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Thomas Bernhards pathologische Groteske Ist es eine Komoedie

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Gefahr kommt ihm dabei einige Kompetenz zu, ist er doch ein Student und somit angehender<br />

Kenner „d<strong>es</strong> Medizinischen“ (35), wenig später differenzierter der „Pathologie“ 18 (35). Und in der<br />

Tat: Wie der Verlauf der Erzählung verdeutlicht, leidet der Erzähler wirklich unter <strong>eine</strong>r<br />

psychischen Krankheit, jener der dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Di<strong>es</strong>e „ist charakterisiert<br />

durch die Existenz ‚<strong>eine</strong>r oder mehrerer Persönlichkeiten in <strong>eine</strong>r Person’, die über jeweils<br />

verschiedene Wertmaßstäbe und Verhaltenseigenarten verfügen können und die sich von <strong>eine</strong>r<br />

‚Primärpersönlichkeit’ unterscheiden“ (Fiedler 179). Die genannte Primärpersönlichkeit ist im<br />

Erzähler zu sehen; er ist scheinbar gänzlich definitionsgemäß konstruiert, denn „[d]i<strong>es</strong>e primäre<br />

Identität oder Persönlichkeitskonfiguration ist [...] in der Regel passiv, abhängig, hat Schuldgefühle<br />

und ist depr<strong>es</strong>siv g<strong>es</strong>timmt“ (Fiedler 187). Die Passivität d<strong>es</strong> Erzählers ergibt sich aus dem fast<br />

sprachlosen (realen oder imginären) Mitlaufen, hat der Frauenmörder doch die größten Redeanteile<br />

und wirkt w<strong>es</strong>entlich aktiver, indem er neben den G<strong>es</strong>prächsthemen auch den Weg vorgibt: „‚Gehen<br />

wir bis vor das Parlament’“ (38) sagt er, oder: „‚Gehen wir jetzt [...] zum Schweizertrakt’“ (39). Die<br />

Abhängigkeit offenbart sich in der Schwierigkeit d<strong>es</strong> Erzählers, sich am Ende vom Frauenmörder zu<br />

trennen. Dem Befehl: „‚Gehen Sie!’“ (42) leistet er „nicht sofort“ (42) Folge. Die Schuldgefühle<br />

zeigen sich schon gleich zu Beginn, als sich der Erzähler andauernd selbst unter Druck setzt:<br />

„[E]ndlich“ (35) müsse er di<strong>es</strong>e Arbeit beenden, und er suche „die Pathologie zu forcieren“ (35).<br />

Auch an anderen Stellen offenbaren sich di<strong>es</strong>e wiederum DIS-typischen, „kontinuierlich stark<br />

überhöhte[n] Anforderungen“ (Fiedler 196), hier d<strong>es</strong> Erzählers an sich selbst: So redet er sich zu:<br />

„[d]u wirst d<strong>eine</strong> Studie [...] schreiben“ (35); so hält er sich vor: „G<strong>es</strong>cheitert! G<strong>es</strong>cheitert!“ (35); so<br />

verbietet er sich – in <strong>eine</strong>m sich zugleich strafenden wie Belohnung versprechenden Akt der Selbst-<br />

Erpr<strong>es</strong>sung – den Theaterb<strong>es</strong>uch: „Wenn du d<strong>eine</strong> Theaterstudie g<strong>es</strong>chrieben hast [...], dann ist <strong>es</strong><br />

dir wieder erlaubt, ins Theater zu gehen“ (35); und schließlich wiederholt er gebetsmühlenartig:<br />

„Die Theaterstudie, ein<strong>es</strong> Tag<strong>es</strong> die Theaterstudie!“ (36). Dass sich der Erzähler „für das Theater<br />

umgezogen“ (36) hat, verstärkt nur noch den Eindruck, hier gehe <strong>es</strong> um <strong>eine</strong> Art Verdrängung 19 :<br />

Doch der sofort unterdrückte Wunsch, auch tatsächlich ins Theater hineingehen zu wollen, erzeugt<br />

emotional<strong>es</strong> Chaos: Plötzlich ist ihm „peinlich“ (35), überhaupt die Kleidung gewechselt zu haben,<br />

und in der Folge schlägt die Theatersehnsucht um in Theaterhass: „Es befriedigt mich, nicht<br />

hineinzugehen“ (36), konstatiert er masochistisch, und in <strong>eine</strong>r Art sinnlicher Ersatzhandlung<br />

zerreibt er schließlich mit „Genuß“ (36) die Karte zwischen den Fingern. Aber auch Depr<strong>es</strong>sion<br />

18 Auch verstehbar als <strong>pathologische</strong> Anatomie und damit mit dem Tod assoziiert, bereitet die Erwähnung d<strong>es</strong> Wort<strong>es</strong><br />

Pathologie übrigens schon auf die Mordg<strong>es</strong>chichte vor, die sich ja im späteren Verlauf der Erzählung allmählich<br />

konstituiert.<br />

19 Wie die „Erzeugung“ d<strong>es</strong> hybriden Frauenmörders – neben dem thrill d<strong>es</strong> Unkonventionellen, Anarchistisch-<br />

Kriminellen – insb<strong>es</strong>ondere das R<strong>es</strong>ultat <strong>eine</strong>r sexuell motivierten, Freudschen Verdrängung sein dürfte – jener der<br />

Homo- oder aber Transsexualität.

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