06.11.2013 Aufrufe

Thomas Bernhards pathologische Groteske Ist es eine Komoedie

Thomas Bernhards pathologische Groteske Ist es eine Komoedie

Thomas Bernhards pathologische Groteske Ist es eine Komoedie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

6<br />

<strong>eine</strong>r „Erschütterung“, die „jetzt schon zweiundzwanzig Jahre“ (beide 39) zurückliege und auf der<br />

das ruhelose, allabendliche Umherlaufen d<strong>es</strong> Frauenmörders beruhe. So fragt sich der Erzähler<br />

zwischenzeitlich: „Ein Verrückter?“ (39). Kurz darauf ist von „ein[em] Zwischenfall, der lange<br />

zurückliegt“ (40) die Rede; der Erzähler stellt f<strong>es</strong>t: „Er hat [neben den Schuhen und mit Hut und<br />

Mantel] tatsächlich lauter Frauenkleider an“ (41). Die Auflösung erfolgt am Ende zuerst mit dem<br />

Schauplatz: „Hinter der Rossauerkaserne, hundert Meter vor der Brücke, die in den Zwanzigsten<br />

Bezirk hinüberführt, sagte der Mann plötzlich, stehengeblieben, in das Kanalwasser<br />

hineinschauend: ‚Da, an di<strong>es</strong>er Stelle’“ (42). Dann g<strong>es</strong>teht der Frauenmörder: „‚Ich stieß sie<br />

blitzschnell hinein. Die Kleider, die ich anhabe, sind ihre Kleider’“ (42). Es muss sich also um <strong>eine</strong><br />

Frau gehandelt haben, zu deren Kleidung er zumind<strong>es</strong>t Zugang hatte, will man den Gedanken<br />

vermeiden, er habe die Frau gar vor oder nach der Ermordung entkleidet. – Endlich b<strong>es</strong>timmt der<br />

Frauenmörder den Tatzeitpunkt noch einmal und genauer als eingangs: „‚Vor zweiundzwanzig<br />

Jahren und acht Monaten’“ (42). Die schon zitierte Bemerkung, Einsitzen sei kein Vergnügen,<br />

deutet schließlich darauf hin, dass der Frauenmörder gefasst wurde, s<strong>eine</strong> Strafe (physisch)<br />

verbüßte, allerdings innerlich (oder psychisch) nie von di<strong>es</strong>em Ereignis loskam, wie sein endlos<strong>es</strong><br />

verbal<strong>es</strong> Rotieren um di<strong>es</strong><strong>es</strong> Thema herum zu bezeugen scheint. Er wirkt dadurch hochgradig<br />

traumatisiert und – trotz indirekter Fixierung auf die Tat und direkter Orientierung an<br />

Schrittabständen und Spazierorten – dauerhaft orientierungslos. Der Tod der Eltern sechs Wochen<br />

zuvor ind<strong>es</strong> – „‚Selbstmord, junger Mann, Selbstmord!’“ (42) – erscheint als letzter Baustein zu<br />

di<strong>es</strong>er G<strong>es</strong>chichte; sofern man dem Berichtenden Glauben schenken darf, scheint der Gram um<br />

ihren Sohn oder d<strong>es</strong>sen Haftentlassung – weniger wohl das (jüngere?) G<strong>es</strong>chehen im Stadtpark –<br />

die Eltern zum Suizid gedrängt zu haben.<br />

Damit ist die Untersuchung ganz beim Inhaltlichen angelangt. Wie die äußere Darstellung d<strong>es</strong><br />

Frauenmörders schon nahelegt, handelt <strong>es</strong> sich hier um <strong>eine</strong> grot<strong>es</strong>ke Figur als „Begegnung mit dem<br />

Wahnsinn [als] <strong>eine</strong> der Urerfahrungen d<strong>es</strong> <strong>Grot<strong>es</strong>ke</strong>n“ (Kayser 198); <strong>eine</strong>r Figur auch, der in<br />

grot<strong>es</strong>ker Manier k<strong>eine</strong> eindeutige Identität zugeordnet wird oder werden kann: Das ist (zunächst)<br />

augenfällig im Kommentar d<strong>es</strong> Erzählers: „ich hatte aber s<strong>eine</strong>n Namen sofort verg<strong>es</strong>sen“ (38).<br />

Inter<strong>es</strong>sant ist auch, wie die einzelnen Merkmale erst im (buchstäblichen) Laufe der Erzählung<br />

wahrgenommen werden.<br />

„Die grot<strong>es</strong>ke Verzerrung führt vor Augen, daß ein und di<strong>es</strong>elbe Person [...] die verschiedensten<br />

und gegensätzlichsten Eigenschaften in sich birgt und nur die Perspektive darüber entscheidet,<br />

welche davon zu <strong>eine</strong>m gegebenen Zeitpunkt markant hervortreten und welche im Schatten<br />

verborgen bleiben. Unter den Begriff der ‚Perspektive’ ist hier vor allem auch das R<strong>es</strong>ultat <strong>eine</strong>r frei

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!