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Volker Wittmütz: Jahrhundertwende. Der ... - BGV-Wuppertal

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auch an anderer Stelle bemerkbare negative<br />

Sicht der Technik: sie wird dem Menschen immer<br />

unverständlicher, enteilt ihm sozusagen,<br />

und er muß hurtig sein und selbst immer<br />

schneller werden, um mit der Technik<br />

mitzuhalten. Sie verändert dazu seine traditionellen<br />

Lebensumstände, so daß er den Umständen,<br />

unter denen seine Großväter und Urgroßväter<br />

gelebt haben, und damit auch diesen<br />

selbst entfremdet wird. Er wird sie immer<br />

weniger verstehen, und unausgesprochen, aber<br />

greifbar ist der Gedanke, daß das 19. Jahrhundert<br />

zwar „Culturfortschritt“ brachte, aber auf<br />

Kosten menschlicher Nähe, vielleicht sogar<br />

menschlichen Glücks. Die „Kosten“ dieses<br />

Fortschritts kommen bei diesem nachdenk -<br />

lichen Aufsatz deutlich in den Blick.<br />

Auch in dem kurzen Aufsatz „Zum neuen<br />

Jahre und zum neuen Jahrhundert“ in dem<br />

„Täglichen Anzeiger für Berg“ klingen diese<br />

Kosten an 14 . Auch dort ist von vielen Fort -<br />

schritten während des vergangenen Jahrhunderts<br />

die Rede, auch von politischen Fortschritten,<br />

eben solchen, die errungen wurden durch<br />

„nationale Kämpfe“ und die in eine „größere<br />

Freiheit der politischen, sozialen, wirt schaft -<br />

lichen und geistigen Bewegung an die Stelle<br />

überlebter, beschränkter alter Zustände“ mündeten.<br />

„Ob der größeren Freiheit ...auch immer<br />

die rechte Weisheit und Würde im Menschenund<br />

Völkerleben gefolgt ist, wird indessen<br />

wohl niemand zu behaupten wagen, denn viele<br />

Mißstände und Gebrechen, viele Aufgaben und<br />

Rätsel nehmen wir aus dem alten Jahre und<br />

dem scheidenden Jahrhundert mit hinüber ins<br />

neue Säkulum“. Auch hier das Ungenügen hinsichtlich<br />

der vorübergehenden Zeitspanne, und<br />

es ist noch nicht einmal Skepsis gegenüber<br />

dem anbrechenden Säkulum, was diese Zeilen<br />

bestimmt, sondern eher die Gewißheit, daß das<br />

neue Jahrhundert sich mit den gleichen,<br />

vielfach sogar denselben „Mißständen und Gebrechen,<br />

Aufgaben und Rätseln“ wird be -<br />

schäftigen müssen wie das alte, das sie nicht<br />

hat lösen können. Dazu dann die Auffassung,<br />

daß zwar bestimmte „Errungenschaften“ das<br />

vergangene Jahrhundert kennzeichneten, denen<br />

jedoch keine entsprechenden Entwicklungen<br />

in den Menschen selbst, etwa in ihrer<br />

„Weisheit“, ihrer „Würde“ oder ihren morali -<br />

schen Fähigkeiten, folgten. Deshalb äußert der<br />

Autor zum Schluß den Wunsch, das kommende<br />

Jahrhundert möge „eine innere Konsolidation<br />

begründen, der Befestigung, der<br />

Sammlung, der Würde und Weihe im Leben<br />

der Völker und Menschen“ dienen.<br />

Wenn man die Äußerungen in der Presse<br />

des <strong>Wuppertal</strong>s zum Jahresende 1899 insgesamt<br />

überblickt, stellt man fest, daß kein Blatt<br />

der Anordnung des Kaisers nachgekommen ist.<br />

Nirgendwo findet sich eine Verherrlichung der<br />

Hohenzollern, noch nicht einmal eine Würdigung<br />

ihrer politischen oder militärischen Taten,<br />

allenfalls eine positive Erwähnung Bismarcks.<br />

Die Hochstimmung der nationalen Einheit ist<br />

weitgehend verflogen, der Blick in die Vergangenheit<br />

läßt sie nur am Rande anklingen. Das<br />

Politische spielt überhaupt nur eine untergeordnete<br />

Rolle bei den Rückblicken, die Errungenschaften<br />

von Wissenschaft und Technik<br />

faszinieren mehr. Doch werden beider Leistungen<br />

nicht überschwenglich gelobt, sondern –<br />

mit überraschender Deutlichkeit – in ihren<br />

sozialen und politischen Bezügen gesehen und<br />

dann eben auch als möglicherweise durchaus<br />

gefährlich, manchmal sogar als verhängnisvoll<br />

beurteilt. Natürlich werden im Angesicht des<br />

neuen Jahrhunderts auch Hoffnungen und Erwartungen<br />

formuliert, aber doch überraschend<br />

verhalten und verbunden mit gehöriger Skepsis.<br />

Und wenn ein Autor feststellt, daß der Ent -<br />

wicklung auf den Feldern von Wissenschaft<br />

und Technik während des 19. Jahrhunderts<br />

kein Fortschritt der Weisheit, der Würde oder<br />

der Moral der Menschen entsprach, so impliziert<br />

er damit, daß durch das entstandene –<br />

und sich möglicherweise noch erweiternde –<br />

Ungleichgewicht zwischen technischem Fort -<br />

schritt und moralischer Entwicklung der Menschen<br />

das Risiko technischer Errungenschaften<br />

deren Chancen für die Menschen übersteigt.<br />

Schließlich wird der Gedanke formuliert, daß<br />

viele Probleme und Schwie rig keiten, die im<br />

alten Jahrhundert nicht bewältigt wurden, in<br />

das neue Jahrhundert mitgenommen werden<br />

müssen, daß mithin die zeitliche Grenzlinie für<br />

den Charakter von Problemen ebenso wie für<br />

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