S. Kahlow: Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher und ...
S. Kahlow: Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher und ...
S. Kahlow: Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher und ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Die</strong> <strong>Pest</strong> <strong>als</strong> <strong>Interpretationsproblem</strong> <strong>mittelalterlicher</strong><br />
<strong>und</strong> frühneuzeitlicher Massengräber<br />
Simone <strong>Kahlow</strong><br />
Zusammenfassung – <strong>Die</strong> Gründe für die Anlegung von Massengräbern sind äußerst vielgestaltig. Darum verw<strong>und</strong>ert es zum Teil, dass<br />
<strong>als</strong> Interpretation fast immer auf die „Wahrscheinlichkeit“ einer Seuche oder auf die <strong>Pest</strong> selbst zurückgegriffen wird. <strong>Die</strong> kurze Einführung<br />
in die Problematik des Themas dürfte zeigen, dass andere Seuchen, Hungersnöte oder auch Feuersbrünste, die im Mittelalter <strong>und</strong> der<br />
Frühen Neuzeit allesamt <strong>als</strong> pestis bezeichnet wurden, eine Ursache darstellen können, ebenso wie klimatische Auswirkungen <strong>und</strong><br />
Kriege.<br />
<strong>Die</strong> Unsicherheit hinsichtlich der Interpretation könnte durch ein Verfahren gemindert werden, mit welchem es möglich ist, eine<br />
spezifi sche DNA-Sequenz nachzuweisen, die dem <strong>Pest</strong>bazillus zugeordnet werden kann (PRECHEL 2002, 247).<br />
Schlüsselwörter –<br />
Abstract – The defi nition of mass or common graves from 14 th to 17 th century as well as the interpretation of the detected structures<br />
remains problematic. Almost all discussed examples are referred to as „pest-graves“ by their authors, inspite of the frequent lack of any<br />
adequate indices. The very fact of being faced with a grave revealing several burried individu<strong>als</strong> seems to be suffi ciently for such an<br />
interpretation.<br />
But there are various reasons for the usage of common graves, which are evidence of an state of emergency of affected populations.<br />
Historical documents attest to multiple disasters causing the death of many people all over Europe. They testify a famine in consequence<br />
of crop failures (1315-1317) resulting from dramatic climate changes. Contemporaries reported on another remarkable high mortality in the<br />
years 1339/1340. An epidemic infectious disease like anthrax appears imaginable.<br />
Seventeenth century records document the interdependence of wars and the appearance of epidemic plagues. During the Thirty<br />
Years’ War (1618-1648) many more people died from typhus or pest than from injuries caused by the military confl ict, because hunger and<br />
misery have a subtantial impact on the immune system. But of course mass graves with war victims are well-known like the battlefi elds of<br />
Visby and Towton.<br />
These disasters are mostly closely related to each other. A clear distinction between them is hardly possible if not impossible with<br />
archaeological means.<br />
Keywords –<br />
Einleitung<br />
Auch in jüngster Zeit werden immer wieder Gräber<br />
aus der Zeit des 14. bis 17. Jahrh<strong>und</strong>erts freigelegt,<br />
die mehrere Individuen beinhalten <strong>und</strong><br />
somit <strong>als</strong> Massengräber angesprochen werden.<br />
Problematisch ist nicht nur die Definition dieses<br />
Begriffes, sondern auch die Interpretation des Inhaltes<br />
der besagten Gräber. Eine stattliche Anzahl<br />
der betreffenden Bef<strong>und</strong>e wurde von den Bearbeitern<br />
<strong>als</strong> <strong>Pest</strong>gräber angesprochen, auch wenn<br />
häufig jegliche Indizien hierzu fehlen. Oft scheint<br />
allein die Tatsache, dass sie mehrere Individuen<br />
beinhalteten, für die genannte Auslegung auszureichen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Pest</strong><br />
Angaben zur <strong>Pest</strong> des 14. Jhs. sind sich im Allgemeinen<br />
recht ähnlich. <strong>Die</strong>se kontinentübergreifende<br />
Seuchenwelle kam aus Zentralasien,<br />
traf 1342 in Genua ein <strong>und</strong> verbreitete sich von<br />
dort aus über fast alle Regionen Europas. In den<br />
Jahren 1349 bis 1351 wurde schließlich auch der<br />
deutschsprachige Raum von ihr heimgesucht,<br />
wo sie die Bevölkerung möglicherweise um ein<br />
Drittel dezimierte, was 20 bis 25 Millionen Tote<br />
bedeuten würde (GECKELER 1961). 1<br />
Zahlreiche Schriftquellen berichten von einem<br />
unter der Bevölkerung herrschenden Ausnahmezustand.<br />
Zusehends wurde auf jegliches christliches<br />
Protokoll verzichtet <strong>und</strong> die Toten in Massengräbern<br />
bestattet.<br />
Giovanni Boccaccio schreibt 1348 im Decameron:<br />
„Da für die große Menge Leichen … der geweihte<br />
Boden nicht langte ... machte man … sehr tiefe Gruben<br />
<strong>und</strong> warf die Hinzukommenden in diese zu H<strong>und</strong>erten.<br />
Hier wurden die Leichen angehäuft wie Waren in<br />
einem Schiff <strong>und</strong> von Schicht zu Schicht mit ein wenig<br />
Erde bedeckt, bis die Grube bis zum Rand voll war.“<br />
(Zit. nach WITTE 2001, 22-23).<br />
Der Strassburger Chronist Fritsche Closener<br />
führt 1349 weiterhin an, wo diese Gruben angelegt<br />
worden sind: „Daz sterbent [<strong>Pest</strong> 1349] war so<br />
gros, das gemeintlich alle tage ein ieglichem kirspel liche<br />
worent 7 oder 8 oder 9 oder 10, oder noch danne<br />
me, one die man in klöstern begrub un ene[ohne] die,<br />
die man in den spital drug: der was unzelich vil, das<br />
man die spitelgrube, die bi der kirchen stunt, muste in<br />
einen witen garten setzen, wann die alte grub zu enge<br />
<strong>und</strong> zu klein was.“ (Zit. nach ILLI 1992, 58).<br />
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 97-104<br />
Bulletin de la Société Suisse 97d‘Anthropologie 13 (1), 2007<br />
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Simone <strong>Kahlow</strong><br />
Problemstellung<br />
Um die Problematik bezüglich der Interpretation<br />
von Massengräbern zu verdeutlichen, sollen im<br />
Folgenden die vom Heiligen-Geist-Hospital zu<br />
Lübeck (Abb. 1) diskutiert werden (PRECHEL 1996;<br />
2002). 2<br />
Ihren Bekanntheitsstatus dürften sie erlangt<br />
haben, da auf dem untersuchten Areal zum einen<br />
gleich mehrere Massengräber zutage traten, diese<br />
weiterhin eine enorme Anzahl von mehr <strong>als</strong> 600<br />
Individuen aufgenommen hatten <strong>und</strong> zudem anthropologische<br />
Untersuchungen vorgenommen<br />
worden sind.<br />
<strong>Die</strong> besagten Gräber, die im Jahr 1990 an<br />
der Südwand des besagten Hospit<strong>als</strong> freigelegt<br />
werden konnten, gehören stratigraphisch zwei<br />
unterschiedlichen Zeitstufen an. Aus mehreren<br />
Grabgruben des älteren Bestattungshorizontes<br />
konnten insgesamt 158 Skelette geborgen werden.<br />
Eine C 14 -Datierung des Knochenmateri<strong>als</strong> ergab<br />
einen Zeitraum der Niederlegung zwischen 1280<br />
<strong>und</strong> 1390 (PRECHEL 1996, 325).<br />
Im jüngeren Horizont wurden zwei Gruben<br />
geöffnet (Bef.-Nr. 4528 <strong>und</strong> 4529), die, trotz einer<br />
Störung, insgesamt 696 Individuen erbrachten<br />
<strong>und</strong> <strong>als</strong> <strong>Pest</strong>opfer angesprochen wurden (PRE-<br />
CHEL 1996, 325). <strong>Die</strong> Körper lagen dicht an dicht in<br />
fünf bis sechs Schichten übereinander. Ebenfalls<br />
in diesem Horizont befanden sich zwei kleinere<br />
Massenbeisetzungen (Bef.-Nr. 4562 <strong>und</strong> 4571) mit<br />
insgesamt 120 Bestattungen.<br />
Zwischen den einzelnen Körperlagen des<br />
„<strong>Pest</strong>grabes“ soll Erde gestreut worden sein, da<br />
aus den einzelnen Skelettschichten Keramikscherben<br />
geborgen werden konnten. Hier deckt<br />
sich der archäologische Bef<strong>und</strong> mit den schriftlichen<br />
Quellen, beispielsweise der Erwähnung<br />
Boccaccios.<br />
<strong>Die</strong> Keramikscherben des „<strong>Pest</strong>grabes“ sollen<br />
in das 13./14. Jahrh<strong>und</strong>ert datieren, was zunächst<br />
mit dem C 14 -Ergebnis des Knochenmateri<strong>als</strong> von<br />
1260 bis 1390 übereinstimmt. Prechel äußert daraufhin,<br />
dass „die Bestattungsgruben tatsächlich<br />
im Jahre 1350 ausgehoben wurden“ (PRECHEL 1996,<br />
325). <strong>Die</strong>se Sicherheit ist keineswegs gegeben, da<br />
Abb. 1 Heiligen-Geist-Hospital zu Lübeck: Massengrab, Bef<strong>und</strong>-Nr. 4529 (aus PRECHEL 1996, Taf. 11,2).<br />
aktuell<br />
98
<strong>Die</strong> <strong>Pest</strong> <strong>als</strong> <strong>Interpretationsproblem</strong> <strong>mittelalterlicher</strong> <strong>und</strong> frühneuzeitlicher Massengräber<br />
Abb. 2 Heiligen-Geist-Hospital zu Lübeck: Relative Anzahlen der<br />
Verstorbenen nach Altersklasse (aus PRECHEL 1996, Abb. 2).<br />
jedes einzelne Jahr des angegebenen Zeitraums,<br />
das „gesuchte“ sein könnte.<br />
Aus den Chroniken, so PRECHEL (1996, 325),<br />
ist wohl tatsächlich überliefert, dass die <strong>Pest</strong><br />
1349/1350 in Lübeck grassiert <strong>und</strong> ca. 5000 Menschen<br />
ihr Leben lassen mussten. Auch der absolute<br />
Sterbegipfel bei den Jungerwachsenen (Abb. 2),<br />
der bei den Individuen aus dem „<strong>Pest</strong>grab“ nachgewiesen<br />
wurde, könnte auf den ersten Blick für<br />
<strong>Pest</strong>opfer sprechen. So schrieb schon Gisela Grupe<br />
(GRUPE 1986, 32): „Sicheres Zeugnis dafür, daß die<br />
<strong>Pest</strong> eine neue Krankheit war, die eine Bevölkerung<br />
ohne Immunitätsschutz traf, ist der Bef<strong>und</strong>,<br />
daß bevorzugt die jüngeren Erwachsenen starben.<br />
Dafür gibt es physiologische Gründe. Nach dem<br />
Abklingen dieser ersten Welle war die überlebende<br />
Bevölkerung hinreichend immunisiert, so daß<br />
die folgende Welle erst nach etwa 12 Jahren wieder<br />
viele Opfer forderte. Doch dieses Mal wurden<br />
bevorzugt die nachgewachsenen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
hinweggerafft...“.<br />
Leider ist diese Feststellung hinsichtlich der<br />
Interpretation keine Hilfe. Zum einen ist es nicht<br />
möglich, die Skelette auf das Jahr genau zu datieren,<br />
um sie dann mit den schriftlichen Erwähnungen<br />
einzelner <strong>Pest</strong>wellen abzugleichen. Zum<br />
anderen scheint sich die <strong>Pest</strong> nicht überall gleich<br />
verhalten zu haben. Es gibt zahlreiche Regionen,<br />
die von dieser Krankheit fast unberührt geblieben<br />
sind, wie ein „Großteil der Auvergne oder<br />
des nördlichen Flandern, Teile Frankens <strong>und</strong> weitere<br />
Gebiete Europas“ (RUFFIÉ/SOURNIA 2000, 36).<br />
Warum dies so war, kann nur vermutet werden.<br />
Bereits Erkrankte sind möglicherweise wieder<br />
genesen, da sie „jenes Genmaterial schon in sich<br />
trugen, das unerlässlich ist, um dem Bazillus zu<br />
widerstehen..., oder weil sie es erwarben, indem<br />
sie später an einer regelrechten natürlichen Impfung<br />
teilnahmen. <strong>Die</strong>se widerstandsfähige Gruppe<br />
wurde zum Bollwerk der Gemeinschaft gegen<br />
die wiederholten Attacken der Seuche“ (ebd).<br />
Weiterhin wird von Ruffié <strong>und</strong> Sournia vermutet,<br />
dass sogar die Nachkommen der Betroffenen eine<br />
genetische Resistenz geerbt haben könnten. Jedoch<br />
dürften die Gene nicht der alleinige Gr<strong>und</strong><br />
für das Fernbleiben dieser Seuche gewesen sein,<br />
abgesehen davon, dass diese „natürliche Impfung“<br />
nur gut 12 Jahre anhielt. Es scheint doch so,<br />
dass mehrere Faktoren dafür verantwortlich sind,<br />
ob ein Land oder eine Stadt von der <strong>Pest</strong> heimgesucht<br />
wurde. In diesem Fall beziehe ich mich<br />
nicht auf Äußerungen, nach welchen bestimmte<br />
Blutgruppen für den Erreger <strong>als</strong> bevorzugt angesehen<br />
wurden, sondern auf die nüchterne Erkenntnis,<br />
dass ein vermehrtes Rattenvorkommen,<br />
unhygienische Zustände <strong>und</strong> klimatische Einflüsse<br />
eine große Rolle spielten, so wie es auch VASOLD<br />
(2003) völlig überzeugend darlegen konnte.<br />
Jedoch halte ich auch eine Variation bzw. Mutation<br />
des Erregers nicht für unwahrscheinlich. Es<br />
ist anzunehmen, dass sich der Erreger verändern<br />
musste, um wirksam zu bleiben. Schließlich kam<br />
der Floh ursprünglich aus einer warmen Zone,<br />
bevorzugte 20 bis 25 Grad Celsius <strong>und</strong> traf in Europa<br />
schließlich auf ein kühl-gemäßigtes Klima.<br />
Zudem musste die Luftfeuchtigkeit stimmen (VA-<br />
SOLD 2002, 174). <strong>Die</strong> Annahme einer Variation des<br />
Erregers könnte auch von Aussagen mittelalterlichen<br />
Chronisten gestützt werden, welche eine<br />
andere Sterbeverteilung, <strong>als</strong> die eben angesprochene,<br />
innerhalb der einzelnen <strong>Pest</strong>wellen beobachteten.<br />
<strong>Die</strong>pold Schilling schilderte für Bern die<br />
kurz aufeinanderfolgenden Epidemiewellen des<br />
15. Jhs. „Allein die drei schweren Epidemien zwischen<br />
1478 <strong>und</strong> 1493 forderten über 2000 Opfer,<br />
beim ersten Seuchenzug vor allem Kinder“ (UL-<br />
RICH-BOCHSLER 1999, 105), beim zweiten Seuchenzug<br />
1482 „vor allem Frauen, <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte von<br />
Kranken“ (GERBER 1999, 100). Als ein Jahr später<br />
wieder ein Seuchenzug durch das Land ging,<br />
scheinen alle Bevölkerungsteile betroffen gewesen<br />
zu sein (ebd.). Es kann sich in diesem Fall jedoch<br />
nicht um besagte die „Kinderpest“ gehandelt haben,<br />
hierfür müsste der vorherige <strong>Pest</strong>ausbruch<br />
ca. 12 Jahre zurückliegen. Laut den Schriftquellen<br />
hatte dieser jedoch 1439 stattgef<strong>und</strong>en, was eine<br />
Differenz von 39 Jahren bedeuten würde.<br />
Angesichts dieser Beobachtungen muss die<br />
Frage gestellt werden, inwiefern bestimmte Sterbemaxima<br />
der Skelette aus Massengräbern auf<br />
<strong>Pest</strong>gräbern deuten sollen? So ist der maximale<br />
Sterbegipfel der „robusten“ (PRECHEL 1996, 327)<br />
Jungerwachsenen auch anderorts nachweisbar, so<br />
99<br />
aktuell
Simone <strong>Kahlow</strong><br />
z.B. auf dem Heidelberger Spitalfriedhof (Abb. 3),<br />
auf dem keine Massengräber ergraben wurden<br />
(WAHL 1993, 481). Als modernes Beispiel wäre<br />
die Spanische Grippe von 1918 heranzuziehen,<br />
bei der vorrangig diese Altersgruppe gestorben<br />
ist (SCHUH 2003). Nach neuesten Schätzungen sollen<br />
ihr 25 bis 40 Millionen Menschen zum Opfer<br />
gefallen sein. Bei dieser Größenordnung scheint<br />
es nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass auch in diesem Fall<br />
Massengräbern angelegt worden sind, so beispielsweise<br />
in dem Dorf Brevig in Alaska (ebd.).<br />
Alternative Interpretationen<br />
<strong>Die</strong>ses Beispiel soll <strong>als</strong> Überleitung zu anderen Interpretationsmöglichkeiten<br />
dienen. Viele mir bekannte<br />
Nachweise von Massengräbern, werden<br />
von den Bearbeitern entweder direkt <strong>als</strong> <strong>Pest</strong>gräber<br />
oder aber <strong>als</strong> Gräber, die zu Epidemiezeiten<br />
angelegt worden sind, gedeutet. Zu diesen Epidemien<br />
könnten auch die Grippe, der Milzbrand,<br />
die Pocken oder Typhus gehören. Möglicherweise<br />
bezeugen auch Schriftquellen Epidemien noch<br />
vor der Pandemie des „Schwarzen Todes“.<br />
Im Jahr 1995 wurden auf dem Gelände des<br />
ehemaligen Heilig-Geist-Spit<strong>als</strong> in Berlin mehrere<br />
Massengräber freigelegt, die in die Zeit des 14.<br />
bis 17. Jahrh<strong>und</strong>ert datiert werden (LANGE 1996)<br />
<strong>und</strong> von den Bearbeitern Heinrich Lange (LANGE<br />
1996) <strong>und</strong> Henrike Hesse (HESSE 1996) zunächst<br />
allgemein <strong>als</strong> <strong>Pest</strong>gräber interpretiert wurden.<br />
Abb. 3 Heidelberger Spitalfriedhof: Relative Altersverteilung der<br />
verstorbenen Individuen (aus WAHL 1993, 481).<br />
Grab 506 (Abb. 4) ist für diese Arbeit besonders<br />
relevant, da es von dem münzdatierten Grab 525<br />
mit den Denaren des Markgrafen Waldemars<br />
(1305-1319) überlagert wurde. Nach LANGE (1997,<br />
116-117) muss das Massengrab 506 somit noch<br />
ins frühe 14. Jh. datiert werden, wobei es wohl zu<br />
Zeit der <strong>Pest</strong> angelegt worden sein kann, da diese<br />
im Jahr 1348 auch Berlin heimsuchte. <strong>Die</strong>se Bestätigung<br />
findet sich in den Schriftquellen jedoch<br />
nicht. So äußerte auch schon Christian Popp 2006<br />
<strong>als</strong> These seiner Disputation die Vermutung, dass<br />
Berlin nicht von der <strong>Pest</strong> heimgesucht wurde,<br />
was möglicherweise auch auf das angrenzende<br />
Brandenburg zutrifft. Denn trotz „dichter Urk<strong>und</strong>en-<br />
oder Stadtbuchüberlieferung wie [in] Stendal<br />
<strong>und</strong> Berlin/Cölln lassen sich keine Belege für<br />
ein Übergreifen der <strong>Pest</strong> finden“. 3<br />
Da der Friedhof des Berliner Heilig-Geist-Spit<strong>als</strong><br />
bereits im 13. Jh. angelegt worden ist, könnte<br />
auch Grab 506 durchaus noch in diesen Zeitraum<br />
datieren <strong>und</strong> die Opfer einer anderen Seuche<br />
beinhalten. Hesse verwies hierzu auf den sogenannten<br />
Schneiderbrief von 1288 aus dem Berliner<br />
Stadtbuch 4 ; welches von Martin Ohm (OHM<br />
1954, 76-77) übersetzt wurde: „Jetzt wo der Tod<br />
anstürmt, sich nicht beruhig sondern tobend alles<br />
zum Einsturz bringt ist es nützlich, vorsichtig aufzuzeichnen<br />
solche zutreffenden Tatbestände <strong>und</strong><br />
Schriftstücke (darüber) anzufertigen, die zu gegebener<br />
Zeit die Wahrheit mit Sicherheit erweisen<br />
sollen, wodurch sich Zweifelsfragen widerlegen<br />
lassen.“ Ohm merkt hierzu an: „Der Vorspruch<br />
zu dieser Urk<strong>und</strong>e läßt erahnen, daß um 1288<br />
schwere Seuchen in Berlin herrschten“. Im allgemeinen<br />
wird die These einer hier zur Sprache gebrachten<br />
Seuche jedoch, aufgr<strong>und</strong> der Wortwahl,<br />
eher verworfen.<br />
<strong>Die</strong>s ist jedoch kein Beweis dafür, dass nicht<br />
doch die Opfer einer Seuche in das besagte Massengrab<br />
gelangt sind. 5 Respekt wurde ihren<br />
sterblichen Überresten offenk<strong>und</strong>ig nicht entgegengebracht.<br />
So wurden alle 20 Individuen in<br />
die Gruben geworfen, so dass sie zum Teil mit<br />
völlig verrenkten Gliedern liegen geblieben sind.<br />
Tatsächlich ist dies ein eher seltenes Phänomen<br />
bei Massengräbern, <strong>und</strong> konnte beispielsweise<br />
auch am Stadelhof in Paderborn (Abb. 5) beobachtet<br />
werden (WITT-STUHR/WIEDMANN/SPIONG<br />
2007). Insgesamt scheint jedoch ein pietätvoller<br />
Umgang häufiger. Als Beispiel sollen die Gruppenbestattungen<br />
an der Bartholomäuskirche in<br />
Erfurt genannt werden (Abb. 6). Hier lagen bis<br />
zu 10 Individuen in „sorgsamer Verschränkung“<br />
übereinander. „<strong>Die</strong> beiden größten Individuen<br />
bildeten stets die unterste Lage auf der Sohle der<br />
aktuell<br />
100
<strong>Die</strong> <strong>Pest</strong> <strong>als</strong> <strong>Interpretationsproblem</strong> <strong>mittelalterlicher</strong> <strong>und</strong> frühneuzeitlicher Massengräber<br />
Abb. 4 Heilig-Geist-Spital Berlin: Grab 506 (aus LANGE 1997, 117).<br />
Abb. 5 Paderborn „Am Stadelhof”, Gruppenbestattungen (aus<br />
WITT-STUHR/WIEDMANN/SPIONG 2007, Abb. 1).<br />
Grabgrube. Daraufhin lagen mit den Köpfen etwa<br />
auf Schulterhöhe die nächstgrößeren Individuen.<br />
Extrem stark belegte Grabgruben wiesen eine<br />
dritte Lage mit ebenso sorgsam niedergelegten<br />
Kleinkindern bzw. Säuglingen auf.“ (WULF 2005,<br />
54).<br />
<strong>Die</strong> Unregelmäßigkeit der Grabgrube, aber<br />
auch eine geringe Tiefe dieser, könnten darauf<br />
hindeuten, dass ein Massengrab im Winter angelegt<br />
worden ist. In diesem Fall sind neben der<br />
Deutung <strong>als</strong> Seuchenopfer auch solche von klimatischen<br />
Einflüssen vorstellbar. Dass besonders<br />
die ärmere Bevölkerung unter den strengen<br />
Wintern, ganz besonders in der Frühen Neuzeit<br />
während der kleinen Eiszeit, leiden musste, ist<br />
ebenfalls durch Schriftquellen bewiesen. Ferner<br />
ist bekannt, dass im 12./13. Jahrh<strong>und</strong>ert eine<br />
Knappheit an Holz herrschte (GRUPE 1986, 29).<br />
Somit wäre es durchaus denkbar, dass die Opfer<br />
des Winters, sei es, dass sie an der Kälte, an<br />
Unterernährung oder an daraus resultierenden<br />
Erkrankungen gestorben sind, in diesen Gräbern<br />
bestattet wurden. In dem Fall ist sicherlich auch<br />
der Begriff Armengräber angebracht. Spuren von<br />
Mangelerscheinungen wie Cribra orbitalia, transversale<br />
Schmelzhypoplasien oder Harris-Linien, um<br />
nur einige zu nennen, wären dann ein zu erwar-<br />
101<br />
aktuell
Simone <strong>Kahlow</strong><br />
tendes Bild, sollte ein Zustand aus adäquater <strong>und</strong><br />
unzureichender Ernährung über einige Zeit angehalten<br />
haben.<br />
An einer Hungersnot könnten auch die Individuen<br />
aus dem unteren Bestattungshorizont<br />
des Lübecker Heiligen-Geist-Hospit<strong>als</strong> gestorben<br />
sein. So nimmt es Prechel an, die eine hohe Anzahl<br />
an Mangelerscheinungen feststellen konnte.<br />
Zudem ist für die Jahre 1315/1317 eine Hungersnot<br />
in Lübeck überliefert, ebenso wie der Ort, an<br />
dem die Opfer bestattet wurden: „Binnen den twen<br />
Jaren starf to dene hilghen gheste 2300 volkis <strong>und</strong>e<br />
de hunger was so grot“ (PRECHEL 1996, 327-328). Es<br />
stellt sich jedoch dem Betrachter die Frage, warum<br />
ein solcher Hungerstod nicht auch auf die<br />
anderen Individuen der Lübecker Massengräber<br />
zutreffen sollte. Einmal abgesehen von der unterschiedlichen<br />
Sterbeverteilung, die dadurch<br />
erklärt werden könnte, dass zu Beginn die schwachen<br />
<strong>und</strong> dann erst die stärkeren Individuen<br />
verstarben, konnte PRECHEL nämlich feststellen,<br />
dass der Ges<strong>und</strong>heitszustand der Individuen<br />
aus allen Gruben „<strong>als</strong> ungewöhnlich schlecht bezeichnet<br />
werden muss“ (PRECHEL 2002, 284). Nur<br />
die Toten aus den kleineren Gräbern des oberen<br />
Bestattungshorizontes wiesen weniger Gelenkerkrankungen<br />
<strong>und</strong> Mangelerscheinungen auf <strong>als</strong><br />
die übrigen Untersuchten. Im Vergleich zu einer<br />
normalen Lübecker Population des Mittelalters<br />
war jedoch auch dieser Grad an pathologischen<br />
Veränderungen zu hoch (ebd.).<br />
Als ein an dieser Stelle letzter Lösungsvorschlag<br />
ist an die Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen<br />
<strong>und</strong> Kriege zu denken. Sicherlich<br />
wären in diesem Fall mehrheitlich Verletzungserscheinungen<br />
anzutreffen, wie sie beispielsweise<br />
von den Toten aus der Schlacht von Visby 1361<br />
(THRODEMAN 1939) oder der von Towton 1461<br />
(Abb. 7) bekannt sind (FIORATO/BOYLSTON/KNÜSEL<br />
2000). Doch auch hier sind Parallelen zu anderen<br />
Ursachen für die Anlage von Massengräbern<br />
möglich. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges<br />
(1618-1648) beispielsweise, starben die Menschen<br />
weniger an Verw<strong>und</strong>ungen, <strong>als</strong> an Fleckenfieber<br />
oder an der <strong>Pest</strong>.<br />
Abb. 6 Erfurt; Anger 53: Gruppenbestattung<br />
(aus WULF 2005, 54).<br />
aktuell<br />
102
<strong>Die</strong> <strong>Pest</strong> <strong>als</strong> <strong>Interpretationsproblem</strong> <strong>mittelalterlicher</strong> <strong>und</strong> frühneuzeitlicher Massengräber<br />
Abb. 7 Towton (England): Massengrab (FIORATO/BOYLSTON/KNÜSEL 2000, Fig. 4.14).<br />
A n m e r k u n g e n<br />
1<br />
<strong>Die</strong>se, in der Literatur häufig anzutreffende Angabe<br />
wird jedoch öfter <strong>als</strong> übertrieben bezeichnet. So beispielsweise<br />
Johannes Nohl (NOHL 1924, 40) sowie in<br />
jüngerer Zeit Manfred Vasold. Seiner Meinung nach<br />
kann die <strong>Pest</strong> nicht solch hohe Verluste verursacht<br />
haben. <strong>Die</strong> Zahlen müssen entweder zu hoch gegriffen<br />
sein oder es handelte sich um eine oder mehrere andere<br />
Seuchen, unter der selbstverständlich auch die <strong>Pest</strong><br />
grassiert haben könnte (VASOLD 2003, 11, 116, 118, 123).<br />
2<br />
<strong>Die</strong> Vorstellung weiterer mir bekannter Massengräber,<br />
die eine Interpretation <strong>als</strong> Seuchengräber erfuhren,<br />
kann hier nicht vorgenommen werden, was jedoch<br />
an anderer Stelle in Kürze nachgeholt wird.<br />
3<br />
Frdl. schriftliche Mitteilung vom 12.07.2007.<br />
4<br />
H. Hesse, <strong>Die</strong> anthropologischen Untersuchungen<br />
des Friedhofs des Heiliggeist-Spit<strong>als</strong>. Vortrag zum<br />
Landesgeschichtlichen Kolloquium von Prof. Winfried<br />
Schich am 6.12.2005 in Berlin.<br />
5<br />
Auch der Nachweis einer Feuersbrunst in Berlin<br />
bringt bei Grab 506 keine weitere Interpretationsmöglichkeit.<br />
<strong>Die</strong>ses Feuer hatte erst im Jahr 1380 innerhalb<br />
einer Nacht fast ganz Berlin zerstört: „Alle öffentlichen<br />
Gebäude, zahlreiche Bürgerhäuser <strong>und</strong> alle Kirchen,<br />
außer der Klosterkirche, wurden zerstört. Wieviele<br />
Einwohner den Flammen zum Opfer fielen, ist<br />
unbekannt.“ (RIBBE/SCHMÄDEKE 1994, 1). <strong>Die</strong> Anlage<br />
von Massengräbern wäre aber somit auch in diesem<br />
Fall möglich, wenngleich mir archäologische Nachweise<br />
hierzu bisher fehlen.<br />
L i t e r a t u r<br />
FIORATO, V./BOYLSTON, A./C. KNÜSEL (Hrsg.) (2000):<br />
Blood Red Roses. The Archaeology of a Mass Grave<br />
from the Battle of Towton AD 1461. Oxford 2000.<br />
GECKELER, C. (2007): Kieler Erinnerungstage: 14.<br />
Februar 1961. Mittelalterlicher Kieler <strong>Pest</strong>friedhof<br />
gef<strong>und</strong>en: http://www.kiel.de/kultur/stadtarchiv/<br />
erinnerungstage1.php?id=49[12.05.2007].<br />
GERBER, R. (1999): Rückgang <strong>und</strong> Stagnation. <strong>Die</strong><br />
Bevölkerungsentwicklung im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert. In:<br />
Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrh<strong>und</strong>ert neu entdeckt.<br />
Bern 1999, 97-102.<br />
GRUPE, G. (1986): Umwelt <strong>und</strong> Bevölkerungsentwicklung<br />
im Mittelalter. In: B. Herrmann (Hrsg.),<br />
Mensch <strong>und</strong> Umwelt im Mittelalter. Stuttgart 1986,<br />
24-34.<br />
HESSE, H. (1998): Der Friedhof des Berliner Heilig-<br />
Geist-Spit<strong>als</strong> – ein anthropologischer Zwischenbericht.<br />
Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie,<br />
Ethnologie <strong>und</strong> Urgeschichte 19, 1998, 75-86.<br />
ILLI, M. (1992): Wohin die Toten gingen. Begräbnis <strong>und</strong><br />
Kirchhof in der vorindustriellen Stadt. Zürich 1992.<br />
KAHLOW, S. (2005): Krankheiten im Mittelalter <strong>und</strong><br />
der Frühen Neuzeit im archäologischen Bef<strong>und</strong>.<br />
Unpublizierte Magisterarbeit, Philosophische Fakultät<br />
I der Humboldt-Universität zu Berlin, 2005.<br />
103<br />
aktuell
Simone <strong>Kahlow</strong><br />
LANGE, H. (1997): Massengräber <strong>und</strong> mittelslawische<br />
Siedlung. Archäologie in Berlin <strong>und</strong> Brandenburg<br />
1995-1996. Stuttgart 1997, 116-118.<br />
NOHL, J. (1924): Der Schwarze Tod. Potsdam 1924.<br />
OHM, M. (1954): Das mittelalterliche Stadtbuch<br />
von Berlin. Neu bearbeitet zu Studienzwecken auf<br />
Anregung der Verwaltungsakademie Berlin in den<br />
Jahren 1952-1954, Privatsonderdruck o.O. 1954.<br />
PRECHEL, M. (1996): Anthropologische Untersuchungen<br />
der Skelettreste aus einem <strong>Pest</strong>massengrab am<br />
Heiligen-Geist-Hospital zu Lübeck. Lübecker Schriften<br />
zur Archäologie <strong>und</strong> Kulturgeschichte 24, 1996,<br />
323-339.<br />
– (2002): Eine Lübecker Population von 1350.<br />
Krankheiten <strong>und</strong> Mangelerscheinungen. In: M. GLÄSER<br />
(Hrsg.), Archäologische Untersuchungen auf dem<br />
Lübecker Stadthügel: Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> F<strong>und</strong>e. Lübecker<br />
Schriften zu Archäologie <strong>und</strong> Kulturgeschichte 26,<br />
2002, 245-286.<br />
RIBBE, W./J. SCHMÄDEKE (1994): Kleine Berlin-<br />
Geschichte. Berlin 1994.<br />
RUFFIE, J./J.-C. SOURNIA (2000): <strong>Die</strong> Seuchen in der<br />
Geschichte der Menschheit. Stuttgart 2000.<br />
SCHUH, H. (2007): Grippen, Gräber <strong>und</strong> Gelehrte. <strong>Die</strong><br />
Zeit 16.10.2003, Nr. 43. http://wissenschaft-online.de/<br />
artikel/689843 [10.05.2007].<br />
THORDEMAN, B. (1939): Armor from the Battle of Wisby.<br />
Stockholm 1939.<br />
ULRICH-BOCHSLER, S. (1999): Krankheit <strong>und</strong> Tod – im<br />
Spiegel des Siechenfriedhofs am Klösterlistutz. In:<br />
Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrh<strong>und</strong>ert neu entdeckt.<br />
Bern 1999, 102-107.<br />
VASOLD, M. (2003): <strong>Die</strong> <strong>Pest</strong>. Ende eines Mythos.<br />
Stuttgart 2003.<br />
WAHL, J. (1993): Der Heidelberger Spitalfriedhof. In:<br />
Stadtluft, Hirsebrei <strong>und</strong> Bettelmönch. <strong>Die</strong> Stadt um<br />
1300. Katalog zur Ausstellung. Stuttgart 1993, 470-485.<br />
WITTE, K. (2001): Giovanni Boccaccio. Das Dekameron.<br />
Düsseldorf 2001.<br />
WITT-STUHR, M./WIEDMANN, B./S. SPIONG (2007):<br />
Verscharrt <strong>und</strong> vergessen – <strong>Die</strong> Toten vom Stadelhof.<br />
<strong>Die</strong> Warte, Jg. 68,Nr. 133, 2007, 8-14.<br />
WULF, D. (2005): Seuchenopfer unter der Kirche?<br />
Archäologie in Deutschland, Heft 4, 2005, 54-55.<br />
Simone <strong>Kahlow</strong> M.A.<br />
Rehfelder Str. 24<br />
D-15566 Schöneiche b. Berlin<br />
simonekahlow@aol.com<br />
aktuell<br />
104