungen so daB sie nicht mehr ihrer ursprunglichen<br />

Intension werden konnten. AuBerdem waren viele<br />

gesellschaftliche Interessen nicht mehr im Kabinett reprasentiert. Unter<br />

dem Deckmantel uberschUssige Regierungsausgaben zu kiirzen, wurde der<br />

Umfang des Kabinetts unter Campbell auf 25 und unter der liberal en Regierung<br />

von Jean Chretien auf 23<br />

wahrend es unter<br />

Mulroney eine Hochstzahl von 40 Mitgliedern gab, die u.a. lugendliche,<br />

Seniorlnnen und kleine Betriebe reprasentierten.23<br />

23 Unter Chretien wurden die fruheren Ministerien flir Multikulturalismus und Frauen fusioniert<br />

und nur noch von einem »Staatssekretiir« vertreten.


532 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

Ebenso<br />

"""UH'vU, die zwischen<br />

schaft und Staat<br />

1992 wurden sowohl der »Economic<br />

Council of Canada« wie auch der »Science '-./U'UU"H", beides beratende<br />

der wurde dies mit<br />

dem<br />

Aktivitaten vermeiden und somit die Offentlichen Leistillgelegt.<br />

Das Parlament und die politischen Parteien haben ebenfalls zur Veranderung<br />

der Institutionen beigetragen. So hat wiihrend des letzten Jahrzehnts<br />

die<br />

von Kanadas »Maklerparteien« abgenommen<br />

und aus Unzufriedenheit haben sich viele Menschen Interessengruppen zudie<br />

zu den durchfiihaW'fi.ULUIH<br />

von 1988 noch in der Auseinandersetzung urn<br />

"'UU.~'''M'F, 1992 war es den Parteien moglich, die Debatte zu dominieren<br />

et al. 1996, Hiebert 1m Verfassungsreferendum wurde<br />

das von der Regierung vorgelegte Dokument nach einer Kampagne, in der<br />

sich insbesondere das »National Action Committee on the Status of Women«<br />

(NAC) engagierte, abgelehnt (Pal/Seidle 1993). Die Referendumsniederlage<br />

wurde weitgehend als eine Niederlage von »Eliten« interpretiert,<br />

auf welche die Liberale Partei im Wahlkampf von 1993 mit dem<br />

Versprechen reagierte, die Rolle des Parlaments zu sUirken und mit mehr<br />

Offenheit und zu regieren (Liberal Party 1993: 92).<br />

lronischerweise wurde die rechtspopulistische Reform Party zur Nutzniesserin<br />

dieser Politikverdrossenheit und des versUirkten Gewichts der Rolle<br />

des Parlaments. Diese PopulistInnen<br />

daB die<br />

time Reprasentationsform die direkte Verbindung zwischen den Individuen<br />

und ihren Abgeordneten ist. Diese »advocacy-groups« werden in dem Diskurs<br />

der Partei<br />

es seien keine »echten KanadierInnen«.<br />

Die Kritik an den »besonderen Interessen« hat bis weit tiber die Abgeordneten<br />

der Reformpartei hinaus Widerhall Tatsachlich scheint der<br />

Konflikt zwischen den »advocacy-groups« und den gewahlten<br />

neten, eine »Wir oder sie« Mentalitat hervorgerufen zu haben. Parteien und<br />

Parlament versuchen die<br />

zu monopolisieren. So verfiel z.B.<br />

auch der Bericht der Royal Commission on Electoral Reform and<br />

HW'H~.'US (RCERPF), deren die Starkung der<br />

Fiihigkeiten der politischen Parteien war, in die Sprache der besonderen<br />

Interessen. Die RCERPF war eine starke Verfechterin def<br />

Offentlicher<br />

und staatlicher um eine faire<br />

24 So lagerte die Bundesregierung z.B. 1992 die Organisation von iiffentlichen Anhorungen<br />

iiber die Verfassung und 1994 tiber den Staatshaushalt in private Forschungsinstitute aus.


Staatsbiirgerschaflsregime im Wandel 533<br />

----~--~--~------------------------------------<br />

zu sichem. Der<br />

U


534 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

digt.26 Diese Kfuzungen hielten auch an, als 1993 die Liberalen den Konservativen<br />

in der Regierung folgten.<br />

Die zweite wichtige Institution des Women's State, das CACSW (Canadian<br />

Advisory Council on the Status of Woman), wurde 1973 als eine unabhangige<br />

Beratungsstelle gegriindet, die nur gegeniiber dem zustandigen Ministerium<br />

verantwortlich war. Die Starke der Beratungsstelle lag in ihrer unabhangigen<br />

Forschungskapazitat, obwohl diese auf der Basis eines minimalen<br />

Haushalts operierte (Burt 1995: 375).<br />

Ein entscheidender Vorfall ereignete sich 1981 als das Ministerium das<br />

CACSW dazu zwang, eine Konferenz iiber die Regierungsvorschlage zur<br />

Verfassungsreform abzusagen, da eine zu kritische Haltung beffuchtet<br />

wurde. Wahrend dieser Vorfall die Frauenbewegung mobilisierte, blieb<br />

unter dem Strich ein groBer Verlust fur das CACSW (Kome 1983). Innerhalb<br />

des Staates galt das Council nur noch als Vertreter der Frauenbewegu'ng.<br />

Gleichzeitig hatte es aber nicht die volle UnterstUtzung der Frauenbewegung,<br />

die dem Council vorwarf, durch Selbstzensur eine Wiederholung<br />

von 1981 vermeiden zu wollen (Findlay 1988: 90, Burt 1995).<br />

Der Women's State wurde 1995 ohne groBe Offentlichkeit faktisch abgeschafft.<br />

Women's Program und Status of Women wurden zusammengeschlossen,<br />

das CACSW aufgelOst. Die Regierung erklarte diese Entscheidungen<br />

in vielfaItiger Weise. Die wichtigste Rechtfertigung war eine Effizienzsteigerung<br />

und Kostensenkung durch die Vermeidung von Doppelangeboten.<br />

Tatsachlich gab es aber kaum Uberlappungen auBer der Tatsache,<br />

daB aIle drei Institutionen das Wort »Women« im Titel trugen.27 Viel Geld<br />

wurde durch diese Reorganisation auch nicht gespart.<br />

AngrifJe auf die Kapazitiit und Glaubwurdigkeit der »advocacy-groups«<br />

Der Wandel im Staatsbfugerschaftsregime manifestierte sich auch im direkten<br />

Angriff auf die Glaubwiirdigkeit und die Organisationsbasis der<br />

»advocacy-groups«. Ein erster Schritt war die Reduzierung der direkten<br />

Finanzierung. 1986-87 begann die konservative Regierung Stipendien und<br />

Beitrage selektiv zu kiirzen.28 Oft wurde damit die offentliche Reaktion<br />

auf diese Aktionen getestet.<br />

26 Vor all em wurde die Grundfinanzierung zugunsten der Projektfinanzierung gekiirzt. 1m<br />

Resultat wurden die Mittel rur NAC halbiert (Philips 1991: 196-205).<br />

27 Die drei Korperschaften waren rur sehr unterschied1iche Funktionen zustandig. Das Women's<br />

Program war rur Stipendien zustandig, das CACSW widmete sich hauptsachlich<br />

der Forschung und Status of Women war rur die Entwicklung von politischen Konzepten<br />

und rur die Koordination zustandig.<br />

28 Eine Gruppe unterlag jedoch nicht den Kiirzungen. Die Tories finanzierten weiterhin<br />

Verbande sprachlicher Minderheiten und multikulturelle Gruppen, wahrend sie Frauen<br />

und Eingeborenenverbiinden die Gelder strichen (Phillips 1991).


Staatsburgerschaftsregime im Wandel 535<br />

----~~~--~------------------------------------<br />

Mit der Reorganisierung und Reduzierung der<br />

begann lediglich<br />

der Angriff auf die Legitimitat und die Glaubwiirdigkeit Gruppen, die benachteiligte<br />

Interessen vertreten. Die Reprasentation selbst wurde in Frage gestellt:<br />

K6nnen die Gruppen tatsachlich beanspruchen, daB sie jemanden reprasentiefen?<br />

Die Konservativen starteten diesen Prozess, und die Liberalen haben ihn<br />

dann noch beschleunigt. Die Initiative ist sowohl unter Politikerlnnen def<br />

Regierung als auch der oppositionellen Reformpartei popular und sie hat<br />

auch Untersiiitzung durch die Medien erfahren. Dabei beschaftigte sich die<br />

Debatte jedoch nicht mit »LobbyistInnen« im allgemeinen oder wirtschaftlichen<br />

sondern lediglich mit den »advocacy-groups«.<br />

5. Die Neudefinition von Regierung durch »Partnerschaften«<br />

Die Rede von der »Partnerschaft« wurde in den friihen 90er Jahren unter<br />

den Konservativen zu einem Modewort fiir eine neue Form des Regierens<br />

und die Liberalen behielten es bei. Offentlich-private Partnerschaften 8011-<br />

ten eine Alternative zu staatlichen Programmen und Dien8tleistungen darstellen.<br />

1m Kontext 6konomischer Einschrankungen war dabei die Kostenreduktion<br />

ein wichtiges, jedoch nicht das einzige Ziel dieser Partnerschaften.<br />

Sie sollten auch die Qualitat der Serviceleistungen verbessem, da die<br />

partnerschaftlichen Organisationen die Bediirfnisse der KlientInnen, mit<br />

denen sie in kontinuierlicher Verbindung stehen, oft besser erkennen und<br />

daher auch flexibler auf sie reagieren k6nnen.29 Zusatzlich erlauben Partnerschaften<br />

lokale Unterschiede in der Art der bereitgestellten Dienstleistungen<br />

und sowie ihre lokale Kontrolle. Sie sind daher mit dem Riickzug<br />

von nationalen Standards kompatibel.<br />

Wirkliche Partnerschaften beinhalten allerdings auch eine Teilung der<br />

Macht. Die ersten Erfahrungen weisen jedoch darauf hin, daB sich die kanadischen<br />

Regierungen eher halbherzig auf solche Beziehungen einlieBen<br />

und daB sie vor aHem nicht gewillt waren, mit ihren PartnerInnen Macht zu<br />

teilen. Stattdessen bevorzugten sie den iiblichen top-down Ansatz. Viele<br />

der sogenannten Partnerschaften sind lediglich Vertrage, in denen der Staat<br />

aHe Regeln festlegt. Trotzdem fuhlen sich viele Organisationen des sog.<br />

»Dritten Sektors« des nicht-kommerziellen, gemeinniitzigen jJl.'~\.o',vll".<br />

der neben dem Staats- und dem<br />

Sektor existiert) davon<br />

angezogen, entweder, wei! sie das Projektgeld als Ersatz fur den Verlust<br />

der Grundlagenfinanzierung ben6tigen, oder weil sich der Staat von<br />

bestimmten Dienstleistungen zUrUckgezogen hat.<br />

Diese Partnerschaften konnen die Natur der »Partner« aus dem Dritten<br />

Sektor andern; dies gilt insbesondere fur soziale Bewegungen. Die Ori-<br />

29 Fur eine Diskussion dieser Vorteile und die Durchfuhrung von Partnerschaften, siehe Salamon<br />

(1995: Ill), Seidle (1995: 145) und Kernaghan (1993: 57-76).


536<br />

Jane Jenson, Susan Phillips<br />

der neuen sozialen<br />

nicht an bestimmte Orte<br />

terschiedliche soziale<br />

stimmten Gemeinden<br />

kann in erne formalisierte und<br />

hen 1994:<br />

anl2:es:trebt,m Partnerschaften kreieren eine Hierarchie von<br />

"HH),;'vH, die sich exklusiv<br />

beschfanken am oberen Ende<br />

und die sich auf die<br />

IJV,uu"""" Veran-<br />

1l10'U"""VIIU",HO, wenn def Staat weiterhin die Machts-<br />

In Anbetracht des okonomischen Drucks entsteht noch ein weiteres Problem.<br />

Oft nachdem eine Partnerschaft o-P(Jriinrl,~t<br />

zum Vertrag betrachtlich b"'l'~UH,"<br />

daB solche<br />

wurden,<br />

die die Lucken fullen konnten, zeigt die Erfahrung in den USA, daB<br />

die Reaktion eher in der<br />

der Leistungen liegt. Die Organisationen<br />

beginnen,<br />

zu erheben sowie andere Einzu<br />

so daB sie mehr und mehr in die Privatwirtschaft<br />

werden. Zusatzlich beginnen kommerzielle Unternehmen diese<br />

Nischen auszutesten, oft mit dem<br />

daB die<br />

tionen nach und nach verschwinden 1995:<br />

Bisher sind die kanadischen<br />

davon ausgegangen, daB die<br />

nicht kommerziellen<br />

nicht nur eine ausreichende Infrastruktur<br />

sondern auch die Teilnahme an staatlich initiierten Partwurden.<br />

In Wirklichkeit haben diese<br />

be~(rerlzte J:iWlgetS und<br />

Und an,geiHclhts def andauernden auf ihre sind<br />

viele<br />

die die Infrastruktur fur solche Partnerschaften bieten<br />

KOltlnten, zumindest nicht zu den<br />

des Staates an einer Beteiligung<br />

interessiert.<br />

Vor aHem sind aber die nach denen die<br />

renlUH;n-Dflvalcen Partnerschaften erfolgen und<br />

als bei direkten staatlichen Leistungen. Dies kann sowohl


Staatsburgerschaflsregime im Wandel 537<br />

----~~~~~------------------------------------<br />

auch negative Konsequenzen haben. Wiihrend vom Staat erwartet wird und<br />

er auch am besten dazu geeignet ist, standardisierte Dienstleistungen uber<br />

weite geographische Regionen hinweg zu garantieren, sind die meisten<br />

freiwilligen Organisationen partikular und bieten Dienstleistungen an, die<br />

auf ihre spezifische Basis zugeschnitten sind. Sie sind daruberhinaus geographisch<br />

ungleichmiillig verteilt.30 Wahrend staatliche Institutionen den<br />

gleichen Zugang fUr alle ausgewiesenen NutzniesserInnen betonen muss en,<br />

operieren freiwillige Organisationen haufig auf einer »first-come firstserved«<br />

Basis. Daher tragen Partnerschaften, selbst wenn sie oft die effektiveren<br />

Mittel fUr die Bereitstellung von Dienstleistungen haben, zu einer<br />

zunehmenden Abkehr von dem Pan-Kanadismus bei, der ein zentrales<br />

Element des Staatshiirgerschaftsregimes der Nachkriegszeit war. Falls Kanada<br />

diesen Weg weiter verfolgt, hatte dies weitreichende Auswirkungen<br />

auf die Zivilgesellschaft.<br />

6. Die Restrukturierung des Foderalismus<br />

SchlieBlich ist das alte fOderale Modell, das auf der Intervention der Bundesregierung<br />

in die Sozialpolitik beruhte, von Grund auf umgestaltet worden.<br />

Der Haushalt von 1995 enthalt einen neuen Superblock, den Canada<br />

Health and Social Transfer (CHST), der eine Reihe alterer Programme ersetzt.<br />

Die gleichzeitige Streichung von 6 Mrd CA$ BundeszuschUssen uber<br />

einen Zeitraum von zwei Iahren - eine Kfuzung von 37% - markiert einen<br />

signifikanten Ruckgang derjenigen bundesstaatlichen Ausgaben, die wahrend<br />

der fordistischen Nachkriegsperiode aktiv zur Sicherung gleicher Lebensbedingungen<br />

fUr die Individuen wie auch fUr die Regionen beigetragen<br />

hatten. Die Idee des CHST ist vor allem eine Stabilisierung und Reduzierung<br />

der Bundesausgaben aber auch das Angebot gr6Berer Flexibilitat an<br />

die Provinzen, zu einer Zeit, in der die nationaler Einheit durch das Selbststandigkeitsreferendum<br />

in Quebec in Frage gestellt wird.<br />

Unter dem Imperativ des Defizitabbaus hatte die ursprungliche Planung<br />

des neuen Transferprogramms eine jiihrliche Abnahme der Zahlungen vorgesehen,<br />

was auf eine komplette Aufl6sung in 10 bis 15 Iahren hinausgelaufen<br />

ware. Damit ware auch die Fahigkeit der Bundesregierung, nationale<br />

Standards fUr Medicare zu setzen, Kanadas beliebtestes und die Nation<br />

definierendes Programm, in Frage gestellt worden.31 Die kanadische<br />

Offentlichkeit war jedoch nicht bereit, den Verlust nationaler Standards bei<br />

30 FUr eine detailliertere Diskussion des Unterschiedes zwischen der Bereitstellung von<br />

Dienstleistungen durch den Staat und den sog. dritten Sektor, siehe SmithILipsky (1993:<br />

127-46) und HalllReed (1995: 4-5).<br />

31 FUr eine Diskussion Uber die Gestaltung des CHST und die Antwort der Bundesregierung<br />

auf Offentliche Kritik, siehe Phillips (1995).


538 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

def Krankenversicherung hinzunehmen, Die heftige Kritik ruhrte zu einem<br />

ausweichenden Verhalten der Regierung Chretien: sie versprach, stabile<br />

Transferzahlungen beizubehalten, wahrend sie den Provinzen aber gleichzeitig<br />

eine groBere Flexibilitat im Design sozialer Programme gewahren<br />

wollte.<br />

Zur selben als die Transfers rur die Sozialprogramme geklirzt<br />

stockte man die Haushaltstitel rur die regionale Angleichung auf. Damit<br />

wird die Botschaft<br />

daB »regionale Angleichung unser<br />

stes Sozialprogramm ist« und »wir ein Yolk sind, das zwar groBere regionale<br />

Ungleichheiten ablehnt, aber die Ungleichheit zwischen den Individuen<br />

akzeptiert« (Banting 1995: 5, 8). Diskussionen uber die Umverteilung<br />

von Einkommen und den unterschiedlichen individuellen W ohlstand<br />

konnten dann in Zukunft auf die lokale Ebene begrenzt werden. Mit der<br />

konnte »Kanada«<br />

selbst als ein relevantes Konzept die Geltung verlieren (Banting, 1995: 10).<br />

Mit der zunehmenden Verlagerung der Sozialprogramme auf die 10kale<br />

Ebene werden auch andere Identitaten und Gemeinschaften produziert.<br />

Allerdings sind die Moglichkeiten fiir kollektive Aktion, die essentiell rur<br />

die Konstruktion von Identitaten sind, auf der lokalen Ebene begrenzt. Es<br />

konnte zunehmend schwieriger werden, gesamtgesellsehaftliche Konzeptionen<br />

beizubehalten, so daB die Individualisierung der Staatsburgersehaft<br />

komplett wurde.<br />

Anhand dieser Entwicklungen erkennt man eine neue, negative Bewertung<br />

der Interessengruppen als legitimer und zentraler Institutionen innerhalb<br />

des Staatsburgerschaftsregimes. 1m Rahmen einer neokonservativen Politik<br />

wird versucht, die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft neu zu<br />

strukturieren. Es wird nieht mehr als staatliche Aufgabe angesehen, den<br />

Gruppenzusammenhalt zur Starkung von Individuen zu untersrutzen. Die<br />

Verantwortung zur Schaffung von Solidaritat und zur Unterstutzung der<br />

Benachteiligten bei der Wahrnehmung ihrer Rechte ist nieht mehr Bestandteil<br />

des Staatsburgersehaftsregimes. Die Individuen sollen sich selbst<br />

helfen durch Referenden, Petitionen und wahrend Offentlicher Anhorungen<br />

zusatzlich zu den Wahlen. Die offentliche<br />

kollektiver Interessen<br />

muB ein Produkt harter, wettbewerbsfahiger Kompetenz von Organisation<br />

bei def Mobilisierung von Geld und UnterstUtzung auf dem<br />

der Ideen sein.<br />

Bedeutet dies nun das Ende einer »breiten« Zivilgesellsehaft und eine<br />

neue Ara des atomisierten Individuallsmus? Gibt es in dem sich neu herausbildenden<br />

Staatsburgersehaftsregime noch einen Ort fUr organisierte<br />

Interessen? Die Anwort auf diese Fragen lautet Nein. In einer Zeit abnehmender<br />

staatlicher Intervention verwandeln sich die organisierten<br />

Gruppen in Dienstleisterlnnen und reprasentieren den Staat innerhalb der


_~_a_at_sb_u~·rg~e_~_c_ha~~_~_~~g_im_e_i_m_~_a_n_d_el ________________________________ 539<br />

Zivilgesellsehaft. Interessenvertretung ist vielleicht out, aber Dienstlei­<br />

U.'.Uy..,VH sind in.<br />

Die Endresultate der Neustrukturierung sind noch nicht auch gibt<br />

es keinen sanften UbergangsprozeB. Stattdessen wird eine Reihe von Widerspruchen<br />

sichtbar. Die abnehmende Prasenz des Staates bedeutet, daB<br />

viele Dienstleistungen, die einmal direkt gewahrt wurden, jetzt in einen<br />

Sektor gemeinniitziger und freiwilliger Organisationen umgeleitet werden.<br />

Und wie die jiingsten Veranderungen des Finanzausgleiehs zwischen dem<br />

Bund und den Provinzen zeigen, wird ihre Finanzierung den Provinzen<br />

aufgebiirdet. Die Ara der nationalen Standards und der gesamtkanadischen<br />

Dienstleistungen ist am Verschwinden, indem die Bundesregierung ihre<br />

Teilnahme an den Programmen und Institutionen reduziert, die das Entwicklungsmodell<br />

der Nachkriegszeit auszeichneten. In ihrem Bemiihen,<br />

mit dieser Last umzugehen, verlagem die Provinzregierungen ihrerseits<br />

diese Dienstleistungen in die lokalen Gemeinden.<br />

Die Umleitung von Dienstleistungen bedeutet jedoch auch, daB der Staat<br />

mehr denn je auf den »Dritten Sektor« angewiesen 1St. Allerdings maehen<br />

die Diskurse und Praktiken, die die Vertretung der Benachteiligten als<br />

Ausdruck »besonderer Interessen« delegitimieren, den entsprechenden<br />

Gruppen die Arbeit nicht leieht. Sie waren immer Vertreter, die intervenieren,<br />

urn Programme und Policies zu fordem, die sie als notwendig eraehten.<br />

Zusatzlieh sind diese Gruppen auch die Basis fur ziviles Engagement;<br />

sie tragen zu individueller Partizipation und zur Entwicklung der Zivilgesellschaft<br />

bei. Sie k6nnen nieht einfach ihre Aktivitaten aufspalten, urn die<br />

einfachen DienstleisterInnen zu werden, die sich die Regierung anscheinend<br />

wiinscht. Zusatzlich bedrohen Mittelkiirzungen ihre Existenz. Der<br />

Anti-Interessen Diskurs und der Eifer beim Abbau sogenannter »6ffent­<br />

Heher T6pfe« k6nnten die Fahigkeit des Dritten Sektors, seine neue Rolle<br />

wahrzunehmen, untergraben. Die gegenwartige Annahme der Regierung,<br />

daB die Gruppen auf die Regiemngsprioritaten reagieren werden und in<br />

dem MaBe, wie die staatlichen MaBnahmen abgebaut werden, berdt sind,<br />

die Uberreste aufzusammeln, k6nnte sieh als falseh erweisen.<br />

Wichtige Entscheidungsbefugnisse und Dienstleistungen sind in die lokalen<br />

Gemeinden verlagert worden. Doch auch diese Gemeinden sind gesehwacht.<br />

Wissenschaftlerlnnen mit so untersehiedlichen Orientierungen<br />

wie Margit Mayer (1991) und Christopher Lasch (1995) haben die waehsende<br />

Fragmentierung urbaner Kulturen festgestellt. Dies ist nicht nur in<br />

polarisierten Beschaftigungs- und Klassenstrukturen beobaehtbar, sondem


540 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

auch m emer zunehmenden des urbanen Raums, Ohne integec)gr:apllis(;he<br />

Gemeinden und ohne<br />

die<br />

sozialverankerte Gemeinschaften organisieren,<br />

daB<br />

viele Individuen ihre<br />

sowohl zur<br />

zum Staat verlieren.<br />

Ein letzter besteht daB mit der Verdrangung oder Schwader<br />

intermediaren Institutionen zwischen individuellen<br />

nen und Staat, ein gr6Berer Druck auf die Regierung in einer offenen<br />

und kooperativen Weise zu reagieren. Die ganze Staatsmaschinerie wird<br />

reduziert und eher auf die als auf die der<br />

taatsclUrlgerlrulen orientiert. Ein mit einem dramatisch<br />

Staat<br />

kombinierter Populismus k6nnte fatale Effekte hervorbringen.<br />

Eine Auf16sung dieser<br />

1st noch nicht in Sicht. Auch wenn<br />

der Staat und die sozialen Krafte enthusiastisch versuchen, die Institutionen<br />

des existierenden Staatsbtirgerschaftsregimes immer weiter ab:z:utJau.en,<br />

bleibt doch bei vielen<br />

Skepsis und auch Nostalgie fur<br />

die Inhalte des Nachkriegsregimes. Die Staatsbiirgerschaftspolitik ist so zu<br />

einem Bestandteil der Uiglichen Politik geworden. Daher wird auch das<br />

neue Staatsbtirgerschaftsregime, das noch im Werden ist, durch die noch<br />

andauemden Debatten tiber eine Reform der Sozialpolitik, tiber die Wirtschaftspolitik,<br />

tiber die Machtverteilung zwischen dem Bund und den Provinzen<br />

und tiber das Fortbestehen eines einheitlichen Landes erst noch geformt<br />

werden.<br />

Aus dem Englischen tibersetzt von Antje Wiener<br />

Literatur<br />

Banting, Keith G. (1995): Who R Us?, Paper presented to the Canadian Association of Business<br />

Economists, Ottawa, May 2nd, 1995.<br />

Bashevkin, Sylvia B. (1991): Toeing the Lines: Women and Party Politics in English Canada,<br />

Toronto.<br />

Begin, Monique (1992): The Royal Commission on the Status of Women in Canada: Twenty<br />

Years Later, in: Backhouse, Constance; Flaherty, David H. (Eds.), Challenging Times: The<br />

Women's Movement in Canada and the United States, Montreal and Kingston: McGilI­<br />

Queen's University Press, S.2 I -38.<br />

Bourque, Gilles; Duchastel, Jule (im Erscheinen): L 'identite cannadienne et la citoyennete<br />

particulariste. Analyse des debats constitutionnels 1941-1992.<br />

Brodie, Janine; Jenson, Jane (1988): Crisis, Challenge and Change: Party and Class in Canada,<br />

Ottawa: Carleton University Press.<br />

Burt, Sandra (1986): Women's Issues and the Women's Movement in Canada since 1970, in:<br />

Cairns, Alan; Wiiliams, Cynthia (Eds.), The Politics of Gender, Ethnicity and Language in<br />

Canada, Toronto: University of Toronto Press.<br />

Burt, Sandra (1995): The Several Worlds of Policy Analysis: Traditional Approaches and Feminist<br />

Critiques, in: Burt, Sandra; Code, Lorraine (Eds.), Changing Methods: Feminists<br />

Transforming Practice, Peterborough: Broadview Press, 8.357-378.<br />

Cairns, Alan C. (1995): Reconfigurations. Canadian Citizenship and Constitutional Change,<br />

Toronto: McClelland and Stewart.


Staatsburgerschaftsregime im Wandel 541<br />

----~~~--~------------------------------------<br />

Campbell, Murray (1996): 1.289 squeaky wheels, in: Globe and Mail, 20. Januar 1996.<br />

Canada, Department of Secretary of State, Program Evaluation Directorate (1985): Evaluation<br />

of the Women's Program, Ottawa: Secretary of State.<br />

Canada, Department of Secretary of State, Standing Committee on Human Recources Development<br />

(1995): Security, Opportunities and Fairness: Canadians Renewing their Social<br />

Programs, Ottawa.<br />

Clarke; Jenson; LeDuc; Pammett (1995): Absent Mandate: Canadian Electoral Politics in the<br />

Era of Restructuring, Toronto: Gage,<br />

Cohen, Joshua; Rogers, Joel (1995): Secondary Associations and Democratic Governance, in:<br />

Wright, Erik O. (Ed.), Associations and Democracy, London: Verso.<br />

Dobrowolsky, Alexandra; Jenson, Jane (1993): Reforming the Parties: Prescriptions for Democracy,<br />

in: Phillips, Susan D, (Ed.), How Ottawa Spends 1993-94: A More Democratic<br />

Canada ... ?, Ottawa: Carleton University Press, S. 43-82.<br />

Grant, George (1963): Lamentfor a Nation, Toronto: McClelland and Stewart.<br />

Gray, Gratton (alias Ken Battle) (1990): Social Policy by Stealth, in: Policy Options, 11,2.<br />

Hernes, Helga M. (1987): Welfare State and Women Power: Essays in State Feminism, Oslo:<br />

Norwegian University Press.<br />

Heibert, Janet (1991): Interest Groups and Canadian Federal Elections, in: Seidle, F. Leslie<br />

(Ed.), Interest Groups and Elections in Canada, Toronto: Dundurn Press, S. 3-76.<br />

Horowitz, Gad (1968): Canadian Labour in Politics, Toronto: University of Toronto Press.<br />

Jenson, Jane (1989a): 'Different' but not 'exceptional': Canada's Permeable Fordism, in: Canadian<br />

Review of Sociology and Anthropology, Vol. 26, #1.<br />

Jenson, Jane (1989b): Paradigms and Political Discourse. Protective Legislation in France and<br />

the United State Before 1914, in: Canadian Journal of Political Science, XXII, June.<br />

Jenson, Jane (1991): Citizenship and Equity: Variations across Space and in Time, in: Heibert,<br />

Janet (Ed.), Political Ethics: A Canadian Perspective, Toronto: Dundurn Press, S. 195-264.<br />

Jenson, Jane (1993): Naming Nations: Making nationalist claims in Canadian public Discourse,<br />

in: Canadian Review of Sociology and Anthropology, Vol. 30, #3, August.<br />

Kernaghan, Kenneth (1993): Partnership and Public Administration: Conceptual and Practical<br />

Considerations, in: Canadian Public Administration, 36, I, spring, S. 57-76.<br />

Kome, Penny (1983): The Taking of Twenty-Eight: Women Challenge the Constitution, Toronto:<br />

The Women's Press.<br />

Kymlicka; Norman (1994): The Return of the Citizen: A Survey of recent Work on Citizenship<br />

Theory, in: Ethics, #104, January, S. 352-381.<br />

Lasch, Christopher (1995): The Revolt of the Elites and the Betrayal of Democracy, New<br />

York: W. W. Norton.<br />

Lindquist, Evert (1994): Citizens, Experts and Budgets: Evaluating Ottawa's Emerging Budget<br />

Process, in: Phillips, Susan D. (Ed), How Ottawa Spends 1994-95: Making Change,<br />

Ottawa: Carleton University Press, S. 91-128.<br />

Maioni, Antonia (1994): Ideology and Process in the Politics of Social Reform, in: Banting<br />

Keith; Battle, Keith (Eds.), A New Social Vision for Canada? Perspectives on the Federal<br />

Discussion Paper on Social Security Reform, Kinston, ON: School of Policy Studies, Queen's<br />

University.<br />

Marquardt, Richard (1995): The Voluntary Sector and the Federal Government: A Perspective<br />

in the Aftermath of the 1995 Federal Budget, Ottawa: Canadian Council for International<br />

Co-operation.<br />

Marshall, T. H. (1965): Class, Citizenship and Sozial Development, New York: Anchor.<br />

Mayer, Margit (1991): Politics in the Post- Fordist City, in Socialist Review, 21, I, S. <strong>105</strong>-124.<br />

Meehan, Elizabeth (1993): Citizenship and the European Community, London: Sage.<br />

Nelson, Barbara (1990): The Two Track Welfare State, in: Gordon, Linda (Ed.), Women, the<br />

State and Welfare, Madison, WI: University of Wisconsin Press.<br />

Noel et al (1993), in: Jenson, Jane et ai, Production, Space, Identitiy: Political Economy faces<br />

the 21st Century, Toronto: Canadian Scholars Press.<br />

Pal, Leslie A. (1993): Interest of State: The Politics of Language, Multiculturalism and Feminism<br />

in Canada, Montreal and Kingston: McGill-Queen's University Press.


542 Jane Jenson, Susan Phillips<br />

Pal, Leslie A.; Seidle, F. Leslie (1993): Constitutional Politics 1990-92: The Paradox of Part i­<br />

cipation, in: Phillips, Susan D. (Ed.), How Ottawa Spends 1993-94: A More Democratic<br />

Canada ... ?, Ottawa: Carleton University Press, S. 143-202.<br />

Paltiel, K.Z. (1970): Political Party Financing in Canada, Toronto: McGraw-Hili.<br />

Phillips, Susan D. (1991): How Ottawa Blends: Shifting Government Relationships wit Interset<br />

Gruops, In: Abele, Frances (Ed.), How Ottawa Spends 1991-92: The Politics of Fragmentation,<br />

Ottawa: Carleton University Press, S. 183-227.<br />

Phillips, Susan D. (1995): The Canada Health and Social Transfer: Fiscal Federalism in Search<br />

of a Vision Canada, in: Brown, Douglas M.; Rose, Jonathan (Eds.), The State 0/ the<br />

Federation 1995, Kingston: Institute ofIntergovernmental Relations, Queen's University.<br />

Phillips, Susan D. (im Erscheinen): Political Strategies of the Canadian Women's Movement:<br />

Who's Speaking? Who's Listening?, in: Jhappan, Radha (Ed.), Women's Legal Strategies,<br />

University of Toronto Press.<br />

Pierson, Paul (1994): Dismantling the Walfare State? Reagan, Thatcher and the Politics 0/<br />

Retrenchment, Cambridge: Cambridge University Press.<br />

Pross, A. Paul; Stewart, lain S. (1993): Lobbying the Voluntary Sector and the Public Purse,<br />

in: Phillips, Susan D. (Ed.), How Ottawa Spends 1993-94: A More Democratic Canada ... ?,<br />

Ottawa: Carleton University Press, S. 109-142.<br />

Putnam, Robert D. (1995): Bowling Alone: America's Declining Social Capital, in: Journal 0/<br />

Democracy, 6,1, January, S. 65-78.<br />

Rice, James J.; Prince, Michael J. (1993): Lowering the Safety Net and Weakening the Bonds<br />

of Nationhood: Social Policy in the Mulroney Years, in: Phillips, Susan D. (Ed.), How Ottawa<br />

Spends 1993-94: A More Democratic Canada ... ?, Ottawa: Carleton University Press,<br />

S.381-416.<br />

Royal Commission on the Status of Women (1970): Report, Ottawa: Royal Commission on<br />

the Status of Women.<br />

Salamon, Lester M. (1991): Of Market Failure, Voluntary Failure and Third-Party Government:<br />

Toward a Theory of Government Non-Profit Relations in the Modem Welfare State,<br />

in: Journal o/Voluntary Action Research.<br />

Smith, David (1988): Canadian Political Parties and National Integration, in: Gagnon, A.-G.;<br />

Tanguay, Brian (Eds.), Canadian Parties in Transition, Toronto: Nelson, S. 130-151.<br />

Soysal, Yasemin (1994): Limits a/Citizenship: Migrants and Postnational Membership in Europe,<br />

Chicago: Chicago University Press.<br />

Taylor, Charles (1970): Patterns a/Politics, Toronto: McClelland and Stewart.<br />

Tilly, Charles (1990): Coercion, Capital and European States, Ad 990-1992, Oxford: Blackwell.<br />

Valpy, Michael (1996): Health care under the knife, in: Globe and Mail, 7. Februar, 1996.<br />

Wiener, Antje (1995): Building Institutions: The Developing Practice of European Citizenship,<br />

unpublished PhD thesis, Department of Political Science, Carleton University.


Michelle Everson<br />

von<br />

Ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Umwandlung der Europaischen<br />

Gemeinschaften in die Europaische Union durch den 'Vertrag tiber die Europaische<br />

Union' (Maastricht-Vertrag) vom 7. Februar 1992 ist die EinfUhrung<br />

der UnionsbUrgerschaft durch die Artikel Sff EGV. Obwohl die durch<br />

diese Regelungen neu hinzutretenden Unionsrechte der AngehOrigen der<br />

EU-Mitgliedstaaten nicht annahemd so ausgeformt sind wie die jeweiligen<br />

nationalen Grundrechtskataloge, ist doch die Unionsburgerschaft unabhangig<br />

von dem Umfang der augenblicklich daran geknupften Rechte insofem<br />

von erheblicher Bedeutung, als sie einen Beitrag zu 'einer immer engeren<br />

Union der Volker Europas leisten solI'. In unserem Projekt solI erforscht<br />

werden, welchen Gehalt das in den Art. Sff EGV eingefUhrte Institut der<br />

Unionsburgerschaft haben konnte.<br />

Obwohl der Begriff 'Unionsbfugerschaft' ein Rechtsterminus der Gemeinschaft<br />

ist, gibt es doch keinen einheitlichen europaischen Begriff fUr diesen<br />

Status. Der Begriffsinhalt von Burgerschaft, citizenship, citoyennete, cittadinanza<br />

usw. ergibt sich vielmehr erst aus den jeweiligen nationalen<br />

Rechtsordnungen und politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten. Wir nehmen<br />

an, daB der Begriff einer europaischen Burgerschaft im wesentlichen<br />

auf den rechtlichen, politischen und kulturellen Traditionen der EU-Mitgliedsstaaten<br />

gegrundet sein wird. Das Forschungsprojekt richtet sich<br />

lich auf eine ausfUhrliche Analyse der Bedeutung des Begriffs der 'Burgerschaft'<br />

(citizenship, citoyennete, cittadinanza) in den fUr die Untersuchung<br />

ausgewahlten Landem Belgien, Deutschland, Frankreich, GroBbritannien<br />

und Italien.<br />

Dabei wird ein Begriff von 'Burgerschaft' zugrundegelegt, der es<br />

licht, die uber den rechtstechnischen Gebrauch hinausgehende umfassendere<br />

sozio-politische und -kulturelle Bedeutung dieses Status zu erfassen.<br />

Wir machen die Annahme, daB der Begriff 'Burgerschaft'<br />

(citizenship usw.) eine weitere Bedeutung hat als der formale juristische<br />

* Der Aufsatz is! eine gekurzte Fassung des 1995 bei der DFG eingereichten Projektantrags,<br />

»Concepts, Foundations and Limits of European Citizenship«. Das Projekt is! am<br />

Zentrum fur Europaische Rechtspolitik (ZERP) an der Universitat Bremen angesiedelt<br />

und lauft seit September 1995.<br />

PROKLA. Zeitschrififiir lo-itische Sozialwissenschaft. Hefi <strong>105</strong>.26. Jg. 1996. Nr. 4. 543-563


544 Ulrich K, Preufl, Michelle Everson<br />

wie wir<br />

tersctlie(ilH:he:r, aber eventuell auch inselbst<br />

konkurrierenden<br />

"'v~""''''UH<br />

inwieweit diese<br />

bar sind und ob sich daraus in der<br />

einstimmend<br />

Praktiken herleiten<br />

und<br />

meinwesen werden k6nnen.<br />

soil schliel3lich die Antwort<br />

VjJ(U"',ilI"'il Bur-<br />

Ge-<br />

Begriff und Theorie des<br />

oder der Burgerschaft - im<br />

den werden beide Begriffe synonym verwendet - haben in den letzten<br />

fUnf Jahren weltweit eine beispiellose Aufmerksamkeit<br />

Ein<br />

kurzlich erschienener Rezensionsartikel (KymlickalNorman unter<br />

dem zuversichtlichen Titel Die Riickkehr des Burgers weist allein in seiner<br />

Literaturliste von fast ausschlieBlich englischsprachigen Titein fiber<br />

einhundert VerOffentlichungen fiberwiegend aus den letzten zehn Jahren<br />

auf. Nach der 1950 erschienenen wegweisenden Arbeit von T.H.<br />

die im engsten<br />

mit der<br />

schen Wohlfahrtsstaates entstanden war<br />

Wesentliche zum Thema gesagt worden zu sein. Seine<br />

sich seit dem 18. Jahrhundert bis zur<br />

in sukzessiver<br />

historischer zunehmend vervollkommnet indem<br />

""".


Konzeptionen von 'Biirgerschafl' in Europa 545<br />

--~--------~--~----~--------------------------<br />

zwischen liberalen und kornmunitaristischen<br />

die zweite im wesentlichen die Positionen widie<br />

vor aHem in den USA und in GroBbritannien im Zu!sa:mrnellh~mg<br />

mit einer neokonservativen Kritik des W ohlfahrtsstaates entwickelt worden<br />

die dritte auf das tatsachliche oder jedenfalls<br />

oft verkundete Ende des<br />

def naeh traditionellem<br />

Verstandnis die wesentliche<br />

der<br />

sion des Burgerstatus und untersueht vor aHem dessen<br />

weite.<br />

Vorab sei<br />

daB sich die LVIJ-;,.,llU,", nicht auf das Thema<br />

der Staatsangehi:irigkeit bezieht. Zwar setzt der<br />

sowohl in der Union wie auch in deren die<br />

Staatsangehi:irigkeit in einem def<br />

bzw. in dem betreffenden<br />

Mitgliedsstaat voraus, so daB Staatsangehi:irigkeit und Burgerschaft in<br />

der Regel ineins fallen. Irnmerhin gibt es immer noch<br />

in<br />

denen jemand zwar nieht eines Staates, aber doch dessen Staats angehi:iriger<br />

so z.E. im Fane der aller Burgerrechte. Umgekehrt<br />

hat es in der jakobinischen Phase der franzosischen Revolution mehrere<br />

Hille gegeben, in denen einzelnen Personen, die nach Auffassung der<br />

Revolutionare den universalistischen Geist der Revolution besonders hervorragend<br />

verkorperten, das franzosische Burgerrecht zuerkannt<br />

ohne daJ3 diese Personen damit franzosische Staatsangehorige wurden.<br />

Reute finden wir den Fall einer Nieht-Ubereinstimmung von Burgerschaft<br />

und StaatsangehOrigkeit insbesondere in der EU, die in Art. 8b und 8c des<br />

EGV Unionsburgem, d.h. StaatsangehOrigen eines Mitgliedsstaates, mit<br />

Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat, dessen StaatsangehOrigkeit sie nicht besitzen,<br />

bestimmte Biirgerrechte dieses W ohnsitzstaates StaatsangehOrigkeit<br />

und haben das Merkmal der eines<br />

Individuums im Staate gemein, betrachten diese aber aus verschiedenen<br />

Perspektiven und haben daher auch unterschiedliche Funktionen: erstere<br />

betont die vor aHem im intemationalen Recht bedeutsame staatliche Personalhoheit<br />

und grenzt damit den Personenkreis nach auJ3en fur die ein<br />

Staat Verantwortung hat. Letztere betrachtet das Bundel von<br />

Rechten und die der StaatsangehOrige als Glied und Teilnehmer<br />

der inneren des Staates hat. Sie ist daher untrennbar auf den Charakter<br />

der innerstaatliehen<br />

insbesondere ihre<br />

timitat bezogen. Die StaatsangehOrigkeit definiert die Rechte und pflichten<br />

der Individuen als Unterworfene def<br />

wahrend der<br />

status das Individuum in seiner Eigensehaft als Trager und Gestalter staat­<br />

Heher Herrschaft thematisiert (vgl. zur Diskussion der keineswegs einheitlichen<br />

Definition von StaatsangehOrigkeit Makerov 1962: de Groot


546 Ulrich K. Preuj3, Michelle Everson<br />

1989: 1 Off; Wiessner 1989: 19ff, 28ff; Koslowski 1994). Da sich unser<br />

Projekt nur mit dieser zweiten, inneren Dimension der Mitgliedschaft im<br />

Staate befaBt, wird hier vergleichende Literatur zu Erwerb, Verlust und Inhalt<br />

der StaatsangehOrigkeit in den EU-Staaten nicht beriicksichtigt.<br />

Biirgerstatus und politische Philosophie<br />

KymlickaINorman bemerken, daB 'das Konzept der Staatsbiirgerschaft die<br />

Forderungen nach Gerechtigkeit und nach GemeinschaftszugehOrigkeit zu<br />

integrieren scheint' und so zum zentralen Punkt fur die herrschende Debatte<br />

geworden ist, die seit dem Ende der siebziger Jahre zwischen liberalen und<br />

kommunitaristischen Philosophen gefiihrt wurde (z.B. Rawls 1971; Walzer<br />

1983). Aus kommunitaristischer Sicht ist der Bfugerstatus zunachst ein Status<br />

der ZugehOrigkeit und der Mitgliedschaft, der auf einem besonders intensiven<br />

Grad sozialer Solidaritat zwischen dem Einzelnen und der jeweiligen<br />

Gemeinschaft aufbaue (Walzer 1983; Sandel1992; Miller 1992). Der entgegengesetzte<br />

Ansatz, der der liberalen Tradition folgt, legt weniger Gewicht<br />

auf soziale Solidaritat als auf die Rechte des einzelnen Individuums. Nach<br />

ihm leitet sich das Wesen des Bfugerstatus aus dem kooperativen Handeln<br />

freier moralischer Akteure ab, die mit gleichen Rechten und Anspriichen<br />

ausgestattet sind. Es ist hier mehr die wechselseitige Anerkennung gleicher<br />

Rechte, nicht die Existenz bestimmter vorausliegender moralischer Werte,<br />

welche die Teilnehmer bindet und ihre Gemeinschaft konstituiert (vgl. Kymlicka<br />

1992; Dworkin 1992).<br />

In letzter Zeit aber haben sich sowohl Kommunitaristen als auch Liberale<br />

eher auf die aktive Rolle des einzelnen Staatsbiirgers konzentriert. Diese<br />

Wendung auBert sich in dem emeuerten Interesse am Begriff der zivilen<br />

Gesellschaft (CoheniArato 1991; Klingsberg 1992; Seligman 1993; Keane<br />

1988; Taylor 1991). Dies hat vermutlich das Interesse an einer Neuuntersuchung<br />

der Urspriinge des Bfugerstatus in den Stadtstaaten der Antike ausge16st.<br />

Es besteht allgemeine Ubereinstimmung dariiber, daB eine 'erste<br />

Bfugerschaft' (Riesenberg 1992) in der koinonia politike des antiken Griechen1and<br />

und der civitas des vor-imperialen Rom gefunden werden kann,<br />

deren Merkmale in den GroBstaaten der Modeme nicht zu finden sind,<br />

vielleicht aber durchaus auch fUr unsere Gegenwart attraktive Elemente<br />

enthalten konnten (eine Auswahl: Klingsberg 1992; Cohen/Arato 1988;<br />

Keane 1988; Heater 1990). Daher sind Autoren, die sich mit der Zivilgesellschaft<br />

befassen, hauptsachlich damit beschaftigt, die mehr 'flieBende'<br />

Beziehung zwischen dem modemen Staatsbfuger und dem modemen Staat<br />

wiederherzustellen, so daB jeder einzelne Bfuger wieder wirklich in der<br />

Lage ware, ganz genuin einen mehr 'personlichen' Beitrag innerhalb der<br />

national en politischen Ordnung zu leisten.


Konzeptionen von 'Biirgerschafl' in Europa 547<br />

In ahnlicher Weise zeigt sich in der amerikanischen Literatur zum Thema<br />

'citizenship' wieder ein verstarktes Interesse an den Verantwortlichkeiten,<br />

die das Individuum gegenuber der Gesellschaft hat, und am Begriff der<br />

(staats-)bUrgerlichen Tugend (Pangle 1987; Macedo Galston 199<br />

Diese Idee hat nun den Atlantik uberquert und taucht in europaischen Studien<br />

in Form der emeuten<br />

eines einstmals hochst unmodemen<br />

namlich 'Pflicht' 1993; Selboume 1994) auf. In Europa<br />

wie in den USA hat die emeute Einfuhrung solcher Begriffe die von Marshall<br />

dominierte Nachkriegsorthodoxie in Frage gestellt, derzufolge Staatsburgerschaft<br />

das passive Erhalten von Rechten von Seiten des<br />

Staates seL<br />

Programme<br />

In jungster Zeit wurde diese Nachkriegsorthodoxie in Sachen Burgerstatus<br />

von einer Gruppe von Autoren die ihre Aufmerksamkeit weniger<br />

auf den Begriff der Gemeinschaft als vielmehr auf das Konzept des Individuums<br />

gerichtet hat. Ihren deutlichsten Ausdruck fand sie in der 'Wohlfahrtsdebatte'<br />

in Grol3britannien (eine kritische Analyse bei Jordan 1989;<br />

Roche 1992). 1m Kem geht es dabei um die Frage, ob soziale Rechte zum<br />

Begriff des Burgerstatus gebOren oder, im Gegenteil, mit ihm im Grunde<br />

unvereinbar sind. Obwohl Wohlfahrtsrechte auch im Rahmen der liberalen<br />

Tradition eine Rechtfertigung finden konnen 197 werden sie allgemein<br />

als kommunitaristische Instrumente wahrgenommen, die das Individuum<br />

innerhalb einer bestimmten Gesellschaft starken oder unterhalten<br />

(Jones 1990; Gray 1993). Dieses kommunitaristische Element im Begriff<br />

der Staatsburgerschaft wird von jenen Autoren in Frage gestellt, die auf<br />

den Widerspruch zwischen freier Marktwirtschaft und Wohlfahrtsrechten<br />

hinweisen und behaupten, daB W ohlfahrtsanspruche spontane Marktstrukturen<br />

nur verfalschen und dem Individuum die natiirlichen Mittel des<br />

personlichen Ausdrucks absprechen wiirden (Mead 1986; Novak et al<br />

1987; Hindess 1993).<br />

Staatsburgerschajt und Nationalstaat<br />

Die dritte Richtung in der Literatur befal3t sich mit der Beziehung des<br />

Burgerstatus zum Nationalstaat. Insbesondere geht es um die Frage, ob<br />

der der Burgerschaft begrifflich oder zumindest aus politischer<br />

Notwendigkeit an die Existenz des Nationalstaates gebunden sei (Arendt<br />

1973; Aron vgL auch Habermas 1994; Dahrendorf 1994). Seit einiger<br />

Zeit begrunden freilich Migrationsbewegungen sowie zunehmende<br />

okonomische und politische Interdependenzen Zweifel an der Fahigkeit<br />

des Nationalstaates, als die primare Einheit zu funktionieren, die den


548 Ulrich K. Preuj3, Michelle Everson<br />

und die damit verbundenen Rechte !",


Konzeptionen von 'Biirgerschaft' in Europa 549<br />

fried/Pierson<br />

immer die Kon-<br />

"-VUH'~H, dann sind auch der<br />

enge Grenzen<br />

Zunehmend muB der der Wohl-<br />

demisse der intemationalen<br />

Generell mag sich die Tendenz neI'aU:SSt(;Heu,<br />

des Nationalstaates im<br />

a"'Olav,,,,,, als Reaktion<br />

darauf konnte den universe lIen Menschenrechten eine<br />

Ein ahnliches<br />

,,"L115"1'''11 Literatur<br />

entwickelte ~~~>A~"l"'<br />

Up'H~'AHO Union<br />

Die<br />

des<br />

des Instituts der<br />

im<br />

Maastrichter unmittelbar aktuell geworden. Vor der Analyse der<br />

einzelnen damit verbundenen Rechte stellt sich die we1chen Chavorausgesetzte<br />

VIJ


550 Ulrich K. Preuj3, Michelle Everson<br />

Zusarnmenfassend laSt sich festhalten, daB diese vier Untersuchungsrichtungen<br />

auf zwei Erkenntnissen basieren, die vennutlich einen Teil der ErdafUr<br />

enthalten, warum sich in der Nachkriegsliteratur kein klar<br />

urnrissener Begriff von Biirgerschaft durchgesetzt hat (Heater 1990). Zum<br />

einen findet sich die verbreitete notwendigerweise kommunitaristische)<br />

Annahme, daB der Burgerstatus auf der Verbindung des Individuums<br />

mit spezifischen Gemeinschaften beruht Walzer 1983; Sandel<br />

Miller 1992; vgl. aber auch Mouffe 1993; Habermas 1994). Das zweite ist<br />

der nonnative Charakter del' Biirgel'schaft. Burgerschaft ist mehr eine Vision<br />

als eine analytische Kategorie. Beim Vel'standnis des Begriffs der Biirgerschaft<br />

geht es im wesentlichen darum, wie nach dem GefUhl del' Mitgliedel'<br />

einer spezifischen Gemeinschaft diese Gemeinschaft organisiert<br />

sein sollte 1992; Taylor 1991; Hindess 1993; Clarke 1994).<br />

Beide Erkenntnisse fUhren zu def SchluBfolgerung, daB es eine universell<br />

giiltige Definition von Bul'gerschaft nicht geben kann. Wenn Biirgerschaft<br />

primar die<br />

die zwischen einem Individuum und seiner<br />

oder ihrer eigenen Gemeinschaft aufrechterhalten werden (oder umgeund<br />

wenn Gemeinschaften verschieden sind, dann konnen auch diese<br />

Beziehungen von Gemeinschaft zu Gemeinschaft oder Gesellschaft zu<br />

Gesellschaft nur verschieden sein. Und wenn man einen mehr liberalen<br />

Ansatz des Begriffs verfoigt, so wird man sehr bald finden, daB verschiedene<br />

Personen verschiedene Vorstellungen damber haben, wie ihr eigenes<br />

Leben und das Leben ihrer Mitburger verbessert werden konnte, und<br />

folglich auch verschiedene Konzepte von Biirgerschaft benutzen, um verschiedene<br />

Ziele zu verfolgen. In jedem Falle wird man sich einem Pluralismus<br />

von Konzepten von Burgerschaft gegenilbersehen (Blackburn<br />

1993).<br />

Wie ist das Konzept 'Europaische Burgerschaft' zu<br />

HU •• b:n"'""'UHh~LA"" unseres Projekts besteht die mogliche Bebesser<br />

gesagt den Bereich moglicher Bedeutungen) einer europaischen<br />

Biirgerschaft zu klaren. Wir machen dabei die<br />

daB<br />

die Bedeutung, welche ein europaischer Bilrgerstatus fUr den gegenwartig<br />

stattfindenden IntegrationsprozeB in erster Linie durch die Konzepte<br />

bestimmt die sich in den nationalen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft<br />

entwickelt haben. Weiterhin wir davon aus, daB die Konzepte<br />

von Biirgerschaft in den Mitgliedsstaaten der<br />

Union nicht<br />

gleich sind; vielmehr nehmen wir an, daB verschiedene historische Erfahrungen,<br />

Rechtssysteme, religiose und kulturelle Traditionen, Wirtschaftsbedingungen<br />

usw. eine betrachtliche Vielfalt nationaler Konzepte von


Konzeptionen von 'Biirgerschaft'in Europa 551<br />

--~--------~--~----~--------------------------<br />

Biirgerschaft hervorgebracht haben. Wiihrend die erste Annahme zur Zeit<br />

weder verifiziert noch falsifiziert werden kann, weil sie sich auf eine zukiinftige<br />

Entwicklung bezieht, ist die zweite falsifizierbar und daher Gegenstand<br />

unserer Untersuchung. Unsere Hypothese weicht geringfiigig von<br />

dem Konzept eines europaischen Konstitutionalismus ab, das der Europaische<br />

Gerichtshof vertritt, der die 'allen Mitgliedsstaaten gemeinsamen konstitutionellen<br />

Traditionen' betont. Ebenso haben wir auch eine gewisse<br />

Skepsis gegeniiber der Annahme, daB ein gemeinsamer Fundus europaischer,<br />

konstitutioneller Prinzipien existiert, die die Grundlage eines gemeinsamen<br />

europaischen Verfassungsrechts bilden, wie es von Haberle<br />

angenommen wird (Haberle 1991: 71ff; skeptischer dazu Ipsen 1987). Die<br />

Untersuchung dient der Uberpriifung jener Thesen in bezug auf den Status<br />

der Burgerschaft. Ais Ergebnis der Forschung erwarten wir dariiber hinaus<br />

auch ein griindlicheres Wissen uber die Spannweite der Bedeutungen, die<br />

die gegenwiirtigen rechtlichen und politischen Diskussionen uber den Begriff<br />

der Burgerschaft (und uber die eng damit verbundene Thematik einer<br />

europaischen Verfassung) beeinflussen.<br />

Ein analytischer Rahmen<br />

Zur Identifizierung der Vielzahl moglicher Sinngehalte von Biirgerschaft<br />

in den von uns ausgewahlten Mitgliedsstaaten der EU mussen wir den<br />

Raum definieren, innerhalb dessen wir sie aufzufinden vermuten. Wir gehen<br />

davon aus, daB 'Biirgerschaft' zu den grundsatzlich urnstrittenen politischen<br />

Konzepten gehOrt (Sommers 1994) und daB seine spezifische Bedeutung<br />

innerhalb der nationalen Gesellschaften in enger Anlehnung an<br />

ideologische Gegensatze und sozial-okonomische, religiose oder kulturelle<br />

Spaltungen variieren diirfte. Daher sind wir darauf vorbereitet, einer Vielzahl<br />

von (konkurrierenden) Biirgerschaftsbegriffen auch innerhalb der untersuchten<br />

Mitgliedstaaten zu begegnen. Doch die dem Projekt zugrundeliegende<br />

Hypothese ist die, daB sich in jedem der nationalen Mitgliedsstaaten<br />

der Gemeinschaft - d.h. in den fiinf Liindem, urn die es hier geht -<br />

ein vorherrschendes Konzept von Biirgerschaft herausgebildet hat, das einen<br />

dominierenden EinfluB sowohl auf die Rechtsordnung als auch·auf die<br />

politischen und sozialen Praxisformen hat, die sich auf das Konzept der<br />

Biirgerschaft beziehen.<br />

In einer vergroberten Fassung konnen wir versuchen, das Universurn moglicher<br />

Biirgerschaftskonzepte in einer Matrix einzufangen, die auf der Abszisse<br />

zwischen einem kommunitaristischen und einem individualistischenlliberalen<br />

Verstiindnis unterscheidet und auf der Ordinate danach<br />

differenziert, ob in einem Biirgerschaftsbegriff der Status der Mitgliedschaft<br />

logisch und normativ V orrang vor den damit verknupften Rechten


552 Ulrich K Preuj3, Michelle Everson<br />

diese also aus<br />

Rechte und nonnativ dem Status der lVtltgllle


_K_on_Z-,ep,---t_io_n_en_v_o_n_'B_u_"r=--ge_~_sc_h-"afl_t'_in_E_u_r--'op'-a ______________ 553<br />

male diametral entgegengesetzte Extrem eines<br />

das auf innere<br />

Verbundenheit al:> von Verbindlichkeit verzichtet z.B.<br />

def kaufliche Erwerb des Status der<br />

Dissoziative Beziehungen von<br />

von Burgerschaft<br />

unterscheiden sich entsprechend ihren Gegenbegriffen, auf die sie sich<br />

mehr oder ausdrucklich beziehen, und gegen die sie mehr oder<br />

weniger bewuBt abgegrenzt werden. Wir sprechen von der dissoziativen<br />

Funktion des Begriffs der<br />

wenn er in einer extrem 'asymmetrischen'<br />

Beziehung zu einem anderen Status steht Konzept der<br />

'asymmetrischen Gegenbegriffe' siehe Koselleck 1989: 21 Zwei Versionen<br />

dieser<br />

sind vorstellbar: nach der ersten<br />

Version wird die positive Bedeutung der Staatsbfugerschaft gegenuber<br />

dem Hintergrund dnes extrem negativen und veriichtlichen Status hervorgehoben.<br />

Nach der zweiten, entgegengesetzten Version wird<br />

dadurch entwertet, daB sie al:> negative Folie fur die Hervorhebung anderer,<br />

al:> wertvoll geschiitzter sozialer RoBen dient. Ein Beispiel fur die erste<br />

Version ist die Gegenuberstellung von 'Burgem' und Aristokraten, die im<br />

Westeuropa des 18. und 19. Jahrhunderts von grundlegender politischer<br />

Bedeutung war. Das beruhmte Gegensatzpaar 'citoyen-bourgeois' ist ein<br />

anderes Beispiel. Ein Beispiel fur die zweite Version war die Entwertung<br />

des 'Burgers' gegenuber dem 'Genossen' in den kommunistischen Gesellschaften.<br />

Interessanter als diese Extremfane, die hauptsachlich heuristischen<br />

Zwecken dienen, sind natlirlich die Grenzfalle, die mehr unsere zeitgenossischen<br />

Verfassungsstaaten betreffen. Hier enthullen Gegenuberstellungen<br />

wie 'Burger-Oberhaupt der FamilielFamilienmitglied', 'Burger­<br />

FraulHausfrau', 'Burger/ Arbeiter/ Angestellter/Untemehmer', 'Burger-Kunde',<br />

'Burger-Kunstler' etc. spezifische Vorstellungen von Burgerschaft, das<br />

uns dabei helfen konnten, ihren kulturellen Zusammenhang besser zu verstehen.<br />

Assoziative Beziehungen von Burgerschaft. Zum Verstiindnis des Begriffs<br />

gehOren nicht nur die Gegenbegriffe und die in ihnen ausgedruckte Bezieder<br />

sondem auch die d.h. die<br />

sso'zza~tlOneI1. die das Konzept der Burgerschaft im geschichtlichen Verlauf<br />

in verschiedenen Gesellschaften eingegangen sein konnte. Prominentes<br />

Beispiel ist die Metamorphose yom Staatsuntertan zum Staats burger. In<br />

einigen Fallen konnen wir sogar die Uberfuhrung einer zuvor dissoziativen<br />

Beziehung in eine assoziative beobachten, wie Z.B. in dem nach dem 2.<br />

w(~m:ne:g in Deutschland erfundenen Begriff des 'Burgers in Uniform',<br />

oder auch in Begriffen wie<br />

oder 'Wirtschaftsburger'<br />

(economic citizen). Es gibt auch Falle, in denen eine assoziative<br />

Beziehung dadurch hergestellt wird, daB die in dem Konzept der<br />

Burgerschaft verk6rperten Werte in eine ihr ursprunglich feme Sphare


554 Ulrich K. PreufJ, Michelle Everson<br />

transferiert werden. Der 'akademische konnte ein solcher Fall sein.<br />

Ein solcher Transfer enthullt dann moglicherweise mittelbar wesentliche<br />

Einsichten D.ber die innersten Elemente der<br />

Ausschluj3 und Einschluj3. Diese Dimension thematisiert die Attribute von<br />

Personen, welche sie bzw. den Status der<br />

Bilrgerschaft zu eriangen. Das offenkundigste Beispiel einer<br />

fikation ist natilrlich der Ausschlul3 des Sklaven vom Bilrgerstatus in der<br />

griechischen Das Thema der Sklaverei, d.h. der AusschluB von Menschen<br />

von der Kategorie des Person-Seins und, daraus folgend, vom Status<br />

der Bilrgerschaft, hat aber auch in der Geschichte der Vereinigten Staaten<br />

seit ihrer eine Schlusse1rolle gespielt (Shklar 1991). Auch in der<br />

franzosischen Revolution spielte diese Frage eine Rolle. Ein kaum UTP'nll~pr<br />

sichtbarer Fall des ausschlieBenden Charakters der Burgerschaft ist der<br />

mindere Status von Frauen bis in das 20. Jahrhundert hinein (Lother<br />

Spree 1994). Heute besitzt freilich in den EU-Staaten jeder Erwachsene<br />

unabhangig von sozialem Status, Religion, Geschlecht oder politischer<br />

Meinung den Burgerschaftsstatus. Dennoch ist die hier vorgeschlagene<br />

Unterscheidung ausschlieBend/einschlieBend historisch nicht uberholt.<br />

Denn angesichts der Umwandlung Europas aus einem Auswanderer- in einen<br />

Einwandererkontinent gewinnt die heute noch geltende AusschlieBung<br />

von AusHindem vom Bilrgerstatus eine neuartige Bedeutung, die, so unsere<br />

Hypothese, in den verschiedenen Mitgliedstaaten keineswegs dieselbe sein<br />

dilrfte. Unabhangig von dies em aktuellen AusschlieBungsmechanismus<br />

konnen auch vergangene und vielleicht nur unter traumatischen gesellschaftlichen<br />

Bedingungen uberwundene Ausschlusse einen wichtigen EinfluB<br />

auf das gegenwartige Verstandnis der Kategorie der Bilrgerschaft haben<br />

(sehr eindringlich fUr die USA Shklar 1991).<br />

Staatliche und gesellschaftliche Konzepte von Biirgerschaft. Konzepte von<br />

Bilrgerschaft konnen entlang der<br />

staatlich - gesellschaftlich<br />

unterschieden werden. 1m Rahmen einer staatlichen Konzeption dient der<br />

Status def Biirgerschaft in erster Linie dem Zweck, eine Beziehung zwischen<br />

Staat und Individuum sicherzustellen, in der Gehorsam gegen Schutz<br />

getauscht wird. Idealtypisch liegt eine vertikale Beziehung zwischen Staat<br />

und Individuum VOf, in welcher sich das Individuum in einem ilberwiegend<br />

passiven Status der SUbjektion befindet. 1m Rahmen einer gesellschaftlichen<br />

Konzeption verkorpert sich in dem Begriff der Burgerschaft das Bestreben,<br />

einen Raum zu definieren, in dem das Individuum gegen das Eindringen<br />

politischer Macht geschiltzt ist. Burgerschaft schUtzt nach diesem<br />

Verstandnis die unabhangige SteHung des Individuums in einer Welt primar<br />

horizontaler sozialer Beziehungen wie dem Markt, freiwilliger Verhande<br />

oder der Familie. Hier konnen wir verschiedenen, im Status der<br />

Bilrgerschaft ausgedriickten Bedeutungen von Unabhiingigkeit begegnen,


_~_on_z~ep_n_o_ne_n_v_on __ ~_ur~g_e~_sc_h~afi~t'_in_E_u_r~op_a ____________________________ 555<br />

wie z.B. einer mehr passiv-privatistischen (Deutschland im 19. Jh.), einer<br />

aktiv-privatistischen (anglo-amerikanische Konzeption) oder einer aktivrepublikanischen<br />

(Frankreich, Niederlande).<br />

Physische und symbolische Grenzen der Burgerschaft. Ais ein weiteres bedeutsames<br />

Element der Definition von Biirgerschaft betrachten wir den Charakter<br />

der Grenzen, die Biirger von Nicht-Biirgem abgrenzen; dabei unterscheiden<br />

wir zwischen physischen und symbolischen Grenzen. Der modeme<br />

Staat begrenzt seine Autoritat und Souveranitat entlang physischer Grenzen,<br />

und seine Forderung nach Gehorsam basiert (mit wenigen Ausnahmen) auf<br />

der physischen Kontrolle seines Territoriums (Conze 1990; Ruggie 1993). Die<br />

physischen Grenzen seiner Autoritat sind ein wichtiges Mittel der Herstellung<br />

einer kohiirenten sozialen Ordnung. Nicht-territoriale Institutionen wie die<br />

katholische Kirche, die Kommunistische Partei oder eine Nationale Befreiungsbewegung<br />

mit kaum weniger Kontrolle fiber ihre jeweiligen Mitglieder<br />

ziehen dagegen symbolische Grenzen zur auBerhalb liegenden Welt. Ahnlich<br />

k6nnen wir einerseits Konzepte von Biirgerschaft beobachten, die mehr die<br />

fiberwiegend physischen, sichtbaren Grenzen dieses Status fur soziale und<br />

politische Integration betonen, und andererseits jene, die auf weniger leicht<br />

identifizierbare, ungreifbarere Grenzen abstellen. Die Unterscheidung zwischen<br />

ius soli und ius sanguinis spiegelt diesen Gegensatz sehr treffend. Natiirlich<br />

gibt es kompliziertere Fiille, zum Beispiel den britischen Fall und<br />

wahrscheinlich auch den aller europaischen Lander, die eine koloniale Vergangenheit<br />

mit besonderen Verbindungen zu ihren friiheren EinfluBbereichen<br />

und deren Einwohnem haben. Eine unserer Hypothesen mit Bezug auf die<br />

Unterscheidung physisch-symbolisch ist die, daB die beiden Elemente zwei<br />

unterschiedliche Modi sozialer Integration darstellen und daB diese wiederum<br />

denjeweiligen GehaIt verschiedener Konzeptionen von Biirgerschaft pragen.<br />

Rechte versus ursprilngliche ZugehOrigkeit. Konzepte von Biirgerschaft<br />

k6nnen danach unterschieden werden, ob sie hauptsachlich durch die dem<br />

Biirgerstatus zugewiesenen Rechte definiert werden oder durch Beziehungen,<br />

die solchen Rechten vorausliegen und das Individuum mit dem Staat<br />

verbinden. Wir kennzeichnen diese Unterscheidung mit dem Gegensatzpaar<br />

Rechte vs. urspriingliche ZugehOrigkeit. 1m ersten Fall k6nnte die<br />

Zuweisung von Rechten die Entstehung einer Gemeinschaft zur Foige haben;<br />

im zweiten Fall erfordert der Begriff umgekehrt, daB bereits eine Gemeinschaft<br />

zwischen dem Individuum und dem Staat als Voraussetzung<br />

dafiir besteht, daB dem Individuum bestimmte Rechte zuerkannt werden<br />

konnen. Mit gewissen Modifikationen, die hier unerortert bleiben, ist diese<br />

Unterscheidung die gleiche wie die bekannte zwischen Liberalismus und<br />

Kommunitarismus.<br />

Reprasentation kollektiver Werte!Interessen vs. Verfolgung von Eigeninteressen.<br />

Bedeutsam ist auch, ob der Biirgerstatus primar ein Element ist,


556 Ulrich K. Preufi, Michelle Everson<br />

das auf die<br />

bestimmter kollektiver Werte<br />

oder ob er ein Instrument in den Hiinden<br />

von Individuen die damit ihre Zwecke verfolgen konnen.<br />

1m modernen Verfassungsstaat ist es die Aktivbiirgerschaft, die durch<br />

die<br />

Rechte alle Bewohner eines Territoriums<br />

rechtlich bindet.<br />

relativ hoher Anteile von<br />

in EU-Landern kann es zu einer be-<br />

Diskrepanz zwischen der Zahl derjenigen, die die<br />

Autoritat zu binden haben und die kommen.<br />

Sie liiBt sich vielleicht nm, in an Bmke's Theorie der 'virtuellen<br />

Funktion des<br />

rbtirgc:rsc:hatt insgesamt) iiberbriikken<br />

bzw. rechtfertigen. Er dUffte dann vermutlich nicht nur ein Status von<br />

Rechten, sondern auch von Pflichten und Verantwortlichkeiten sein. Oder<br />

wird, ganz im Gegenteil, Burgerschaft als eine Art personliches<br />

UH.'UU"H, als ein Potential betrachtet und auch benutzt, das es einer Person<br />

ermoglicht, ihre oder seine Interessen effizienter zu<br />

1st der Status<br />

der Burgerschaft mit anderen Worten vorwiegend ein reprasentativer<br />

Status oder ein Status zum Schutz und zur F6rderung des<br />

chen Selbstinteresses, der Selbstentfaltung oder der der personlichen IdentiUit?<br />

Die Antwort durfte einen gewissen EinfluB auf den Charakter der demokratischen<br />

Kultur<br />

Land haben und damit zum Verstandnis<br />

des politischen und kulturellen Kontextes des Begriffs der<br />

beitragen.<br />

Anrechte und Angebote. Der Gedanke, daB Burgerschaft ein Guthaben sein<br />

das dem Individuum Lebenschancen die ihm sonst nicht<br />

zm Verrugung<br />

der von Dahrendorf vorgeschlagenen Unterzwischen<br />

Anrechten und Angeboten zugrunde<br />

3 Dahrendorf Anrechte bieten Individuen einen norin<br />

diesem Sinne sind z.B. legale An­<br />

Anrechte. Angebote umfassen die<br />

und Vielfalt materieller und immaterieller nach denen die Individuen<br />

streben. Wenn wir diese<br />

der<br />

schaft in<br />

setzen, so wird ""'cvHHU'OU<br />

nem Inhaber Zugang sowohl zu Anrechten als auch zu Angeboten<br />

Unsere daB von sich je nach<br />

dem<br />

unterscheiden: je mehr Anrechte der Biir-<br />

,,,p'n"~p,.. Angebote werden real in der Gesell-<br />

Diese Aussage ist eine V ersiaU""l'UIO"'''OllUHb<br />

von Sicherheit gegen Freiheit. In dem<br />

wird es mithin um die Antwort auf die Frage ob<br />

l-i:ii,..O",'rcj·"t,1C den Individuen den auf Anrechte


Konzeptionen von 'Burgerschaft'in Europa 557<br />

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~--<br />

indem er den<br />

GroBteil des ge~;ellsctlatjthchen<br />

nicht verbundenen V er - und Zuteilurlgsmc;chanisnlen<br />

"-'''h'~'"''L den zu- und verteilenden Kraften des<br />

wie zum<br />

der Familie oder<br />

anderen Gemeinschaften. Daher stellt in dieser Dimension die V"",",HUH5<br />

des der dar.<br />

SchlieBlich<br />

un­<br />

Jjul~gelrscllatt auf<br />

sen sowohl die Nation wie auch def Status als<br />

Akt<br />

den<br />

den Staat aktiv zu formen und an der Ausseiner<br />

Autoritat teilzunehmen. Ein eher<br />

VersUindlllS<br />

von<br />

kann in verschiedenen Version en vorkommen: es<br />

k6nnte z.E. an einen in der dann ethnisch bestimmten<br />

Nationbegriff<br />

sich in einem mehr kulturellen<br />

wie dem des deutschen 1993a;<br />

annehmen. Es sei<br />

schen<br />

den Lander im<br />

nicht aber eine HHY!","""'- Realitat.<br />

werden sollen,<br />

Methoden der<br />

zu lesen<br />

nellen Methoden rechtlicher Int",.,..,·",tq<br />

um die genaue rechtliche LYI..'U'-"H!.U'I-'.<br />

zu bestimmen. Doeh k6nnen unserer ",-,U


558 Ulrich K. Michelle Everson<br />

vollstandig verstanden werden. Daher muB sich die m emem<br />

zweiten Schritt den zuwenden, die die<br />

stische Profession sowie jene Krafte der Zivilgesellschaft, die die Offentliche<br />

Diskussion in einer demokratischen Gesellschaft konstituieren,<br />

pragend zum Verstandnis des Begriffs beigetragen haben. Reehtliehe<br />

Interpretation erweitert sich hin zur 'offenen Gesellsehaft der Verfastpr,wp·tprI<br />

. In einem dritten Sehritt wird die Untersuehung um die<br />

Analyse der sozialen und kulturellen Zusammenhiinge der Rechtstexte<br />

und ihrer Interpretation angereiehert. Die Analyse der sozialen Zusammenhange<br />

konzentriert sieh auf die soziale Funktion, die der Status der<br />

Burgerschaft in einer bestimmten Gesellsehaft ausubt einem Land<br />

kann sie fUr das wirtschaftliche Leben eine wichtige Rolle spiden, z.E.<br />

fur den Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen, wahrend sie in einem<br />

anderen Land primar als ein Element der symbolischen Reproduktion der<br />

Gesellschaft dienen konnte). Da wir eine Antwort auf die Frage finden<br />

ob die in den EU-Mitgliedsstaaten vorherrschenden Konzepte<br />

der Burgerschaft miteinander vereinbar sind, ist fUr das Projekt die kulturelle<br />

Dimension einer gegebenen Verfassung und rechtlichen Ordnung<br />

von besonderer Bedeutung, wei! es die Kultur einer bestimmten Gesellschaft<br />

die die (verschiedenen und oft umstrittenen) politischen Begriffe<br />

formt, das kollektive Erinnerungsvermogen pragt, die beherrschende Rolle<br />

im ProzeB der Konstitution von Bedeutung spielt und damit die Besonderheit<br />

einer Gemeinschaft zum Ausdruck bringt und aufrechterhalt. Der kulturelle<br />

Zusammenhang der rechtlichen Texte bietet m.a.W. den symbolischen<br />

Rahmen fUr ihr richtiges Verstehen. Die Untersuchung betritt dabei<br />

das Feld der politischen Semantik und ihrer spezifischen Mehrdeutigkeiten,<br />

die u.a. auch den flieBenden und unbestimmten Charakter des<br />

Begriffs der Burgerschaft erkHiren (zu den methodischen Problemen der<br />

Semantik Koselleck Koselleck 1989: Dabei<br />

kommt es uns darauf an, nicht nur das bei den<br />

und kulturellen<br />

EHten vorherrschende Verstandnis von Burgerschaft zu !U~'!Hl!l£'l"!'''l!,<br />

sondem auch<br />

das bei den breiten Massen vorherrschend<br />

weil des demokratischen Charakters der Staaten<br />

dieses MassenbewuBtsein uber das ob und ggf. den Charakter einer europaischen<br />

Burgerschaft bestimmen durfte.<br />

Daraus folgt, daB das Material der Untersuchung nicht auf offizielle<br />

sche Texte (Verfassungen, Gesetze,<br />

und deren<br />

tionen durch die Profession beschrankt sondem auch<br />

rungen<br />

die von den unterschiedlichsten Teilnehmem des Offentlich-politischen<br />

Diskurses stammen und das kollektive BewuBtsein<br />

publizistische Debatten, literarische Werke, Stereotype in der<br />

Massenkultur, Schlagworte in der<br />

Auseinandersetzung u.a.


Konzeptionen von 'Burgerschafl'in Europa 559<br />

konnen ergiebige fur die Analyse des in del' Gesellschaft herrsehenden<br />

von Burgersehaft sein. Natiirlieh kann die Studie nieht<br />

aIle diese Materialien in allen untersuchten Landem untersuchen. Dies ist<br />

aber auch nieht wlinsehenswert. Es kann angenommen daB die<br />

versehiedenen Spharen die<br />

von kollektivem Wissen nieht<br />

liberal!<br />

beeinflussen, und daB sie aufgrund geS,chl.ehl:11c!l1er<br />

Besonderheiten verschiedene Rollen in den einzelnen<br />

spielen. Es wird von dem jeweiligen Land<br />

welehe Art von<br />

Quellen fur das Ziel del' Studie am ergiebigsten 1St.<br />

Die Auswahl der zu untersuchenden Lander<br />

Die Untersuchung solI sich auf die Lander<br />

Deutschland, Italien und Belgien erstreeken. Begrenzte Ressourcen und<br />

Probleme del' Randhabbarkeit sprechen dagegen, samtliche (in nachster<br />

Zukunft 15) Mitgliedsstaaten einzubeziehen. Daher muB die getroffene<br />

Auswahl hinlanglich reprasentativ fur die Unterschiedlichkeit der Mitgliedsstaaten<br />

und ihrer politischen Kulturen sein. Zwei Kriterien haben die<br />

Auswahl geleitet: zum einen der EinfluB, den die einzelnen Mitgliedsstaaten<br />

aufgrund ihres wirtschaftlichen und politisehen Gewichts auf die Entwicklung<br />

der Union haben konnten. Wir machen dabei die Annahme, daB<br />

der EinfluB del' politischen und rechtlichen Kultur eines Mitgliedsstaates<br />

auf die Entwicklung einer europaischen Burgerschaft zum groBten Teil<br />

seiner jeweiligen wirtschaftlichen und politischen SteHung entsprechen<br />

wird. Dies ist mehr oder weniger ein quantitatives Kriterium.<br />

Das zweite Kriterium ist mehr qualitativer Natur und behandelt die besondere<br />

Rolle der Mitgliedsstaaten im Zusammenhang ihrer Geschichte als<br />

Nationalstaaten. Rier machen wir die<br />

daB die historischen Eider<br />

zu Nationalstaaten<br />

UH'\'H~."''''''''v~ V erstandnis von Burgerschaft ge­<br />

,-"'F;""""""" wahrscheinlich einen gewichtigen<br />

mit den Anforderungen<br />

haben. Es hat sicherlich keinen<br />

historischen 'Standardweg' zur Nationalstaatlichkeit gegeben, der als MaBstab<br />

fUr die Entwicklung aller Mitgliedsstaaten dienen konnte. Jeder einzelne<br />

der europaischen Nationalstaaten hat seine ureigene<br />

durchgemacht, so daB jeder als<br />

geeignet ware. Die (yptrntt",_<br />

ne Auswahl muB ausreichend verschiedenartige Falle<br />

urn elne<br />

breite Spanne von Varianten abzudecken. Daher sind<br />

deren Prozesse der Nationalstaatsbildung einige auffallende Merkmale<br />

die einen spezifischen EinfluB auf die Evolution einer Unionshaben<br />

die geeignetsten Kandidaten.


560 Ulrich K. Preufi, Michelle Everson<br />

ist nicht nur Zentrum des Commonwealth und damit auch<br />

historisch mit der !-,V''''''_W.'H 'iSCHu,'UC>,VH multi-nationaler und -ethnischer<br />

!-,Vj,U"'''H''l Einheiten vertraut, sondem umfaBt auch als rein<br />

Nationalstaat eine Mehrheit von<br />

so daB gein l'\..UUL"CI,}<br />

die fur eine eUlrorllw,cl1le<br />

bedeutsam sein k6nnen. Unter allen<br />

ten kommt Frankreich dem<br />

beruhenden Sta,atsbuI'gel:naltlOn<br />

man von<br />

Beide Besonderheiten lassen eine is",;""'U""-'<br />

V!-,'U~'"U"H Staaten besondere Hirbung des deutschen<br />

be~(fltts erwarten. Italien ist ebenfalls ein unter den euro-<br />

"VA"'!'''''''"'''',1, hatte aber anders als die keinen<br />

von der<br />

bedeutsamen Begriffvon Nation. Bemerkenswert<br />

ist fur dieses Land auch die historische Tradition der italienischen<br />

des Mittelalters. AuBerdem ist Haiien ein<br />

klassisches Auswandererland - alles in aHem sind dies<br />

die ein<br />

sehr eigentUmliches Profil des der Bfugerschafi erwarten lassen.<br />

Belgien schlieBlich wird allein des zweiten Kriteriums in die<br />

Untersuchung einbezogen. Das Land ist ein bi-nationaler, fOderal<br />

sierter Staat im um seme Es ist ein fUr die Existenz<br />

eines Staates, dessen Kohiirenz nicht auf<br />

beruht und dessen von """E,A'''''''''WU<br />

der EU von besonderem Interesse 1St.<br />

In den letzten Jahren ist die<br />

zunehmend von den Volkem III<br />

hat die ob und wie das Institut der UH'V"WU"Hi'i'"<br />

tatsachlich zur<br />

emes eUlro]:)lW;ch.en<br />

k6nnte, eine enorme gewonnen. Dieses davon aus,<br />

daB die noch zu entwickelnde Institution der<br />

auf den<br />

einzelnen Traditionen der<br />

basieren wird. Es ist zu<br />

daB in den divers en national en tle:gnlttc:n<br />

und cittadinanza<br />

uu/v""""""", sondem auch ge­<br />

HR'"l""ll'''ll. Sollte es sich aber erge-


Konzeptionen von 'Bargerschaft' in Europa 561<br />

daB die verschiedenen K.cmzep[e<br />

ennete und cittadinanza nicht mit einander KOmrlatl<br />

Erkenntis: eine an die<br />

Formen werden mussen, um individuelle<br />

einander zu binden.<br />

Literatur<br />

Ali, Yasmin (1993): Race, Ethnicity and Constitutional Rights, in: Barnet et al (Hrsg.), Debating<br />

the Constitution, Cambridge: Polity Press.<br />

Arendt, Hannah (1973): The Origins o/Totalitarianism, New York: Harcourt Brace.<br />

Aron, Raymond (1974): Is Multinational Citizenship Possible?, in: Social Research, Vol 41.<br />

Avinieri, Shlomo; de-Shalit; Avner (Hrsg.) (1992): Communitarianism and Individualism, Oxford:<br />

OUP.<br />

Bellamy, R. (1993): Citizenship and Rights, in: Bellamy, R. (Hrsg.), Theories and Concepts 0/<br />

Politics, Manchester: Manchester University Press.<br />

Blackburn, R. (1993): Rights o/Citizenship, London: Mansell.<br />

Brubaker, R. (1989): Emigration and the Politics o/Citizenship in Europe and North America,<br />

Lanham: University Press of America.<br />

Clarke, P. (1994): Citizenship, London: Pluto Press.<br />

Closa, C. (1992): The Concept of Citizenship in the Treaty on European Union, in: CMLR,<br />

Vol. 29, S5. 1137-1169.<br />

Cohen, J.; Arato, A. (1991): Civil Society and Political Theory, Cambridge Ma: MIT Press.<br />

Contstantinesco, Leotin-Jean (1972): Rechtsvergleichung, Bd. II, Kiiln: Carl Heymanns Verlag.<br />

Conze, W. (1990): Staat und Souveranitat, in: Geschichtliche GrundbegrifJe: Historisches Lexikon<br />

zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6., Stuttgart.<br />

d'Oliveira, H. U. (1994): European Citizenship: Its Meaning, its Potential, in: Dehousse, R.<br />

(Hrsg.), Europe After.<br />

Dahrendorf; R. (1994): The Changing Quality of Citizenship, in: Steenbergen, Bart van<br />

(Hrsg.), The Condition o/Citizenship, London: Sage.<br />

de Groot, Gerard-Rene (1989): StaatsangehOrigkeit im Wandel: Eine rechtsvergeichende Studie<br />

abel' Erwerbs- und Verlustsgrande, Kiiln: Heymans.<br />

Dworkin, R. (1992): Liberal Community, in: Avinieri et al (Hrsg.), Communitarianism and<br />

Individualism, Oxford: OUP.<br />

Finer, S. (1975): State and Nation-Building in Europe: The Role of the Military, in: Tilley, Ch.<br />

(Hrsg.), The Formation o/National States in Western Europe, Princeton: Princeton University<br />

Press.<br />

Fitzgerald, M. (1984): Political Parties and Black People: Participation, Representation and<br />

Exploitation, London: Runnymede Trust.<br />

Galston (1991): Liberal Purposes: Goods, Virtues and Duties in the Liberal State, Cambridge:<br />

Cambridge University Press.<br />

Gellner, Ernest (1983): Nations and Nationalism, Oxford: Blackwell Press.<br />

Gray, John (1993): Beyond the New Right, London: Sage.<br />

Haberle, P. (1991): Gemeineuropaisches Verfassungsrecht, in: EuGrz (1991), ss. 261-274.<br />

Habennas, (1994): Citizenship and National Identity, in: Steenbergen, Bart van (Hrsg.), The<br />

Condition 0/ Citizenship, London: Sage.<br />

Heater, D. (1990): Citizenship: The Civic Ideal in World History, Politics and Education.<br />

Hindess, B. (1993): Citizenship in the Modem West, in: Turner, B. S. (Hrsg.), Citizenship and<br />

Social Theory, London: Sage.<br />

Ipsen, H.P. (1987): Europaische Verfassung - Nationale Verfassung, in: Europarecht, Heft. 3,<br />

ss. 195-213.


562 Ulrich K. Preuft, Michelle Everson<br />

Joerges, Ch. (1993): Wirtschaftlicher Nationalstaat und der Vertrag von Masstricht, in: Leviathan,<br />

No.4, ss. 1-23.<br />

Jones, P. (1990): Universal Principles and Particular Claims: From Welfare Rights to Welfare<br />

States, in: Ware, A.; Goodin, R. (Hrsg.), Welfare Provision, London: Sage.<br />

Jordan, B. (1989): The Common Good: Citizenship, Morality and Self-Interest, Oxford:<br />

Blackwell Press.<br />

Keane, John (1988): Democracy and Civil Society, London: Verso.<br />

Klingsberg, E. (1992): The State Rebuilding Civil Society, in: Michigan Journal of Law, Vol.<br />

13, p 832.<br />

Koslowski, R. (1994): Intra-EU Migration, Citizenship and Political Union, in: JCMS, Vol.<br />

32, No.3, pp. 369-402.<br />

Koselleck, R. (1972): Einleitung in: Conze, W.; Brunner, 0.; Koselleck, R (Hrsg.), Geschichtliche<br />

GrundbegrifJe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in<br />

Deutschland, Bd. 1, Stuttgart.<br />

Koselleck, R (1989): Vergangene Zukunji: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp.<br />

Kymlicka, W. (1992): Liberal Individualism and Liberal Neutrality, in: Avinieri et al (Hrsg),<br />

Communitarianism and Individualism, Oxford: OUP.<br />

Kymlicka, W.; Norman, W. (1994): Return of the Citizen: A Survey of Recent Work on Citizenship<br />

Theory, in: Ethics 104 (January 1994), pp. 369-402.<br />

Leca, J. (1992): Questions of Citizenship, in: Mouffe, Ch. (Hrsg.), Dimensions of Radical<br />

Democracy, New York: Verso.<br />

Leibfried, S. (1994): Wohlstaatliche Perspektiven der Europiiischen Union: Auf dem Wege zu<br />

positiver Souveriinitiitsverflechtung? in: Kritische Justiz.<br />

Leibfried, S.; Pierson, P. (1995): Europe's Semi-sovereign Welfare States: Social Policy in an<br />

Emerging Multi-tiered System, in: ibidem. (Hrsg.), Fragmented Social Policy: The European<br />

Community's Social Dimension in Comparative Perspective, Washington: Brookings Institute.<br />

Liither, A. (1994): Unpolitische Biirger. Frauen und Patizipation in der vormodernen praktischen<br />

Philosophie, in: Koselleck, R; Schreiner, K. (Hrsg.), Burgerschaji: Rezeption und<br />

Innovation der BegrijJlichkeit, Stuttgart: Klett-Clotta.<br />

MacCormick, N. (1993): Beyond the Sovereign State, in: Modern Law Review, Vol. 56, ss. 1-<br />

18.<br />

Macedo, S. (1990): Liberal Virtues: Citizenship, Virtue and Community, Oxford: OUP.<br />

Makerov, A. N. (1962): Allgemeine Lehren des StaatsangehOrigkeitsrechts, 2. Aufiage, Stuttgart:<br />

Kohlhammer.<br />

Mancini, F. (1989): The Making ofa Constitution for Europe, in: CMLR, Vol. 26, ss. 595-614.<br />

Marshall, T. H. (1950): Citizenship and Social Class and Other Essays, Cambridge: Cambrige<br />

University Press.<br />

Mead, L. (1986): Beyond Entitlement: The Social Obligation of Citizenship, New York: Free<br />

Press.<br />

Meehan, M. (1993): Citizenship and the European Union, London: Sage.<br />

Miller, D. (1992): Community and Citizenship, in: Avinieri et al (Hrsg.), Communitarianism<br />

and Individualism, Oxford: OUP.<br />

Milward, A.; Lynch, F. (1993): The Frontier of National Sovereignty: History and Theory<br />

1945-1992, London: Routledge.<br />

Mouffe, Ch. (1993): Democratic Citizenship and the Political Community, in: ibidem (Hrsg.),<br />

Dimensions of Radical Democracy, New York: Verso.<br />

Miinkler, H. (1991): Europa als politische Idee, in: Leviathan, No.4, ss. 521-541.<br />

Novak, M. et at (1987): The New Consensus on Family and Welfare, Washington: American<br />

Enterprise Institute.<br />

Pangle, Th. (1987): Civic Virtue: The Founders Conception and the Traditional Conception,<br />

in: Brynner, N.; Reynolds, B. (Hrsg.), Constitutionalism and Rights, Utah: Brigham University<br />

Press.


Konzeptionen von 'Burgerschaft'in Europa 563<br />

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~--<br />

Rasmussen, D. (1990): Universalism versus Communitarianism, Cambridge Ma: MIT Press.<br />

Rawls, J. (197 J): A TheOlyof Justice, Cambridge: Harvard University Press.<br />

Rawls, J. (J 993): Political Liberalism, New York: Columbia University Press.<br />

Riesenberg, P. (1992): Citizenship in the Western Tradition: Plato to Rousseau, Chapel Hill:<br />

University of North Carolina Press.<br />

Roche, D. (1992): Rethinking Citizenship, Cambridge: Polity Press.<br />

Ruggie, J. (1993): Territoriality and Beyond: Problematizing Modernity in International Relations,<br />

in: International Organization 47, ss. 139-174.<br />

Safran, W. (1991): State, Nation, National Identity, and Citizenship: France as a Test Case, in:<br />

International Political Science Review, Vol., 12, No.3, ss. 219-238.<br />

Sandel, M. (1992): The Procedural Republic and the Unencumbered Self, in: Avinieri et al<br />

(Hrsg.), Communitarianism and Individualism, Oxford: OUP.<br />

Selbourne, D. (1994): The Principle of Duty, London: Sinclair-Stevenson.<br />

Seligman, A. B. (1993): The Fragile Ethical Vision of Civil Society, in: Turner B. S. (Hrsg.),<br />

Citizenship and Social Theory, London: Sage.<br />

Shklar, J. (1991): American Citizenship: The Questfor Inclusion, Cambridge: Harvard University<br />

Press.<br />

Sommers, M. (1994): Rights, Relationality, and Membership: Rethinking the Making and Meaning<br />

of Citizenship, in: Law & Social Enquby, Vol, 19, No, I, ss, 63-112,<br />

Spree, U. (1994): Die verhinderte Biirgerin?, in: Koselleck, R.; Schreiner, K., (Hrsg.), Burgerschaft:<br />

Rezeption und Innovation der Begrijjlichkeit, Stuttgart: Klett-Clotta.<br />

Steenbergen, Bart van (1994): The Condition of Citizenship: an Introduction, in: Steenbergen,<br />

Bart van (Hrsg.), The Condition of Citizenship, London: Sage, pp. 1-9.<br />

Stewart, F. (1991): Citizens of Planet Earth, in: Andrews, G. (Hrsg.), Citizenship, London:<br />

Lawrence & Wisart.<br />

Taylor, Charles (1991): Die Beschw6rung der Civil Society, in: Michalski, Krzysctof (Hrsg.),<br />

Europa und die Civil Society, Stuttgart: Klett -Cotta.<br />

Turner, B. S. (1993): Outline of the Theory of Human Rights, in: Turner, B. S. (Hrsg.), Citizenship<br />

and Social Theory, London: Sage.<br />

Turner, B. S, (I993a): Contemporary Problems in the Theory of Citizenship, in: Turner, B, S.<br />

(Hrsg.), Citizenship and Social Theory, London: Sage.<br />

Turner, B. S. (1990): Outline ofa Theory of Citizenship, in: Sociology, Vo1.24, No.2, ss. 189-<br />

217.<br />

Walzer, M. (1983): Spheres of Justice, New York: Basic Books.<br />

Wiessner, S. (1989): Die Funktion der Staatsangehorigkeit. Eine historisch-rechtsvergleichende<br />

Analyse unter besonderer Beriicksichtigung der Rechtsordnung del' USA, del'<br />

UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland, Tiibingen: Attempo Verlag.


aus dem Franzosischen von<br />

J. Lossos und R. Johannes<br />

313 Seiten, Fadenheftung,<br />

Leinen, Schutzumschlag<br />

ISBN 3-924245-30-4<br />

DM 68,~/oS 503,~/SFr 69,80<br />

»Eine hochst aufschluBreiche und wohltuende Lektiire fUr jene, die sich<br />

von der Hektik einer<br />

wollen und uU,,",,'vH<br />

omrp,'nT zu den<br />

einer demokratisch verfaBten Gesellschaft<br />

W. Koisser, Vertreter des Hohen der UN in<br />

Deutschland bis 1993<br />

1963 . 21309 . Tel: 04131148379 . Fax: 48336


Als in den 80er Jahren die<br />

im sudlichen Amerika zusamwurde<br />

auch in Mittelamerika -<br />

aus anderen Motiven<br />

- die Stunde der Demokratie eingelautet. Das Militar zog sich von der<br />

Buhne zUrUck und die mittelamerikanischen Ubergiinge zur<br />

Demokratie werden seitdem allgemein als gelungen angesehen. Von einer<br />

Demokratien kann aber immer noch keine Rede<br />

sein. Breite Bev61kerungskreise scheinen die neuen Regimes als Fremdaru-zunelillnen,<br />

der auf Desinteresse und sogar Ablehnung st6Bt.<br />

Die in den Transitionen eingefiihrten institutionellen und normativen Re-<br />

_, __.___.___ der Demokratie korrespondieren kaum mit den politischen Artikulationsformen,<br />

die sich in den Gesellschaften auBerhalb des<br />

staatlich-institutionellen Rahmens traditionell<br />

haben. Die<br />

Artikulation eines erheblichen Teils gesellschaftlicher Kollektivinteressen<br />

findet in mehr oder weniger unmittelbaren politischen Handlungsformen<br />

mit stark kollektiv-partizipatorischen Elementen statt.<br />

Die<br />

auf zentralstaatlicher Ebene Implc:m1em:leIle »'I


566<br />

da sie sich nicht auf die<br />

schaftlichen Interessen beziehen.<br />

Klaus-Dieter Tangermann<br />

der<br />

1.<br />

Nachdem die Sandinisten in Nicaragua 1979 die Diktatur der Somozas beund<br />

ein revolutionares Regime errichtet verschwanden ab<br />

"'U1U"'", der gOer Jahre die Militarregimes in der ganzen Region. Die nahezu<br />

zeitgleiche der Demokratie in Honduras und El<br />

Salvador hatte nlcht zuletzt exteme Grilnde. Von der damaligen USunter<br />

Prasident Reagan wurde das Regime der Sandinisten als<br />

eine Bedrohung fur die Stabilitat in der Region angesehen, und so initiierte<br />

die US-Regierung - ahnlich wie sie es nach der kubanischen Revolution<br />

mit der kontinentalen »Allianz fur den Fortschritt« getan hatte - eine regionale<br />

Anstrengung fur mehr Demokratie und erreichte in den drei Landem<br />

den baldigen Ruckzug der Militars von derpolitischen Buhne.3<br />

Nach der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 wurde in Nicaragua ein<br />

ahnliches demokratisches Regime errichtet wie in den Nachbarlandem.<br />

Damit bestehen seit 1990 in ganz Mittelamerika liberale Demokratien.<br />

Obwohl alle Lander uber gleiche politische Regimes verfugen, ist der Zustand<br />

dieser Demokratien sehr unterschiedlich. Die vier (relativ) neuen<br />

Demokratien, Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua, gehoren<br />

2 Mit Mittelamerika sind hier im tradition ellen Verstiindnis die funf Lander Guatemala,<br />

Honduras, EJ Salvador, Nicaragua und Costa Rica gemeint.<br />

3 Obgleich im Fall von EJ Salvador kein Zweifel an der Rolle der USA als treibender Kraft<br />

hinter dem Ruckzug der Militars von der poJitischen Buhne besteht, heWt das jedoch keineswegs,<br />

dafl allein iiuflere Faktoren die Einfuhrung der Demokratie bewirkt haben. 1m<br />

Falle Guatemalas scheinen beispielsweise externe und interne Gmnde gleichermaflen<br />

wirksam gewesen zu sein. Die Interessen der US-Regierung, in EI Salvador eine demo­<br />

Iaatische Regierung mit dem Ziel zu etablieren, der US-amerikanischen Unterslulzung der<br />

salvadorianischen Streitkrafte einen Anschein von Legitimation zu verschaffen, zugleich<br />

der Ausstrahlung des nicaraguanischen Beispiels zu begegnen sowie mit der Abl6sung<br />

der MiJitars in Honduras eine bessere Legitimation fur die Fuhrung des Contra-Kriegs gegen<br />

Nicaragua zu erreichen, verband sich mit dem Interesse der guatemaltekischen Militars,<br />

wieder Wirtschafts- und Militiirhilfe aus den USA zu erhalten, wozu ebenfalls die<br />

Einfuhrung der Demokratie angebracht war (Flora/Torres-Rivas 1989: 40). Damber hinaus<br />

m6gen weitere endogene Grunde eine Rolle gespielt haben, die Lechner als Faktoren<br />

fur den Ruckzug der Militiirs in Sudamerika nennt: Die soziale Integration durch den<br />

Mark! fand in Mittelamerika kaum statt und so stellte die Demokratie den Versuch dar,<br />

eine politische Integration zu bewerkstelligen, die mit den repressiven Methoden der Militiirherrschaft<br />

besonders ab Mitte der 70er Jahre nieht mehr gelang (Lechner 1993: 70;<br />

1994: 34). Insgesamt ist aber weitgehend unstrittig, dafl endogene Ursachen in Mittelamerika<br />

vergleichsweise weniger relevant waren als bei der Wiedererrichtung der sudamerikanischen<br />

Demolaatien. Die mittelamerikanischen Demolaatien der 80er Jahre sind eher<br />

verhangt denn erstritten worden. Die Einfuhrung der Demokratie fand dann auch - anders als in<br />

Sudamerika - weitgehend unter Ausschlufl der oppositionellen demolaatischen Bewegungen<br />

der jeweiligen Lander statt (Torres-Rivas] 990a; 1990b; Lungo 1993; Samour 1994).


PoUlik in Demokratien ohne demokratischen Souveran 567<br />

nach »Freedom House« in die mittlere Gruppe der politischen Systeme,<br />

werden also weder den 76 »freien«, noch den 53 »nicht freien«, sondem<br />

der Gruppe der 62 »teilweise freien« Lander zugeordnet. Sie sind als nicht<br />

konsolidiert zu betrachten. Nur im Fall Costa Rica kann man von einer gefestigten<br />

Demokratie sprechen. Sie grundet sich auf eine langere demokratische<br />

Tradition, eine gerechtere Einkommensverteilung, einen hOheren<br />

Lebensstandard und eine hOhere Zustimmung in der Bevolkerung. Warum<br />

ist es bislang nicht gelungen, in den anderen Landem Mittelamerikas die<br />

Demokratie zu konsolidieren? Wo liegen die Schwierigkeiten?<br />

Zunachst solI bei der Verfolgung dieser Fragen auf einige wichtige Untersuchungen<br />

eingegangen werden (Kap. 2). Da diese Interpretationsversuche<br />

meines Erachtens viele wichtige Fragen gar nicht beruhren, folgt die Auflistung<br />

einiger politischer Faktoren, die mir fur das Studium des Themas<br />

von Bedeutung zu sein scheinen, aber in den vorliegenden Studien kaum<br />

vorkommen (Kap. 3). Auch zum Thema der Parteien erscheint es mir notwendig,<br />

einige erganzende Bemerkungen zu machen und die Frage nach<br />

ihrer Reprasentativitat und Integrationsfunktion zu stellen (Kap. 4). Mit der<br />

anschlieBenden Darstellung der geringen Akzeptanz, die die politischen<br />

Regimes einschlieI31ich der Parteien in der Bevolkerung finden (Kap. 5),<br />

stoJ3en wir auf das eigentliche Problem fur die Konsolidierung der demokratischen<br />

Regimes: Die Bevolkerung lehnt bloB symbolische politische<br />

Handlungsoptionen ab und artikuliert sich in anderen politischen Handlungsformen<br />

(Kap. 6). AbschlieBend werden nicht-symbolische Handlungsoptionen<br />

vorgestellt, die in einem komplementaren Verhiiltnis zu den<br />

reprasentativ-parlamentarischen stehen (Kap. 7).<br />

2. Theoretische ru, ... ", .. ". nnd ihre Grenzen<br />

Die vorliegenden theoretischen Annaherungen an Mittelamerikas neue<br />

Demokratien kreisen - grob zusammengefaBt - um drei hauptsachliche Fragerichtungen.<br />

Da ist zunachst die aus der Modemisierungstheorie bekannte<br />

makrosoziologisch orientierte Grundfrage: Welches sind die Voraussetzungen,<br />

die in einer Gesellschaft erfullt sein mussen, damit Demokratie<br />

moglich wird? Hierbei werden die Chancen fur die Entstehung und die Festigung<br />

der Demokratie in Abhangigkeit yom Entwicklungsstand des jeweiligen<br />

Landes gesehen, wobei der wirtschaftlichen Entwicklung das entscheidende<br />

Gewicht beigemessen wird. Dieser makrosoziologische Ansatz<br />

tragt deutlich deterministische Zuge.<br />

Den zweiten Komplex bildet die Untersuchung der Transformationsprozesse,<br />

d.h. der Modalitaten der institutionellen und normativen Ubergange<br />

yom autoritaren zum demokratischen Regime. Die Fragerichtung versteht<br />

sich als Gegensatz zur »makrohistorischen komparativen Soziologie«, der


568 Klaus-Dieter Tangermann<br />

in dem<br />

akteurszentrierten<br />

auf der staatlichen Ebene und dem<br />

~~'JM'_H~'H Handeln der Akteure. Die demokratische dieser<br />

oder Scheitem der<br />

die sich den Problemen def L'LVl1"'YH~H"-l<br />

ses Thema wurde in<br />

daB trotz der als<br />

Institutionen- und<br />

sind.<br />

2.1 MnlriPJeni,',ip,'UHO'st,npr,wptiw<br />

YCL,I.HI.CM "- weitverbreitet unter Demokratie ein bestimmtes Inein<br />

Regelsystem, kurz<br />

Methode verstanden sie als eine<br />

die<br />

und<br />

. Demnach wird Demokratie<br />

or2lUs:setzUllgt::n erreicht sind. 6<br />

In seiner klassischen Studie »Political Man« von 1959<br />

den<br />

fur die Demokratie und kommt zu dem<br />

4 So Schmitter (1993: 3), Linz/Stepan (1996: 14f); zur Kritik siehe O'Donnell (1996).<br />

5 »Die demokratische Methode ist di~jenige der Institutionen zur politiseher<br />

Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entsc11ei(juflgslJefillgrlis<br />

Konkurrenzkampfes urn die Stimmen des Volkes erwerben.<br />

diglich, daB das Volk die<br />

hat, die Manner, die es beherrschen soil en, zu akoder<br />

abzulehnen. Demokratie ist die Herrschaft des Politikers« (Schumpeter<br />

428,452), Dazu Haberrnas: »Diese sozialtechnische unterstellt<br />

die Demokratie als ein Modell, das sich yom realen ProzeB ihres<br />

Urablosen<br />

und,<br />

eingerechnet, auf beliebige<br />

H"t",rrn", 1977:<br />

6 Dieses institutionen- norrnenzentrierte Demokratieverstandnis benennt als<br />

rahmen explizit die liberale Demokratie und schlieBt umfassendere oder iiberhaupt<br />

Demokratievorstellungen ausdriicklich aus, darunter auch solche, die nehen den individuellen<br />

kollektive Rechte, besonders wirtschaftliche und soziale, sHirker in den Vordergrund<br />

stellen (beispielhaft: Diamond, Linz, Lipset 1990: 3).


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveriin 569<br />

--------------------------------------------------<br />

diese hauptsachlich in der wirtschaftlichen Entwicklung zu sehen seien. Er<br />

hatte diese anhand von vier Indikatoren untersucht: Reichtum, Industrialisierung,<br />

Verstadterung und Erziehung. Damals stellte er fest, daB in den<br />

demokratischen Landem diese vier Faktoren samtlich haher entwickelt waren<br />

als in den nicht-demokratischen (Lipset 1993: 45). Er kehrte dann die<br />

Interpretation seiner Ergebnisse urn und definierte so die Entwicklung dieser<br />

vier Faktoren als Bedingung fur die Demokratie. Noch 35 Jahre spater<br />

findet er seine Ergebnisse von 1959 durch neue Entwicklungen bestatigt<br />

(Lipset et al. 1994: 49). Als wichtigster MaBstab fur Demokratie gilt in der<br />

neuen Untersuchung weiterhin das Pro-Kopf-Einkommen (ebd.: 13). Ahnlich<br />

dem Vorgehen in der Studie von 1959 schlieBt Lipset aus der Feststellung,<br />

derzufolge die entwickelten Lander demokratischer seien, daB Lander<br />

mit geringer kapitalistischer Entwicklung kaum Chancen auf demokratische<br />

Entwicklung aufweisen (ebd.: 16). Auf Mittelamerika bezogen<br />

ware daraus zu folgem, daB die Chancen auf eine gefestigte Demokratie<br />

angesichts der gegebenen wirtschaftlichen Entwicklung schlecht srunden.<br />

2.2 Ubergiinge zur Demokratie<br />

Vergleichbare Korrelationen von wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie<br />

werden haufig aufgestellt - z.B. Diamond/LinzlLipset (1990: 9ff)<br />

oder Diamond (1992: 106) - und manche Autoren halten derartige Postulate<br />

gar fur inzwischen durchgesetzt. 7 Wenngleich auch die empirische<br />

Feststellung nicht zu bestreiten ist, daB wirtschaftlich entwickelte Lander<br />

haufiger iiber demokratische Regimes verfugen als gering entwickelte und<br />

auch der UrnkehrschluB belegbar ist, so auBem andere Autoren Zweifel, ob<br />

auf der allgemeinen Ebene von V oraussetzungen iiberhaupt Aussagen iiber<br />

Demokratie zu machen sind.<br />

Mit der Betrachtung der Transitionsprozesse wendet sich das Interesse den<br />

Einzelheiten der historischen Umbriiche zu. Wie in den modemisierungs-<br />

7 So schreibt Johannes Berger in dem der Modemisierungstheorie gewidmeten Heft des »Leviathan«<br />

zur sogenannten Lipset-These (»Democracy is related to the state oj economic development.<br />

The more well-to-do a nation, the greater the chances that it will sustain democracy«):<br />

»Wenn ich recht sehe, darf diese Annahme heute im wesentlichen als bestiitigt gelten«<br />

(Berger 1996a: 11; 1996b: 57). Tatsiichlich jedoch kann von einer einhelligen Auffassung<br />

fiber die Art des Zusammenhangs von wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie keine<br />

Rede sein, im Gegenteil. 1mmer after werden allgemeine Aussagen fiber eine solche<br />

Beziehung fur untauglich gehaiten. Die AuBerungen zum Thema werden differenzierter<br />

(Karl 1990; Karl/Schmitter 1991) oder bestreiten gar jeglichen Zusammenhang. So fragt<br />

Tetzlaff: »1st Demokratie eine Foige oder eine Voraussetzung fur wirtschaftliches<br />

Wachstum und gesamtgesellschaftliche Entwicklung? Die Antwort der vergleichenden<br />

Sozialforschung lautet: Es gibt keine eindeutige Korrelation zwischen den beiden Gra­<br />

Ben« (Tetzlaff 1992: 12) und Beyme stellt fest: »1nzwischen ist die Einsicht gewachsen,<br />

daB es keine fixierbaren Priirequisiten der Demokratie gibt« (Beyme 1994: 153).


570 Klaus-Dieter Tangermann<br />

theoretischen Ansatzen ist auch hier ein komparatistischer Ansatz dominant,<br />

der um vorwiegend institutionenbezogene generalisierungsfahige Indikatoren<br />

bemuht ist. Anders aber als in der Modemisierungstheorie erscheinen<br />

hier die politischen Akteure als die relevanten Faktoren fur die<br />

Chance der Errichtung demokratischer Regimes. Der Perspektivwechsel<br />

von der Diskussion allgemeiner V orbedingungen hin zum Blick auf den<br />

konkreten Ablauf des Umbaus autoritarer Regimes und auf die Akteure<br />

stellt einen Fortschritt in der Analyse der konstitutiven Faktoren der Demokratie<br />

dar (Schmitter 1993: 3f; Bos 1994: <strong>105</strong>), wie ebenso die Annahme,<br />

daB den Spezifika des jeweiligen Ubergangs eine pragende Bedeutung<br />

fur die Gestaltung der Demokratie zukommt.<br />

Aber die stark staatskonzentrierte Perspektive, mit der der Institutionenund<br />

Wertewandel im Verlauf des demokratischen Aufbaus betrachtet<br />

wird8, beeinfluBt das BUd vom politischen Akteur. Als ein solcher gilt nUf,<br />

wer am institutionellen und normativen Wandel teilnimmt, also in cler Regel<br />

am staatlichen Handeln beteiligt ist (Bos 1994). Der Blick auf die institutionell<br />

handelnden Eliten nimmt den politischen Akteur nur zur Halfte<br />

wahr. Die ubersehene andere Halfte besteht in den nicht-institutionellen<br />

Kraften.9 Wichtige - etwa kollektive - Akteure von pragender Bedeutung<br />

fur die Demokratie befinden sich auBerhalb des staatlich induzierten und<br />

untersuchten Transitionsbereichs. Die Beschdinkung auf die staatliche<br />

Sphare erschwert die Wahrnehmung solcher Krafte, die fur die Konsolidierung<br />

von groBer Bedeutung sein konnen.<br />

2.3 Problerne der Konsolidierung<br />

Aus der Untersuchung der Transitionsprozesse lassen sich offenbar keine<br />

hinreichenden Kriterien fur die Chancen einer demokratischen Konsolidierung<br />

entwickeln. Die ungeklarten Fragen lauten: Wo liegen die gesellschaftlichen<br />

Hindemisse fur die Konsolidierung? Und: Verfugen die Lander<br />

Mittelamerikas tiber die Moglichkeiten, ihre demokratischen<br />

8 Einer der wichtigsten Transitionsforscher, Przeworski, merkt selbstkritisch an, aufgrund<br />

der Fixierung auf den Staat den Zusammenhang zwischen den nunmehr umgebauten politisehen<br />

Systemen und der Demokratie nieht gesehen zu haben. »Beim zweiten Thema<br />

(neoliberale Staatszerst6rung, KDT) haben wir iiber die Demokratisierungsprozesse gesproehen,<br />

ohne das Verhaltnis von Staat und Demokratie zu erkennen. Ieh erinnere mieh,<br />

als Guillermo (O'Donnell, KDT) iiber dieses Problem zu spreehen begann, erschrak ieh<br />

und daehte: wir haben 15 Jahre iiber nichts anderes als den Staat geredet und hinter dem<br />

Wort 'Staat' ist er versehwunden. Immerhin haben wir 15 Jahre nm iiber die Transitionen<br />

und die Demokratie gesprochen. Wenn wir dieses Verhaltnis untersuchen, so kommen wir<br />

heute, wie ich glaube, zu folgendem Schlull: Es gibt keine Demokratie ohne Staat«<br />

(Alarcon, O'Donnell, Przeworski 1994: <strong>105</strong>).<br />

9 Die Transitionsvereinbarungen in Nicaragua wurden beispielsweise erheblich von den grollen<br />

Streikbewegungen beeinflullt, die auf die Wahlniederlage der Sandinisten folgten (Rios 1995).


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveran 571<br />

--------------------------------------------------<br />

Regimes zu konsolidieren und worin bestehen diese? Welche sozialen<br />

Akteure kommen in Frage?<br />

Seit Beginn def 90er Jahre rUcken diese Fragen in den Vordergrund und<br />

damit auch die Untersuchung der gesellschaftlichen Konstellationen in den<br />

jeweiligen Uindem. Vor aHem die nicht-mittelamerikanische Diskussion<br />

bleibt dabei weiterhin der definitorischen Anstrengung urn allgemeingiiltige<br />

Kriterien verhaftet, die fur die demokratische Konsolidierung V oraussetzung<br />

seien. 10 Thematisiert werden vor aHem die einer Konsolidierung<br />

hinderlichen Elemente wie institutionelle Mangel, autoritare Relikte, iiberkommene<br />

Strukturen. Demgegeniiber bleiben die einer demokratischen<br />

Konsolidierung fOrderlichen Faktoren - gesellschaftliche Akteure, Traditionen,<br />

kulturelle Gegebenheiten, an denen angekniipft werden k6nntebemerkenswerterweise<br />

bis zum heutigen Tag jenseits der Betrachtung. Das<br />

mag am liberaldemokratischen Demokratieverstandnis mit seiner Institutionenorientiertheit<br />

liegen, von dem die meisten der nicht aus der Region<br />

stammenden Untersuchungen durchdrungen sind (Bas 1994: 101). Die liberale<br />

Demokratieforschung tut sich offensichtlich schwer mit der Anerkennung<br />

der Bedeutung nicht-institutioneller Faktoren fur die Konsolidierung<br />

demokratischer Regimes, denn sie kann sie nur funktional in bezug<br />

auf die Funktionsfahigkeit der institutionellen Instrumente der Demokratie<br />

wiirdigen.<br />

3. Al1sgangspunkte fUr die Demokratisienmgsdiskussion<br />

Die bisher referierten Ergebnisse zeigen eine auffallige Diskrepanz zu den<br />

Beitragen aus Mittelamerika selbst, die eine intensivere Beschaftigung mit<br />

denjeweiligen gesellschaftlichen Konstellationen in den einzelnen Uindem<br />

aufweisen. Allerdings beziehen sich die wichtigsten dieser Beitrage ihrerseits<br />

kaum auf die allgemeine demokratietheoretische Diskussion auBerhalb<br />

Mittelamerikas. Angesichts des kommunikativen Grabens zwischen<br />

10 Schmitter (1993: 3), Linz/Stepan (1996: 14f), O'Donnell (1996). Letzterer legt beispielsweise<br />

die Dahlsche Polyarchie-Definition zugrunde, in der sieben Kriterien angefuhrt<br />

werden (Dahl 1992: 268); »1. Wahl des politischen Personals, 2. freie und gerechte Wahlen,<br />

3. umfassendes aktives Wahlrecht, 4. passives Wahlrecht, 5. Redefreiheit, 6. freie Infonnationsmoglichkeit,<br />

7. Versammlungsfreiheit.« O'Donnell erganzt diese Kriterien<br />

noch urn einige weitere (O'Donnell 1996: 35). Linz und Stepan dagegen fonnulieren als<br />

Kriterien fur Konsolidierung zunachst ein funktionierendes Institutionengefuge und dartiber<br />

hinaus: »1. freie und lebendige zivile Gesellschaft, 2. relativ unabhangige politische<br />

Gesellschaft, 3. Rechtsstaatlichkeit, 4. der demokratischen Regierung dienende staatliche<br />

Btirokratie und 5. institutionalisierte okonomische Sphiire« (Linz/Stepan 1996: 17). Die<br />

meisten dieser Faktoren erwahnt auch Karl, erganzt sie urn das Kriterium eines zivilen<br />

Befehls tiber die Streitkrafte, und nimmt dariiber hinaus die Frage nach den gesellschaftlichen<br />

Hemmnissen der Konsolidierung mit auf (Karl 1990: 2). Eine Untersuchung des gesellschaftlichen<br />

Demokratiepotentials in den jeweiligen Landem und ihre Einbeziehung in<br />

die demokratietheoretische Diskussion scheint bislang nicht angestellt worden zu sein.


572 Klaus-Dieter Tangermann<br />

der mittelamerikanischen und der U'-U,J",''''!;'VHU.


Politik in Demola'atien ohne demokratischen Souveran 573<br />

krafte,<br />

standteile eines demokratischen Staatswesens<br />

blieben<br />

der beherrschende EinfluB der<br />

Polizeien sowie auf die<br />

nol1tJor'"pr Akteure zum demokratischen wovon der GroBteil der<br />

aU"b"~v'HV"'''';'H blieb,13 Die Transitionen der 80er Jahre waren<br />

def Gesellschaft gel'lctltet<br />

W"'''!J.UiJl,", def 5"',,'vl!~'-'HaH!'''!J',",H<br />

iJV,,,UVH um eine<br />

sind von<br />

den autoritaren Demokratien unterbunden worden, In El Salvador und<br />

Guatemala hat diese Art von autoritar HHV"~AH~HU'," Demokratie nicht<br />

zur<br />

sondem zur Polarisierung, nicht zur Beendigung,<br />

sondem eher zur<br />

des<br />

In El Salvador hat der zw61f Jahre wahrende<br />

schlieBlich das<br />

autoritare Modell def gOer Jahre zum Einsturz gebracht und ein neues auf<br />

die<br />

gesetzt So hat keine graduelle Erweiterung der Demosondem<br />

erst der Bruch mit dem autoritaren demokratischen<br />

fur einen freigesetzt. die kathartische<br />

eines solchen tiefen Einschnitts fur einen demokratischen Neubebemerkt<br />

Merkl:<br />

zu erzeugen, der die Entwicklung der Demokratie<br />

in der Zukunft beflugelt, ist<br />

viel eher ein schreckliches Ereignis erforderlich<br />

wie ein Krieg, eine ausliindische Intervention oder eine<br />

Revolution mit anschlie-<br />

Bendem Zusammenbruch eines autoritiiren Systems ein gradueller Ubergang« (Merkl<br />

1994: 83-84),<br />

Das Ende der autoritaren und das Fundament einer neuen Demokratie in El<br />

Salvador ist mit dem FriedensschluB zwischen und FMLN im<br />

Januar 1992 worden und wird der Friedensschlu13<br />

in Guatemala 1996 eine ahnliche Funktion haben, Erst vom<br />

tiber das Friedensabkommen an die<br />

ub,erg,egalng1en und in Honduras der Umin<br />

einen litarstlitzj:lUnlkt ein Aufmarschgebiet antisandi-<br />

. nistischen Contra vonstatten.<br />

13 BendellKrennerich 1996. Auf den AusschluB der Opposition bei den Ubergangen der<br />

80er Jahre wei sen fast alle mittelamerikanischen Autoren hin, siehe etwa Torres-Rivas<br />

1990a, ] 990b; Lungo 1993; Samour 1994. In der theoretischen Debatte wurden die Demokratjen<br />

del' 80er Jahre aJs beschrankte Demola'atien, Demokratien von geringer Intensitat<br />

(Torres-Rivas) oder aJs Fassadendemokratien, (Solorzano) bezeichnet.


574 Klaus-Dieter Tangermann<br />

beiden Uindem einen nennenswerten EinfluB zu erlangen. Der Guerilla<br />

wurde - und von dieser vermittelt auch der zivilen Opposition - eine gewisse<br />

Mitgestaltungskompetenz zugebilligt.<br />

Damit ist nieht gesagt, daB es den bis dahin oppositionellen gesellschaftlichen<br />

Kraften bisher gelungen ware, an den politischen Entscheidungen in<br />

umfangreichem MaJ3 teilzunehmen. Zwar sind nach 1992 in EI Salvadorin<br />

Honduras schon in den 80er Jahren - zwei flir die Demokratie konstitutive<br />

Elemente eingeflihrt worden, ein Offentlieher Raum, in dem der repressions-<br />

und angstfreie politisehe Diskurs moglich wird, und - langsam - die<br />

Schaffung einer Rechtsstaatlichkeit, die diesen Raum zu sehiitzen vermag.<br />

Doch ist hervorzuheben, daB diese Elemente unter Bedingungen der Ausnahmesituation<br />

militarischer Befriedungen unter Aufsicht der Vereinten<br />

Nationen erstritten wurden, die Ausdruek eines temporar veranderten politischen<br />

Krafteverhiiltnisses waren. 14 Wieweit durch die mittlerweile eingetretene<br />

Normalisierung der Bedingungen auch wieder traditionelle<br />

Krafteverhiiltnisse in den Vordergrund treten, bleibt abzuwarten. Aufgrund<br />

der Bedingungen ihrer Einflihrung sind Rechtsstaatlichkeit, Offentlicher<br />

Raum und andere demokratische Fortschritte keineswegs so unangefochten,<br />

wie sie scheinen mogen. Nicht nur in El Salvador, sondem auch<br />

in Guatemala und in Honduras wirkt sieh die Tatsache, daB auch die Errichtung<br />

der zweiten Demokratie nicht auf den Triumph einer gesellschaftlichen<br />

Bewegung gegriindet ist, negativ auf den demokratischen Gehalt<br />

und die Stabilitat der Institutionen und Normen aus.<br />

3.2 Reichweite der zweiten Demokratisierungen<br />

Die Demokratien Mittelamerikas - mit Ausnahme Costa Ricas - zeichnen<br />

sich durch ihre geringe gesellschaftliche Tiefe aus. Die demokratischen<br />

Veranderungen beschriinken sich auf die staatliehe Sphare im engeren Sinne<br />

und haben auf der Ebene der Institutionen (saubere Wahlen, Parteienkonkurrenz,<br />

Regierungswechsel, Justizreform usw.) und auf der der Normen<br />

(reale Gewaltenteilung, Menschenrechte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit<br />

usw.) stattgefunden. Andere gesellschaftliche Bereiche wurden<br />

dagegen kaum oder nicht erfaBt. Mechanismen der Konsultation oder<br />

gar Moglichkeiten der Partizipation am politis chen Entscheidungsprozel3<br />

gibt es flir nicht-parlamentarische Organisationen bislang nicht. Demgemail<br />

fehlen institutionelle Wege zur Losung sozialer Konflikte, was eine<br />

14 In EI Salvador war das Instrument der zivilen EinfluBnahme der »Foro de Concertaci6n<br />

Econ6mica y Social«, der in den Friedensverhandlungen auf Druck der FMLN eingerichtet<br />

worden war; in Guatemala die »Asamblea de la Sociedad Civii« und in Nicaragua geschah<br />

dies im Rahmen der Verhandlungen urn die Ubergabe der Regierungsgewalt von<br />

den Sandinisten an die konservative Priisidentin Chamorro. Aile drei Versuche zielten auf eine<br />

Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Verhandlungen tiber den Aufbau des neuen Regimes.


PoUlik in Demokratien ohne demokratischen Souveran 575<br />

--------------------------------------------------<br />

hiiufig gewalWitige Austragung der Konflikte nach sich zieht und die Gesellschaften<br />

enonn polarisiert. 1m Mangel an Vennittlungsmechanismen<br />

von Gesellschaft und Staat setzt sich die tiberkommene Abdriingung cler<br />

Gesellschaft von der politischen Sphiire fort. Die integrative Kraft des demokratischen<br />

Institutionen- und Nonnengefuges ist entsprechend gering.<br />

Das einzige Instrument zur Herstellung der politischen Integration bleiben<br />

die Wahlen.<br />

3.3 Neuerrichtung statt Wiedererrichtung der Demokratie<br />

In den meisten Studien tiber lateinamerikanische Transitionen werden sudamerikanische<br />

Erfahrungen mit der Wiedererrichtung der Demokratie reflektiert.<br />

Dementsprechend bezeichnet Konsolidierung dort einen ProzeB,<br />

der sich weitgehend auf eine bestehende gesellschaftliche Akzeptanz des<br />

demokratischen Institutionen- und Regelwerks stiltzen kann. In Mittelamerika<br />

bezeichnet Konsolidierung dagegen einen muhseligeren ProzeB. Es<br />

geht hier nieht um die Wieder-, sondem die Neuerrichtung der Demokratie.<br />

Der Ruckgriff auf eine - durch die autoritaren Regimes nur unterbrochene<br />

- historische Akzeptanz des demokratischen Regimes ist hier ausgeschlossen.<br />

Wird das ubersehen, werden die Schwierigkeiten fur die Konsolidierung<br />

der Demokratie leicht unterschiitzt.<br />

3.4 Die politischen Regimes<br />

Nach den von aill3eren Interessen induzierten Regimewechseln war besonders<br />

auBerhalb Mittelamerikas die Neigung verbreitet, eine effektive Reprasentativitat<br />

schon dann als gegeben zu unterstellen, als die ersten sauberen Wahlen<br />

abgehalten worden waren, also ab Anfang der 80er Jahre. Jedoch hat das<br />

reprasentative Prinzip in den meisten Landem Mittelamerikas kaum eine<br />

Tradition. Wenn in Darstellungen dies em eine Funktionsfahigkeit in Analogie<br />

zu den entwickelten Demokratien unterstellt wird, ist eines der zentralen<br />

Probleme bereits ausgeklammert: die mangelnde Reprasentativitat<br />

der Parteien und des politischen Systems insgesamt. Angesichts der langen<br />

autoritaren Vorgeschichte ist hier die Frage ob die gewahlten<br />

Kandidaten tatsachlich den Wahlerwillen reprasentieren, also reprasentativ<br />

sind. In einigen Uindem etwa ist gerade diese Gleichsetzung v611ig unberechtigt,<br />

so in Guatemala und bis 1994 auch in EI Salvador.<br />

Auch die Annahme, die Parlamente fungierten als Ort def tiber die Parteien<br />

vennittelten EinfluBnahme gesellschaftlicher Interessen auf die Politik def<br />

Exekutive, fuhrt in die lITe. Wie in den meisten lateinamerikanischen Landem<br />

errullen auch in Mittelamerika die Parlamente diese Funktion nur unzureichend.<br />

Es handelt sich um zentralistische Prasidialdemokratien, in denen<br />

der vom V olk direkt gewahlte Prasident mit der Autoritat ausgestattet


576<br />

Klaus-Dieter Tangermann<br />

Politik<br />

Parlamente<br />

Exekutive von der ~~.,.,'u,~u<br />

Die<br />

des von<br />

ten Wahlerwillens ist somit Wesensbestandteil dieser ,-,V'H"''''<br />

Die Parteien haben auf die von Ihnen an die Macht<br />

noch nicht einmal<br />

dies em Fall auch fur die 0v,e",c,,,-v<br />

nahme Costa Rica zutrifft<br />

O'Donnell 1994:<br />

zug auf<br />

und Parlamentarismus weisen den Institutionen<br />

Partei und Parlament Funktionen zu, die diese nicht ausfullen konnen.<br />

3.5 Demokratien ohne demokratischen Souveriin<br />

Die schwache Priisenz des .\'t~'nt'ohiirapr<<br />

Die Beschrankung fur die demokratische L'l..UU"'JlRUI"l im<br />

Fehlen eines demokratischen Souveriins. Die<br />

ist im Besitz der<br />

formalen doch ein GmBteil von ihr<br />

tiber keine VV,HU""""<br />

in modemen Demokratien in<br />

EinfluBnahme<br />

nlcht vom einzelnen sondem von Verbanden als den v",,,,,.,,,,,,eVH Subausgegangen<br />

wird, muB dennoch das einzelne<br />

es nur in organisierter Form einfluBfahig werden<br />

gen die es als erst J\.VH"',HU'lvl<br />

um seine Interessen in kollektive Formen umsetzen zu konnen.<br />

Diese<br />

bestehen nicht nur aus dem formalen<br />

sondem auch aus der individuellen zur Artikulation<br />

der<br />

Verbandsorientiertheit der Demokratien<br />

Die<br />

als Fundament fUr eine funktionierende<br />

Demokratie hat dreierlei zur<br />

a. den P",-,vllw",aa,l,<br />

fentliche und c. materielle Mlndestbe(imgl<br />

und informative<br />

einschlieBen. Es ist vor aHem tliese letztere<br />

die fUr die<br />

in Mittelamerika nicht erfullt<br />

ist. Es handelt sich um<br />

in denen ein erheblicher Bein<br />

denen mehr als zwei Drittel der<br />

15 Am Beispiel Guatemalas bezeichnet Galvez das Priisidialregime als »Quelle der Unregierbarkeit«<br />

(Galvez 1995: 32),


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveriin 577<br />

gar in extremer Armut<br />

here<br />

Wle Gesundheit und<br />

stehen. 16 Die bloJ3e<br />

fur die arme<br />

, wei! es ihnen nicht nur an<br />

»Gutem und materiellen fehIt, sondem weil sie dariiber hinaus insofem politisch<br />

machtlos sind, als sie nicht die psychologisch-kulturellen Bedingungen verfligen, urn eine<br />

Selbstwahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Lage zu entwickeln und dementsprechend die<br />

organisierte poIitische Verteidigung ihrer eigenen Interessen zu betreiben«, stellt Torres-Rivas<br />

fest und fragt weiler: »Welche staatsburgerlichen Eigenschaften konnen unter {jP1C"rI·1{Yf,n<br />

riellen und kulturellen Gegebenheiten entstehen oder werden, welche ""liticr-i,P<br />

mokratie kann man damit aufbauen?« (Torres-Rivas 138).<br />

Diese mittelamerikanischen die als


578 Klaus-Dieter Tangermann<br />

gegebenen Demokratien politisch handlungsunfahige Staatsbiirger. Die<br />

mittelamerikanischen Demokratien sind weitgehend Demokratien ohne<br />

Staatsbiirger.] 9 Daher besteht wenig Grund zur Hoffnung auf eine Konsolidierung<br />

der Demokratie, wahrscheinlicher ist das Gegenteil.<br />

4. Die Parteien<br />

Vertretung und Vermittlung gesellschaftlicher Interessen in der staatlichen<br />

Sphare ist in Mittelamerika exklusiv den Parteien vorbehalten. Die Parteien<br />

tragen auf diese Weise zur politischen Integration bei - doch aufgrund dieses<br />

institutionellen Kanalisierungsmonopols gesellschaftlicher Interessen<br />

behindem sie sie zugleich. Eine Reprasentation nicht-parteiformig organisierter<br />

kollektiver Interessen ist innerhalb des institutionellen Systems der<br />

Demokratien nicht vorgesehen, sondem wird in den vorpolitischen Raum<br />

abgedrangt, in der Regel auf die StraBe. Nicht-parteiformige Organe der<br />

Zivilgesellschaft bleiben von der politischen Mitgestaltung ausgeschlossen.<br />

Die Reprasentativitat der Parteien ist in den meisten Fallen gering, auch<br />

handelt es sich nicht urn Mitgliederparteien. Ihre Funktion ist eher eine von<br />

'Wahlstirnmen-Sarnmelstellen' (Offe 1980: 32). Nur in wenigen Ausnahmen<br />

sind die Parteien Mittelamerikas politischer Ausdruck breiter gesellschaftlicher<br />

Stromungen, in der Mehrheit handelt es sich urn Klientelparteien<br />

(Rojas 1995: 122). Zum Fortbestand dieses Zustands haben die langen<br />

Verbote oppositioneller Parteien unter den Militarregimes beigetragen,<br />

mit denen das reprasentierte politische Spektrum stets eng begrenzt gehalten<br />

wurde. In den wenigen Fallen der Zulassung oppositioneller Parteien<br />

taten - besonders im El Salvador der 70er Jahre - die Wahlfalschungen ein<br />

ubriges, urn die Distanz der Burger zum Parteiensystem insgesamt zu fordemo<br />

Oppositionelle Interessen wurden so irnmer mehr im illegalen oder<br />

halblegalen Raum, aber nieht durch Parteien, organisiert. Das wirkt heute<br />

noch in schwachen Parteistrukturen nacho Das Parteiensystem kann die ihm<br />

Rolle der politischen Reprasentation verschiedener gesellsehaftlieher<br />

Sektoren gegenuber dem Staat nur unzulanglich erfiillen (vgl.<br />

Maihold 1994: 212ff).<br />

Die Krise der mittelamerikanisehen Parteien hat zum anderen mit ihrer<br />

schwachen Stellung im Prasidialsystem zu tun. Die Parlamentsparteien<br />

sind deswegen in der Mitgestaltung der Regierungspolitik nicht sehr aktiv<br />

und spielen bei der Losung nationaler Probleme kaum eine Rolle. Viele<br />

von Ihnen konzentrieren statt dessen Interesse und Aktivitaten starker auf<br />

den Staatsapparat und seine Ressoureen mit dem Ziel der Befriedigung ihrer<br />

Partikularinteressen (Torres-Rivas 1990b: 58ff; O'Donnell 1994: 20).<br />

19 O'Donnell spricht von »Demokratien mit Staatsbiirgerschaften von geringer Intensitat«<br />

(O'Donnell 1993: 75ff).


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveran 579<br />

--------------------------------------------------<br />

Weit verbreitete Phanomene wie Korruption und Nepotismus durch die<br />

Parteien innerhalb der staatlichen Institutionen haben in ihrer Funktionsbeschneidung<br />

in Prasidialdemokratien eine ihrer Wurzeln.<br />

Torres-Rivas macht fUr die 'Unregierbarkeit' einiger Gesellschaften, etwa<br />

der Nicaraguas, einen 'ParteienexzeI3' dieser klientelistischen Notabelnparteien<br />

verantwortlich, in dem diese sich in »parteipolitischem Kannibalismus<br />

und gegenseitiger Selbstzerfleischung« ergehen (Torres-Rivas 1994:<br />

63).20 Selbst in der stabilsten Demokratie Mittelamerikas, in Costa Rica,<br />

haben die Parteien Schwierigkeiten, eine politische Kontinuitat tiber die<br />

Wahlperioden hinaus aufrechtzuerhalten (Rojas 1995: 123).<br />

Aus der mittelamerikanischen Parteienlandschaft heben sich jedoch zwei<br />

Parteien abo Die beiden aus der Guerilla hervorgegangenen Linksparteien<br />

FSLN (Nicaragua) und FMLN (El Salvador) sind Mitgiiederparteien21 , deren<br />

Anhang vorwiegend den verarrnten unteren Bevolkerungsschichten<br />

entstammt. Beide Parteien, die zugleich tiber bestimmenden EinfluI3 in den<br />

groBten Gewerkschaften in ihren Uindem verfugen, haben die Vertretung<br />

der Interessen dieser Schichten auf ihre Fahnen geschrieben.<br />

FSLN und FMLN erklaren, eine moglichst breite Einbeziehung der Bevolkerung<br />

in die politis chen Entscheidungen anzustreben. Grundsatzlich solI<br />

die Beteiligung der Burger nicht auf die Parteien beschrankt bleiben, sondem<br />

weitere gesellschaftliche Organisationen umfassen. Sie solI tiber den<br />

Rahmen der liberalen Parteiendemokratie hinausgehen und auf die Aufhebung<br />

der Trennung zwischen Gesellschaft und politi scher Sphare Zlelen.22<br />

20 Beispiel Nicaragua: Zu den Prasidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen 1996<br />

traten 33 Parteien an. Urn das Prasidentenamt bewarben sich 23 Kandidaten. Nahezu jede<br />

politische Striimung trat in mehrere Parteien aufgespalten und diese wiederum mit eigenem<br />

Prasidentschaftskandidaten an. Die Grunde fUr diese Zersplitterung wiederholen sich<br />

in ganz Mittelamerika: Sie liegen erstens im Partikularinteresse des jeweiligen Wirtschaftsclan-<br />

bzw. Sippenchefs, staatliche Pfrilnde fUr die eigene Klientel zu nutzen; in<br />

Verfolgung dieses Ziels sind Parteispaltungen nichts Uniibliches. Zweitens liegen sie im<br />

Mangel an Bereitschaft zu Kooperation und Unterordnung vor aHem in der Eroberung der<br />

Spitzenposition, der deutlich machistische Zuge trag!. Nicaraguas Konservative haben<br />

sich allein aus diesem Grund in den letzten Jahren mehrfach gespalten. Ebenso ist die<br />

Bildung einer politischen Mitte aus mehreren Parteien an ebendiesem Verhalten gescheitert.<br />

21 Die FSLN hat 336.000 Mitglieder, wie die Einschreibungskampagne im Frilhjahr 1995<br />

ergab. Damit ist sie eine der griiBten Parteien Lateinamerikas (Nicaragua hat eine Beviilkerung<br />

von knapp viereinhalb Millionen). Die FMLN ist erheblich kleiner.<br />

22 »Demokratie heiBt nicht nur Wahlen. Es ist sehr viel mehr. Fur einen Revolutionar, einen<br />

Sandinisten bedeutet es Beteiligung des Volkes an den politischen, wirtschaftlichen, sozialen<br />

und und kulturellen Angelegenheiten. Je mehr die Beviilkerung daran teilnimmt,<br />

urn so demokratischer sind diese Angelegenheiten. Die Demokratie beginnt im wirtschaftlichen<br />

Bereich, wenn die sozialen Ungleichheiten aufhiiren zu bestehen, wenn die<br />

Arbeiter und Bauem ihr Lebensniveau verbessem. Dann entsteht die wirkliche Demokratie,<br />

vorher nicht. Sind diese Ziele erst einmal erreicht, dehnt sie sich sofort auf andere Be-


580 Klaus-Dieter Tangermann<br />

In der Praxis ist dieses Modell schon bald ~c;""H"Wvl<br />

den Wahlen 1984 zum<br />

gen und auch die FMLN hat sich ihrer<br />

sche EI Salvadors ab 1992 umorientiert.<br />

der Inchen.<br />

Dieses Festhalten bewirkte<br />

Die diskutierte Alternative bestand im Wechsel zu einer<br />

E>'VHV'''~~'H Politik mit dem das Wahlerreservoir der poum<br />

damit die Wahlchancen zu verbessern, Die<br />

1990 hatte daB sich die rechm:nautomatisch<br />

in eine elektorale umsetzt. Diese<br />

in beiden Parteien und konstitutierte sich fortan als<br />

eine<br />

dieser Interessen im Rahmen des<br />

selbst wenn es sich um die der<br />

Mehrheit<br />

sich an der Politik def FSLN seit ihrem Machtverlust 1990.<br />

kann sie als oppositionelle<br />

Partei die Interessen ihrer Klientel nicht oder nur geringfiigig durchsetzen<br />

und ist zu<br />

gezwungen. Dadurch gerat sie wiederholt mit<br />

der<br />

ihrer Wahlerbasis in Konflikt und sieht sich dem<br />

Vorwurf des 'Verrats' ausgesetzt. Um sich ihrer sozialen Basis zu versiverleiht<br />

sie deren durch Aktionen<br />

als zweischneidig da diese sich ge-<br />

Arbeit und damit gegen demokratisch zustandegekOlTIlllenle<br />

Entscheidungen richten, Mit solchen Aktionen entwertet die<br />

FSLN var den ihrer Basis diese und untenniniert<br />

Arbeit. Enthalt so einerseits<br />

dieser Interessen<br />

reiche aus, erstreckt sich auf das Feld der Regierung: das Yolk beeinfluBt dann seine Regierung,<br />

bestimmt seine Regierung. In einer spateren Phase bedeutet Demokratie die Beteiligung<br />

der Arbeiter an der Leitung der Fabriken, Landwilischaftsbetriebe, Kooperativen<br />

und sozialen Einrichtungen. Zusammenfassend gesagt ist Demokratie die Einmischung<br />

der Massen in aBe Aspekte des gesellschaftlichen Lebens.« (Barricada, 24, 8. 1980) Diese<br />

radikale Demokratieauffassung vertrat noch ein Jahr nach dem Sieg Humberto Ortega, der<br />

sandinistische Verteidigungsminister. Die nicaraguanische Revolution hatte ein Demokratiekonzept<br />

wieder auf die Tagesordnung gerufen, das in seiner Radikalital in Amerika seil der kubanischen<br />

Revolution nicht mehr in Angriff genommen worden war (Tangennann 1981).<br />

23 In den Partido Democnitico (PD), in EI Salvador und in das Movimiento de Renovaci6n<br />

Sandinista (MRS) in Nicaragua, Das von beiden anvisierte Wahlerreservoir der Mitte ist<br />

sehr klein, dementsprechend auch die Wahlerbasis beider Parteien.<br />

24 Nach ihrer Wahlniederlage 1990 hat sie mehrfach zu diesem Mittel gegriffen und vor allem<br />

Managua tage-, manchmal wochenlang paralysiert (vgl. Rios 1995).


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveriin 581<br />

--------------------------------------------------<br />

ein hohes politisches Risiko fur die FSLN ais parlamentarischer Partei und<br />

erweist sich andererseits, daB dies innerhalb des parlamentarischen Rahmens<br />

ebenfalls nicht gelingt25, so offenbart sich ein Dilemma im Hinblick<br />

auf die Vertretung von Unterschichtsinteressen.<br />

1m Rahmen parlamentarischer Politik scheint eine soIche Interessenvertretung<br />

nur urn den Preis des Verlusts der sozialen Basis m6g1ich zu sein,<br />

wahrend die aul3erparlamentarische Interessensartikulation eine Gefahrdung<br />

fur die pariamentarischen Handiungsm6glichkeiten darstellt. Noch<br />

genieBen die graBen Parteien der Linken aufgrund ihres zweigleisigen<br />

Handelns eine relativ breite Zustimmung in der Bev6lkerung, doch steht<br />

auBer Frage, daB die parlamentarische Option - allein schon aus elektoralen<br />

GrUnden - die Oberhand gewinnen wird. Ais Foige davon findet eine Reprasentation<br />

von Unterschichtsinteressen durch die Linksparteien zunehmend<br />

in nur noch symbolischer Weise statt.<br />

In EI Salvador ist das nicht anders: Nach ihrer Integration in das parlamentarische<br />

System haben die beiden Linksparteien FMLN und PD angesichts<br />

des Fortbestehens uberkommener vordemokratischer Krafie die Verteidigung<br />

der Regierbarkeit des demokratischen Regimes zur obersten<br />

Prioritat deklariert, wie die ubrigen Parteien auch. FUr die beiden bislang<br />

stark an den Interessen ihrer Basis orientierten Parteien hat das zur Folge,<br />

daB statt der Verteidigung der Interessen ihrer sozialen Kliente1 nunmehr<br />

die Regierbarkeit des Landes zur Scheidelinie zwischen Freund und Feind<br />

wird. Der seit langem andauemde organisierte Protest gegen die Anpassungsund<br />

Stabilisierungspolitik der Regierung gilt ihnen daher nicht mehr als legitimes<br />

und parlamentarisch zu vertretendes Anliegen, sondem er<br />

})wird von der Regierung und der Linken als wichtiger Baustein der Unregierbarkeit aufgefaBt.<br />

In dieser Phase der Befriedung (gemeint ist 1993-94, KDT) und Errichtung der Demokratie<br />

wird die auch friiher iibliche gewerkschaftliche Mobilisierung von jenen Linken und Rechten<br />

abgelehnt, die die neue soziale und politische Ordnung zu stUtzen versuchen« (Guido Bejar<br />

1995: 166).26<br />

1m MaBe, wie diese Parteien zunehmend auf die Vertretung besonderer<br />

Interessen verzichten und die Bindung an ihre traditionelle soziale Basis<br />

25 Bobbio beschreibt sehr eindringlich die Unvertriiglichkeit von parlamentarischem Prinzip<br />

und der Repriisentation von Partikularinteressen (Bobbio 1988: 35-63).<br />

26 Besonders deutlich ist die Aufgabe des klientelbezogenen zugunsten des Gesamtinteresses<br />

in der Abwehr jener sozialen Bewegungen festzustellen, die die Erfullung der im<br />

Friedensabkommen - das ja die Grundlage der neuen Demokratie darstellt - vereinbarten<br />

staatlichen Leistungen wie Land, Kredite, Ausbildung oder Beschiiftigung einfordem. Die<br />

Proteste nehmen hiiufig militante Formen an. »Regierung und Oppositionsparteien haben<br />

diese Formen sozialen Ausdrucks als Bausteine der Unregierbarkeit und sogar der Destabilisierung<br />

der neuen 'demokratischen Ordnung' im Aufbau betrachtet. Angesichts dieser<br />

Probleme verlangen sie nach hOherer Effizienz der Polizei und nehmen zustimmend zur<br />

Kenntnis, daB sich die Streitkriifte ( ... ) an Sicherheitsaufgaben beteiligen, wovon sie durch das<br />

Friedensabkommen gerade ausgeschlossen worden waren« (Guido Bejar 1995: 168).


582 Klaus-Dieter Tangermann<br />

nur noch zu elektoralen Zwecken aktivieren, wandelt sich die ehemals postulierte<br />

Wahmehmung der Unterschichtsinteressen in deren bloBe symbolische<br />

Reprasentation. Fur diese Schichten bedeutet das umgekehrt, daB sie<br />

die Reprasentation ihrer Interessen in der politische Sphare, wie sie in den<br />

ersten Nachkriegsjahren in El Salvador von der FMLN und in den ersten<br />

Jahren nach dem Machtwechsel in Nicaragua von der FSLN wahrgenommen<br />

worden war, allmahlich verlieren.<br />

5. Demokratien oboe<br />

Bisher wurde die Frage der Demokratie in Mittelamerika anhand von Entstehungsfaktoren,<br />

Institutionen und Organisationen behandelt. 1m folgenden<br />

Kapitel soHen die Meinungen und Haltungen der Menschen vorgestellt<br />

werden, von denen die Festigung demokratischer Verhaltnisse letztlich abhangt.<br />

Damit sind im Unterschied zur Transitions- und Konsolidierungsforschung<br />

nicht die politischen Akteure und ihre mehr oder weniger demokratischen<br />

Auffassungen gemeint, sondem die Bevolkerung und ihre Halzu<br />

den demokratischen Regimes. Wie die folgenden Umfrageergebnisse<br />

belegen, ist das Vertrauen in die jungen Demokratien gering.<br />

In Nicaragua hat sich dieses Vertrauen nach der Transformation des sandinistischen<br />

Systems in eine liberale Demokratie (1990) drastisch verringert<br />

(eID-Gallup 1992: 5, llf). Ein Jahr nach dem Wechsel, 1991, war etwas uber<br />

die Halfte der Bevolkerung der Meinung, daB die Regierung ihre Interessen<br />

nicht vertrete; 1992 war dies bereits bei 72% def Fall und zwei Drittel waren<br />

der Ansicht, daB auch die Parteien sich nicht um die Losung der Probleme<br />

der Bevolkerung kUmmerten (I.E.N. 1993: 8). Der reprasentative Aspekt der<br />

Demokratie stieE auf komplette Ablehnung: 98% (1) der Befragten meinten,<br />

damit »wirkliche Demokratie« herrsche, masse »das Volk zu wichtigen<br />

Entscheidungen konsultiert und an der Problem16sung beteiligt werden«<br />

(I.E.N. 1993: 15; Delgado 1994: 308). Von einer Akzeptanz des parlamentarischen<br />

Reprasentationsprinzip ist hier nichts zu erkennen.<br />

In Guatemala bietet sich ein ahnliches Bild. Eine umfragengestUtzte Studie<br />

konstatiert eine »allgemeine Enttiiuschung im Hinblick auf die Instrumente<br />

der formalen Demokratie (und) noch mehr im Hinblick auf die politischen<br />

Institutionen und die staatlichen Organe.« Nur 11,4% der Befragten<br />

sehen im Wahlervotum einen geeigneten Mechanismus, die Probleme des<br />

Landes zu losen (Galvez 1995: 94ff). Von allen Landem Mittelamerikas<br />

weist Guatemala die hOchste Wahlabstinenz auf. Wahrend in den anderen<br />

Landem die jeweiligen Wahlbeteiligungen als ausreichende Legitimation<br />

angesehen werden, deutet die rund 70%ige Abstinenz in Guatemala darauf<br />

hin, daB hier das politische System nicht als legitime Interessenvertretung<br />

akzeptiert ist (Torres-Rivas 1991: 11; Jonas 1994). Diese Vermutung


PoUtik in Demokratien ohne demokratischen Souveriin 583<br />

----------------------------------------------------------<br />

scheint besonders deshalb berechtigt, weil die Abstinenz trotz Regierungsund<br />

sagar Regimewechseln nicht abgenomrnen, sondem im Gegenteil von<br />

Wahl zu WahI zugenamrnen hat.27<br />

Die Daten fUr EI Salvador sind nicht emuchtemd. Auch hier betrachtet<br />

eine Mehrheit der BUrger Wahlen, die ja imrnerhin das einzige Instrument<br />

der BUrger zur politischen EinfluBnahme darstellen, nicht als taugliches Instrument.<br />

54,9% meinen, diese verliefen nie oder nur selten sauber (Briones/<br />

Ramos 1995: 279). Die Institutionen komrnen nicht besser weg. Drei<br />

Funftel der Bevolkerung (60,2%) halten das Justizwesen fur »immer oder<br />

haufig ungerecht« und etwa ebensoviele (59,2%) lehnen Parteien ab, da sie<br />

ihre Interessen nicht vertreten sehen, und 43,6% haben kein Vertrauen in<br />

das Parlament. Knapp die Halfte (47,1 %) ist der Ansicht, die Regierung<br />

handele nie oder nur selten zum Wahle der Bevolkerung (eM.: 256f).<br />

Auf zwei Ergebnisse zu EI Salvador sei noch hingewiesen. Zum einen, daB<br />

negative Auffassungen bei den besser Informierten weiter verbreitet sind<br />

als bei den weniger Informierten. Das verweist auf den erstaunlichen Zusamrnenhang,<br />

daB »die hOchsten Indizes fUr Vertrauen an ebenso hohe Indizes<br />

von Unkenntnis uber die entsprechenden Instanzen gekntipft (sind).«<br />

Zustimmung und Vertrauen in die demokratischen Institutionen entspringen<br />

also eher der Unkenntnis als demokratischer Uberzeugung (ebd.:<br />

262). Zum anderen besteht eine vergleichbare Korrelation in bezug auf die<br />

Schulbildung. Je niedriger diese ist, desto weniger interessieren sich die<br />

Befragten fUr Politik, haben keine Meinung oder auBem sich nicht. Kritik<br />

am politischen System ist in dieser Bevolkerungsgruppe, die zugleich tiber<br />

die geringsten Einkommen verfugt, am wenigsten ausgepragt.<br />

Bemerkenswert sind diese Untersuchungen auch deshalb, wei! sie schichtspezifische<br />

Aussagen ermoglichen. Die untersten sozialen Gruppen sehen<br />

ihre bedriickendsten Probleme im wirtschaftlichen Bereich, gefolgt von 80-<br />

zialen Problemen, wahrend politische an letzter Stelle folgen (eM.: 266f).<br />

Das ist nicht uberraschend, wenn man in Rechnung stellt, daB sich an der<br />

wirtschaftlichen Not nach dem Friedensabkommen nicht8 gebessert hat,<br />

sondem eher das Gegenteil eintrat.28<br />

27 Die Wahlbeteiligung ist zwischen 1982 und 1991 von weniger als der Halfte der Wahlbev6lkerung<br />

auf weniger als ein Drittel zUriickgegangen (Torres-Rivas 1991: II, 14f). Bei<br />

den letzten Prasidentschaftswahlen lag die Wahlabstinenz (der Eingeschriebenen) in der<br />

ersten Runde (November 1995) bei 54%, in der zweiten Runde (Januar 1996) bei 63%.<br />

Nur rund 70% der Berechtigten hatten sich einschreiben lassen (envio 167: 23f). Von allen<br />

staatlichen Institutionen genieS! in Guatemala das Parlament die geringste Wertschiitzung,<br />

gefolgt vom Justizwesen und den Parteien, wahrend der Exekutive etwas mehr vertraut<br />

wird: Ganze 11,7% geben an. Vertrauen in das Parlament zu haben, 13.1 % in das Justizwesen,<br />

nur 13,9% vertrauen den politischen Parteien und 35,8% def Regierung<br />

(Galvez 1995: 102).<br />

28 Trotz der Befriedung der Region und der Einfuhrung der Demokratie mit dem Versprechen<br />

einer Besserung haben sich seither die soziookonomischen Bedingungen, die in den


584 Klaus-Dieter Tangermann<br />

1m einzigen Land mit vergleichsweise langer demokratischer<br />

Costa wird zwar das der staatlichen Institutionen erstaunlicherweise<br />

ahnlich beurteilt. Hier sind 59,3% der der<br />

Auffassung, die Parteien vertraten nicht die Interessen der<br />

sind der das Parlament verdiene nlcht das Vertrauen der Bev61-<br />

und 46% halten das Justizwesen fUr nlcht 29 Doch es<br />

einen entscheidenden Unterschied zu den Landern Mittelamerikas<br />

in der Bewertung der Wahlen und der Exekutive: 82,5% halten die Wahlen<br />

fUr sauber und 55,8% meinen, die Regierung »arbeite fUr das Wahl des<br />

Landes«. Die W ahlbeteiligung hier im Durchschnitt bei tiber 80%<br />

(Sojo 1995: 154ft).<br />

Zusammenfassend laBt sich sagen, daB die Bev6lkerung Mittelamerikas -<br />

mit Ausnahme Costa Ricas - die Institutionen und Handlungen der demokratischen<br />

Regimes mehrheitlich nicht fUr vertrauenswiirdig halt. Diese Ergebnisse<br />

beziehen sich auf das zentralstaatliche Institutionen- und NormengefUge<br />

und das Regierungshandeln. Die Bevolkerung sieht sich von diesen<br />

Instanzen nicht vertreten. Damit erweist sich die Reprasentation gesellschaftlicher<br />

Interessen in den demokratischen Institutionen als fehlgeschlagen.<br />

Die Funktionsweise der neuen Demokratien beruht offensichtlich<br />

weniger darauf, daB diese von demokratischen Individuen getragen ais von<br />

»apathischen« geduidet werden.<br />

Man kann annehmen, daB in Gesellschaften mit vergIeichbaren soziookonomischen<br />

Daten wie in Mittelamerika die Akzeptanz gleich welchen politischen<br />

Systems ebenfalls nicht sehr hoch sein wird. Hinzu kommt die geringe<br />

Neigung oder Fahigkeit der jungen Demokratien, die wirtschaftliche<br />

Lage der armen Bevolkerungsmehrheit zu verbessern, was eher die Enttiiuschung<br />

aIs die Zustimmung gefOrdert hat Ohne eine Verbesserung des Lebensniveaus<br />

ist eine demokratische Konsolidierung schwer vorstellbar.30<br />

70er Jahren zu den revolutionaren Auseinandersetzungen gefuhrt haben, nicht verbessert,<br />

sondem im Gegenteil in mancher Hinsicht sogar verschlechtert, wie in def Einkommensverteilung<br />

(siehe FuBnote 17).<br />

29 Hierin druckt sich eine neue Tendenz aus. Seit Beginn der 90er Jahre nehmen die negativen<br />

Urteile zu. Wahrend 1988 die Frage, ob das Justizwesen Vertrauen verdiene, noch<br />

von 43% bejaht wird, gilt das 1994 nur noch fur 27%. Ahnlich die Auffassung uber das<br />

Parlament: 1988 sind 28% der Meinung, es »tauge nichts«. 1994 hat sich deren Anzahl<br />

auf 41 % erhiiht (Sojo 1995: 159).<br />

30 Diese Aussage schein! von Meinungsumfragen insofem bestatigt zu werden, als selbst die<br />

tiefgreifenden politischen Veranderungen der letzten Jahre in der Halfte del' Beviilkerung<br />

offenbar keinen Eindruck hinterlassen haben. Die hier angefuhrten Daten stammen vom<br />

Anfang 1994, also zwei Jahre nach Beginn des Transformationsprozesses in El Salvador.<br />

Bereits drei Jahre zuvor, Anfang ] 991 und damit ein Jahr vor dem Friedensabkommen,<br />

waren nahezu die gleichen Ergebnisse ermittelt worden (Briones/Ramos 1995: 258f). So<br />

ist zu vermuten, daB der mittlerweile vier Jahre wahrende TransfOlmationsprozeB die<br />

Wahmehmung des politischen Systems nicht verandert hat, wie auch eine Umfrage von<br />

Ende 1995 belegt (IUDOP- UCA 1995). Auf die 1994 gestellte Frage, ob in EI Salvador


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveriin 585<br />

--------------------------------------------------<br />

Die Staaten Mittelamerikas haben das von der Modemisierungstheorie angegebene<br />

Einkommensniveau als Schwelle zur Moglichkeit von Demokratie<br />

inzwischen erreicht, doch als wichtiger fUr eine Stabilisierung der Demokratie<br />

erweisen sich Faktoren wie Verteilungsgerechtigkeit und die<br />

Schaffung institutioneller Reprasentationsmechanismen fUr die Unterschichtsinteressen.<br />

Die Umfragen haben gezeigt, daB die fur entwickelte<br />

Demokratien typische auf Wahlen beschrankte Reprasentation die Bevolkerung<br />

nicht anspricht.<br />

6. Akzeptanz nicht-delegativer Reprasentationsformen<br />

Erst wenn wir die Ebene des staatlichen Institutionen- und Normengefiiges<br />

und des Regierungshandelns verlassen und uns niedrigeren Politikebenen<br />

zuwenden, die statt symbolischen Handelns die Chance zur praktischen<br />

EinfluBname versprechen, finden wir eine weniger ablehnende Haltung zur<br />

Politik vor. Der Wechse1 von der zentralstaatlichen Politikebene zur dezentralen,<br />

lokalen oder gremialen beinhaltet zugleich eine andere Blickrichtung.<br />

Haben wir in der bisherigen Darstellung das Augenmerk auf die<br />

politischen Systeme und ihre Schwierigkeiten mit der demokratischen<br />

Konsolidierung gerichtet, sozusagen von oben geblickt, so schauen wir<br />

jetzt aus der anderen Richtung, niimlich von den politischen Handlungsformen<br />

her, in denen sich die Interessen besonders jenes Bevolkerungsteils<br />

ausdriicken, der sich von der zentralstaatlichen Politikebene ausgeschlossen<br />

fiihlt.<br />

Es ist insbesondere die Lokalpolitik, an die andere Politikerwartungen gerichtet<br />

werden. Bine ahnlich hohe Ablehnung wie die zentralen staatlichen<br />

Institutionen erfahren die lokalen nicht. Einige formelle staatliche Institutionen<br />

der Lokalpolitik erfreuen sich sogar einer deutlich hOheren Wertschatzung.<br />

Diese Anerkennung wachst ihnen im Unterschied zu den zentralstaatlich<br />

orientierten Institutionen aus dem Grund zu, weil sie die Artikulation<br />

partikularer Interessen in nicht-delegativer Form zulassen. Sie<br />

bieten direkte Partizipationsmoglichkeiten an und ermoglichen die Erfahrung<br />

eigener EinfluBnahme. Dasselbe gilt fiir informelle Institutionen der<br />

Zivilgesellschaft. In beiden Fallen handelt es sich urn unmittelbare Politikformen<br />

im Unterschied zum symbolischen politischen Handeln.<br />

Einer Studie fiber EI Salvador zufolge ist die Partizipation an lokaler institutioneller<br />

Politik auf dem Land fiberraschenderweise hoch, wahrend sie in<br />

groBeren Gemeinden (ab 40.000 Einwohner) sehr gering ist.31 In den<br />

Demokratie und wirkliche politische Freiheit bestehe oder ob aIIes so geblieben sei wie<br />

vor dem Friedensabkommen, antwortete knapp die Halfte (46%), es sei aIIes so wie friiher.<br />

42% meinten, es existiere Demokratie (BrioneslRamos 1995: 245).<br />

31 Die Untersuchung wurde 1994 im Auftrag des Bilros fur Wohnungs- und Stadtentwick-


586 Klaus-Dieter Tangermann<br />

SUidten ist demgegenuber eine hahere Beteiligung an der zentralstaatlichen<br />

PoUtik als auf dem Land ermittelt worden. Es zeigt sich hier im Vergleich<br />

mit den Haltungen zur zentralstaatlichen Politikebene ein umgekehrtes Resultat.<br />

Es laBt sich sagen, daB wo die eigene Beteiligung die Chance<br />

auf EinfluBnahme verspricht, d. h. vor aHem auf dem Land und in kleinen<br />

Gemeinden, die Partizipation vergleichsweise hoch ist. W 0 diese Chance<br />

nicht besteht, ist sie niedrig. Die Studie konstatiert eine enge Korrelation<br />

zwischen einer positiven Einschatzung der politischen Leistungen auf 10-<br />

kaler Ebene und einer positiven zur zentralstaatlichen die<br />

uber die Partizipationserfahrung auf der lokalen Ebene vermittelt ist (Seligson/Cordoba<br />

1995: 31) Das ist auBerordentlich bemerkenswert, besagt es<br />

doch nichts anderes, als daB die positive oder negative zur zentralstaatlichen<br />

Politik und den staatlichen Instanzen von der Bewertung der<br />

Politik auf der lokalen Ebene gepriigt ist.<br />

Ein erheblicher Bevolkerungsteil, namentlich der Unterschichten, bildet<br />

sich seine Meinung gegenuber dem demokratischen Regime und zur Demokratie<br />

uberhaupt auf lokaler Ebene, wobei dies urn so mehr der Fall ist,<br />

wo die Partizipation an der lokalen Politik hoch ist.32 Hier zeigt sich eine<br />

spezifische Konstitutionsvariante politischer Haltungen, die bislang fUr El<br />

Salvador nachgewiesen ist, aber - mit der eventuellen Ausnahme Costa Ricas<br />

- so iihnlich auch in den anderen Liindern Mittelamerikas angenommen<br />

werden muB: Die Haltung zum politischen System insgesamt konstituiert<br />

lung des USAID mit dem Ziel durchgefiihrt, die lokale Partizipation und die Haltung gegeniiber<br />

den Lokalverwaltungen zu ennitteln. Die zugrundeliegenden Meinungsumfragen<br />

wurden in allen funfLiindem Mittelamerikas angestellt. Unter Partizipation wird Teilnahme an<br />

Sitzungen der lokalen Regierungen verstanden. In einigen Uindern Mittelamerikas<br />

(Honduras, El Salvador, Nicaragua) finden mehnnals jiihrlich derartige Sitzungen als<br />

»cabildos abiertos« (offene Biirgerversamrnlungen der ganzen Gemeinde) statt. Die Beteiligung<br />

wiihrend zwiilf Monaten (1994-95) lag im mittelamerikanischen Durchschnitt<br />

bei 11,3%. In EI Salvador lag sie deutlich hiiher (Wahljahr 1994). Wahrend die Partizipation<br />

in vom Krieg nieht beriihrten Gebieten und in StMten allerdings sehr gering war, lag<br />

sie in landlichen Gebieten erheblich hOher und erreichte in den Gegenden, in denen die<br />

Unterstiitzung fur die FMLN am hiichsten ist, iiber 50% bei Frauen und mehr als zwei<br />

Drittel bei Mannern (SeligsorJCordoba 1995: 23ft).<br />

32 In der erwahnten Untersuchung wird keine Korrelation zwischen Partizipation als solcher<br />

und Unterstiitzung des politischen Systems hergestellt, aber eine solche zwischen Partizipation<br />

und positiver Leistung def Lokalregierung etabliert, wobei die Erfahrung von der<br />

Wirkung des eigenen Handelns von Bedeutung ist. In den Gegenden, in den en die Partizipation<br />

an der lokalen Politik am hiichsten ist - besonders Gebiete mit groBer FMLN­<br />

Wahlerbasis - fallt die Bewertung der Leistungen der Lokalregierung am positivsten aus.<br />

An dieser Korrelation von Zufriedenheit mit den Leistungen der lokalen Politik und Unterstiitzung<br />

des politischen Systems, Toleranz und demokratischen Nonnen zeigt sich, daB<br />

eine positive Haltung zum System bei einem GroBteil der Biirgerlnnen dort wurzelt, wo<br />

ein unmittelbarer EinfluB auf politische Entscheidungen besteht. Die Partizipation ist in<br />

Mittelamerika nieht durchgangig gleich hoch. Sie is! auf lokaler Ebene in El Salvador hOher<br />

als in den Nachbarlandern (Seligson/Cordoba 1995: 26).


Politik in Demokratien ohne demola'atischen Souveriin 587<br />

sich nicht so sehr tiber die<br />

der zentralstaatlichen nnl1Tl',,·.n<br />

sondern nimmt den »Umweg« lokaler Politikerfahrung.<br />

Hinter dieser fur etablierte Demokratien eher untypischen<br />

der<br />

lokalen Politikebene kommt ein grundsatzliches Ph1inomen zum Vorschein:<br />

Anders als in konsolidierten Demokratien kommt in Mittelamerika<br />

der Ebene des<br />

Handelns kaum eine mtpm'"tl<br />

Funktion zu, statt dessen konstituieren bei der Mehrheit der Bevolkerung<br />

direktere Formen Erfahrung die Haltung zur zentralstaatlichen<br />

v014,hii1rp und bilden damit das Fundament fur die Akzeptanz oder<br />

£>L""'U'LH1!', der Regimes.<br />

Die direkte Politikform tendiert im Gegensatz zum atomisierenden Chasymbolischer<br />

Politik zu kollektiven Haltungen. 1m staatlich-institu­<br />

UVlllo;oll\oll Rahmen erhalt diese Politikform einen besonderen Charakter.<br />

Wahrend namlich andere direkte Formen<br />

Interessensartikulation,<br />

etwa gewerkschaftliche, im Kern darin bestehen, Einzelinteressen zu<br />

kollektiven Partikularinteressen zu bundeln, geschieht im Rahmen staatlicher<br />

Institutionen wie der Lokalpolitik etwas anderes: In der Vermittlung<br />

unterschiedlicher Positionen bilden sich uberpartikulare Kompromisse und<br />

Haltungen heraus.33 Seligson und Cordoba haben entsprechende Ergebnisse<br />

ermittelt In Gegenden mit hoher Partizipation besteht eine Korrelation<br />

mit Indizes hoher Toleranz und anderen demokratischen Eigenschaften<br />

(Seligson/Cordoba 1995: 28f).<br />

Von den erwahnten Umfragen erscheinen mir besonders drei Aspekte von<br />

besonderer Bedeutung zu sein: Zunachst zeigen die Ergebnisse, in welch<br />

erstaunlich hohem MaBe die zentralstaatlichen Institutionen und das Regierungshandeln<br />

der demokratischen Regimes noch zehn Jahre nach ihrer Einfuhrung<br />

und funf Jahre nach der Befriedung der Region in der Bevolkerung<br />

auf Ablehnung stoBen. Zum anderen zeigen sie eine deutlich andere<br />

politische Einstellung def Burger, sobald es urn die Politikebene geht, die<br />

diesen uber symbolisches Handeln hinaus reale<br />

bietet.<br />

Dort ist besonders daB es diese Erfahrung<br />

en sind, die erheblich zur Konstitution der<br />

zur lokalen wie<br />

zur zentralstaatlichen Politikebene und die Entstehung demokratischer<br />

Haltungen fOrdem. Und schlieBlich die SchluBfolgerung, daB weder<br />

die zentralstaatlichen Institutionen und Normen, noch das wichtigste Instrument<br />

symbolischer<br />

an politischen Entscheidungen, die<br />

eine nennenswerte integrative Funktion haben. Damit setzt sich<br />

33 So auch Barber: Die Offentlichen Zwecke - wie er sie nennt - »werden buchstablich im<br />

Akt der Offentlichen Partizipation geformt und durch gemeinsame Beratung wie gemeinsames<br />

Handeln geschaffen, wobei eine besondere Rolle spielt, daB sich der Gehalt und die<br />

Richtung von Interessen andert, sobald sie partizipatorischen Prozessen dieser Art ausgesetzt<br />

sind« (Barber 1994: 148).


588 Klaus-Dieter Tangermann<br />

die soziale Spaltung der Gesellschaft unvennittelt auf der<br />

Ebene<br />

in die von Gesellschaft und politischer Entscheidungssphare<br />

fort. Die politische Integration der Gesellschaft scheint ohne Einbeziehung<br />

gesellschaftlich<br />

Reprasentations- und Partizipationsmechanismen<br />

nicht U~')ML''"'U<br />

7. ,>,,,,,.


PaUlik in Demakratien ohne demokratischen Souveriin 589<br />

Neben dieser institutionellen LU1\.a'!-'U'llLJll\. bestehen in Mittelamerika zahlreiche<br />

weitere lokalpolitische Ansatze, die nicht auf die institutionelle<br />

sondem auf ein »empowerment« der<br />

Bevolkerung<br />

von den staatliehen lokalen Instanzen abzielen.<br />

Dabei werden naeh einer Verstandigung tiber die<br />

Probleme<br />

in den Gemeinden entwickelt, deren<br />

tielle var aHem von der Zahl der Derart auf<br />

Partizipation gegmndete lokale Initiativen sind oftmals bald in der<br />

die institutionelle<br />

zu beeinflussen und diese auf eine stark<br />

UU'Ula't5'" zu stellen.35<br />

Die dritte Variante betrifft die sehr einfluBreichen kollektiven Interessens­<br />

Organisationen, Arbeiterorganisationen, soziale Bewegungen<br />

die die Artikulationsinstanzen der Untersehiehten<br />

darstellen und unter denen die Zusammenschliisse von Kleinund<br />

Mittelbauem das gr6Bte Gewieht haben. Diese Organe bUndeln die<br />

vielen Einzel- zu Kollektivinteressen aufweitgehend partizipativer Grundlage.<br />

sind weder die lokalen<br />

Organe noch die Kollektivorganisationen<br />

auf den lokalen Raum beschrankt Beide verfugen tiber<br />

regionale oder auch nationale Koordinationen. Auf der Ebene dieser h6heren<br />

besteht die Moglichkeit direkter Partizipation<br />

nicht mehr und es werden delegative Politikformen notwendig. Die nichtaelleg,amre<br />

Partizipationsform stoBt hier schnell an ihre Grenzen und bleibt<br />

im wesentliehen auf die unteren organisatorisehen Ebenen besehrankt. Sie<br />

erweist sieh nieht nur als lokal, sondem aueh inhaltlieh beschriinkt, da die<br />

Begrenzheit des lokalen Rahmens fur die Behandlung damber hinausgehender<br />

allgemeiner Fragen nieht geeignet ist.<br />

Obgleich also aueh diese<br />

Politikformen nicht auf die<br />

delegative Reprasentation verziehten konnen, ist die der delegatiyen<br />

Form dennoeh eine andere bei der staatliehen symbolisehen<br />

sentation. 1m Unterschied zum<br />

des<br />

reprasentativen Systems, wo der Delegierte die »Interessen (der Repriisennaeh<br />

Gutdtinken kann« 1988:<br />

der Delegierte in diesen ~'j~~"'~"<br />

und in wesentlich<br />

MaBe tiber<br />

35 In Mittelamerika kommt den Munizipien traditionell eine geringe institutionelle Bedeutung<br />

zu. Die politischen Parteien verfUgen in der Regel tiber kein lokalpolitisches Konzept.<br />

Die zentralstaatliche Politik gegentiber den Munizipien tragt zumeist patemalistische<br />

Ztige und wird weitgehend ohne Einbeziehung der Bevolkerung implementiert. Die systematische<br />

Bedeutung des Lokalen als Ort fUr empowennent hat erst die Ende der 80er<br />

Jahre enstandene Kommunalbewegung entdeckt. Empowennent-orientierte Bewegungen<br />

haben sich inzwischen in ganz Mittelamerika gebildet und verfiigen tiber diverse Koordinationen<br />

(vgl. zu Nicaragua: Desarrollo Municipal 1996).


590 Klaus-Dieter Tangermann<br />

starkeren imperativen Druck Die delegative Reprasentation bewahrt<br />

auf diese Weise einen gewissen Anschein von Unmittelbarkeit.<br />

Diejenigen Koordinationsebenen allerdings, in denen die Notwendigkeit<br />

der Verhandlung und des Kompromisses<br />

vor aHem die nationalen<br />

und supranationalen, unterliegen derselben Gefahr des Legitimationsverlusts,<br />

die weiter vorn anhand der Linksparteien geschildert wurde.<br />

Hier sind die Reprasentationswege zu lang und eine Kontrolle durch die<br />

Reprasentierten ist kaum noch moglich. Als um so notwendiger erweist<br />

sich das Instrument der Rechenschaftslegung und die innerorganisatorische<br />

Demokratie (Rivera 1995: Tatsachlich ist in vielen dieser<br />

sationen und auch der Dachverbande eine Diskussion tiber interne Demokratie<br />

ausgebrochen.<br />

Wie im Bereich der Lokalpolitik, so kann aueh die<br />

Politikform<br />

der Interessenverbande nieht die parlamentarisch-reprasentative Politik<br />

ersetzen. Allerdings bildet sie die komplementare Politikform, die als<br />

politische Artikulationsform vor aHem der unteren Bevolkerungssehichten<br />

anzusehen ist.<br />

Literatur<br />

Alarcon, Victor, Guillenno O'Donnell, Adam Przeworski (1994): Democracia sustentable. In:<br />

Espacios, Nr. l,julio-septiembre. San Jose. (FLACSO Costa Rica). S. 104-107.<br />

Barber, Benjamin (1994): Starke Demokratie. Uber die Teilhabe am Politischen. Berlin<br />

(Rotbuch).<br />

Bastos, Santiago; Manuela Camus (1995): Abriendo caminos. Las organizaciones mayas desde<br />

el Nobel hasta el Acuerdo de Derechos Indigenas. Guatemala (FLACSO).<br />

Bendel, Petra; Michael Krennerich (1996): Zentralamerika: Die schwierige Institutionalisierung<br />

def Demokratie, in: Merkel et al. (1996), S. 315-340.<br />

Berger, Johannes (I 996a): Modernisierung und Modernisierungstheorie, in: Leviathan. H. I<br />

(Marz), Jg. 24, Wiesbaden. S. 8-12.<br />

Berger, Johannes (1996b): Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich - und was wird<br />

ihr bloB unterstellt?, in: Leviathan, H. I (Marz), Jg. 24, Wiesbaden. S. 45-62.<br />

Beyme, Klaus von (1994): Ansatze zu einer Theorie der Transfonnation der ex-sozialistischen<br />

Lander Osteuropas, in: Merkel (1994), S. 141-171.<br />

Bobbio, Norberto (1988): Reprasentative Demokratie und direkte Demokratie, in: ders., Die<br />

ZukunJt del' Demokratie. Berlin. S. 35-63.<br />

Bonner, Raymond (1984): Weakness and Deceit. US. Policy and El Salvador. New York<br />

(Times).<br />

Bos, Ellen (1994): Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transitionsprozessen, in:<br />

Merkel (1994.), S. 81-109.<br />

Briones, Carlos; Carlos G. Ramos (1995): La gobernabilidad en Centroamerica (3): economia,<br />

gobernabilidad y democracia en El Salvador. San Salvador (FLACSO).<br />

CID-Gallup (1992): Opinion Publica, Nicaragua No.7, Noviembre. Managua.<br />

Dahl, Robert A. (1992): La democracia y sus criticos [1989]. Barcelona. (Paidos).<br />

Delgado Romero, Rodolfo (1994): Nicaragua: gestion estatal, sistema de partidos y democracia<br />

local. In: Maihold, Giinther; Manuel Carballo Quintana (comp.) (1994): {Que<br />

sera de Centroamerica?: Gobernabilidad, legitimidad electoral y sociedad civil. San Jose<br />

(Friedrich Ebert Stiftung; CEDAL), S. 293-314.


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveriin 591<br />

Desarrollo Municipal (1996): Primer informe semestral. Enero-Junio 1996 (Projektbericht an<br />

Buntstif!, Gottingen). Managua.<br />

Diamond, Larry (1992): Economic Development and Democracy Reconsidered, in: Larry<br />

Diamond und G. Marks (eds.), Reconsidering Democracy, London: Sage, S. 93-137.<br />

Diamond, Larry; Juan J. Linz; Seymour Martin Lipset (1990): Politics in Developing Countries.<br />

Comparing Experiences with Democray. Boulder (Lynne Rienner).<br />

Di Palma, Giuseppe (1990): To Craft Democracies. An Essay on Democratic Transitions.<br />

Berkeley (University of California Press).<br />

envio. Revista mensual de la Universidad Centroamericana (UCA) (1996). 15. Jahr, Nr. 167<br />

(Januar-Februar). Managua.<br />

FLACSO (1995): Centroamerica en cifras 1980-1992. San Jose.<br />

Flora, Jan L.; Edelberto Torres-Rivas (1989): Sociology of Developing Countries: Historical<br />

Bases of Insurgency in Central America. In: Jan L. Flora and Edelberto Torres-Rivas<br />

(Hrsg.), Sociology of "Developing Countries". Central America. Houndmills and London<br />

(Macmillan). S. 32-55.<br />

Galvez Borrell, Victor (1995): La gobernabilidad en Centroamerica (2): sectores populares y<br />

gobernabilidad precaria en Guatemala. Guatemala (FLACSO).<br />

Guido Bejar, Rafael (1995): Reflexiones sobre los movimientos sociales, la sociedad civil y<br />

los partidos politicos en EI Salvador de post guerra, in: ders.lStefan Roggenbuck (eds.),<br />

Sociedad participativa en El Salvador. San Salvador (Konrad Adenauer-Stiftung; UCA).<br />

S.155-]77.<br />

Habermas, Jiirgen (1977): Zum Begriff der politischen Beteiligung [1958], in: Kultur und<br />

Kritik. Frankfurt/M. (Suhrkamp).<br />

ICIC (Iniciativa Civil para la Integracion Centroamericana) (1996): Documento de consulta<br />

para el proceso previo a la segunda asamblea general de la ICIC. 0.0 ..<br />

I.E.N. (Instituto de Estudios Nicaragiienses) (1993): La problematica de la gobernabilidad en<br />

Nicaragua. Informe de investigacion sabre la opinion publica nacional. Resumen ejecutivo<br />

de la investigacion. Managua. 25 de marzo.<br />

IUDOP-UCA (1995): Encuesta sobre el sistema politico salvadorefio. Consulta de opinion<br />

publica de octubre de 1995 (hier zit. n. Proceso. Informativo Semanal (]995). San Salvador<br />

(UCA), 16. Jahr, Nr. 690, 13. Dezember.<br />

Jonas, Susanne (1994): Guatemala. El problema democnitico. In: Nueva Sociedad, Nr. 130,<br />

marzo-abril, Caracas. S. 15-23.<br />

Karl, Terry Lynn (1990): Dilemmas of Democratization in Latin America, in: Comparative<br />

Politics, Vol. 23, NQ 1. S. 1-21.<br />

Karl, Terry Lynn; Philippe C. Schmitter (1991): Modes of Transition in Latin America, Southern<br />

and Eastern Europe, in: International Social Science Journal, Nr. 128. S. 269-284.<br />

Lechner, Norbert (1993): Modemizacion y modernidad: la busqueda de ciudadania. En: Centro<br />

de Estudios Sociologicos (ed.), Modernizacion economica, democracia politica y democracia<br />

social. Mexico D.F. (Colegio de Mexico). S. 63-75.<br />

Linz, Juan J.; Alfred Stepan (1996): Toward Consolidated Democracies, in: Journal of Democracy.<br />

Vo!' 7, W 2 (April). Baltimore. S. 14-33.<br />

Lipset, Seymour Martin (1993): El hombre politico. Las bases sociales de la politica [Orig.:<br />

Political Man. 1959]. Mexico D.F. (Rei).<br />

Lipset, Seymour Martin; Kyong-Ryung Seong; John Charles Torres (1994): Analisis comparado<br />

de los requisitos sociales de la democracia [1993]. In: Condiciones sociales de la democracia.<br />

Cuaderno de ciencias sociales, no. 71. San Jose. (FLACSO). S. 9-58.<br />

Lungo, Mario (1993): Los obstaculos a la democratizacion en El Salvador, in: El Salvador en<br />

construedon, Nr. 11, agosto. San Salvador. S. 21-32.<br />

Maihold, Gunther (1994): Representacion politica y sociedad civil en Centroamerica. In: Maihold,<br />

Giinther; Manuel Carballo Quintana (comp.), ~Que sera de Centroamerica?:<br />

Gobernabilidad, legitimidad electoral y sociedad civil. San Jose (Friedrich Ebert Stiftung;<br />

CEDAL). S. 203-223.


592 Klaus-Dieter Tangermann<br />

Menjivar, Rafael; Juan Diego Trejos (1992): La pobreza en America Central. San Jose<br />

(FLACSO), 2a, ed"<br />

Merkel, Wolfgang (Hrsg,) (1994): Systemwechsel ], Theorien, Ansatze und Konzeptionen,<br />

Opladen,<br />

Merkel, Wolfgang et aL (Hrsg,) (1996): Systemwechsel2, Die Institutionalisierung der Demokratie,<br />

Opladen,<br />

Merkl, Peter H, (1994): Cwlles son las democracias de hoy? [1993] In: Condiciones sociales<br />

de la democracia, Cuaderno de ciencias sociales, no, 71, San Jose, (FLACSO). S, 59-90,<br />

O'Donnell, Guillelmo (1993): Estado, democratizacion y ciudadania, in: Nueva Sociedad, Nr.<br />

128, noviembre-diciembre, Caracas, S, 62-87,<br />

O'Donnell, Guillermo (1994): i,Democracia delegativa? [1991], In: Barba, Jaime (comp,), La<br />

democracia hoy, San Salvador (Istmo), S, 11-32,<br />

O'Donnell, Guillermo (1996): Illusions about Consolidation, in: Journal of Democracy.<br />

VoL 7, NQ 2 (April), Baltimore, S, 34-51.<br />

Offe, Claus (1980): Konkurrenzpartei und kollektive politische Identitat. In: Roland Roth<br />

(Hg,), Parlamentarisches Ritual und politische A Iternativen , Frankfurt (Campus),<br />

S,26-42,<br />

Przeworski, Adam (1991): Democracy and the Market. Cambridge (University Press),<br />

Rios, Ivana (1995): Participacion de los sectores populares en Nicaragua: cambios actuales<br />

1990-1994, in: Tangermann (1995), S. 313-352,<br />

Rivera, Rolando (1995): Concertacion social e integracion regional: i,una nueva forma de participacion<br />

social?, in: Tangermann (1995), S, 207-261,<br />

Rojas Bolanos, Manuel (1994): Las relaciones partido - gobierno: el caso de Costa Rica, Ponencia<br />

IX Congreso centroamericano de Sociologia, San Salvador, 18,-22, 7, mimeo,<br />

Rojas Bolanos, Manuel (1995): Consoli dar la democracia en Centroamerica: una ardua tarea,<br />

in: Tangermann (1995), S, 99-155,<br />

Samour, Hector (1994): Marco teorico para la construccion de un orden democnitico en EI<br />

Salvador. In: Estudios Centroamericanos, Nr. 543-544, enero-febrero, San Salvador.<br />

(UCA), S, 33-55,<br />

Schmitter, Philippe C. (1993): La consolidacion de la democracia y la representacion de los<br />

grupos sociales [1992], In: Revista Mexicana de Sociologia, ano LV, no, 3, julioseptiembre,<br />

Mexico D,F, (UNAM), S, 3-30,<br />

Schumpeter, Joseph A, (1993): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie [1950], Tiibingen<br />

und Basel.<br />

Seligson, Mitchell A., Ricardo Cordova (1995): Gobiemo local y democracia en EI Salvador.<br />

In: Espacios, Nr. 4, abril-junio, San Jose (Friedrich Ebert Stiftung; FLACSO; CEDAL),<br />

S,21-33.<br />

Sojo, Carlos (1995): La gobernabilidad en Centroamerica (4): fa sociedad despues del ajuste,<br />

Demandas sociaies, reforma economica y gobernabilidad en Costa Rica, San Jose<br />

(FLACSO),<br />

Tangermann, Klaus-Dietel' (1981): Der Aufbau der »Sandinistischen Demokratie«, in: Veronika<br />

Bennholdt-Thomsen et aL (Hg,), Lateinamerika, Analysen und Berichte 5, Berlin (Olle<br />

& Wolter), S, 185-203,<br />

Tangermann, Klaus-Dieter, Rios, Ivana (coords,) (1994): Alternativas campesinas, Modernizacion<br />

en el agro y movimiento campesino en Centroamerica, Managua (CRIES-Latino<br />

Editores),<br />

Tangermann, Klaus-Dieter (comp,) (1995): Ilusiones y dilemas, La democracia en Centroamerica,<br />

San Jose (FLACSO, Buntstift),<br />

Tetzlaff, Rainer (1992): Die blaue Blume der Demokratie - Thesen zur Ubertragbarkeit eines<br />

westlichen Modells, In: Del' Uberblick, Nr. 3, Hamburg, S, 11-14,<br />

Torres-Rivas, Edelberto (l990a): Democracias de baja intensidad [1989]. In: Edelberto Torres-Rivas,<br />

El sistema politico y la transici6n en Centroamerica, Cuadernos de ciencias<br />

sociales, no, 36, San Jose (FLACSO), s, 35-51.


Politik in Demokratien ohne demokratischen Souveran 593<br />

--------------------------------------------------<br />

Torres-Rivas, Edelberto (1990b): La transicion autoritaria hacia la democracia. In: Edelberto<br />

Torres-Rivas, El sistema politico y la transicion en Centroamerica. Cuadernos de ciencias<br />

sociales, no. 36. San Jose (FLACSO). S. 53-75.<br />

Torres-Rivas, Edelberto (1991): Imagenes, siluetas, forrnas en las elecciones centroamericanas:<br />

las lecciones de la decada. In: Polemica, no. 14-15, San Jose. (FLACSO). S. 2-21.<br />

Torres-Rivas, Edelberto (1992): La democracia latinoamericana en la tragua. In: Edelberto<br />

Torres-Rivas, El tamano de nuestra democracia. San Salvador. (FLACSO; istmo).<br />

S.131-153.<br />

Torres-Rivas, Edelberto (1994): La gobernabilidad centroamericana en los noventa. (Consideraciones<br />

sobre las posibilidades democniticas en la postguerra). In: Maihold, Gunther;<br />

Manuel Carballo Quintana (comp.), ;,Que sera de Centroamerica?: Gobernabilidad,<br />

legitimidad electoral y sociedad civil. San Jose (Friedrich Ebert Stiftung; CEDAL).<br />

S.53-69.<br />

Vilas, Carlos M. (1996): Prospects for Democratisation in a Post-Revolutionary Setting:<br />

Central America, in: Journal of Latin American Studies, 28. (Cambridge Univ. Press)<br />

S. 461-503.<br />

PROKLA 106<br />

Klassen uDd PoUtik in Deutschland<br />

In den gewerkschaftlichen Debatten gelten Linke vielfach als<br />

gestrige »Traditionalisten«, diejenigen, die nicht nur auf Kooperation<br />

mit dem Kapital, sondem gleich auf Co-Management setze dagegen als<br />

entschiedene »Modemisierer«. Bei den Untemehmem wird nicht nur<br />

der Flachentarifvertrag in Frage gestellt, sondem die Existenz der eigenen<br />

Verbande gleich mit. Das Verhaltnis von Lohnarbeit und<br />

scheint sich in Deutschland neu zu strukturieren. 1st dies alles nur eine<br />

Anpassung an die europaisch-nordamerikanische Nonnalitat oder drukken<br />

sich hier grundsatzliche Veranderungen aus? In Deutschland nehmen<br />

die Geldvennogen nicht nur immer schneller zu, die Politik unterwirft<br />

sich auch immer starker def ihrer Verwertung. Die Kehrseite<br />

des Reichtums ist die Offentliche Annut. Welche Rolle<br />

kann unter diesen Umstanden noch ein Sozialstaat<br />

auch der entwickelte deutsche<br />

die<br />

sion einer »Underclass«?


aus un serer<br />

Band 1<br />

MATTHIAS BOHLENDER<br />

Band 4<br />

BIRGIT PAULS<br />

1995.257 Seiten<br />

Gb, DM/sFr 74,-1 oS 540,­<br />

ISBN 3-05-002656-1<br />

1996.353 Seiten<br />

Gb, DM 84,-1 oS 613,-1 sFr 76,­<br />

ISBN 3-05-003013-5<br />

Band 2<br />

THOMAS MOHRS<br />

Weltstaat<br />

Hobbes' Sozialphilosophie -<br />

Soziobiologie - Realpolitik<br />

1995. XXXVI, 464 Seiten<br />

Gb, DM/sFr 84,-1 oS 613,-<br />

ISBN 3-05-002681-2<br />

Band 3<br />

SIDONIA BLATTLER<br />

Band 5<br />

RAJMUND OTTOW<br />

Probleme gesellschaftlicher<br />

Modernisierung im U~llU~''-'lJL'-'H<br />

1996. 459 Seiten<br />

Gb, DM/sFr 98,-1 oS 715,­<br />

ISBN 3-05-003014-3<br />

1995.258 Seiten<br />

Gb, DM/sFr 84,-1 oS 613,­<br />

ISBN 3-05-002892-0<br />

Ein Unternehmen del' VCH-Verlagsgruppe<br />

MlihlenstraBe 33-34· D-13187 Berlin


Eric<br />

Mittlerweile ist mehr als ein halbes Jahr vergangen, seit es der<br />

Wahlsieg der Volkspartei oder Partido Popular der spanischen Rechten<br />

erm6g1ichte, zum ersten Mal seit dem Ende der Franco-Ara eine Regierung<br />

zu stellen. Die Angelegenheit war<br />

als man vor den<br />

Wahlen am 3. April voraussehen konnte.<br />

Die vor der Wahl erhobenen Meinungsumfragen zeichneten die amtierende<br />

Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) nach mehr als einem Jahrzehnt<br />

an der Macht als durch und durch diskrediert aus. Sie war auf Grund<br />

einer Reihe weithin bekanntgewordener Skandale in ihrer Substanz angekratzt.<br />

Gleichwohl - nach der Stimmenauszahlung iiberrundeten Jose Maria<br />

Aznars Konservative Felipe Gonzalez und die PSOE mit lediglich einem<br />

Prozent der abgegebenen Stimmen. Zum bittersiiBen Ende seiner so triumphal<br />

begonnenen Kampagne wurde Aznar letztlich nur deshalb Premierminister,<br />

weil sich die PP mit jenen regional en Mitte-Rechts-Parteien, die<br />

Aznar wahrend der Wahlkampagne Offentlich verunglimpft hatte, zusammentat.<br />

In der Foige bildete sich eine ziemlich seltsame Koalition, in der<br />

sich die marktorientierten Europhilen der spanischen Peripherie mit den<br />

Erben eines denkbar rigiden insularen Zentralismus vereint fanden. Diese<br />

Allianz muB nicht unbedingt langer halten als jene friihere, die wahrend<br />

der Transitions- oder Ubergangsperiode vor sich hin gekrankelt hatte, das<br />

heiBt zwischen 1977 und 1982: dem Jahr, in dem Adolfo Suarez' Union<br />

des Demokratischen Zentrums (UeD) zerfiel, obwohl sie den Grundsatz<br />

reformistischen V orgehens gegeniiber den auf einen die ruptura,<br />

abzielenden Ambitionen def Opposition verankern konnte. Erst mit der<br />

Zeit wird sich zeigen, inwieweit die spanische Rechte - und zwar zum ersten<br />

Mal - dazu in der Lage ist, in Ubereinstimmung mit der Bev61kerung<br />

zu regieren.<br />

Der nachfolgende Beitrag ist die uberarbeitete Fassung eines Vortrags an der Universitat<br />

Princeton yom Friihjahr 1996. Ich mochte ·mich an dieser Stelle bei den Diskussionsteilnehmem<br />

fur Hinweise und bei Eduardo Subirats fur die Organisation der Gesprachsrunde<br />

bedanken.<br />

PROKLA. ZeitschrijUiir kritische Sozialwissenschaji, Heft <strong>105</strong>.26. Jg. 1996, NrA. 595-609


596 Eric Hershberg<br />

Auf den ersten Blick erscheint diese H~'J5""'"~'-'AL nlcht sehr wahrscheinauch<br />

wenn sich inzwischen die sozialen, ideologischen und ",-,,.;luna,."'u<br />

tJ""HU."F,'v", welche die spanische Gesellschaft in dem Jahrhundert vor<br />

General Francisco Francos Tod im Jahre 1975 heimgesucht hatten, verringert<br />

haben. Bei der Ehe zwischen del' PP und den<br />

handelt<br />

es sich um eine l'eine Zweckgemeinschaft. Das heiBt, man muB davon<br />

ausgehen, daB sieh der Verwirklichung einer die diesem Bundnis<br />

gr6Bere Stablitat verleihen<br />

Interessen widel'setzen. Bevor<br />

Wir die Moglichkeit einer Hingeren konservativen Regierungszeit<br />

ganz sollten wir uns in Erinnerung daB die letzten<br />

Jahre der spanischen Geschichte noch viel unwahrscheinliehere Entwicklungen<br />

gezeitigt haben. Und wahrend es unsicher ob eine langere, von einer<br />

rechtslastigen Regierung bestimmte Periode bedeutende<br />

entfaltet,<br />

HiJ3t die jfingste spanische Geschichte vermuten, daB dag Schicksal der neuen<br />

konservativen Regierung auch in den intellektuellen Kreisen jenseits der iberischen<br />

Halbinsel ein breites Echo finden wird.<br />

Dieser Essay will weniger die Zukunft voraussagen als vielmehr die neueren<br />

Trends und Veranderungen der spanischen Politik, wie sie sich dem<br />

auBenstehenden Beobachter darstellen, analysieren. Ob wir uns nun auf<br />

den akademischen Diskurs oder aber auf die Offendichen Debatten konzentrieren,<br />

unsere Vorstellungen vom politischen Wandel in Spanien bilden<br />

einen kritschen Bezugspunkt vieler intellektueller Zirkel - und zwar<br />

weltweit. Die hier dargestellte Geschichte dreht sich nur zum Teil um die<br />

spezifische Art der Entwicklungsprozesse in Spanien; vielmehr solI gleichzeitig<br />

gezeigt werden, inwiefem die Phanomene eines komplexen sozialen<br />

und politischen Wandels in bestimmte Kategorien gepreBt werden, die es<br />

gestatten, unterschiedliche Konstellationen zu vergleichen und die Erfahrung<br />

eines Landes als Beispiel fUr die Ereignisse in anderen Landem heranzuziehen.<br />

Bevor wir m.a.W. darangehen, die spanische Gegenwart - von<br />

der Zukunft ganz zu schweigen - zu analysieren, mussen wir uberprufen,<br />

ob nicht unsere Vorstellungen uber die jungste spanische Vergangenheit<br />

auf erstaunlich bruchigen<br />

beruhen.<br />

"."'..... u",,~,u del' sp:misdlen Geschichte<br />

Meine These ist kurz gesagt daB die Sozialwissenschaftler im Lauf der<br />

letzten beiden Jahrzehnte bei ihrer<br />

der spanischen Geschichte<br />

zwei ausarbeiteten, die nun zunehmend in einschlagigen<br />

Untersuchungen zum politischen und sozialen Wandel verwendet werden.<br />

Diese Idealtypen entstanden nicht v6llig losgelost von den Diskussionen<br />

in Spanien, und sie wirken selbstverstandlich ihrerseits auf die intemen<br />

Debatten uber das, was sich hier seit dem Tod Francos abgespielt hat, zu-


Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in Spanien 597<br />

ruck. Gleichwohl uberrascht das Ausma13, in dem die Darstellungen der<br />

sp,mtSctlen Ereignisse sowohl die Offentlichen Debatten als auch die akademische<br />

Forschung in anderen<br />

in Lateinamerika und<br />

Osteuropa, beeinfluBt haben. Nimmt man nur den Fall der fiiiheren Sowjetunion,<br />

so darf man ohne zu ubertreiben<br />

daB innerhalb der<br />

letzten fUnfzehn Jahre kein einziges Land fUr das begriffliche Instrumentarium<br />

der vergleichenden Politikwissenschaft als akademischer DiszigroBere<br />

Bedeutung erlangt hat als Spanien.<br />

Da nun das Konzept der »Idealtypen« zwar den Sozialwissenschaftlern doch<br />

nicht unbedingt dem interessierten Laien bekannt sein dfufte, ist eine Definition<br />

angesagt. Der von Max Weber verwendete Begriff bezieht sich auf einen<br />

heuristischen Kunstgriff, der es ermoglicht, zwischen verschiedenen<br />

Spielarten ein und desselben Phanomens zu unterscheiden. Nimmt man<br />

zum Beispiel seine Untersuchungen der Herrschaftsfonnen, so unterscheidet<br />

Weber zwischen charismatischen, bUrokratischen und despotischen<br />

Formen der Herrschaft. Es handelt sich dabei urn analytische Abstraktionen,<br />

urn kUnstlich<br />

theoretische Kategorien, die eher die Charakteristika<br />

»idealer« denn »realer« faIle festhalten. Das heil3t, man wird<br />

keine einzige reine Form dieser oder jener Herrschaft auffinden. Gleichwohl<br />

ist es hilfreich, auf einen standardisierten, einen »idealen Typ«, rekurrieren<br />

zu k6nnen, an dem der empirische Fall gemessen werden kann.<br />

Die vergleichende Sozialwissenschaft greift regelmaBig auf Idealtypen zuruck.<br />

Wir sprechen zum Beispiel von pluraIer, korporativer oder direkter<br />

Demokratie oder von fordistischen, tayloristischen oder postfordistischen<br />

Systemen der industriellen Produktion. Wir unterscheiden dictablandas<br />

und dictaduras, das hei13t abgemilderte und rigide Formen der Diktatur.<br />

Derartige Unterscheidungen konnen sehr nlitzlich sein, wobei man freilich<br />

nicht unterschlagen darf, daB eine korrekte theoretische Verwendung dieser<br />

Kategorien den besonderen Fall keinesfalls in allen Einzelaspekten mit<br />

den Merkmalen des »Idealtyps« identifiziert: In einer pluralistischen Demokratie<br />

finden sich korporativistische Elemente und solche direkter Demokratie,<br />

und eine »milde« Diktatur oder dictablanda kann zeitweilig<br />

ziemlich brutal vorgehen.<br />

Welches nun sind die heiden Idealtypen, die das postfranquistische<br />

en hervorgebracht hat? Zum einem stellte uns Spanien einen »idealen« Typus<br />

der Transition vom Autoritarismus zur liberalen Demokratie zur VerfUgung.<br />

Zum anderen schenkte es uns den einer sozialdemokratischen<br />

Wirtschaftspolitik.<br />

Der ausgehandelte Ubergang zur Demokratie<br />

Die Ubergangsverhandlungen zur Demokratie fandel1 in Spanien etwa zwischen<br />

dem Ende des Jahres 1975 und Ende 1982 statt. Die beiden Daten


598 Eric Hershberg<br />

entsprechen dem Tod Francisco Francos auf der einen und dem friedlichen<br />

Machtwechsel von der Mitte-Rechts orientierten UCD zur PSOE nach deren<br />

erdrutschartigem Sieg im Oktober 1982 auf der anderen Seite.2 Die<br />

Bedeutung der spanischen Transition fiir die vergleichende Erforschung<br />

von Regimewechseln wurde erstmals an der Literatur zu Lateinamerika<br />

deutlich, die seit Mitte der 80er Jahre rapide anwuchs.<br />

Mir personlich hingegen trat die Breitenwirkung des spanischen Modells<br />

zum ersten Mal vor Augen, als ein obskures Magazin berichtete, Samuel<br />

Huntington, ein prominenter Konservativer der Harvard Faculty, habe das<br />

Modell dem siidafrikanischen Regime gegen Ende des letzten Jahrzehnts<br />

ans Herz gelegt.<br />

Seit 1989 erfreute sich der spanische Ubergang auch in Osteuropa weitverbreiteter<br />

Aufmerksamkeit. Hier waren die Beobachter an beidem interessiert:<br />

an der Leichtigkeit, mit der sich die Transition vollzogen hatte<br />

und an Spaniens anschlieBender Riickkehr in den wohlhabenderen Teil<br />

Westeuropas.<br />

Man sieht, der EinfluB der spanischen Transition iiberschreitet die akademische<br />

Sphare: Spanien stellte den politischen Eliten in vie len Teilen der<br />

Welt ein Modell fUr den Regimewechsel zur VerfUgung, an dem sie den<br />

Erfolg ihrer eigenen Politik messen konnten. Und tatsachlich warben die<br />

offiziellen Madrider Verlautbarungen auch mit der Anwendbarkeit des<br />

spanischen Modells auf andere Gesellschaften, die danach trachteten, das<br />

Erbe einer autoritaren Herrschaft zu iiberwinden. Volle zehn Jahre vor dem<br />

gegenwartigen Investionsboom in Lateinamerika schien die Demokratie<br />

def Hauptexportartikel in die friiheren Kolonien zu sein, die sich bald zusammen<br />

mit der madre patria unter dem Banner der Iberoamerikanischen<br />

Gemeinschaft Demokratischer Nationen vereint fanden.<br />

Dariiberhinaus lieferte Spaniens Transition das implizite Modell fUr Phillipe<br />

Schmitters und Guillenno O'Donnells klassischen sozialwissenschaftlichen<br />

Begriff der »paktierten« Ubergange yom Autoritarismus (vgl.<br />

Schmitter/O'Donnell/Whitehead Hrsg. 1986). Ein wenig vereinfacht lassen<br />

sich folgende zentrale Charakteristika dieser Transitionen festhalten:<br />

Es handelt sich erstens urn friedliche, von einer Elite gelenkte Vorgange.<br />

Die Reform geht vom existierenden Regime aus und verbreitet sich auf<br />

dem Weg von Verhandlungen zwischen den Autoritaten und der gema­<br />

Bigten Opposition, so daB ein Fortschreiten des Prozesses durch implizite<br />

und explizite Vertrage garantiert wird. Der Ubergang ist nicht die Folge<br />

eines Regime-Zusammenbruchs oder einer Volkserhebung. Reformisti-<br />

2 In einem strengeren Sinn konnte man die Obergangsperiode auf den Zeitraum zwischen<br />

1975 bis 1979 beschranken, wobei die Periode zwischen 1979 und 1982 eine Zeit del'<br />

Konsolidierung darstellt. Allerdings handel! es sich letztlich urn eine technische Frage,<br />

die uns an dieser Stelle nicht zu interessieren braucht.


Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in Spanien 599<br />

------------~~------------~--------------------<br />

sche EHten behaupten die Initiative gegenuber der demokratischen Opposition.<br />

Die durch Verhandlungen vermittelte Transition ermoglicht zum zweiten<br />

einen politischen Wettstreit zwischen Akteuren, die bereitwillig die demokratischen<br />

Spielregeln aheptieren - wobei einige dem alten System verbunden<br />

waren, andere zu ihm in Opposition standen.<br />

Drittens akzeptieren die Verhandlungspartner den V orrang des Marktes fur<br />

die Okonomie und respektieren, wahrend sie den Primat der zivilen Autoritat<br />

gegenuber den militarischen Institutionen wiederherstellen, die Kommandoabfolge<br />

innerhalb den der Diktatur verbundenen Streitkraften.<br />

An Schmitter und O'Donnell anknupfende Arbeiten fUgen dies em Ensemble<br />

von Merkmalen zwei weitere Elemente hinzu, die sich auf die Abfolge<br />

der Reformen beziehen: Zum einen war die politische Transition auf der<br />

Ebene des Nationalstaates in groben Ziigen vorgezeichnet, bevor man daran<br />

ging, die drangenden - und potentiell konflikthaften - Fragen der territorialen<br />

Organisation zu 1asen.3 Zum anderen konzentrierten sich die Ubergangsregierungen<br />

zunachst ganz entschieden darauf, das neue politische<br />

System zu konsolidieren. Erst dann versuchten sie, die Okonomie zu restrukturieren.<br />

Da dieser Idealtyp der Transition in der Wissenschaft weitgehend akzeptiert<br />

wird, muB man darauf hinweisen, daB keine der Schliisselvariablen<br />

vollstandig der standardisierten Darstellung der spanischen Transition<br />

entspricht: Autoritare Regimes konnen (wie in Rumanien) zusammenbrechen;<br />

iiber das wiinschenswerte Modell der okonomischen Organisation<br />

mag (wie in Portugal) fundamentale Uneinigkeit herrschen; die territorialen<br />

Grenzen konnen (wie in der Tschechoslowakei) nicht erst spater,<br />

sondern schon zu Beginn des Regimewechsels zur Diskussion stehen;<br />

oder die Regierungen konnen (wie in groBen Teilen Osteuropas)<br />

versuchen, eine politische Transformation zu vollenden, wahrend sie<br />

Programme zur okonomischen Restrukturierung durchfiihren. Eine umfangreiche<br />

akademische Literatur - von den praktischen Problemen vieler<br />

Staaten ganz zu schweigen - laBt kaum daran wie bedeutsam die<br />

genannten Unterschiede sind.<br />

Wahrend die spanische Transition einen Idealtyp in der Weberschen Bedeutung<br />

des W ortes hervorbrachte, reprasentierte sie in einem davon sehr<br />

verschiedenen normativen Sinn zugleich einen idealen Ubergang. Allgemein<br />

gesagt: die spanische Transition war erfolgreich. Nach vier Jahrzehnten<br />

einer anachronistischen und oft brutal en Regierung, zeigte sich das<br />

3 Der »Staat der autonomen Gemeinschaften« (estado de las autonomias), unter dem das<br />

quasi-fi:iderale spanische Staatswesen bekannt wurde, wurde in der Periode der demokratisch<br />

en Konsolidierung entworfen und in Kraft gesetzt.


600 Eric Hershberg<br />

Letzt auf dem intemationalen Pm"kett rean:ges>ehelll~S<br />

IVlltC,.!1P·(j der Gemeinschaft ak-<br />

Dies ist ein entscheidender auf den wir zUrUckkommen werden -<br />

LJ'~'UtlU1~;C;;H der<br />

Transition in eine lineare<br />

Publikum<br />

bekannt wurden, Doch bevor wir uns diesem Problem<br />

wollen wir uns mit dem zweiten befassen: dem der<br />

Sozialdemokratie.<br />

Sozialdemokratie im Zeitalter der<br />

Das von den Sozialisten zwischen 1982 und 1995<br />

fUhrte soziookonomische und<br />

ist der zweite entscheidende<br />

haben soIL Um unsere<br />

zur Politik der spanischen<br />

Sozialdemokratie und dem intemationalen Echo auf diese Politik darzulegen,<br />

miissen wir auf zwei miteinander verklammerte Phanomene rekurrieren:<br />

Das erste beinhaltet die<br />

mit denen sich die Sozialisten<br />

konfrontiert sahen, als sie in an die Macht das<br />

zweite dreht sich urn die Ubereinstimmungen zwischenjenen Herausforderungen<br />

und den Aufgaben, vor die sich die in anderen Uindem entstehenden<br />

neuen Demokratien gestellt sehen.<br />

Die PSOE Sozialistische beerbte einen »Wohlfahrtsstaat«,<br />

der gemessen an europaischen Standards<br />

UY"'''F,'_LH'''L'''''' war und einen<br />

hohen Grad sozialer<br />

he it aufwies. Die Partei kam mit dem Mandat an die die Modemivoranzutreiben<br />

- '-'1_"''''''''', so wie es war, zu "'L"'V~"''''''''< Zum<br />

Teil erreichte sie ihr indem sie die ;yvuu"""",<br />

wel-<br />

charakterisiert hatte. Doch zugleich erbte die PSOE eine<br />

die im<br />

mit den<br />

Nachbam erschreckend wenig kon-<br />

"01.1£1."'111')0; war. Schmerzhafte MaBnahmen waren Gleichwohl<br />

muHten Gonzalez und seine Mitstreiter wie etwa in"", ..""","", erst von<br />

den Finanzmarkten oder - wie so viele Linke und<br />

- vom IWF<br />

Wie sich der Minidas<br />

zu tun, was def Inohne<br />

erst darauf zu warten, daB er<br />

getan<br />

es auch tun wiirde.


Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in Spanien 60]<br />

------------~~~--------------~---------------------<br />

Das erste das ieh hier bezieht sleh also dardaB<br />

die PSOE sich zweierlei beugen ihrem als<br />

aueh der<br />

die okonomischen Reformen aggressiv zu forciereno<br />

Zum zweiten will ich an dieser Stelle auf die in Zeiten einsehneidender<br />

okonomischer Restriktionen an die Macht<br />

demokratisehen RelUlllllLJUIHUl\.CI<br />

verweisen - ein<br />

das wahrend der 80er Jahre relativ<br />

auftrat. Lateinamerika ist reich an und 08t- und sogar<br />

Sudeuropa den Trend.<br />

Den Regierungen stehen verschiedene<br />

mit der skizzierten<br />

Situation<br />

In einer stark vereinfaehten Perspektive bieten<br />

sieh Ihnen meines Eraehtens vier<br />

Bei der ersten handelt es sich um den Neoliberalismus: Er reduziert drastiseh<br />

die Rolle des Staates in def liberalisiert den beschneidet<br />

die Sozialausgaben, demontiert die Gewerkschaften,<br />

die industrielle Produktion und ermuntert in der Hoffnung auf<br />

"IJQLH"""" und Investitionen die<br />

bzw. verschafft<br />

ihr neue Freiraume. Wenn slch die Neoliberalen uberhaupt um die<br />

Verteilung der Fruchte des Wachstums dann nach dem Motto<br />

des beruhmten »trickle down«-Effekts: »Wenn es den Reichen besser geht,<br />

dann fallen auch fUr die Armen ein paar Kriimel yom Tisch«.<br />

Die zweite Option kann man als populistisch etikettieren. Sie kennt viele<br />

Unterarten, die sich fast alle im einen oder anderen Ereignis der jllngsten<br />

lateinamerikanischen Geschichte spiegeln. Das auf den Populismus setzende,<br />

alltagliche Verstandnis der Dinge - das sich wie alles Alltagsverstandnis<br />

zugleich aus einer guten Portion weiser Einsicht aber eben auch aus<br />

alWiglichen Stereotypen speist - besteht darin, die durch Umverteilung der<br />

Einkommen erreichte kurzfristige Befriedigung einfach gegen ein langandauemdes,<br />

durch<br />

Ineffektivitat und Verschwendung erzeugtes<br />

Leiden einzutauschen.<br />

Eine dritte die gleichfalls zuweilen populistische Zl1ge umfaBt<br />

das, was ich als »Durchwursteln« bezeichnen mochte: Eine schwache<br />

vermeidet es, sich mit den fundamental en seien sie nun<br />

okonomischer oder<br />

Art, zu befassen und versucht schlicht irgendwie<br />

durchzukommen. Darin bestand nicht zuletzt die Methode der<br />

UCD unter Suarez und seinen Nachfolgem: sie fUhrte zunachst eine gema­<br />

J3igte Steuerreform durch, um die Offentlichen Finanzen zu stabilisieren<br />

und trug letztlich doch zur VergroBerung des Defizits indem sie dieser<br />

finanzielle W ohltaten zukommen lieB.<br />

Eine zunehmend lebhaftere Diskussion rankt sich um eine vierte, urn die<br />

von Jose Maria Maravall, Luiz C. Bresser Pereira und Adam Przeworski<br />

als Sozialdemokratische Option bezeichnete<br />

die die<br />

Autoren ausdrucklich mit der Regierungszeit der spanischen Sozialisten in


602 Eric Hershberg<br />

Verbindung bring en (Maravall/Bresser Pereira/Przeworski 1993). Dieses<br />

vierte Modell begegnet der Krise mit soziookonomischen und soziopolitischen<br />

Methoden, die beide eng miteinander verquickt sind. So erscheint<br />

das sozialdemokratische Modell in soziookonomischer Perspektive als einerseits<br />

wachstumsorientiert und marktfreundlich, d.h. offen fur Privatisierungen<br />

und die Offnung der Markte, auf der anderen Seite aber setzt es<br />

mit seiner Ausweitung der wohlfahrtstaatlichen Regulierung auch auf<br />

Umverteilung. Letztere zeigt sich besonders im Gesundheits- und Erziehungswesen,<br />

in Transferzahlungen, die den Benachteiligten zugute kommen,<br />

und in den Versuchen, regionale Ungleichgewichte zu reduzieren.<br />

Die soziopolitische Dimension des sozialdemokratischen Modells besteht<br />

in der Verpflichtung zu umsichtigem Vorgehen und deliberativer Demokratie,<br />

wobei zivilgesellschaftlich organisierten Akteuren ausdrUcklich eine<br />

partizipatorische Funktion zugestanden wird. Darilberhinaus werden in einigen<br />

Fallen die kulturelle Modemisierung, individuelle Freiheiten und der<br />

Pluralismus als Teil des »Modemisierungsprojekts« begriffen.<br />

1m Zeitalter der Globalisierung ist nichts entmutigender fur eine fortschrittliche<br />

Reformpolitik, als unter dem Druck der Notwendigkeit die<br />

Wirtschaft konkurrenzfahiger machen zu miissen und dabei ihrem historischen<br />

Erbe treu bleiben zu wollen. Die spanische Sozialdemokratie wird<br />

zunehmend als das seltene Beispiel fUr eine Modemisierungspolitik dargestellt,<br />

die mehr als ein Jahrzehnt und vier allgemeine Wahlen uberstand<br />

und von einem Wahlerblock untersrutzt wurde, der sich aus der Arbeiterund<br />

Mittelklasse rekrutierte und ihr zunachst an die Macht verholfen hatte.<br />

Und ausgerechnet dieser zweite »Idealtyp« - aufgefaBt in einem, um es<br />

noch einmal zu wiederholen, zugJeich analytischen wie normativen Sinn -<br />

wird nun als ein potentiell weltweit giiltiges Paradigma gehandelt.<br />

Uber sein gemeinsam mit Bresser und Przeworski verfaBtes Buch hinausgehend<br />

wird Maravall in Ki.irze eine langere Arbeit verOffentlichen, in der<br />

er die Uberschneidungen del' politischen und der 6konomischen Transitionsprozesse<br />

vergleicht. Dabei zeigt ef, daB die PSOE ein in demokratiewie<br />

modemisierungtheoretischer Hinsicht gleichermaBen bemerkenswertes<br />

Projekt begrilndete.4 Ahnlich argumentieren Nancy Bermeo und Jose<br />

Garcia Duran in ihrem Buch Votingfor Reform, das den politischen Unterbau<br />

des PSOE-Experiments hervorhebt (vgl. Bermeo/Dunin 1994).<br />

Die Zukunft von Demokratie und wirtschaftlichem Wohlstand in den Liindem<br />

des ehemaligen Warschauer Pakts im Blick, befurchtet Adam Przeworski<br />

(1992), daB der Osten zum Sliden werden k6nnte. Przeworski bedauert,<br />

daB es wahrscheinlich nur wenigen Landem gelingen werde, dem<br />

spanischen Vorbild zu folgen. Hingegen iibertragt William Smith in seiner<br />

4 Die Studie Maravalls wird demnachst bei der Oxford University Press erscheinen.


Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in Spanien 603<br />

------------~~--------------~---------------------<br />

ehrgeizigen zweibandigen Diskussion verschiedener lateinamerikanischer<br />

Fallbeispiele das Argument auf diesen Subkontinent, indem er die sozialdemokratische,<br />

mit Felipe Gonzalez verbundene Losung der Modernisierungsfragen<br />

lobt und, trotz der okonomischen und politischen Hindernisse,<br />

die einer Wiederholung des spanischen Experiments entgegenstehen, ein<br />

entsprechendes Echo in der westlichen Welt einklagt (vgl. Smith in<br />

SmithiAcuiiaiGamarra 1994 sowie Smith 1993). Laurence Whitehead<br />

schlieBlich bemerkt in einer iiberzeugenden allgemeinen Darstellung der<br />

komparativen politikwissenschaftlichen Literatur, »Spanien erscheine sehr<br />

haufig als exemplarischer Fall, mit dem die anderen verglichen, an dem sie<br />

implizit gemessen und dem gegeniiber sie im GroBen und Ganzen als defizitar<br />

beurteilt werden« (vgl. Whitehead 1994).<br />

In politischen Kreisen hingegen ist man optimistischer. Kein Geringerer als<br />

Fernando Hemique Cardoso vertrat die Auffassung, mit der brasilianischen<br />

Krise konne am besten eine sozialdemokratische Politik fertigwerden, was<br />

ihr schlieBlich schon in Spanien gelungen sei; und iihnlich auBerten sich<br />

fiihrende Mitglieder der chilenischen Sozialistischen Partei und der regierenden<br />

»Concertacion :fur Demokratie«.<br />

Der entscheidende, auf die Sozialdemokratie und die politische Transition<br />

bezogene Punkt ist der, daB Spanien das empirische Referenzmodell :fur<br />

einen idealtypischen Umgang mit jenen grundlegenden Problemen bereitgestellt<br />

hat, mit denen sich eine ganze Reihe gegenwiirtiger Gesellschaften<br />

konfrontiert sehen.<br />

2. Was geschah tatsachlich in Spanien?<br />

Entsprechen die wirklichen Ereignisse in Spanien der idealtypisch ausgehandelten<br />

Transition, und markiert die Regierungsperiode der PSOE einen<br />

sozialdemokratischen Umgang mit den Entwicklungsproblemen, mit denen<br />

sich die Semiperipherie am Ende des 20. Jahrhunderts konfrontiert sieht?<br />

In beiden Fallen ist die Sache viel verwickeIter als die akademische Literatur<br />

oder der Offentliche Diskurs durchscheinen lassen.<br />

Wenden wir uns zunachst der Transition zu. Eine Rekonstruktion dessen,<br />

was Ende der 70er Jahre geschah, nahert sich in vielfacher Hinsicht den gewohnten<br />

stilisierten Deutungen. In der Tat beriihrt ja jeder der fiinf Charakterziige<br />

der idealtypisch ausgehandelten Transitionen die Dynamik der politischen<br />

Veranderungen in Spanien. Von den legitimen Erben des Franco­<br />

Regimes in Gang gesetzt, integrierte der Reformprozess die Gegner der Diktatur<br />

auf eine Art, die die Kontinuitat des okonomischen Modells und die<br />

Integritat der militarischen Institutionen garantierte. Auch entspricht die<br />

Reihenfolge der Aufgaben, vor die sich die Ubergangsregierungen gestellt<br />

sahen, dem von der Literatur iibermittelten idealtypischen Abfolgemodell.


604<br />

Eric Hershberg<br />

Nichtsdestoweniger<br />

die Linse der<br />

Transitions-Litemtur ;';"'JIV'vlll~H'dl V'o.,U


Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in Spanien 605<br />

------------~~------------~---------------------<br />

Trotz bedeutender Verbesserungen in der Gesundheitsvorsorge und bei den<br />

Renten hat die wirtschaftliche Ungleichheit wahrend der zwolfjahrigen<br />

Regierungszeit der PSOE zugenommen. Zurn groBen Teil hat das chronisch<br />

hohe Niveau der Arbeitslosigkeit schuld an diesem entmutigenden<br />

Rekord. Die Arbeitslosenrate, die, als die PSOE an die Macht kam, mit<br />

steigender Tendenz bei etwa 14% lag, erreichte mit nahezu 23% der Arbeitskrafte<br />

ihren Hochststand und uberschritt nach einer bescheidenen<br />

Verbesserung neuerlich die 20%-Grenze - ein Niveau, das sich in absehbarer<br />

Zeit wohl kaurn verbessem wird. Und auch wenn Verfechter der sozialdemokratischen<br />

Sache den beachtlichen Anstieg der sozialstaatlichen<br />

Ausgaben unter den Sozialisten hervorheben, ist dieser Trend nur teilweise<br />

Ausdruck gewachsener gesellschaftlicher Anspruche. Denn der groBte Teil<br />

des Anstiegs jener Ausgaben verdankt sich schlicht und einfach den unvermeidlich<br />

steigenden Kosten der Arbeitslosigkeit.<br />

Noch bedeutsamer ist die Frage, ob die PSOE ihre soziopolitische Modernisierungskoalition<br />

tatsachlich mit dem Ziel schmiedete, UnterstUtzung bei<br />

der spanischen Wirtschaft zu finden und die okonomische Wettbewerbsfahigkeit<br />

auf den intemationalen Markten anzukurbeln. Auf alle Falle hatten<br />

sich Ende der 80er Jahre die Beziehungen zwischen der Regierung und der<br />

Arbeiterschaft so sehr verschlechtert, daB sich die Fuhrer der beiden wichtigsten<br />

Gewerkschaftsfoderationen zusammenschlossen, urn den regressiyen<br />

Charakter der Regierungspolitik anzuprangem und implizit der Vereinigten<br />

Linken, der Izquierda Unida (IV), beizupflichten - einem gleichermaBen<br />

schwachen Wahlblindnis, das aus den Resten der mehr oder weniger<br />

abgewirtschafteten PCE hervorgegangen war. Die Popularitat der Gewerkschaftsposition<br />

wurde yom Erfolg des Generalstreiks im Dezember<br />

1988 bekraftigt, den die Gewerkschaften ausriefen, urn die Regierung zu<br />

zwingen, ihre j-ungsten MaBnahmen zurUckzunehmen, die den Arbeitsmarkt<br />

deregulieren und den Untemehmem ermoglichen sollten, Arbeiter<br />

auf Zeit einzustellen, und die femer im privaten Sektor eine Lehrlingsausbildung<br />

fur arbeitslose Jugendliche auf niedrigem Lohnniveau subventionieren<br />

sollten.<br />

Bald nachdem die PSOE die Amter ubemommen hatte, bahnten sich<br />

schwerwiegende Konflikte zwischen der Regierung und der organisierten<br />

Arbeit an. Entschiedener als ihre zentristischen Vorganger begannen die<br />

Sozialisten mit der Verwirklichung eines ehrgeizigen Programms, mit dem<br />

nicht konkurrenzfahige Betriebe stillgelegt und die betroffenenen Arbeiter<br />

und Gemeinden durch zeitlich befristete Subventionen und Umschulungsprogramme<br />

entschiidigen werden sollten. Allerdings zeigten sich die<br />

Arbeiter nicht bereit, uber Streitfragen zu verhandeln, deren Losung von<br />

staatlichen Technokraten vorgegeben worden war. Die bevorstehende Umstrukturierung<br />

per Dekret produzierte »im Zeitraurn zwischen 1983 bis


606 Eric Hershberg<br />

1988 mehr Streiks, mehr durch Streiks verlorene Arbeitsstunden und mehr<br />

Streikteilnehmer als in anderen Fiinfjahresperiode seit dem Bfugerkrieg«<br />

(Wozniak 1991).<br />

DaB die Verselbstandigung der Regierung gegenuber den Anspruchen ihrer<br />

Wahler den Bereich der Wirtschaftspolitik uberschritt, wird besonders an<br />

der Abkehr der PSOE von ihrer ihrer oppositionellen Haltung gegenuber<br />

Spaniens Mitgliedschaft in der NATO deutlich. Neutralistische und antimilitaristische<br />

GefUhle und Ansichten waren in der spanischen Offentlichkeit<br />

tief verwurzelt, und Gonzalez' Versprechen, unverzuglich ein Referendum<br />

abzuhalten, urn Spaniens Verhaltnis zur Atlantischen Allianz zu<br />

bestimmen, gehorte 1982 zu den populareren Programmpunkten der<br />

schen Plattform der PSOE. Bei der Amtsubernahme allerdings anderte die<br />

Regierung ihre Position zugungsten einer standigen spanischen Beteiligung<br />

an dem von den USA dominierten Bundnis. Da sie ein Referendum indes<br />

nicht ganz umgehen konnte, griff die Partei zunachst zur Verzogerung und<br />

dann, in Bruskierung der breiten Volksbewegung, die sich fonniert hatte,<br />

um auf ein »Nein«-Votum zu drangen, zur Manipulation der den Wahl ern<br />

vorgelegten Frage. 1m Wissen um die von den Meinungsumfragen vorhergesagte<br />

mehrheitliche Unterstiitzung eines spanischen Ruckzugs aus der<br />

Allianz, kippte Gonzalez das Referendum zugunsten der Regierung, indem<br />

er am V orabend der Abstimmung zu verstehen gab, daB er zurucktreten<br />

und eine politische Krise provozieren wurde, falls seine Position nicht<br />

durchkame.<br />

Nach einem ahnlichen Muster gestrickte Vorkommnisse wiederholten<br />

sich in den 80er Jahren - und auch noch in den fruhen 90ern, als es der<br />

Regierung gelang, trotz organisierter, zivilgesellschaftlicher Proteste in<br />

verschiedenen Politikbereichen weitreichende neoliberale Reformen<br />

durchzusetzen. In jedem einzelnen FallS wurde die Position der Regierung<br />

durch das Fehlen uberzeugender parteipolitischer Alternativen zu<br />

den Sozialisten gestarkt - eine verzogernde Wirkung des oben diskutierten<br />

Transitionsmodells.<br />

1981 war Suarez' Mitte-Rechts-Koalition ohne auf WiederhersteHung<br />

zerbrochen; die rechte Volksallianz oder Alianza Popular, aus der<br />

spater die PP hervorging, erschien den Wahlern, von etwa einem Drittel<br />

abgesehen, bis zum Urnengang von 1996 nicht akzeptabel; und die eurokommunistische<br />

Linke hatte sich durch interne Streitigkeiten und durch ihre<br />

Unfahigkeit dezimiert, eine in sich stimmige Vision fUr die Rolle der<br />

Linken in einer konsolidierten Demokratie zu entwerfen. Gleichzeitig stei-<br />

5 Unter den Beispielen finden sich die Friedensbewegung und der Militardienst, die Studenten<br />

und die Reform der sekundaren und der hiiheren Ausbildung, die Bauemproteste und<br />

die Agrarpolitik, Menschenrechtsgruppen und die »Antiterrorismus«-Gesetzgebung usw.


Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in Spanien 607<br />

gerten regional verankerte Parteien ihren Stimmenanteil bei den landesweiten<br />

Wahlen und schmalerten auf diese Weise die Aussichten der Opposition,<br />

den Sozialisten regierungsfahige Mehrheiten entgegenzusetzen.<br />

Dieses politische Vakuum hatte letzteren im Jahre 1982 ennoglicht, zehn<br />

Millionen Stimmen auf sich zu vereinen, und es blieb - verscharft durch<br />

ein Wahlsystem, das die groBen Parteien mit einem uberproportionalen<br />

Anteil an Sitzen in den Cortes belohnte - die zentrale Trumpfkarte der<br />

PSOE wahrend ihrer zwolfjahrigen Herrschaft.<br />

Als einzige Partei mit einer uberzeugenden regierungsfahigen Mehrheit<br />

hatte die PSOE wenig Veranlassung, die auf zivilgesellsehaftlieher Ebene<br />

organisierten Akteure in spiirbarem Umfang einzubeziehen. Die Parteimitgliedschaft<br />

belief sieh in den 80er Jahren im Durehschnitt auf nieht mehr<br />

als 100.000, und eine der filhrenden wissensehaftlichen Autoritaten im Bereich<br />

der spanischen Politik, Richard Gunther, schatzt, daB ein gutes Drittel<br />

dieser Personen Regierungspositionen besetzen. Die PSOE war also nicht<br />

wenig erfolgreich, vor aHem wenn sich der Erfolg an den vier aufeinanderfolgenden<br />

Siegen bei den allgemeinen Wahlen bemiBt. Gleichwohl gab sie<br />

nicht das Beispiel einer wiederbelebten Sozialdemokratie ab, sondern<br />

spielte jene Rolle, die Otto Kirchheimer dreiBig Jahre zuvor der integrativen,<br />

der »catch-all«-Partei zugesprochen hatte, einer Organisation, »die durch ihre<br />

Rolle innerhalb des Wahlsystems ... jene begrenzte politische Partizipation<br />

und Integration der breiten Masse erreicht, die das Funktionieren der offiziellen<br />

politischen Institutionen verlangt« (Kirchheimer 1966).<br />

3. SchluJlfolgerungen<br />

Ich habe mit dies em Essay nicht gegen die Verwendung von Idealtypen argumentieren<br />

und auch ihre Brauchbarkeit als Bausteine vergleichender<br />

Forschung nicht in Frage stellen wollen. Ferner ging es mir nicht darum,<br />

dem spanischen Experiment des politischen und sozialen Wandels jegliche<br />

Bedeutung filr die in anderen Teilen der Welt ablaufenden Transfonnationsprozesse<br />

abzusprechen. Ganz im Gegenteil. Gleichwohl sollte man<br />

nicht vergessen, daB Idealtypen eine stilisierte Version der Tatsachen wiedergeben,<br />

daB sie diese mit anderen Worten notwendiger Weise so stark<br />

vereinfachen, daB man all die komplexen Zusammenhange, die einen konkreten<br />

Fall ausmachen, aus den Augen zu verlieren droht. In diesem Sinn<br />

sind Idealtypen Abstraktionen, die sich in der Praxis verwirklichen oder<br />

aber nicht, die jedoch keinesfalls die empirischen Untersuchungen der<br />

weiligen Ereignisse ersetzen konnen. Ignoriert man das, wird die komparative<br />

Analyse durch einen schiefen Ausgangspunkt verzerrt.<br />

Daruberhinaus ist auch das Verstandnis des Falls, der den Idealtyp generiert,<br />

das heiBt der Erfahrungen Spaniens mit der politischen Transition


608 Eric Hershberg<br />

------------------------------------------------------<br />

und der UUlUW'>', fur Entwurden<br />

ironischerweise durch das Interesdas<br />

dem Land in zunehmendem MaBe von<br />

entg":ge:ng:ebra(~ht wurde - seien es nun nordamerikanische Sozialwissenschaftler<br />

oder lateinamerikanische<br />

Und wei! in diesem Fall die<br />

wie<br />

zu einem gewissen Grad selbst davon iiberzeugt, daB ihre<br />

genheit der stilisierten, von den meisten Offentlichen Diskursen und der<br />

akademischen Litemtur<br />

der Ereignisse ent-<br />

Letztere ist freilich nicht ganz aber die verbleibende Unmit<br />

dem Zweifel<br />

icbltS(lestovverlig,~r wird gerade da sich das Land von neuem am<br />

Rand einer moglichen Transition bewegt, recht selten daliiber '-''''''''-''CLlvL<br />

ob denn die vergangenen zwanzig Jahre tatsachlich so sehr auf Konsens<br />

so und und sozialdemokratisch waren.<br />

Auch darfman in den kommenden Jahren keine neuaufgelegte Debatte<br />

iiber diese erwarten, die gerade deshalb so heikel wei! sie<br />

an demokratische Grundprinzipien ruhren und wei! die wichtigsten Akteure<br />

immer noch um die Macht konkurrieren.<br />

Diesem Schweigen zum Trotz sollte man sich damn erinnem, daB es bestenfalls<br />

riskant ist, sich auf der Basis dnes<br />

Verstandnisses<br />

entfemter und vermeintlich erfolgversprechender Vorbilder auf einen<br />

TransformationsprozeB einzulassen. Sollten wir daher in runf Jahren auf<br />

den Versuch der Partido Popular<br />

neue Rezepte zur Wiederbelebung<br />

der wirtschaftlichen<br />

sowie der Modernisierung<br />

des W ohfahrtsstaats, der<br />

des Wiihlerverhaltens<br />

und weiterer, augenblicklich schwer zu definierender demokratischer Ziele<br />

so sollten wir das nicht ohne eine gewisse Skepsis tun. 1st<br />

doch die Wirklichkeit urn so vieles<br />

und konfliktreicher als die<br />

idealisierenden Darstellungen der "'-''"v'Fi'U'''''', die in oder auBerhalb einer<br />

bestimmten Gesellschaft zirkulieren.<br />

Aus dem Amerikanischen iibersetzt von Susanne Dittberner<br />

Literatur<br />

Bermeo, Nancy & und Jose Garcia Duran (1994): Spain: Dual Transition Implemented by<br />

Two Parties, in: Haggard, Stephen & Stephen B. Webb (Hg.): Voting for Reform, Oxford<br />

]994.<br />

Kirchheimer, Otto (1966): »The Transformation of the West European Party System« in Lapalombara,<br />

Joseph & Myron Weiner Hrsg.: Political Parties and Political Development,<br />

Princeton University Press, Princeton 1966,


Demokratischer Ubergang and Sozialdemolo-alie in Spanien 609<br />

Maravall, Jose Maria; Luiz Carlos Bresser Pereira & Adam Przeworski (1993): Economic<br />

Reforms in New Democracies: A Social Demokratic Approach, Cambridge University Press<br />

19930<br />

Przeworski, Adam (1992): Wird del' 'Osten' zum 'Sliden'? in: <strong>Prokla</strong>, Zeitschrifi fiir kritische<br />

SozialwissenschaJt, Heft 86, 220 Jgo NL 1, Marz 1992, S089-970<br />

Schmitter, Phillipe; Guillenno O'Donnell & Laurence Whitehead (Hrsgo) (1986): Transitions<br />

from Authoritarian Ruk Prospects for Democracy, 4 vols, The John Hopkins University<br />

Presso<br />

Smith, William Co (1993): Neoliberale Restrukturierung und die neuen Demokratien in Lateinamerika<br />

in: Prokh Zeitschrififiir kritische SozialwissenschaJt, Heft 90,230 Jgo, NrJ,<br />

Miirz 1993, So72-930<br />

Smith, William Co; Carlos Acuna & Eduardo GamaJTa (Hrsgo) (1994): Democracy, Adjustment<br />

and Structural Reform in Latin America, Transaction Publisherso<br />

Wozniak, Lynn (1991): »Industrial Modernization and Working Class Protest in Socialist<br />

Spain«, Kellog Institute Working Paper, Nr. ]65, Oktober 199L<br />

PROKLA 107<br />

Verkehr und Mobilitat<br />

Fast uberan ist fast alles zu kaufen: Transportkosten fallen kaum noch<br />

ins Gewicht Oder es wird dafUr gesorgt, daB sie nicht ins Gewicht fallen,<br />

wie mit der EinfUhrung eines 20Schifffahrtsregisterso Beschleunigter<br />

Verkehr und verbilligter Transport erweitem nicht nur die Konsummoglichkeiten<br />

(fUr diejenigen, die zahlen konnen), auch die Produktion<br />

kennt (bald) keine Grenzen mehr. Verscmnutzte Luft und verstopfte<br />

StraBen sind nur eine der Kehrseiten dieser Entwicklung. Die<br />

Zerstorung regionaler Okonomien eine andere. Revolutioniert wurde in<br />

den letzten Jahrzehnten aber nicht nur der materieller Guter,<br />

revolutioniert wurde auch der weltweite Transport von Infonnation tiber<br />

die elektronischen Netzeo Und uber die werden nicht nur Nachrichten,<br />

sondem auch jede spekulativer geschickt. Nachdem<br />

der Kapitalismus keine raumlichen Grenzen kennt, schickt er sich<br />

an, auch die zeitlichen zu sprengen. Welches sind die sozialen, v,~''''v''''­<br />

schen und okonomischen Konsequenzen dieser<br />

sind die Gewinner und wer sind die Verlierer in diesel' "","V'o''''',<br />

Welt ohne Grenzen?


Alex Demirovic<br />

DEMOKRATIE<br />

UND HERRSCHAFT<br />

Aspekte kritischer<br />

Gesellschaftstheorie<br />

Alex Demirovic<br />

Demokratie und Herrschaft<br />

Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie<br />

(Theorie und Geschichte der bOrgerlichen<br />

Gesellschaft Band 14)<br />

1996 - ca. 350 S. - ca. DM 68,00 - 6s 496<br />

SFR 68,00 - ISBN 3-929586-83-5<br />

•<br />

Politische Konflikte sind in hohem MaBe zu Deutungskonflikten um die Demokratie<br />

geworden. Alex Demirovic vertritt in den Aufsatzen des vorliegenden<br />

Bandes die Ansicht, daB Gesellschaftskritik sich nicht naiv gegenOber<br />

demokratietheoretischen Problemen machen darf. Demokratie und<br />

Demokratietheorie sind vielmehr selbst auf ihr emanzipatorisches Potential<br />

hin zu OberprOfen.<br />

Volker WeI/hOner<br />

"Wirtschaftswunder" - Weltmarkt - Westdeutscher<br />

Fordismus<br />

Der Fall Volkswagen<br />

(Theorie und Geschichte der bOrgerlichen Gesellschaft Band 12)<br />

1996 - gebunden - 391 S. - DM 88,00 - 6s 642 - SFR 88,00<br />

ISBN 3-929586-71-1<br />

Am Beispiel des Volkswagenwerks rekonstruiert Volker Well honer den endgOltigen<br />

Durchbruch der fordistischen Massenproduktion in der westdeutschen<br />

Automobilindustrie. Er interpretiert die Erfolgsgeschichte des Katers vor dem<br />

Hintergrund des deutschen Wirtschaftswunders. Dabei zeigt sich, daB die<br />

spektakularen Wachstumsraten jener Zeit untrennbar mit der Verbreitung amerikanischer<br />

Produktionskonzepte in der westdeutschen Industrie verknOpft<br />

waren.<br />

WESTFAuSCHES DAMPFBOOT •<br />

Dorotheenstr. 26a· 48145 MOnster· Tel. 02 51/6086080<br />

Telefax0251/6086020· http://www.login1.com/dampfboot


Sergio Costa<br />

Die Feststellung, daB in den zeitgen6ssischen Demokratien Offentliche<br />

Kommunikationsformen zu einem zentralen Instrument der politischen Legitimationsvermittlung<br />

wurden, ist mittlerweile trivial. Ebenfalls banal<br />

scheint die Behauptung zu sein, daB klientelistisch gepriigte Loyalitiitsbindung<br />

en in der politis chen Landschaft Lateinamerikas noch (vor)herrschen.<br />

Spannend ist jedoch die Frage, wie in den »neuen Demokratien« Lateinamerikas<br />

traditionelle politische Praktiken und massenmediale Instrumente<br />

der Loyalitiitsbeschaffung zusammenwirken und den Politikalltag zu einer<br />

Collage widersinniger Fragmente machen. Diesem Fragenkomplex soIl<br />

hier anhand des brasilianischen Beispieles nachgegangen werden.<br />

1. Die kollektiven Akteure in del' modemen<br />

Innerhalb verschiedener Denktraditionen wurde die Rolle der Offentlichkeit<br />

in demokratischen Gesellschaften untersucht und entsprechend differenziert<br />

geschildert (vgl. als Uberblick Benhabib 1992). In der gegenwiirtigen<br />

demokratietheoretischen Debatte stehen vor aHem ein funktionalistisches<br />

und ein diskurstheoretisches Konzept von Offentlichkeit im Mittelpunkt.<br />

In dem funktionalistischen Mode1l2 wird Offentlichkeit als ein interrnediiires<br />

System aufgefaBt,<br />

Dieser Beitrag beruht auf einem Abschnitt meiner unter Betreuung von Prof, Renate Rott<br />

an der FU-Berlin abgeschlossenen Dissertation. Fur kritische Bemerkungen danke ieh der<br />

PROKLA-Redaktion, den Mitgliedem des von Prof A Honneth geleiteten wissensehaftlichen<br />

Colloquiums sowie Ursula Ferdinand und Christoph Wichtmann.<br />

2 Obwohl dieses Offentlichkeitskonzept von der Systemtheorie gepragt wird, wei sen ihre<br />

Vertreter - anders als Luhmann (vgl. Gerhards 1993,23) - dem politischen System eine<br />

Sonderstellung zu: Diesem wird »sowohl eine ubergeordnete Stelle als Problemadressat<br />

als auch eine Sonderstellung als Problem16sungssystem« zugeschrieben (ebd.). D,h., dafl<br />

das politische System seine Steuerungsfunktion aufrechterhalt. Die Bezeichnung »funktionalistiseh«<br />

wurde hier aus praktischen Erwagungen gewahlt, wird aber dem vorgestellten<br />

Modell nicht vollkommen gerecht, denn es handel! sich eigentlich urn ein Mischkonzept,<br />

das Zuge verschiedener theoretischer Ansatze tragI,<br />

PROKLA. Zeitschriftfiir kritische Sozialwissenschaji, Heft <strong>105</strong>.26. Jg. 1996. Nt. 4, 611-631


612 Sergio Costa<br />

Funktion in der Aufnahme<br />

bestimmter Themen und<br />

sowie in der<br />

der aus dieser<br />

entstehenden Offentlichen In


Medien. ZivilgeselischaJt und »Kiez«: politische Offentlichkeit in Brasilien 613<br />

------~~--~------~----~~--------------------<br />

Themen kann den Stimmenverlust von darstel~<br />

die hinter diesen von der<br />

nicht weiterbearbeiteten Proble-<br />

»lrltelreSserlaJ2;gr'c;g,ttl()l1«, die urn<br />

werden - nicht trennscharf - die Akteure der<br />

»Interessenartikulation«<br />

die unmittelbaren EinfluB auf die<br />

Exekutive nehmen wollen. Zu diesen Akteuren werden sowohl die Interessengruppen<br />

und Verbande als auch soziale<br />

und<br />

1m zu den anderen Akteuren der »Interessenartikulation« wei sen<br />

die Protestakteure ein<br />

auf und<br />

tiber eine<br />

Ressourcenbasis: Wahrend den Verbanden und In-<br />

)rgallllsa1'lOllSllaa(:ht) zur VerfUr<br />

die Prourn<br />

politische<br />

'-'UCO",.lH.dUU'''!'>C,U zu beeinflussen<br />

1990, 27, Anm.<br />

Normativ wird den Protestakteuren jedoch kein differenzierter Gehalt zu­<br />

Sie zahlen zu den strategisch handelnden »Ultll::ntJJctlkeltsdie<br />

ausgehend von ihren Interessen tiber die<br />

Medien ein >mnterhaltungs- und orientierungsbedurftiges Publikum« zu erreichen<br />

7). Dabei werden die typischen Ausdrucksformen<br />

der Protestbewegungen Protestaktionen und Kundgebungen) konzeptionel!<br />

mit Instrumenten einer symbolischen Politik gleichgesetzt, die Ereignisse<br />

fur die Medien inszeniert. Beide Erscheinungen werden als Pseudoereignisse<br />

die im Rahmen des »news managements«<br />

u.a. durch ihren Schaueffekt einen Nachrichtenwert erzeugen sallen<br />

(Pfetsch<br />

In der<br />

von Habermas entwickelten diskurstheoretischen<br />

bekreuzen<br />

sich in der iJv"~u""",,,H '-' Ll"".HH.Hkeit<br />

»die kommunikative<br />

Macht mit der Hmu~~'u""r<br />

der Medienmacht zur<br />

von Massen­<br />

Nachfrage und 'compliance' gegenuber systemischen<br />

ven« (Habermas 1990, 45). Habermas also uber den<br />

denten um i:iffentliche Aufmerksamkeit def im geschilderten<br />

funktionalistischen Modell als Offentlichkeit schlechthin gilt, und recherchiert<br />

die Herkunft def die in die gelangen.<br />

3 Hier beziehe ich mich nicht auf die Studie »Strukturwandel der Offentlichkeit«, die den<br />

Zerfall def biirgerlichen Offentlichkeit beschreibt, sondem auf jiingere Beitrage von Habennas,<br />

welche die Aufrechterhaltung einer »politisch fungierenden Offentlichkeit« behandeln<br />

(Habennas 1990).


614 Sergio Costa<br />

Dabei stellt er fest, daB es hinter dem Kampf um Medienprasenz eine tiefere<br />

Ebene gibt, die mit der »Erzeugung legitimer Macht« zusammenhangt.<br />

Die Habermassche Konzeption der politischen Offentlichkeit steht in Zusammenhang<br />

mit seiner Antwort auf die Frage, wie gesellschaftliche Ordnung<br />

ohne »Transzendenz und Tradition«, also in einem sakularisierten<br />

Kontext, uberhaupt m6glich ist. Habermas erkennt die bindende Kraft der<br />

systemischen Steuerung, er erfaBt jedoch auch einen zweiten Bereich, die<br />

Lebenswelt, die durch verstandigungsorientierte Handlungen gekennzeichnet<br />

i81.4 Daraus resultiert das Bild einer politis chen Offentlichkeit, die nicht<br />

zur bloBen Buhne strategisch handelnder Akteure degradiert wird, sondem<br />

»eine Mischung von systemischen Steuerungsversuchen einerseits und lebensweltlicher,<br />

autonomer Willensbildung mundiger Privatleute andererseits<br />

i5t« (ROdel u.a. 1989, 161). Mit anderen Worten: Die Offentlichkeit<br />

besteht nicht nur aus Diskursen, die lediglich den 6konomischen und administrativen<br />

Machtanspruch partikularer Gruppen verdecken, sondem in<br />

sie flieBen auch im Alltag kristallisierte Kommunikationsstrome ein, die<br />

gesamtgesellschaftlich relevante Fragen aufwerfen.<br />

1m diskurstheoretischen Modell besteht die normative Bedeutung def politischen<br />

Offentlichkeit darin, zwischen dies en in der Lebenswelt generierten<br />

Impulsen und den Korperschaften, die die politische Willensbildung institutionell<br />

artikulieren, als Vermittlungsinstanz zu fungieren. 5 Wenn die<br />

Kommunikationsstrome, die aus den »Mikrobereichen def Alltagspraxis«<br />

entstehen, die Grenzen der »autonomen Offentlichkeiten«6 extrapolieren,<br />

k6nnen sie in die demokratisch verfaBten BeschluBgremien hineinfliessen und<br />

die dort getroffenen Entscheidungen pragen. Die flussige kommunikative<br />

Macht wird also »im Modus der Belagerung«7 ausgeubt: »Sie wirkt auf die<br />

Pramissen der Urteils- und Entscheidungsprozesse des politischen Systems<br />

ohne Eroberungsabsicht ein« (Habermas 1992a, 208).<br />

4 Nach Rodel u.a. (1989, 158!) »entdiimonisiert« Habermas mit dem dualen Modell System/Lebenswelt<br />

die formale Rationalitat. Ohne den Rekurs auf kontrafaktische Potentia Ie<br />

kann man sich nun einen politisehen Ausweg aus der Entfremdung vorstellen, die mit der<br />

Verbreitung formaler Rationalitat zusammenhangt: Es gibt noch eine Instanz, die nieht<br />

»kolonisiert« wurde, namlieh die Lebenswelt. Einer emanzipatorisehen Politik geht es<br />

dann nieht mehr, wie bei der klassischen kritisehen Theorie, um eine »Unterordnung der<br />

Zweckrationalitiit«, sondern lediglich darum, einen institutionellen »Sicherheitszaun«<br />

zwischen System und Lebenswelt zu erriehten.<br />

5 Aufgrund der Fragestellung meines Beitrags wird lediglich die Offentliehkeit als gesellschaftliehe<br />

Vermittlungsinstanz dargestellt, und nieht das Reehtssystem, das im diskurstheoretischen<br />

Demokratieverstandnis im Vordergrund steh!.<br />

6 »Autonom« nennt Habennas (1985, 422) Offentiichkeiten, »die nicht vom politisehen System<br />

zu Zweeken der Legitimationsbesehaffung erzeugt und ausgehalten werden«.<br />

7 Das Bild der Belagerung wird in Habermas (1992c, 429f!) durch das Schleusenmodell ersetzt<br />

sukzessive institutionelle Schleusen mtern die Kommunikationsstrome, die sich von<br />

der Peripherie in die Entscheidungszentren hineinbewegen.


Medien, Zivilgesellschaji und »Kiez«: politische OJ!entlichkeit in Brasilien 615<br />

--------~----~--------~----~~------------------------<br />

Die demokratisch institutionalisierten Verfahren sollen darur sorgen, daB die<br />

spontane Meinungsbildung auf den verschiedenen Entscheidungsebenen<br />

gewurdigt wird, Somit wird<br />

gesichert, daB die sozialintegrative<br />

Kraft der SolidarWit, die den lebensweltlichen Kommunikationsimpulsen<br />

innewohnt, den (systemischen) Ressourcen, die den »Integrations- und<br />

Steuerungsbedarf« (Habermas 1992b, 23) modemer Gesellschaft befriedigen,<br />

namlich Geld und administrative Macht, entgegenwirkt.<br />

Sorgen die rechtsstaatlichen Garantien darur, daB die Kommunikationsstrome,<br />

die im Rahmen verstandigungsorientierter Interaktionen generiert wurden, in<br />

die Entscheidungsebene einflieBen, so bleibt noch die Frage nach der gesellschaftlichen<br />

Basis einer solchen spontanen lebensweltlich verankerten Meinungsbildung<br />

offen. Hierbei rUckt die Zivilgesellschaft in den Vordergrund. In<br />

diesem Kontext sind damit unterschiedliche freiwillig organisierte ZusammenschlUsse<br />

(Vereine, Initiativen etc.) gemeint, »die die Resonanz, die die<br />

gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden,<br />

aufnehmen, kondensieren und lautverstarkend an die politische Offentlichkeit<br />

weiterleiten« (Habermas 1992c, 443, Herv. S.C.).<br />

Den zivilgeseHschaftlichen Akteuren kommt in diesem Konstrukt eine Doppelrolle<br />

zu. Die »Kondensierung« der im Alltag auftretenden Problemlagen<br />

entspricht der defensiven Dimension dieser Akteure. Dabei handelt es sich<br />

urn die Aufrechterhaltung und die Erweiterung der »kommunikativen Infrastruktur<br />

der Lebenswelt« bzw. urn die Herstellung von autonomen Offentlichkeiten.<br />

Mit der »Weiterleitung« der im Rahmen von alltaglichen<br />

Praktiken thematisierten Probleme schaltet sich die offensive Dimension<br />

zivilgesellschaftlicher Akteure ein. Dabei geht es urn den Versuch,<br />

»Beitrage zu Problemlosungen zu liefem, neue lnformationen beizusteuem, Werle anders zu<br />

interpretieren, gute Griinde zu mobilisieren, schlechte zu denunzieren, um so einen breitenwirksamen<br />

Stimmungsumschwung herbeizufiihren, die Parameter der verfallten politischen<br />

Willensbildung zu verandem und zugunsten bestimmter Politiken Druck auf Parlamente, Gerichte<br />

und Regierungen auszuiiben« (Habelmas 1992c, 448).8<br />

2. Die<br />

Politische Aspekte<br />

Schon aus den bahnbrechenden klassischen Studien (Oliveira Vianna<br />

1942; Freyre 1936), die die Konturen einer brasilianischen »Sozialpsychologie«<br />

nachzeichnen, geht ein wesentliches Merkmal der brasilianischen<br />

8 lndem Habermas die sozialen Bewegungen generell als zweidimensionale (defensiv/offensive)<br />

Akteure betrachtet, nimmt er offenbar die Kritik von Cohen und Arato (1992,<br />

531 ft) auf. Noch in seiner Theorie des kommunikativen Handelns schrieb Habermas<br />

(1981, 575ft) ihnen (mit Ausnahme der Frauenbewegung) lediglich einen defensiven<br />

Charakter zu.


616 Sergio Costa<br />

Offenltlil~h1~eit<br />

hervor: die iih,'r"fr"I


Medien, ZivilgesellschaJt und !!Kiez«: politische OjJentlichkeit in Brasilien 617<br />

----~~~--~------~----~~--------------------<br />

Normen werden die Teilnehmer der politis chen Gemeinschaft<br />

sondem tiber die Familien, die Freundschaftskreise etc., in denen sich der<br />

VollgenuB der »Staatsburgerrechte« realisiert - oder eben nicht.<br />

Doch mit dieser politischen Integrationsform offensichtlich Umstande<br />

zusammen, die es erschweren, daB die Offentlichkeit ihre 1m demokratischen<br />

Kontext zugeschriebenen Funktionen erfullen kann, namlich als<br />

Arena zu fungieren, in der es zu einer mehr oder weniger freien Willensbildung<br />

kommt und die dann als Legitimation der politischen Ordnung<br />

dienen kann. Hier zeigen sich mindestens drei miteinander zusammenhan-<br />

Problembereiche, und zwar:<br />

1) Ungleiche Intensitaten politischer Integration. Es wird ersichtlich, daB<br />

in einem Kontext, in dem Art und AusmaB des Zugangs zu Offentlichen<br />

Gutem (von staatlichen Leistungen bis hin zu der Gewahrleistung der Verfassungsrechte<br />

durch den Justiz-, Polizeiapparat etc.) von personlichen Beziehungen<br />

abhangt, nur eine auBerst hierarchisierte Form der Staatsbfugerschaft<br />

entstehen kann. Diejenigen, die keine Beziehungen zu einfluBreichen<br />

Personen oder Institutionen haben, konnen nur partiell (qualitativ und<br />

quantitativ betraehtet) die geltenden Verfassungsrechte in Anspruch nehmen.<br />

D.h. es gibt Bevolkerungsgruppen, die sich selbst nicht als Burger<br />

bzw. als Mitglied einer auf allgemein geltenden Normen beruhenden politisehen<br />

Gemeinschaft wahmehmen, und die damber hinaus die Legitimitat<br />

dieser Normen nicht anerkennen konnen. Diese Gruppen leben in einer,<br />

wie es Prandi (1992, 84) nennt, »vorethischen Welt«. Damit meint der<br />

Autor einen Kontext, in dem die rasante Urbanisierung zu einem Verlust<br />

tradierter Werte und Normen fuhrte: Die religiosen Normen, die historisch<br />

als ethische Referenz fUr diese Bevolkerungsgruppen gaiten, haben bereits<br />

ihre bindende Kraft verloren, ohne daB an deren Stelle sozial tragfahige sakularisierte<br />

Werte und ein entsprechender Normenkodex getreten waren.<br />

2) Zerstorung der Legitimationsgrundlage der Verfassungsordnung. Werden<br />

die universell geltenden Normen einer Logik der personlichen Bezieuntergeordnet,<br />

so wird ungewiB, auf welcher<br />

(schrift-<br />

Heh fixierte Normen oder Logik der Beziehung) die sozialen Interaktionen<br />

uberhaupt erfolgen sollen. So muB bei jeder Offentlichen Kontaktaufnahme<br />

das zweckrnaBige Verhalten erst herausgefunden werden, da dieses nicht<br />

unbedingt mit den Vorschriften iibereinstimmt. Dadurch geraten aber Pramissen<br />

der Verfassungsordnung in Gefahr, namlich der Glaube an die Effektivitat<br />

des vorschriftsgemaBen Handelns und die Erwartung, daB sich<br />

die Gesamtheit der Gesellschaftsmitglieder an diese Normen halt.<br />

Santos (1993, 108ft) zufolge entspricht der Zerfall der universellen Normen<br />

einem Entzug jeglicher positiver symbolischer Bedeutung, die die Gesellschaft<br />

dem Offentlichen Raum im zuschreibt. Dies kann zu ei-


618 Sergio Costa<br />

nem Ruckzug ins Private fuhren, aber auch die<br />

kleiner sozialer<br />

(Verbrecherbanden, Korruptionsnetzwerke usw.) hervorrufen,<br />

die das Strafgesetzbuch ignorieren und nach ihren Ehrenkodexen<br />

handeln.<br />

3) Unausgewogenheit zwischen Partizipation und In einer<br />

umfassenden Studie uber PoUtik und Gesellschaft in Lateinamerika geht<br />

auch Alain Touraine (1989) auf die<br />

der Beziehungsloyalitat filr<br />

die Konstituierung des lateinamerikanischen Offentlichen Raumes ein. Hier<br />

werden einige Aspekte seiner Argumentation wiedergegeben, die die brasilianische<br />

Realitat, so wie ich meine, treffend beschreiben. Touraine zufoJge<br />

HiBt sich die Dynamik der politischen Offentlichkeit in Lateinamerika<br />

nicht durch das europaische Muster einer Parteienkonkurrenz erklaren, in<br />

der die politischen Akteure (Parteien, Fraktionen, Einzelpolitiker etc.) zwischen<br />

sozialen Interessen und einem Staat vermitteln, dessen politische<br />

Amtsinhaber periodisch neugewahlt werden. Ebensowenig eignet sich das<br />

amerikanische Demokratiemodell, in dem Interessengruppen auf dem po Iitischen<br />

Markt konkurrieren und sich somit gegenseitig begrenzen. Fur Lateinamerika<br />

zeigt sich eher, daB die machtigen okonomischen Gruppen<br />

kaum versuchen, uber die Offentlichkeit einen entsprechenden EinfluB auf<br />

die politischen Entscheidungen zu nehmen. Statt des sen werden die Interessen<br />

unmittelbar uber Amtsinhaber innerhalb des Staatsapparates vertreten,<br />

indem die okonomischen Gruppen Einzelpolitiker bestechen, Behorden<br />

»feudalisieren« und sie fUr die Umsetzung bestimmter Zwecke ausnutzen<br />

(vgl. O'Donnell, 1993).<br />

Die Parteien haben in dies em Kontext keine Inhalte einer organischen<br />

Ideologie, auf die sich die innerparteilichen Diskurse und Handlungen beziehen.<br />

Die politischen Akteure sti1tzen sich vielmehr auf die Familienund<br />

Freundschaftsnetzwerke, die an die Stelle der fragil organisierten 80-<br />

zialen Akteure treten. In einem solchen Offentlichen Raum, so Touraine,<br />

rucken Kategorien wie Ehre, Loyalitat, Verrat, affektive Praferenzen statt<br />

strategischer Koalitionen und politischem KalkUl ins Zentrum der politischen<br />

Sprache bzw. des politischen Handelns. Damit ist Politik nicht nur<br />

eine Frage von »Interessen«, sondem auch eine von »Leidenschaften«. In<br />

diesem Politikverstandnis gibt es keinen Raum fUr die »Kalte« und die<br />

»didaktischen« Diskurse, die die europaische Politik kennzeichnen: Man redet<br />

eher von den im Alltag erlebten Harten und Beklemmungen, von Freude und<br />

Trauer, von konkret existierenden Gemeinschaften und Menschen.<br />

Dieser »expressiven Erscheinungsform der Politik«, so Touraine (1989,<br />

178), entspricht ein Muster des kollektiven Handelns, das mit zwar explosiven,<br />

aber episodischen Sozialerschutterungen einhergeht, als ob »die<br />

Leidenschaften eher kurze und gewaltsame Dramen als langfristig organi-


Medien, Zivilgesellschaji und »Kiez«: politische OjJentlichkeil in Brasilien 619<br />

----~~~--~------~----~~--------------------<br />

siertes Handeln erzeugen k6nnten«. Ein politisches<br />

das nicht<br />

von reflektionsgestutzten Urteilen ausgeht, sondern lediglich von Betrof­<br />

Emp6rung und diffusen gemeinschaftlichen ZugehOrigkeitsgefuhkann<br />

zwar in spektakulare Massendemonstrationen miinden, aber keine<br />

Dauerakteure entstehen lassen, die zu einer sinnvollen Teilnahme am<br />

WillensbildungsprozeB fahig sind. Somit kann die verfllissigte gesellschaftliche<br />

die bei diesen episodischen Mobilisierungsprozesl'-V'HH.",<br />

nicht kontinuierlich auf die Domane der Politik<br />

einwirken.<br />

Die Medienlandscha[t<br />

Nachdem der Horfunk liber mehrere Jahrzehnte seine Vormachtstellung als<br />

wichtigstes und verbreitetstes Massenmedium Brasiliens aufrechterhalten<br />

konnte, macht ihm das F ernsehen derzeit diese hegemoniale Stelle streitig.<br />

Inzwischen erreicht das Fernsehen - je nach Region - bis zu 92% der Brasilianer.<br />

Der Empfang und die die beim Femsehen verbracht<br />

stehen in umgekehrter Proportion zu dem Einkommensniveau: Je armer die<br />

Bevblkerungsgruppe ist, desto mehr und after wird ferngesehen (Miceli<br />

1989,23).<br />

1m Bereich der Printmedien ist dagegen eine positive Wechselbeziehung<br />

zwischen Einkommen und Verbreitung von Zeitungen bzw. Zeitschriften<br />

zu beobachten: Stuft man die brasilianische Bevblkerung in fiinf Einkommensklassen<br />

ein, so erreichen die Zeitungen 87% der obersten und nur<br />

16% der untersten Bevblkerungsschicht. Die Leserdichte (Anzahl der Zeitungsexemplare<br />

pro 1000 Einwohner) liegt bei 57 - ein im Vergleich mit<br />

Deutschland (350), den USA (268) aber auch Mexiko (120) oder Venezuela<br />

(186) bescheidener Koeffizient (Wilke 1992, 97ft).<br />

Besteht in der Zeitschriftenproduktion eine eindeutige Besitzkonzentration<br />

(ein einziger VerJag gibt neun der zehn auflagenstarksten Zeitschriften<br />

hemus - ebd., 104), so existieren auf dem Zeitungsmarkt mehrere wichtige<br />

Organe, die im Besitz verschiedener Unternehmensgruppen sind und unterschiedliche<br />

reprasentieren. Doch unter den uberregionalen<br />

Zeitungen laBt sich eine Tendenz zur Oligopolbildung erkennen: Den vier<br />

groBten Organ en gehOrt liber die Halfte des Vermbgens bzw. des Umsatzes<br />

der insgesamt etwa 300 brasilianischen Tageszeitungen (Silva 1986, 41;<br />

Michahelles/Leite 1994,566).<br />

Kein anderer Medienbereich weist aber eine soIche<br />

auf, wie<br />

sie im Bereich des Fernsehens herrscht. Vierll privatrechtlich organisierte<br />

11 Die Privatnetze haben eine Einschaltquote von insgesamt 98%. Die Entstehung neuer TV­<br />

Fomlen - wie »community TV«, »Iocal relay stations« und »subscription TV« - tragt nieht<br />

graB dazu bei, die Machtballung im F emsehbereich abzubauen, denn die neuen Anstalten bie-


620 Sergio Costa<br />

Femsehnetze kontrollieren fast den gesamten Markt, dabei erreicht Rede<br />

Globo, das machtigste Medienuntemehmen Brasiliens und das viertgroBte<br />

der durchschnittliche Einschaltquoten von tiber 70%. Der EinfluB<br />

von Rede Globo auf die Meinungsbildung in Brasilien wird allgemein als<br />

»gewaltig« (Michahelles/Leite bezeichnet: Nach einer 1988 durchgefUhrten<br />

Umfrage halten 80% cler Brasilianer Rede Globo fUr die einfluBreichste<br />

brasilianische<br />

noch vor dem Staatsprasidenten, der<br />

Kirche und dem NationalkongreB (Wilke 1992, 125). Rede Globo ist sich<br />

seiner gesellschaftlichen Macht bewuBt und spielt eine entsprechend bedeutende<br />

Rolle. Wahrend des<br />

wahlt das Medienuntemehmen<br />

seine Kandidaten aus und favorisiert diese in ihrer Berichterstattung. Das<br />

augenfalligste und meistzitierte steHte die Unterstlitzung des Kandidaten<br />

Collor dar, der 1989 dank zahlreicher TV-Auftritte als »welltrained<br />

television perforrner« (Flynn 1993, 357; vgl. auch Lima 1993) in<br />

wenigen Monaten von einem unbedeutenden Provinzpolitiker zum Staatsprasidenten<br />

aufstieg.<br />

1m Vergleich zurn Femsehwesen herrscht im Horfunkbereich eine viel dezentralisiertere<br />

Besitzstruktur. Jedoch kann auch die Radiolandschaft nicht als ein<br />

freier Markt bezeichnet werden, da auch hier politische Praferenzen eine<br />

wichtige Rolle spielen. Die Konzessionen fUr den Betrieb von Radiosendem<br />

(sowie Femsehanstalten) werden von der Regierung meistens aufgrund<br />

politi scher Kriterien erteilt. Das inhaltliche und technische<br />

eines Lizenzantrages wird kaum berucksichtigt, maBgebend ist die politische<br />

Loyalitat zur Regierung, die die Antragsteller versprechen. 12<br />

3. Der Autbau der in Brasilien<br />

Nach der gerade erfolgten Schilderung scheinen in der von Medienriesen<br />

beherrschten brasilianische Offentlichkeit traditionell-populistische Formen<br />

der Loyalitatsbeschaffung mit medialen Manipulationsstrategien der<br />

politischen Massenpraferenzen zusammenspielen. Allerdings gibt es auch<br />

ten auch nur die Programme der graBten Netze an (AmarallGuimaraes 1994,37),<br />

121m Jahre 1987 war der damalige Prasident Samey Protagonist eines der skandalasesten<br />

MiBbrauche des Vorrechts def Exekutive, tiber die Konzession von Radio- bzw, Femsehsendem<br />

zu entscheiden. Durch eine generase Erteilung von Lizenzen gelang es ihm, eine<br />

positive Stellungnahme des Nationalkongresses fur die Verlangerung seiner Amtszeit ftir<br />

ein weiteres Jahr zu erhalten. Von den 91 Parlamentariern (16,3% der Parlamentsmitglieder!),<br />

die in der Regierung Sarney eine Betriebslizenz ftir eine Radio- bzw. TV -Anstalt<br />

erhielten, stimmten 82 der verlangerten Amtszeit zu (Motter 1994, 94ff). Die 1988 gebilligte<br />

Verfassung anderte zwar die bis dahin geJtenden Lizenznormen, jedoch nieht grundsatzlich,<br />

Dem neuen Verfassungstext zufolge miissen die neuen Konzessionen bzw, ihre<br />

Verliingerung vom NationalkongreB in Einklang mit einem aus Vertretem der »liviIgesellschaft«<br />

zusammengesetzten Kommunikationsrat erteilt werden. Diesem Rat wird aIlerdings<br />

lediglich eine Beratungsfunktion und keine BeschluBkompetenz zugewiesen<br />

(Herscovici 1995, 26).


Medien, Zivilgesellschaji und »Kiez«: politische 6.fJentlichkeit in Brasilien 621<br />

neuere<br />

schaft und im Rahmen der »kleinen '-'!!'-'!HHvlli'-"!<br />

emer<br />

im Medienbereich<br />

der Massenmedien in Rahder<br />

U'!!vll.l!!\.Hl'>.vH in Brasilien sind zwei Entt''',''"'V'"nrr<br />

eines neuen Journalismus: In den U'~V~'F>V' als<br />

Jtarreg;llllies in den Redaktionen der<br />

ihre eiseme<br />

Zensur« ubten und die L,"HUJ.lO'd!<br />

hterstlthmg zwangen, erlebte die »altemative Presse« ihre Bllitezeit. Es entstanden<br />

zahlreiche De Coojornal, Em<br />

Versus<br />

ihrer im Vergleich mit den etablierten<br />

kleinen von den Militars weniger kontrolliert wurden.<br />

In ihrer Mehrzahl erschienen sie wochentlich und wurden in den Kiosken,<br />

aber auch im Handverkauf vertrieben. Eine neue Redaktionsstruktur<br />

- zumeist selbstverwaltete Kollektive von Joumalisten - und vomehmlich<br />

ein neuer Stil kennzeichneten diese Organe. Sie brachten »eine andere<br />

und eine gewagte Thematisierung von Anklagen, l::mtmvstlt1"~lerung<br />

und neue politische Projekte« (Festa 1986, 17) ein.<br />

Ais Ende der siebziger Jahre die »demokratische Offnung« begann, konnte<br />

allerdings kaum eines dieser altemativen Organe uberleben. Sie starben<br />

allmahlich aus finanziellen und organisatorischen Grunden aus. Der Stil<br />

dieser Blatter uberlebte da er die joumalistische Kultur Brasiliens<br />

hatte. Nach del' Lockerung der Pressezensur wurde<br />

1978 nicht nur das Personal der altemativen Blatter in die etablierten Organe<br />

einige dieser Zeitungen versuchten den kritischen<br />

Joumalismus der »Altemativen« fortzusetzen.<br />

Die heute<br />

Brasiliens Folha de Sao Paulo verkorvon<br />

Joumalismus mit der i'i"""H.,,,.'.UHur<br />

nach mehr Demokratie und<br />

1m JJV.""~"""H<br />

ProzeJ3 unmittelbar in Einklang zu am deutlichsten. Durch ihr entschiedenes<br />

Engagement fur die Forderung nach der Direktwahl des StaatspnlSl(lenten<br />

1984 erwarb die das Vertrauen der liberalen und Iinken<br />

Intellektuellen und konnte in Jahren ihre<br />

Naeh der Erfolgsstory der Folha machten sich die anderen wichtigen<br />

Presseorgane auch auf die Sue he nach offensiveren Kommunikationsformen.<br />

Dabei wurde neben der Umgestaltung del' graphischen Profile ein<br />

j oumalistischer Stil gefOrdert, der nach dem V orbild des amerikanischen


622 Sergio Costa<br />

J oumalismus die eigenstandigen Recherchen fordert 1991,<br />

Damit wurde die Presse zu einem aktiven »Akteur«, der Korruptionsaffaren,<br />

heimliche Vereinbarungen und politische Machtmil3brauche aufdeckt<br />

und denunziert. Derzeit lassen sich dieses 10umalismus<br />

eindeutig auch in den wochentlichen Nachrichtenmagazinen und nicht<br />

zuletzt im TV-Joumalismus erkennen.<br />

2) Die Heterogenitat der iiber die Massenmedien vermittelten ideologischen<br />

Inhalte. Berucksichtigt man die monopolisierte Besitzstruktur der<br />

brasilianischen Massenmedien - besonders des Femsehsektors -, so konnte<br />

man eine unproblematische Durchsetzung der Machtanspruche der Medieninhaber<br />

vermuten. Vorausgesetzt wird dabei, daB die massenmedialen<br />

Botschaften eine geradlinige Resultante aus dem Konzept der Medieneigentumer<br />

und der Nachfrage ihres Zielpublikums sind. Doch die<br />

der Kulturindustrie ist auch, so die These von Miceli (1989, 27ft), durch<br />

die Polarisierung in der »Verteilung des schulischen und kulturellen Kapitals«<br />

gepragt, die die hierachisierte brasilianische Gesellschaft kennzeichnet.<br />

Eine uberqualifizierte Elite von Intellektuellen (Publizisten, Politologen,<br />

Soziologen, Schriftsteller, Kunstler, etc.), die in ihrem spezifischen<br />

Berufszweig keine Beschaftigung finden, fungiert als Kulturproduzent in<br />

einem hochtechnisierten und professionalisierten Mediensektor. 1m Gegensatz<br />

zu dieser intellektuellen Gruppe, die das Massenkulturangebot gestaltet,<br />

stehen die Konsumenten der Kulturindustrie, insbesondere der TV­<br />

Sendungen, die uberwiegend eine geringe Schulbildung besitzen.<br />

Diese Kulturproduzenten weisen ein linksorientiertes weltanschauliches<br />

Profil auf, das fur die Intellektuellen und Kunstler in Brasilien typisch ist.<br />

Nach Miceli sind progressive, sozial engagierte und kosmopolitische Ansprilche<br />

konstitutive Elemente ihres Weltbildes, was sich notwendigerweise<br />

im Werk dieser Kulturproduzenten reflektiert. Die relative Autonomie<br />

dieser Intellektuellen in den jeweiligen Medien, also die Freiheit der Kulturproduzenten,<br />

das massenmediale Angebot mit ihrer Weltanschauung zu<br />

farben, wird folgendermaBen erklart:<br />

»[Sie] beherrschen die technischen Sprachen der elektronischen und der Printmedien, die erfolgreichsten<br />

Botschaften und Kulturgiiter, wie beispielsweise die soap operas und Femsehserien,<br />

und die inhaltlichen und graphischen Umgestaltungskonzepte der wichtigsten Zeitungen<br />

und Zeitschriften. In ihren Arbeiten lassen sich diese Professionellen von einer Diagnose der<br />

brasilianischen Gesellschaft leiten, die sich auf eine Fulle von Akteuren und sozialen Erfahrungen<br />

bezieht« (ebd., 31 ).13<br />

13 Die Selbsteinschatzung der brasilianischen loumalisten stimmt weitgehend mit der Darstellung<br />

Micelis uberein. Einer jiingeren - und im brasilianischen Kontext innovativen -<br />

Untersuchung zufolge behauptet nur ein im Vergleich mit ihren amerikanischen Berufskollegen<br />

kleiner Anteil der brasilianischen Journalisten, daB ihre Arbeit von den Vorgesetzten<br />

kontrolliert wird (Cardoso 1995, 133). Ferner schreiben sie sich selbst den Lesem


Medien, Zivilgesellschaji und »KieZ(


624 Costa<br />

etablierten Formen der<br />

dieser<br />

t>ewegUllgE:n fUr<br />

die Transformation der iJVUU.,,,LL,,U Konstellationo An dieser Stelle soH nun<br />

lediglich versucht werden, die<br />

Akteure<br />

beim Aufbau einer nryrr-opre'n<br />

verdeutlicheno Die l'VJllU;'''LJL''H KPlTT'lUP<br />

1) Erzeugung von GegenojJentlichkeit: 16 Noeh wahrend der Militarherrsehaft<br />

gab es Organisationen, die sieh darauf spezialisiert systematisch<br />

Informationen zu einem<br />

auszuwerten und die der offiziellen<br />

der gesellschaftlichen Realitat Die katholische<br />

Kirehe leistete verschiedenen Initiativen dieser Art Beistando Der<br />

katholisehe Klerus und andere Institutionen waren beispielsweise die Initiatoren<br />

des bekannten Buchprojektes »Tortura Nunca Mais« (Nie wieder<br />

Folter), das zu einer Bastion des Widerstandes gegen die Verletzung def<br />

Menschenrechte und def Aufdeckung der von den Militars verlibten Verbrechen<br />

wurde 1987)0 Ebenfalls innerhalb der Kirehe bildeten sieh<br />

Arbeitsgruppen heraus, wie das 1972 gegriindete Indianerkomitee (CIMI)<br />

und die 1975 gegrlindete Kommission fur Landprobleme (CPT), die durch<br />

ihren Kontakt mit den Indianem bzwo mit Gebieten, in denen unklare<br />

Landbesitzverhaltnisse vorherrschen, Informationen uber verdeckte Konflikte<br />

(IndianeriGoldsucher, Landbesetzer/GroBgrundbesitzer etco) in die<br />

Offentlichkeit bringeno Weder die Presse noeh die BehOrden hatten de<br />

facto bis zu def Entstehung dieser Gruppen ihre Aufmerksamkeit auf diese<br />

Regionen und die dort herrschenden Konfliktfelder gerichtet Cava<br />

1989, 151ff; SchUrger, 1994, 244ff}<br />

Ebenfalls durch die der katholisehen Kirehe entstand 1981<br />

das IBASE (brasilianisches Institut fUr soziale und wirtschaftliche<br />

sen), ein das statistische Daten und soziale Informationen zu bestimmten<br />

Sachfragen zusammenstellt<br />

1995, 10)0 Verschiedene<br />

soziale Bewegungen berufen sich auf diese urn ihre Forderungen<br />

und Argumentationsstrategien zu fonnuliereno<br />

Abseits def Kirche stellen DIEESE (Abteilung fUr soziale und wirtschaftliche<br />

Studien und Statistiken) und DIAP (Abteilung fUr<br />

Beratung) Beispiele von Initiativen dar, die seit ihrem Entstehen eine<br />

wachsende Offentliche Bedeutung gewonnen habeno Beide Initiativen wurden<br />

von einem Pool von Gewerkschaften auf die Beine DIEESE<br />

wertet Wirtschaftsstatistiken aus, die die Gewerkschaften ihren Lohnver-<br />

16 Der Begriff GegenOffentlichkeit (bzwo Gegendiagnose) wird hier wie bei Rueht (1988,<br />

291) im Sinne »einer tiber Einzelfragen hinausgehenden Opposition zu 'etablierten' Fachpositionen<br />

und Offentlichkeitsstrukturen« verwendet


Medien, Zivilgesellschaji und ))Kiez«: politische OjJentlichkeit in Brasilien 625<br />

----~~~--~------~----~~--------------------<br />

legen, DIAP kontrolliert die<br />

Betatigung<br />

def Abgeordneten und unterstiitzt Gewerkschaften und soziale Bewegungen<br />

bei ihrem Umgang mit V'-U"W~"''"'HULW'.''''U<br />

Neben diesen landesweiten Organisationen gibt es noch eine Vielzahl kleinerer<br />

die auf der lokalen Ebene<br />

Relevanz besitzen. Das Verdienst all dieser<br />

besteht<br />

Informationen zu die sonst UP'-""'o""o,.,<br />

Informationen dienen auch der etablierten<br />

der GegenOffentlichkeit beruft, urn offizielle Informationen und '-''''",HU''',''<br />

zu uberpriifen. Dadurch erwerben diese Institutionen ein zunehmendes soziales<br />

Gewicht und wachsenden<br />

EinfluI3. Mit ihnen treten<br />

aber auch deren Offentliche Vertreter ins Licht der<br />

Sie werden<br />

zu prominenten Personlichkeiten, auf die das Ansehen und die Reputation<br />

der Organisation ubertragen werden. Ihnen gelingt es neue Themen<br />

in die Offentliche Debatte<br />

da ihre AUJ3erungen<br />

unmittelbar von der Presse aufgenommen als wtirden sie per se einen<br />

»Nachrichtenwert« besitzen.<br />

2) Die Erweiterung der ofJentlich diskutierten Problembereiche: Die Herausbildung<br />

von kollektiven Akteuren entspricht normalerweise einer thematischen<br />

Erweiterung des Offentlichen Diskurses, da die neuen Akteure<br />

die Offentliche Aufmerksamkeit auf neue Problemlagen lenken bzw. neue<br />

Ansichten iiber gesellschaftlich bereits erfaJ3te Probleme hervorbringen. In<br />

der jiingsten brasilianischen Geschichte loste die Entstehung Bewegungen<br />

eine breite Offentliche Diskussion uber Fragen aus, die noch<br />

nicht als gesamtgesellschaftlich relevant wahrgenommen worden waren.<br />

Die Offentliche Behandlung dieser Themen fiihrte nicht selten zu<br />

schen bzw. staatlichen Interventionen im betreffenden Bereich.<br />

Die Anliegen der Frauenbewegung sind<br />

Bewegungen neue Themenschwerpunkte in die<br />

konnen. Fragen, wie Gewalt gegen Kindertagesstatten, LHL}naU,snisverhutung<br />

und Sexualitat galten nach var zwanzig Jahren als<br />

und damit als Offentliche Tabuthemen. def Jahre<br />

gen wurden diese Probleme bereits in die<br />

zahlreicher<br />

Parteien und Kandidaten mit Nachdruck aufgenommen und erhielten dadurch<br />

Offentliche Bedeutung. Diese schnelle politische Wende so Alvarez<br />

(1989), neb en der zunehmenden<br />

Fragen auf intemationaler Ebene dem Offentlichen Druck der brasilianischen<br />

Frauenbewegung zu verdanken.<br />

Die Schwarzenbewegung, die ebenfalls in den siebziger Jahren wiederauflebte,<br />

zeigt, daB die Entstehung neuer sozialer Akteure die Aufnahme neuartiger<br />

Problemlagen in die Offentliche Thematisierung befordem kann.


626 Sergio Costa<br />

Dies geht unmiBverstandlich aus der Untersuchung von Andrews (1993)<br />

hervor. In Anbetracht der jungsten Geschichte def brasilianischen Schwarzenbewegung<br />

zeigt der Autor wie diese »forced the issues of racial discrimination<br />

and inequality on to the national political agenda and provoked<br />

a society-wide debate on how to deal with them« 170,<br />

Herv. S.c.).<br />

Als drittes Beispiel laBt sich die Oko!ogiebewegung nennen, die auch Anfang<br />

der siebziger Jahren entstand. Sie konnte im Hinblick auf die Sensibilisierung<br />

der Offentlichkeit fur ihre Botschaften einige Erfolge verbuchen.<br />

Der in puncto Umweltschutz fortschrittliche Charakter der 1988 entstandenen<br />

Verfassung ist zu einem groBen Teil der Okologiebewegung zu verdanken<br />

(ViolalNickel1994).<br />

Die landesweit organisierte Landlosenbewegung versucht ebenfalls, durch<br />

spektakulare Aktionen (Landbesetzungen, StraBensperren usw.) die Gesellschaft<br />

von der Wichtigkeit ihres Protests bzw. der Richtigkeit ihrer Forderungen<br />

zu uberzeugen und damber hinaus Druck auf die Entscheidungstrager<br />

auszuuben (Navarro 1994).<br />

3) Forderung der in der Lebenswelt verankerten Kommunikationsmoglichkeiten:<br />

Wahrscheinlich wiirden nur noch sehr wenige Sozialwissenschaftler<br />

die These vertreten, nach der die sozialen Bewegungen Keimzellen sind, in<br />

denen horizontale Beziehungsmuster herrschen und postmaterialistische<br />

Lebensforrnen kultiviert werden. Dieser noch Anfang der achtziger Jahre<br />

in Lateinamerika sehr verbreiteten Ansicht zufolge wurden sich die in den<br />

Bewegungsmilieus geforderten Werte und Umgangsfonnen allmahlich auf<br />

die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen iibertragen und somit die Fundamente<br />

der herrschenden autoritaren politischen Kultur untergraben<br />

(Evers 1984). Mehrere Untersuchungen haben indessen gezeigt, daB die in<br />

Lateinamerika aufgetretenen sozialen Bewegungen aufgrund ihrer zyklischen<br />

Dynamik Jediglich in wenig en Phasen ihrer Geschichte - wenn uberhaupt<br />

- alternative Organisationsmuster aufweisen. 1m iibrigen Zeitraum<br />

reproduzieren sie jene biirokratischen und hierarehisierten Umgangs- und<br />

Organisationsformen, die in der Gesellschaft iiberwiegen (Bosehi 1987,<br />

60). AuBerdem - so wird herausgestellt - umfassen diese Bewegungen einen<br />

so geringen Anteil an der Bev61kerung, daB es auBerst unrealistiseh<br />

ware, mit der Verallgemeinerung del' bei ihnen angeblich kultivierten Sitten<br />

und Werte zu rechnen (Vigevani 1989, <strong>105</strong>).<br />

Hier soil nieht versueht werden, die erstgenannte enthusiastisehe These zu<br />

rehabilitieren. Es soli lediglich darauf aufmerksam gemacht daB<br />

Transformationen in der »kommunikativen Infrastruktur der Lebenswelt«<br />

mit dem Aufkommen neuer Vereinigungen (soziale Bewegungen, Biirgerinitiativen,<br />

christliehe Basisgemeinden, Mutterclubs etc.) zusammenhan-


Medlen, Zivilgesellschaji und »Kiez(c politische OjJentlichkeit in Brasilien 627<br />

gen. Anhand "on kollektiven Aktionen entstehen neue Treffpunkte und<br />

alternative Interaktionsraume, in denen sieh die Teilnehmer uber im Alltag<br />

auftretende Problerne austausehen konnen. Somit werden die Kommunikationsmogliehkeiten<br />

gefOrdert, die sieh inhaltlieh und raumlieh auf die Lebenswelt<br />

beziehen.<br />

Jeder zivilgesellsehaftliehe Akteur fOrdert also lebensweltliehe Kommunikationsformen.<br />

Diese Eigensehaft entsprieht der oben erwahnten defensiven<br />

Dimension dieser Akteure und driickt ihre Hihigkeit aus, als erster Resonanzboden<br />

fur die in ihrem Lebensbereieh wahrgenommenen gesellsehaftliehen<br />

Probleme zu fungieren.<br />

Aufrechterhaltung und Erweiterung der »kleinen« OjJentlichkeiten<br />

Gerhards und Neidhart (1990, 20ft) besehreiben im AnschluB an Goffman<br />

und Luhmann die »einfachen Interaktionssysteme«, die derjenigen Offentlichkeitsebene<br />

mit dem geringsten strukturellen Verfestigungsgrad entsprechen.<br />

Dabei handelt es sich um zufallige Zusammentreffen von Menschen,<br />

die miteinander kommunizieren: im Lebensmittelgeschaft, ImbiB<br />

etc. Die Autoren behaupten, daB diesen Interaktionen aufgrund ihrer Voraussetzungslosigkeit<br />

eine »hohe Offenheit und Umweltsensibilitat« innewohnen.<br />

Dennoch schreiben die Verfasser diesen nicht organisierten (oder<br />

kleinen) Offentlichkeiten eine untergeordnete politische Rolle zu, denn die<br />

unsystematische Themensammlung und die Diskontinuitat der Themenfuhrung,<br />

die dabei vorherrschen, begunstigen die Generierung von Meinungen<br />

auf dieser Ebene nicht.<br />

1m brasilianischen Kontext scheint es allerdings, daB diesen kleinen Offentlichkeiten<br />

eine relevante politische Bedeutung zukommt. Dies geht aus<br />

mehreren Untersuchungen hervor. Dabei handelt es sich vornehmlich urn<br />

Fallstudien, die aus einer urbananthropologischen Perpektive Sozialisationsprozesse<br />

und Organisationsmuster der stadtischen Bevolkerung - VOfnehmlich<br />

der in Randbezirken lebenden Bevolkerungsgruppen - darstellen<br />

(vgl. u.a. Caldeira 1984; Magnani 1984; Sader 1988; Zaluar 1985).<br />

In seiner Studie uber Freizeitgestaltung in der Peripherie Sao Paulos geht<br />

Magnani (1984) auf die geographisch ausgegrenzten Sozialraume ein, die<br />

sich im Rahmen der Wohnorte herausbilden und stellt fest, daB dabei nicht<br />

bloB zufallige und unstetige Interaktionen stattfinden, sondem Beziehungen,<br />

die sieh in ein komplexes Sozialgefuge einordnen lassen. Diese Sozialraume,<br />

die Magnani »peda


628 Sergio Costa<br />

Der wird raumlich von bestimmten definiert:<br />

»die Offentliche Telefonzelle, die einige Kneipen und Geschafte,<br />

die 'Buzio-Stelle',l7 der Umbanda-Hof und die Kirche, der FuBballplatz<br />

und vielleicht ein Tanzsalon«<br />

137). An diesen Orten werden<br />

Informationen und HH"WAU~;VH au:sg


Medien, Zivilgesellschaji und »Kiez«. politische Offentlichkeit in Brasilien 629<br />

funktionalistische ",.. VH"-',U<br />

der Massenmedien neben der<br />

W"","Ul\.·\\ die<br />

daB sich die brasilianische<br />

fentlichkeit irnmer mehr als ein intennediares System konsolidiert, das<br />

Themen und<br />

verarbeitet und an die Burger und an<br />

das System weitervermittelt Aus der diskurstheoretischen Per-<br />

Qn"',T1IVP heraus scheint die sich im Aufbau befindende brasilianische<br />

fentlichkeit zunehmend befahigt, dem ihr in jenem<br />

nen demokratischen gerecht zu werden. Dieser Uiuft darauf hinaus,<br />

daB die<br />

uber die Manipulationsversuche hinweg als Resonanzboden<br />

uber den die an der Lebenswelt kondensielien<br />

Kornmunikationsstrome in die demokratisch verfaBten JUI;;,""'.HUJJ"l"llU"H<br />

""'·rr·d·'l-A~'''n Entscheidungen zu beeinflussen.<br />

Hier werden die<br />

kritischer Massenmedien, die Ausdehnung<br />

der Zivilgesellschaft und die<br />

kleiner '-"''''''''''_,,­<br />

keiten als Begrundung fur die These herangezogen, daB die in den eigenen<br />

Lebensbereichen wahrgenornmenen Probleme de facto in die Offentlichkeit<br />

getragen werden (konnen).<br />

Diese Transformationsprozesse def brasilianischen Offentlichkeit fuhren<br />

gewiB nicht unmittelbar zu der Aufhebung klientelistischer Netzwerke und<br />

ihrer verborgenen EinfluBnahme auf die PoUtik. Doch schrittweise verandem<br />

sich die Mechanismen der Legitimationsgewinnung: Die Legitimation<br />

politischer Herrschaft basiert irnmer weniger auf der traditionellen Verteilung<br />

der Regierungsposten unter den Eliten bzw. der klientelistischen Distribution<br />

Offentlicher Gutter zugunsten armer Bevolkerungsgruppen, sie<br />

stellt zunehmend ein Bemuhen urn publizistische Uberzeugung und<br />

gesellschaftliche<br />

dar.<br />

Literatur<br />

Alvarez, Sonia E. (1989): Politicizing Gender und Engendering Democracy, in: Stepan, A.<br />

(Hrsg), Democratizing Brazil, Oxford, 205-251.<br />

Amaral, R.; Guimaraes, C. (1994): Media Monopol in Brasil, in: Journal of Communication,<br />

Vol. 44, Nr.4, 26-38.<br />

Andrews, G. R. (1993): Black Political Protest in Sao Paulo - 1888-1988, in: Journal of Latin<br />

American Studies, Nr. 24, 147-171.<br />

Benhabib, S. (1992): Models of Public Space: Hannah Arendt, the liberal Tradition, and Jurgen<br />

Habennas, in: Calhoun, C. (Hg), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, 73-98.<br />

Boschi, R.R. (1987): A Arte da AssociQi;ao, Rio de Janeiro<br />

Caldeira, Teresa P. R. (1984): A Politica dos Gutros, Sao Paulo.<br />

Cardoso, Adalberto M. (1995): Jomalistas: Etica e Democracia no Exercicio da Profissao, in:<br />

Novos Estudos, Nr. 42,130-140.<br />

Cardoso, Ruth (1992): Popular Movements in the Context of the Consolidation of Democracy<br />

in Brasil, in: Escobar, A; Alvarez, S., The Making of Social Movements in Latin America,<br />

San Francisco, 291-302.


630 Sergio Costa<br />

Cohen, J.; Arato, A. (1992): Civil Society and Political Theory, Cambridge.<br />

DaMatta, Roberto (1985): A Casa e a Rua. E,pOi;o, Cidadania, Mulher e Morte no Brasil, Sao<br />

Paulo.<br />

DaMatta, Roberto u.a. (1992): Brasileiro: Cidadao? Sao Paulo.<br />

Della Cava, R. (1989): The 'People's Church', the Vatican and 'Abertura', in: Stepan, A.<br />

(Hrsg), Democratizing Brazil, Oxford, 143-167.<br />

Eloysa, Branca (Hrsg.) (1987): I Seminario do Grllpo Tortura Nunca Mais, Petr6polis.<br />

Evers, T. (1984): Identidade - A Face Oculta dos Movimentos Sociais, in: Novos Estlldos, Nr.<br />

10,24-30.<br />

Festa, R. (J 986) Movimientos Sociales, Comunicaci6n Popular y Alternativa, in: Festa, R.<br />

u.a., Comunicacion Popular y Alternativa, Buenos Aires.<br />

Flynn, Peter (1993): Collor Con'uption and Crisis: Time for Reflection, in: Journal ofL. America<br />

Studies, Nr. 25, 351-371.<br />

Freyre, G. (1936): Sobrados e Mucambos: Decadencia e Patriarch ado Rural no Brasil, Sao<br />

Paulo.<br />

Gerhards, Jiirgen (1993): Neue Konjliktlinien in del' Mobilisierung ojJen/ficher Meinung,<br />

Opladen.<br />

Gerhards, J.; Neidhardt, F. (1990): Strukturen und Funktionen moderner Offentlichkeit - Fragestellungen<br />

und Ansatze, WZB, Berlin, Paper FS III 90-10 I.<br />

Habermas, 1. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M, Bd. 2.<br />

Habennas, J. (J 985): Der nOlTI1ative Gehalt der Moderne, in: deI'S., Del' philosophische Diskurs<br />

del' Moderne, Frankfurt/M, 390-425.<br />

Habermas, J. (J 990): Neues Vorwort, in: deI'S., Strukturwandel del' OjJentlichkeit, Frankfurt/M,<br />

11-50.<br />

Habermas, J. (I 992a): Volkssouveranitiit als Verfahren. Ein normativer Begriff del' Offentlichkeit<br />

(Originalerscheinung: ] 989), in: deI'S., Die Moderne - ein ul1vollendetes Projekt.<br />

Leipizig, 180-212.<br />

Habermas, 1. (J 992b): Drei nOlmative Modelle del' Demokratie: Zum Begriff deliberativer<br />

Politik, in: Miinkler, H. (Hrsg), Die Chancen del' Freiheit - Grundprobleme del' Demokratie,<br />

Miinchen, 11-24.<br />

Habermas, J. (1992c): Faktizitat und Geltung. Beitrage zur Diskurstheorie des Recht~ und des<br />

demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M.<br />

Herscovici, Alain (1995): La Rede Globo: les paradoxes de la modernite, in: Schneier­<br />

Madanes, G. (Hrsg), L 'Amerique Latine et ses Televisions - Du Local au Mondial, Paris,<br />

22-42.<br />

Lima, Venicio L. (1993): Brazilian Television in the 1989 Presidential Campaign: Constructing<br />

a President, in: Skidmore, T. (Hrsg), Television, Politics, and the Transition to<br />

Democracy in Latin America, Washington, 97-117.<br />

Magnani, 1. G. C. (1984): Festa no Pedar;o - Cultura Popular e LazeI' na Cidade, Sao Paulo.<br />

Merz, Martin & Wernicke, Christian (1995): Die neue Internationale, In: Die Zeit, Nr. 35,<br />

25.08.95, 9- I 2.<br />

Miceli, Sergio (J 989): 0 papel dos meios de comunica9ao de massa no Brasil, Textos IDESP,<br />

Nr 30.<br />

Michahelles, Kristina, Leite, Marcelo (J 994): Presse, Funk, Fernsehen in Brasilien, in:<br />

Briesemeister, D. (Hrsg), Brasilien heute: Politik, Wirtschaft, Kuitur, Frankfurt, 564-<br />

575.<br />

Motter, Paulino (1994): 0 Uso Politico das Concessoes de Emissora de Radio e Televisao no<br />

Governo Sarney, in: Comunicar;ao e Politica (Nova Serie), Bd. 1, Nr.I, 89-116.<br />

Navarro, Sander (1994): Democracy, Citizenship and Representation: Rural Social Movements<br />

in Southern Brazil, 1978-1990, in: Bulletin Latin America Research, Vol. 13, Nr.2,<br />

129-154.<br />

Neidhardt, F. (J 994): Offentlichkeit, iiffentliche Meinung, soziale Bewegungen, in: Kainer<br />

Zeitschriflfur Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34,7-41.


Medien, ZivilgeselischaJt und »Kiez«: politische OJJentlichkeit in Brasilien 631<br />

O'Donnell, Guillemlo (1993): Sobre 0 Estado, a Democratiza9ao e Algums Problemas Conceituais.<br />

Uma visao Latino-Americana com uma nipida olhada em alguns paises p6scomunistas,<br />

in: Novos Estudos, Nr. 36, 123-146.<br />

Oliveira Pinto, T. (1986): Candomble, in: del's. (Hrsg): Brasilien. Einfuhrung in Musiktraditionen<br />

Brasiliens, Mainz, 160-175.<br />

Oliveira Vianna, Francisco Jose (1942): Pequenos Estudos de Psychologia Social, Sao Paulo,<br />

3. erw. Auflage.<br />

Pfetsch, Barbara (1994): ThemenkalTieren und Politische Kommunikation, in: Aus Politik und<br />

Zeitgeschichte, B39/94, 11-20.<br />

Prandi, Reginaldo (1992): Perto da Magia, Longe da Polilica, in: Novos Estudos, Nr. 34,<br />

81-91.<br />

Radel, U.; Frankenberg, G.; Dubiel, H. (1989): Die demokratische Frage, Frankfurt/M.<br />

Ruehl, D. (1988): Gegenoffentlichkeit und Gegenexpertise, in: ZeitschrijJi fur Rechtssoziologie,<br />

Nr. 2, 291-305.<br />

Sader, Eder (1988): Quando Novos Personagens Entraram em Cena, Rio de Janeiro.<br />

Santos, W. G. (1993): RaziJes da Desordem, Rio de Janeiro, 2. Auflage.<br />

Scherer-Warren, l. (1993): Novos Movimentos Sociais, A Construccao da Cidadania e 0 Papel<br />

dos Mediadores, in: del's., Redes de Movimentos Sociais, Sao Paulo, 49-64.<br />

Schiirger, W. (1994): 'Gottes Erde, Land fur aile' - Landprobleme in Brasilien und die Rolle<br />

der Kirche, in: Schelsky, D. & Zoller, R. (Hrsg.), Brasilien. Die Unordnung des Fortschritts.<br />

Frankfurt/M.<br />

Silva, Carlos E.L. (1986): Las Brechas de la Industria Cultural Brasileiia, in: Festa, R. u.a.,<br />

Comunicacion Popular y Alternativa, Buenos Aires, 33-52.<br />

Silva, Carlos E. L. (1991): 0 Adiantado da Hora: A Injluencia Americana sobre 0 Jornalismo<br />

Brasileiro, Sao Paulo.<br />

Straubhaar, J.D. (1989): Television and Video in the Transition from Military to Civilian Rule<br />

in Brazil, in: Latin America Research Review, Vo1.24, Nr.l, S. 140-154.<br />

Touraine, A. (1989): Palavra e Sangue. Politica e Sociedade na America Latina, Sao Paulo.<br />

Vigevani, Tullo (1989): Movimentos Sociais na Transi~ao Brasileira: A Dificuldade de EJabora9ao<br />

de urn Projeto, in: Lua Nova, Nr. 17, 93-109.<br />

Viola, E.; Nickel, J. (1994): Integrando a Defesa dos Direitos Humanos e do Meio Ambiente:<br />

Liyoes do Brasil, in: Novos Estudos, Nr. 40, 171-184.<br />

Wilke, J. (1992): Massenmedien in Brasilien, in: ders., Massenmedien in Lateinamerika,<br />

Frankfurt, Bd. I, 83-141.<br />

Zaluar, Alba (1985); A Maquina e a Revolta - As Organizar;:oes Populares e 0 Significado da<br />

Pobreza, Sao Paulo.


Forum theoreli5ch orientierler und Diskussion zu der Dritten Welt<br />

PERI PH ERIE versteht sich als Forum der Diskussion uber<br />

die<br />

zwischen den Industrielandern und der "Dritten Welt« sowie Ober<br />

die Solidaritat mit<br />

Unser Interesse richtet sich<br />

insbesondere auf:<br />

rnh,,,,.


Universitat ,-",.,,,,,,,, ... , Fakultat fur<br />

Social<br />

Internationale<br />

and Social Servi.ce Work<br />

13.-15. Marz in Bielefeld<br />

Vor dem gesellschaftlicher mit ihren<br />

Tendenzen der Segregation und Individualisierung hat die Frage nach "Social<br />

sowie sozialen Burgerrechten in den Diskussionen uber die Perwohlfahrtsstaatlicher<br />

Politik auf intemationaler Ebene wachsende<br />

Beachtung<br />

Die damit implizierte Verlagerung des theoretischen<br />

Schwerpunktes von "Arbeit" auf hat erhebliche fur die<br />

Soziale Arbeit, die einer grundlegenden Analyse bedurfen.<br />

Nicht nur im Hinblick auf eine kritische Uberprufung theoretischer Konzeptionen<br />

sozialer Arbeit, sondem auch fur die Entwicklung und Neuorientierung der<br />

Theorie sozialer Dienstleistungsarbeit wird davon ausgegangen, daB die Diskussion<br />

uber Social Citizenship und soziale Biirgerrechte eine produktive Herausforderung<br />

darstellt.<br />

Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Fachtagung<br />

"Social Citizenship and Social Service Work" ist die erste ihrer Art in Europa.<br />

Ihr Ziel ist es, die intemationale Diskussion mit ihren verschiedenen analytischen<br />

Zugangen und theoretischen Ansatzen fur eine Theorie sozialer Dienstleistungen<br />

fruchtbar zu machen. Dazu sollen die verschiedenen Aspekte des<br />

Verhiiltnisses von "Social Citizenship" und Sozialer Arbeit auf systematischer,<br />

organisationeller, professioneller sowie politischer Ebene identifiziert und diskutiert<br />

werden.<br />

Fuhrende Vertreter verschiedener aus den<br />

Staaten, Grof3britannien und der Bundesrepublik werden zum Thema referiereno<br />

Die Tagung wird in englischer Sprache dUJrchgeJ:u<br />

Nahere Informationen:<br />

Prof. Dr.Dr. h.c. Hans-Uwe Otto/Dr. Andreas Schaarschuch<br />

Universitat Bielefeld, Fakultat fur Padagogik, AG 8, Postfach 100131,<br />

33501 Bielefeld, Tel. 0521-106-4375, Fax. 0521-106-6028,<br />

E-mail: andreas.scharschuch@post.uni-bielefeld.de


634<br />

Zu den Autodnnen<br />

Sergio Costa ist Soziologe und arbeitet an del' UFSC Mestrado em Sociologia, c.P. 476,<br />

88040-900 Florianopolis, SC, Brasilien.<br />

Michelle Everson ist luristin am Department of Law, European University Institute, Florenz.<br />

Eric Hershberg ist Soziologe und arbeitet am Social Science Research Council, 810 7th Ave,<br />

New York, NY 10019 USA.<br />

Jane Jenson ist Politikwissenschaftlerin am Departement de Science Politi que, Universite de<br />

Montreal CP 6128, suce. centre-ville Montreal, Canada H3C 317.<br />

Susan D. Phillips ist Politikwissenschaftlerin an del' School of Public Administration, Carleton<br />

University, 1225 Colonel By Drive, Ottawa, Canada Kl S 5B6.<br />

Ulrich K. Preuj3 ist Jurist und lehrt am Faehbereich Politische Wissenschaft der FU Berlin,<br />

lhnestr. 2 J, J 4 I 95 Berlin.<br />

Klaus-Dieter Tangermann is! Politikwissenschaftler und lebt in Jenaerstr. 11, 10717 Berlin.<br />

Antje Wiener ist Politikwissensehaftlerin am Sussex European Institute, University of Sussex,<br />

A 62, Falmer, Brighton BNl 9QN, UK.


4<br />

Antje Wiener: Citizenship without State. This paper addresses the conceptual challenge to<br />

citizenship in the aftermath of Maastricht and discusses citizenship in a non-state. It argues<br />

that Union citizenship will not only lead to debates over the application of the citizenship<br />

provisions in the EU Member States, but it will also remain a subject of continuous political<br />

tension over rights to participation. The paper advances a socially constructive perspective on<br />

citizenship as a contextualised practice which entails the construction of rights, access and<br />

belonging as the historical elements of citizenship.<br />

Jalle Jellsoll, Susall Phillips: Redesignillg the Citizenship Regime. The article presents a<br />

conceptualisation of 'citizenship regime' created out of a neo-institutionalist approach to<br />

political economy and then uses the concept to examine changes in the Canadian citizenship<br />

regime over time. The basic proposition is that if the postwar years were marked by regimelike<br />

discursive and practical coherence in a wide range of institutional connections between<br />

state and citizens, states' and citizens' responses to the economic and political conditions of the<br />

late 20th century are dismantling and reconstituting citizenship, so that the postwar regime<br />

exists no more.<br />

Ulrich K. Preufi, Michelle Everson: Concepts of Citizenship in Europe. The paper poses<br />

the concept of Union citizenship as problematic and discusses possible conceptual changes to<br />

the concept of citizenship. Its goal is to clarify the historical, sociological, cultural, legal and<br />

political contexts which provide the frameworks for particular meanings of citizenship in<br />

selected Member States of the EU. To that end it starts from the hypothesis that the term<br />

'citizenship' CBiirgerschaft', 'citoyennete', ' cittadinanza') has a broader meaning than the<br />

strictly legal term 'nationality'. It largely follows an approach which focuses on the social<br />

character of (political) language.<br />

Klaus-Dieter Tangermann: Politics in Democracies without a democratic sovereign. In<br />

the last years the consolidation of the central American democracies did not succeed because<br />

the usual symbolic forms of political behaviour in consolidated democracies did not<br />

correspond to the traditional participatory modes of political articulations in Central America.<br />

Without the institutional recognition of these forms of participation representation of the<br />

interests of the poor majorities remain excluded from the sphere of political decision.<br />

Eric Hershberg: Democratic Transition and Social Democracy in Spain. The author<br />

argues that the Spanish transition from authoritarianism to liberal democracy as well as the so<br />

called social democratic approach to modernization have been stylized into ideal types in the<br />

Weberian sense of the term. The Spanish model has garnered widespread attention. Its<br />

influence transcends the academic sphere, as Spain has provided political elites across the<br />

world with a model of regime change, especially in Latin America and Eastern Europe, where<br />

observers are intrigued both by the facility with which transition took place and by Spain's<br />

reencounter with the prosperous zones of Western Europe. These idealizations are confronted<br />

with the real costs of Spains transition and the democratic deficits of the Spanish Socialists<br />

management of crisis.<br />

Sergio Costa: Media, civil society and neighbourhood in Brazil. Although clientele<br />

oriented loyalities dominate the mass medias, there is a process of transformation in the<br />

structures of brazilian public. Neighbourhood-based »small public« has an important function<br />

in this process. Media are of increasing importance for the gaining of political legitimacy.


Karl Marx Gesellschaft e.V.<br />

Ein1adung zum wissenschaftlichen<br />

Kritik uod lie~gelll§tanl[1S~(olllsntutiOn<br />

14.-16.3.1997 in Oer-Erkenschwick<br />

1m Zentrum des Colloquiums steht die Frage, in welchem Verhaltnis die von<br />

Marx beanspruchte »Kritik« der Kategorien der klassischen politischen Okonomie<br />

zu seiner eigenen Darstellung kapitalistischer Produktionsverhaltnisse<br />

steht.<br />

Anmeldung bei: Diethard Behrens, Wielandstr. 39,60318 Frankfurt/M.<br />

Tel.: 069 I 592485<br />

l!..verlag 2000 pf 10


Themen friiherer Mefte<br />

<strong>Prokla</strong> 104 * Universitat 1996) Bultmann Standortgerechte Dienstleistungshochschule *<br />

Pasternack Osthochschulen * Politische Orientierung von Studierenden * Oberndaifer Studentische<br />

Politik oder politische Studentinnen * Thiirmer-Rohr Nonnale und nicht-nonnale Diskurse *<br />

Krippendorfldee der Universitat * Spear Entdemokratisierung der hOheren Bildung in den USA * Fischer<br />

Think Tanks und Politikberatung in den USA<br />

PROKLA 103 * Vom Gelde (Jl.mi 1996) Guttmann Transfonnation des Finanzkapitals * Heine/Herr<br />

Money makes the World Go Round * Rojas Elektronisches Geld im globalen Datennetz * Altvater<br />

Globale Finanzinnovationen, privates Computergeld und sozialisierte Schulden * Werner Geldwasche<br />

* Narr/Roth Demokratie und Sozialismus (Teil 2)<br />

PROKLA 102 * :lUI' politiscilen Okonomie des Wassel's (Mar;;: 1996) Albrecht Krieg urn Wasser? *<br />

Biennann Mensch und Meer * Guy/Marvin Privatisierung der Wasserversorgung in England * Dombrowsky/GottschalkiMazouz<br />

Wasserverteilungskonflikte im lordanbecken * Ziebura Globalisierter<br />

Kapitalismus: chancenJose Linke? * Hopf Ethnozentrismus und Okozentrismus * Bode Der franzosische<br />

Herbst und die Krise der Linken<br />

PROKLA 101 * Kapitalistisclie Kllltliren (Dez.1995) Eisenstadt Japan und die VieIfalt kultureller<br />

Programme der Moderne * Lee Singapur: ein »konfuzianischer Kapitalismus«? * Hopfmann Transformation<br />

und Weltmarktintegration Osteuropas * Radice GroBbritannien: Niedergang der Nation, Erfolg<br />

des Kapitalismus? * Kassler Tradition und Reproduktion * Hornbostel/Hausmann Neue Volkspolizisten<br />

oder Schandi zum Anfassen? * Garg Replik auf Scherrer (in Nr. 100) * Autorenregister Nr. 1-100<br />

PROKLA 100 * Ortsoestimmung (Sept.1995) Lorek 25 Jahre PROKLA * Zeuner »Probleme des<br />

Klassenkampfs« im Betrieb * O'Connor Kapital, Arbeit und Biirokratie im Zeitalter des Nationalismus<br />

* lngrao/Rossanda Die neuen Widerspriiche * Nan-/Roth Demokratie und Sozialismus * Scherrer Diskursanalytische<br />

Kritik der Regulationstheorie " Miiller-Plantenberg Vom Soziologen zum Staatsprasidenten:<br />

F.H.Cardoso<br />

PROKLA 99 * Verteihmgsfragen (Juni 1995) Vesper Steuem, Staatsausgaben, Umverteilung "<br />

Schamann Alters- u. geschlechtsspezifische Verteilung der Arbeitseinkommen * GanjJmann/McArthur<br />

Arbeitslosigkeit und Einkommensverteilung * Wahl Geschlecht und Arbeitsmarkt " Barrry 1st soziale<br />

Gerechtigkeit eine Illusion? * Gordon Die Mainstream-Okonomie und die Wirtschaftspolitik * Schmidt<br />

Von der Standortkonkurrenz zur intemationalen Regulation? * Boris Das Scheitern neoliberaler Politik<br />

in Mexiko (1982-1994)<br />

PROKLA 98 * Italienische Verhaltnisse (Miirz 1995) Ginsborg Die italienische Krise * Piantini<br />

Forza Italia und PDS * D'Amato/Schieder Lega Nord * Violante Mafia * Cazzola Von der ersten zur<br />

zweiten Republik * Rieser Italienische Gewerkschaften * Sales Norden und Sliden * Kammerer Pasolini<br />

und die italienische Krise * Przeworski Transfonnation in Osteuropa<br />

PROKLA 97 * Netzwerke zwischen Staat und Markt (Dez. 1994) Altvater Operationsfeld Weltmarkt<br />

* Lechner Marktgesellschaft und die Veranderung von Politikll1ustern * Messner Fallstricke und<br />

Grenzen der Netzwerksteuerung * Zaschke lnternationale Sozialpolitik als Netzwerkpolitik? * Walk;<br />

Brunnengraber Nicht-Regierungsorganisationen und Netzwerke * Lang Geschlechterforschung, Postmoderne<br />

und die Wissenschaft von der Politik<br />

PROKLA 96 * Fllmlamentalismus um! neue Religiositiit<br />

Identitat * Niethammer Konjunkturen und Konkurrenzen<br />

1994) Schmidt Die Sehnsucht nach<br />

Identitat * Thiessen Kapitalismus<br />

als Religion * Elkins Rent-Seeking. Die politische Theorie des neoklassischen Fundamentalismus *<br />

Patterson Der neue Puritanismus * Lukes Fiinf Fabeln tiber Menschenrechte * Avineri Die Riickkehr<br />

zum Islam * LohaufJ Fundamentalismus und modeme Identitat * Wellhaner Wirtschaftliche Sachzwange<br />

der Weimarer Republik


PROKLA 95 * Intemationale Institutionen 50 Jahre naen Bretton Woods (Juni 1994) Altvater<br />

Die Ordnung rationaler Weltbeherrschung * Bntclaneier Nichtstaatliche Umweltorganisationen " Albrecht<br />

Weltordnung und Vereinte Nationen * Hugler Sicherheitsstrukturen nach dem Ende des Ost­<br />

WestKonfliktes * Aguirre Die Politik der Militarintervention * Gabellrak, Somalia, JugosJawien *<br />

Scherrer Kritik am neorealistischen Paradigma intemationaler Beziehungen * Narr Zur Rechtstheorie<br />

von Habermas und Luhmann (Teilll)<br />

PROKLA 94 * Politik in Deutschland (Miirz 1994) Hubner Zur politischen Okonomie des doppelten<br />

Deutschland * Fischer Zuwanderung und Sozialstaat * Young Asynchronitaten der deutsch-deutschen<br />

Frauenbewegung * Berlit (K)eine Verfassung fur Deutschland? * Narr lur Rechtstheorie von Habermas<br />

und Luhmann (TeiJ I) * Hahn Allgemeine G1eichgewichtstheorie und die Transformation zentral<br />

geplanter Wil1schaften * Stark Rekombiniertes Eigentum im osteuropaischen Kapitalismus * Schabakker<br />

Zur Aktualitiit Sraffas<br />

PROKLA 93 * Frauen ill del" Okollomie (Dezember 1993) Elson Feministische Entwicklungsokonomie<br />

* Maier Geschlechtsspezifische Konstruktion der Wirtschaftswissenschaft * Hickel Joan Robinson<br />

* Schmidt Mechanisierung und Geschlechterverhaltnis * Schwarzkopf Soziale Konstruktion der<br />

Qualifikation * Pfau-Effinger Geschlechteremanzipation und Arbeitsmarktintegration * Wehling<br />

Postindustrialismus als okologische Utopie?<br />

PROKLA 92 * Die Linke in Europa (September 1993) Denitch Lemen aus Jugoslawiens Tod * Lipietz<br />

Politische Okologie und Arbeiterbewegung * Rossanda!Natoli Was ist los in Italien? * M. Mayer<br />

Die deutsche Neue Linke im Spiegel der USA * Amin AuBenansicht der europiiischen Linken * Schunter-Kleemann<br />

Geschlechterdifferenz in der Debatte zm europiiischen Union? * Rattger EG-metropolitane<br />

Integration * Demirovic Intellektuelle und kritische Gesellschaftstheorie heute.<br />

PROKLA 91 * »Neues Delltschland« (JUDi 1993) Ganfimann Einigung als Angleichung? * Berger<br />

Sozialstruktmelle Umbruchsdynamiken * Herz Politische Kultur im neuen Staat * Muller Oer Mythos<br />

vom faulen Ossi * Schlegelmilch Deutsche Lebensalter * Kadritzke Ein neuer Expertentyp? * Bonder!<br />

Rattger!Ziebura Vereinheitlichung und Fraktionierung in der Weltgesellschaft<br />

PROKLA 90 * Regionalisierung des Weltmarkts (Miirz 1993) Holloway Globales Kapital und nationaler<br />

Staat * Picciolo Krise des intemationalen Staats * Jiihner Migration - Asyl - Auslanderfeindlichkeit<br />

* Knieper Staat und Nationalstaat * Smith Neoliberalismus in Slidamerika * Dieter Asiatischpazifischer<br />

Wirtschaftsraum * Dussel Peters Jr. lur NAFT A<br />

PROKLA 89 * Osteufopiiische Metamorphosen (DezemiJer 1992) Burawoy!Krotow Ubergang vom<br />

Sozialismus zum Kapitalismus in der fruheren Sowjetunion * Hubner Okonomische Theorie und ostemopiiische<br />

Transformation * Wittkowky Altemativen zu Schocktherapie und Verschuldung * Tittenbrun<br />

Der polnische Weg zum Kapitalismus * Ganfimann Oer nationale Sozialstaat und die deutschdeutsche<br />

Solidaritat * Bergmann Modemes Menschenopfer * Hermann Oer Fotus von Erlangen.<br />

PROKLA 88 * Chaos und Selbstorganisatioll (SeptemiJer 1992) Miiller: »Katastrophen«, »Chaos«<br />

und »Selbstorganisation« * Rojas Chaos als naturwissenschaftliches Paradigma * Mirowski Die Bedeutung<br />

eines Dollars * Gill Metaphem der Gentechnologie * Becker!Jahn!Wehling Konzepttransfer und<br />

Wissenschaftsdynamik * LohaufJ Toulmins »Kosmopolis« * O'Connor Die Okonomie der 90er Jahre *<br />

Keil Replik auf O'Connor * Ibrahim Islamistischer Fundamentalismus.<br />

PROKLA 87 * Nationalismlls am Elide des 20. Jahrhunderts (Jllili 1992): Kadritzke Wiederkehr<br />

des Nationalismus * Lodovico Konstruktion des Nationalen * Janigro Scheitem des »Jugoslawismus«<br />

* Stalting Angst, Agression und nationale Denkform * Gellner Nationalismus in Osteuropa * Magas<br />

Erwiderung auf Gellner * Haferkamp Giddens Theorie des Nationalstaats * MoujJe/Walzer<br />

»Communitarians« * Narr Communitarians: lahnlose Kritik * Ottow »Freundschaft« in der burgerlichen<br />

Gesellschaft * Mayer Aufstand in Los Angeles.<br />

Erhiiltl. beim Verlag Westj. Dumpjboot, Dorotheellstr. 26u, 48145 Munster, Tel.: 0251 - 6086080


Von der Entstehungsgeschichte<br />

her ein 68'er Projekt ist Forum<br />

Wissenschaft seit nunmehr 13<br />

Jahren das einzige kritische Wissenschaftsmagazin<br />

auf dem deutschen<br />

Zeitschriftenmarkt. Nicht<br />

nur Geistes- und Sozialwissenschaften,<br />

sondern insbesondere<br />

Wissenschaftspolitik, Forschungsund<br />

Technologiepolitik und neue<br />

Technologien werden kritisch begleitet<br />

und kommentiert. Neben<br />

den jeweiligen Heftschwerpunkten<br />

und Einzelbeitragen zu verschiedenen<br />

Themen bietet der<br />

Magazinteil Nachrichten, Berichte,<br />

Rezensionen, das Frauenmagazin<br />

und die allseits beliebte Zahlentafel,<br />

die den alltaglichen Wahnsinn<br />

q uantifiziert.<br />

Wissensc:haft<br />

Wissenschaftsmagazin<br />

Themen 1996:<br />

@ Elegriff Lind Realitiit der Illformatiollsgesellschaft<br />

(1/96) @ Beitrage von H.-J. Kleinsteuber, Ursula Maier-Rabler, Rudi<br />

Schmiede, Uwe Afemann, Michael Paetau u.a. e Weitere Themen: Gleichstellungspolitik<br />

I Ethik Iinternationaies I Hochschulpolitik<br />

.. Jenseits des Sozialstaats (2/96) e Beitrage von H.-J. Urban, Oskar Negt, H.-J. Bieling,<br />

w.-o. Narr, Armin Stickler und Christoph Spehr. 0 Weitere Themen: Bioethik I Hochschulpolitik<br />

Iinformationsgeselischaft I BSE<br />

" Wissenschaft (3/96) Die Zurichtung der Wissenschaft auf den<br />

Markt .. Beitrage von u.a.. H. Ackermann, H. Kuni, P. Kolditz, J. Hanisch, P. Dippoldsmann"<br />

Weitere Themen: Oiskussion des Historisch-Kritischen Worterbuch des Marxismus<br />

I Hochschulpolitik I Wirtschafts- und Wahrungsunion<br />

.. Patriarchatsforschul1g (4/96, erscheint im November) • Beitrage von A. Heiliger, L<br />

Blattmann, A. Heide-Albrecht, A. Jung, A. Kurth, F. Haug und Chr. ThOrmer-Rohr 9 Weitere<br />

Themen: Natur und Naturbeherrschung I Goldhagen-Debatte<br />

Forum Wissenschaft erscheint vierteljahrlich, das Einzelheft kostet 12,50 OM,<br />

Jahresabonnement 48 OM. Kennenlern-Paket (drei Nummern der letzten Jahrgange,<br />

Themeninteressen angeben) fur 100M inkl. Porto<br />

forum Wissenschaft, Pn,ci't~~<br />

fon 06421-21395, fax


Herausgegeben von: Uwe Andersen, Gotthard Breit, Klaus-Peter Hufer,<br />

Peter Massing, Wichard Woyke<br />

DasPro'P" ,<br />

antw, adeUltkum<br />

, orlet aUf di '<br />

Wlederkeh e Immer<br />

W' rende F.<br />

t fChtiger Litera! rage nach<br />

en, Hi/fsmiltet. ur, ZeitsChrifi.<br />

des Wissen n, Techniken<br />

Arbeiten sChaftlichen<br />

Zitati s, Bibllogra'Ph'<br />

onsWeis len,<br />

Geste/iu e, forme/e<br />

ist ti" ng von Ar." ,<br />

Ur Pol.l''C,_, veiten c-<br />

L lln.WIS 't.::S<br />

ehrer, StUd,' senScheftler<br />

SChUler (S ferende und '<br />

standi ek. II) ein<br />

B gerund n"<br />

egleiter. utZlicher<br />

Eine<br />

ISBN 3-87<br />

70 Seiten 920-595_7<br />

OM 16,80<br />

NEUERSCHEINUNGEN:<br />

• Strukturen internationaler Politik -<br />

Globalisierung und Fragmentierung<br />

(ISBN 3-87920-596-5)<br />

Die Bedeutung des Grundgesetzes fUr die<br />

Bi/dung (ISBN 3-87920-598-1)<br />

e Soziale Marktwirtschaft unter neuen Rahmenbedingungen<br />

(ISBN 3-87920-597-3)<br />

@ Lebensweft und Politik (ISBN 3-87920-594-9)<br />

e Das Demokratiemodell der<br />

Deutschland(ISBN 3-87920-593-0)<br />

• F6deralismus in Deutschland - neue<br />

Herausforderungen (ISBN 3-87920-593-0)<br />

Sozialstaatsprinzip und Demokratie<br />

(ISBN 3-87920-591-4)<br />

In jed em Band der uni studieD politik fOhren<br />

kompetente Fachwissenschaftler in den Themenschwerpunkt<br />

kontrovers und problemorientiert ein.<br />

Jetzt neu erschienenen: • Jeder Band nur DM 16,80


1996 - 637 S. - OM<br />

ISBN 3-929586-75-4<br />

- aS 423 - SFR<br />

"Elmar Altvater und<br />

haben ein wichtiges Buch vorgelegt. Es<br />

ist unverzichtbar fOr aile, die sich kritisch mit den globalen Problemen unserer<br />

Zeit befassen." Klaus Am Abend vorgestelltlWDR<br />

"Oieses Buch wird ohne Zweifel zu den graBen BOchern gerechnet werden .<br />

... GewiB wird aber auch der, der in manchen Fragen eine andere Aufassung<br />

hat, sich mit diesem Buch befassen mOssen, wenn er seine eigenen Auffassungen<br />

ernsthaft prOfen, vor allem wenn er Ober die Weltzustande liefen AufschluB<br />

gewinnen will." Nick Neues Deutschland<br />

und<br />

1996 - 357 S. - DM<br />

ISBN 3-929586-84-3<br />

350 - SFR<br />

Oorotheenstr. 26a . 48145 MOnster' Tel. 0251 16 08 60 80<br />

Telefax 0251 16 08 60 20· http://www.login1.com/dampfboot


--'-------- .... ~<br />

r---<br />

~I<br />

~ illD AbO •<br />

I<br />

\ la iell miiehte I<br />

\ 1~ Tage kostenlos probe esen.<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

junge Welt<br />

~I<br />

~I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

I<br />

. W It Am Treptower Park 28-30. ~<br />

I Einsenden an:lung e • • 030/68834-343. I<br />

" 12435 Berlin. Oder per Fax _____________ ,<br />

~-------------<br />

Zeitschrift fUr<br />

so:dalistische Politik<br />

im Bildu:n~~'-, Ges'Ondheits-<br />

'Ond Sozialbereich<br />

Probeabo: Fur einen 20-DM-Schein senden wir Ihnen 2 aktuelle<br />

Ab~:escllwut null mitg:ebllllli.<br />

Zorn Elmog des QwwHtat.smIUlllge,mtmts in Soziale Arbeit: Bauer: Uber Dienstleistungen,<br />

QualiUit und QualiHitssicherung • Rose: Zur Qualitatsdebatte in Sozialer<br />

Arbeit aus Sieht der J ugendhilfe. Lindenberg: Soziale Arbeit im Qualitatsregelkreis<br />

kybernetischer • Subjekttheoretische Uberlegungen zur ProzeBqualitat<br />

in helfenden Beziehungen. Dietz: Pflege nach SGB XI: Standortbestimmung<br />

zum Qualitatsauftrag pfleg. Dienstleistung. Lindenberg: Gesprach mit Bernd<br />

Maelicke tiber Qualitatssicherung als Bestandteil von Reformpolitik im "'''. (WI ULILU>!<br />

• Anerkennung: Ein Grundbegriff der Reflexion normativer Probleme<br />

der Sozialen Arbeit? Rezensionen. Heft 61,164 S., DM 20,-<br />

Bez'Ogsbedingungem Jiihdkh 4 Hefte, Jahresabo W: 63,- DM, Eimelheft<br />

DM I 0: 40,- DM, Emzelheft 10,- DM, Studentlnnenabo 40,- DM<br />

Verlag<br />

63020 Offenbach


Geschichte des<br />

Widerstandes und der Arbeit<br />

Heft 14 ISBN 3-88663-414-0 500 S. DM 30,- enthiilt l1.a.:<br />

Peter Kuckuk: Syndikalisten und Kommunistische Arbeiterpartei in Bremen<br />

Hartmut Riibner: Anarchosyndikalismus in Norddeutschland bis nach 1933<br />

Georg Scheuer: Der "andere" Widerstand in Frankreich (1939-1945)<br />

Walter Mehring: Der Freiheitssender. Horspiel<br />

Dirk Hei8erer: Wagnis Freiheit. Literarische Deserteure im 20. Jahrhundert<br />

Karl KJockner/Martin Finkbeiner: Feuerbachthesen. Kautsky<br />

Jacques Wajnsztejn: Wert ohne Arbeit<br />

Rezensionen und Hinweise<br />

Abonnements (20% billiger) und Bestellungen tiber die Redaktion (die Hefie 1 - 13<br />

sind noch erhaltlich): c/o Wolfgang Braunschadel, Hustadtring 33, 44801 Bochum<br />

oder tiber den Buchhandel<br />

Jilrgen Ritsert<br />

in<br />

der Sozialwissenschaften<br />

496 - SFR 68,00 - ISBN 3-929586-74-6<br />

Vom Feudalsystem bis zur Vereinigung der beiden deutschen<br />

Staaten 1990<br />

1996 - 593 S. - DM 68,00 - 6s 496 - SFR 68,00 - ISBN 3-929586-72-X<br />

PFBOOT'<br />

Dorotheenstr. 26a' 48145 MOnster' Tel. 02 51/6 08 60 80<br />

T elefax 0251/6 08 60 20· http://www.login1 .com/dampfboot


Zur<br />

des Wasscrs<br />

PROKLA-Redaktion: Zurpolitischen des Wassers ................... 2<br />

Ulrich Albrecht: Krieg um Wasser? ............................................................ 5<br />

Frank Biermann: Mensch und Meer. Zur sozialen Aneignung der Ozeane .. 17<br />

Simon Simon Marvin: Wasser als Ware. Die<br />

der Wasserversorgung in GroBbritannien ................................................. 37<br />

Ines<br />

Niels Gottschalk, Nadia Mazouz: Recht auf Wasser?<br />

Verteilungskonflikte im Jordanbecken ..................................................... 63<br />

Gilbert Ziebura: Globalisierter<br />

chancenlose Linke?<br />

Eine Problemskizze ................................................................................... 85<br />

Wulf Hop! Ethnozentrismus und Okonomismus. Die »Leistungsgesellschaft«<br />

als Deutungsmuster fur soziale Ausgrenzung ................... 107<br />

Ingo Bode: Wege zur Solidaritat. Der franzosische Herbst und die<br />

Krise der Linken ...................................................................................... 131<br />

103: Vom<br />

PROKLA-Redaktion: Vom Gelde ........................................................... 162<br />

Robert Guttmann: Die Transformation des Finanzkapitals ..................... 165<br />

Michael Heine, Hansjorg Herr: Money Makes the World Go Round<br />

Ober die Verselbstandiglmg der Geldsphare und andere MiBverstandnisse 197<br />

Raul Rojas: Elektronisches Geld im globalen Datennetz ........................ 227<br />

Elmar Altvater: Globale Finanzinnovationen, privates<br />

Computergeld und sozialisierte Schulden ............................................... 241<br />

Thomas Achim Werner: Geldwasche - die okonomische Dimension<br />

unbekannter Gefahren ............................................................................. 259<br />

Wolf-Dieter Narr, Roland Roth: Wider die verhiingnisvolle neue<br />

Bescheidenheit:<br />

ohne Alternative (Teil 2) ... aber:<br />

Haben wir sozialistischen Theoretiker etwas auf def Pfanne? ................ 283<br />

104: Universitiit<br />

PROKLA-Redaktion: Die Universitaten: »Im Kern verrottet«<br />

oder das was wir derzeit haben? ................................................... 3 18<br />

Torsten Bultmann: Die standortgerechte Dienstleistungshochschule ..... 329<br />

Peer Pasternack: Osthochschulen ........................................................... 357<br />

Alex Demirovic: Die politische Metapher links und<br />

die politischen Orientierungen von Studierenden ................................... 371<br />

Ralf Oberndorfer: Studentische Politik oder politische StudentInnen? ... 395


645<br />

Christina Thiirmer-Rohr: NOffi1ale und nicht-normale Diskurse.<br />

Zur der Universitiit ......................................................................... 415<br />

Ekkehart<br />

Wiener: Editorial. Fragmentierte .................... .488<br />

Antje Wiener: (Staats)Burgerschaft ohne Staat. Ortsbezogene<br />

UdeJl/Juuvmnuu,,,,,,, am Beispiel der Union ................... .497<br />

Susan Phillips: Staatsburgerschaftsregime im Wandel<br />

- oder: Die wird zu Markte getragen.<br />

Das Beispiel Kanada ............................................................................... 515<br />

Ulrich K. Preuj3, Michelle Everson: Konzeptionen von<br />

in Europa .......................................................................... 543<br />

Klaus-Dieter Tanger/nann: Politik in Demokratien ohne<br />

demokratischen Souveriin. Das Scheitem der demokratischen<br />

Konsolidierung in Mittelamerika ............................................................ 565<br />

Eric Hershberg: Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in<br />

Spanien. Kritische Uberlegungen zur Konstruktion von Idealtypen ....... 595<br />

Sergio Costa: Medien, Zivilgesellschaft und »Kiez«. Kontexte des<br />

Aufbaus der politischen Offentlichkeit in Brasilien ................................ 611<br />

Ulrich: Krieg urn Wasser? ........................................................... 5<br />

Elmar: Globale<br />

~W" ,..,~"~ und sozialisierte Schulden ............................................... 241<br />

KIPrn117nn Frank: Mensch und Meer. Zur sozialen der Ozeane . 17<br />

lngo: zur Solidaritiit. Der franzosische Herbst und<br />

die Krise der Linken ................................................................................ 131<br />

Ull,rrtUfm. Torsten: Die standortgerechte Dienstleistungshochschule .... 329<br />

Costa, Sergio: Medien,<br />

und »Kiez«. Kontexte des<br />

Aufbaus def politischen in Brasilien ................................ 611<br />

Alex: Die politische Metapher »links« und die<br />

pVJLH"''''''''U UfilemtlerUnj:l;en von Studierenden ......................................... 371<br />

In,,,hr'nwNn) lnes/ Gottschalk, Niels/ Mazouz, Nadia:<br />

Recht auf Wasser? Verteilungskonflikte im Jordanbecken ....................... 63


646<br />

Fischer, Frank: Die Agenda der Elite. Amerikanische Think Tanks<br />

und die Strategien der Politikberatung ................................................... .463<br />

Guttmann, Robert: Die Transfonnation des Finanzkapitals .................... 165<br />

Guy, Simon/Marvin, Simon: Wasser als Ware. Die Privatisierung<br />

der Wasserversorgung in GroBbritannien ................................................. 37<br />

Heine, Michael/ Herr, Hansjorg: Money Makes the World Go Round<br />

Uber die Verselbstandigung def Geldsphare und andere MiBverstandnisse 197<br />

Hershberg, Eric: Demokratischer Ubergang und Sozialdemokratie in<br />

Spanien. Kritische Uberlegungen zur Konstruktion von Idealtypen ....... 595<br />

Hop/, Wulf. Ethnozentrismus und Okonomismus. Die »Leistungsgesellschaft«<br />

als Deutungsmuster :fur soziale Ausgrenzung ................... lO7<br />

Jenson, Jane / Phillips, Susan: Staatsbiirgerschaftsregime im Wandeloder:<br />

Die Gleichberechtigung wird zu Markte getragen.<br />

Das Beispiel Kanada ............................................................................... 515<br />

Krippendorf, Ekkehart: Die Idee der Universitat .................................... 431<br />

Narr, Wolf-Dieter/Roth, Roland: Wider die verhangnisvolle neue<br />

Bescheidenheit: Kapitalismus ohne Alternative (Teil 2) ... aber:<br />

Haben wir sozialistischen Theoretiker etwas auf der Pfanne ................... 283<br />

Oberndorfer, Ralf. Studentische Politik oder politische StudentInnen? .395<br />

Pasternack, Peer: Osthochschulen .......................................................... 357<br />

Preuj3, Ulrich K.I Everson, Michelle: Konzeptionen von<br />

'Biirgerschaft' in Europa .......................................................................... 543<br />

PROKLA-Redaktion: Die Universitaten: »Im Kern verrottet«<br />

oder das Beste, was wir derzeit haben? ................................................... 318<br />

PROKLA-Redaktion: Vom Gelde ........................................................... 162<br />

PROKLA-Redaktion: Zur politischen Okol1omie des Wassers ................... 2<br />

Rojas, Raul: Elektronisches Geld im globaJen Datel1netz ....................... 227<br />

Spear, Bruce: Die Forschungsuniversitat, der freie Markt und die<br />

Entdemokratisierung der hOheren Bildung in den USA .......................... 441<br />

Tangermann, Klaus-Dieter: Politik in Demokratien ohne<br />

demokratischen Souveran. Das Scheitern der demokratischen<br />

Konsolidierung in Mittelamerika ............................................................ 565<br />

Thiirmer-Rohr, Christina: Normale und nicht-normale Diskurse.<br />

Zur Lage der Universitat ......................................................................... 415<br />

Werner, Thomas Achim: Geldwasche - die okonomische Dimension<br />

unbekal1nter Gefahren ............................................................................. 259<br />

Wiener, Antje: (Staats )Biirgerschaft ohne Staat. Ortsbezogene<br />

Partizipationsmuster am Beispiel der Europaischen Union ................... .497<br />

Wiener, Antje: Editorial. Fragmentierte Staatsbiirgerschaft ................... .488<br />

Ziebura, Gilbert: Globalisierter Kapitalismus: chancenlose Linke?<br />

Eine Problemskizze ................................................................................... 85

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!