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Thomas Bernhards pathologische Groteske Ist es eine Komoedie

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früheren Begegnung d<strong>es</strong> Frauenmörders mit <strong>eine</strong>m jungen Manne G<strong>es</strong>talt an: „‚Es ist genau<br />

achtundvierzig Tage her, daß ich hier im Volksgarten um di<strong>es</strong>e Zeit zum letzten Mal <strong>eine</strong>n<br />

Menschen angetroffen habe’“ (39). Di<strong>es</strong>e Begegnung trägt – mit Frage nach der Uhrzeit und<br />

Spaziergang zu Parlament und Schweizertrakt – di<strong>es</strong>elben Merkmale wie jene zwischen<br />

Frauenmörder und Erzähler; darüber hinaus sei <strong>es</strong> ein Mensch im Alter d<strong>es</strong> Erzählers gew<strong>es</strong>en,<br />

„‚[w]ie Sie, schweigsam, wie Sie, zuerst unschlüssig, dann entschlossen, mit mir zu gehn. Ein<br />

Naturwissenschaftsstudent’“ (40) und mit „Reaktionsgleichheit“ (40) hinsichtlich der<br />

Frauenschuhe. Nur führt der jetzige Gang w<strong>es</strong>entlich weiter (hinein in die DIS): „‚Aber kein<br />

Mensch ist bis jetzt mit mir [...] zweimal bis vor das Parlament gegangen und zweimal bis zum<br />

Schweizertrakt und also viermal zur Meierei zurück. [...] Noch nie hat mich auch nur ein einziger<br />

Mensch von hier ein Stück nach Hause begleitet’“ (41). Ind<strong>es</strong> die Vermutung zugrundelegend, ein<br />

(imaginiert<strong>es</strong>) Treffen der beiden habe schon einmal stattgefunden, enthält der zauberspruchartige,<br />

da erweckende Satz vom Nichts-zu-verlieren <strong>eine</strong> weitere Verständnisvariante: Er artikuliert nun<br />

auch die unbewusste Bekanntschaft, der sich der Erzähler getrost anvertrauen dürfe. – „Statt von<br />

‚Amn<strong>es</strong>ie’ ist in vielen Fällen [allerdings] b<strong>es</strong>ser und zutreffender von D<strong>es</strong>inter<strong>es</strong>se der<br />

Personzustände füreinander zu sprechen“ (Fiedler 187). So nimmt der Frauenmörder den Erzähler<br />

zwar wahr, wie oben zu sehen war, hat aber – über die Rolle d<strong>es</strong>selben als Reizwortgeber (die<br />

Antwort auf die Uhrenfrage, die die Kommunikation erst startet) und willenlosen Zuhörer hinaus –<br />

kein Inter<strong>es</strong>se an ihm.<br />

Aus der übergeordneten Perspektive d<strong>es</strong> Rahmens, der sich um das g<strong>es</strong>childerte Ereignis legt –<br />

„habe ich g<strong>es</strong>tern [!] ins Theater gehen wollen“ (35) –, ergibt sich endlich ein letzter markanter<br />

Hinweis auf <strong>eine</strong> Erkrankung an DIS: Die Erzählung entpuppt sich als mündlich<strong>es</strong> oder gar<br />

schriftlich<strong>es</strong> Protokoll, als Narrative Chart. Und genau di<strong>es</strong>e „Erzählung von G<strong>es</strong>chichten und<br />

Erlebnisepisoden“ (Fiedler 250) ist <strong>eine</strong> mögliche Therapieform der DIS. Sie zielt darauf ab, „<strong>eine</strong><br />

neue und grundlegende metakognitive Entwicklung anzuregen oder anzureichern. Das Nachdenken<br />

der Betroffenen über ihre eigenen Denkproz<strong>es</strong>se, über die Eigenarten der internalen Separation<br />

elementarer Gefühls- und Bewusstseinszustände ist ein w<strong>es</strong>entlich<strong>es</strong> Moment der<br />

Integrationsarbeit“ (Fiedler 249). Am Ende steht die <strong>eine</strong>, vereinigte Identität. Die Erzählung als<br />

Therapieversuch: Der Satz „Ich habe nichts zu verlieren!“ (37) wird damit – nach dem <strong>Grot<strong>es</strong>ke</strong>n,<br />

da Befremdlichen, ja nahezu Absurden; dem die Lage Realisierenden; dem all<strong>es</strong> Gebärenden;<br />

schließlich dem Anvertrauenden – letztlich zur poetologischen Formel, dass nämlich versucht<strong>es</strong><br />

(mündlich<strong>es</strong> oder schriftlich<strong>es</strong>) Erzählen, sollte <strong>es</strong> auch scheitern, immer ein Gewinn ist: „Es gibt ja<br />

nur G<strong>es</strong>cheitert<strong>es</strong>. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts“<br />

(Bernhard Ja 44). Di<strong>es</strong>er Wille zum Scheitern steckt im Satz d<strong>es</strong> Erzählers und ist genau dazu

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