Volker Wittmütz: Jahrhundertwende. Der ... - BGV-Wuppertal
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Das sei von Dir auf Deiner langen Fahrt,<br />
Erwachendes Jahrhundert, uns beschieden!<br />
<strong>Der</strong> Wunsch, daß das neue Jahrhundert vor<br />
allem Frieden bringen möge, ist die alle übrigen<br />
Gedichte ebenfalls beherrschende Erwartung.<br />
Dabei wird gelegentlich durchaus bemerkt,<br />
daß der Krieg als „Vater aller Dinge“<br />
auch Positives zu leisten imstande ist. Zum<br />
Beispiel ist, wie der Autor anführt 11 , nur durch<br />
die Kriege Bismarcks die nationalstaatliche<br />
Einigung Deutschlands erreicht worden. Doch<br />
droht diesem Werk „schnellverblich’ner<br />
Glanz“, und das nicht etwa, weil es den<br />
Kriegen entsprungen ist, sondern weil „Pfaff,<br />
Schranze und Demagog“ an ihm nagen, womit<br />
der Verfasser knapp die seiner Auffassung<br />
nach wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte<br />
be zeichnet, die die Einheit Deutschlands unterminieren.<br />
Dabei sind „Pfaff“ und „Dem -<br />
agog“ noch am ehesten zu identifizieren: es<br />
sind die Kirchen und die politischen Parteien,<br />
die der nationalen Einheit entgegenwirken, die<br />
Kir chen, weil sie die konfessionellen Schran -<br />
ken betonen, die Parteien, weil ihre Vertreter<br />
auf dem Marktplatz, aber auch im Reichstag<br />
demagogische Reden halten und damit ebenfalls<br />
Zwietracht in die mühsam errungene Eintracht<br />
der Nation säen – ein deutlicher Hinweis<br />
auf eine in bestimmten gesellschaftlichen<br />
Schich ten verbreitete Verständnislosigkeit<br />
gegenüber einem modernen politischen Plura -<br />
lismus.<br />
Daß zuletzt auch „Schranzen“ die Einheit<br />
Deutschlands bedrohen, kann nur bedeuten,<br />
daß es sogar am kaiserlichen Hof, in der nächsten<br />
Umgebung des Kaisers, Kräfte, nämlich<br />
„Hofschranzen“, gibt, die Wilhelm II. in eine<br />
falsche, gefährliche Richtung zu bewegen<br />
suchen – eine deutliche Kritik des Hofes und<br />
seiner Organisation, vielleicht gar eine verhaltene<br />
am Kaiser selbst, dem üblichen ge dank -<br />
lichen Muster folgend, der schlecht unterrichtete<br />
und beratene Kaiser möge sich mit<br />
besseren Beratern umgeben!<br />
<strong>Der</strong> kritische Ton des Gedichts wird sogar<br />
stärker, geradezu pessimistisch beim Blick auf<br />
andere Länder und deren Entwicklung:<br />
Doch, wo zu schau’n gehofft auf neuer Erde<br />
<strong>Der</strong> Freiheit Reis man sprießen, schlank und<br />
hehr,<br />
Herrscht über kläffender Banausenheerde<br />
<strong>Der</strong> Milliardär.<br />
Amerika, schnell hast du, lautre Quelle<br />
<strong>Der</strong> Väter Geist zum Pfuhl der Korruption<br />
Gewandelt du, McKinley füllt die Stelle<br />
Von Washington. 12<br />
Libertas, deine Leuchte droht zu fallen,<br />
Die bessre Zeiten wundervoll erhellt,<br />
Ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />
Scheint heut die Welt.<br />
<strong>Der</strong> Jobber, aufgestiegen zum Minister,<br />
Sich waschend in des Golds erhöhter Fluth,<br />
Und neben ihm mit langem Borgregister<br />
<strong>Der</strong> Prinz von Blut.<br />
Und nach einer ähnlichen Kritik an<br />
Großbritannien heißt es in den letzten Zeilen,<br />
sicherlich vom Autor überspitzt formuliert,<br />
aber in der Tendenz doch deutlich:<br />
Die Reiter der Apokalypse reiten<br />
Im Börsensold.<br />
Diese fundamentale Opposition zum zeitgenössischen<br />
Imperialismus und Kapitalismus<br />
entspringt nicht allein der Überzeugung, daß<br />
ein ungeheurer Materialismus überall die Welt<br />
regiert und sich das Geld alles untertan macht,<br />
sie wird noch verschärft dadurch, daß auch<br />
dort, wo die Ideen und Werte der Aufklärung<br />
noch eine Heimstatt zu haben schienen, nämlich<br />
in den USA, daß nun auch dort der Kapitalismus<br />
herrscht und die Ideale der Menschheit<br />
ihm schon fast vollständig zum Opfer<br />
gefallen sind – ein wenig Hoffnung hat der Autor<br />
immerhin noch, etwa wenn er schreibt, daß<br />
die „Leuchte der Libertas zu fallen drohe“ und<br />
daß die „Welt ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />
zu sein scheine“ und nicht „sei“.<br />
Freilich ist das apokalyptische Schlußbild<br />
dieses Gedichts nicht dazu angetan, dieser<br />
winzigen Hoffnung für das neue Jahrhundert<br />
Nahrung zu geben, selbst wenn man die<br />
manieristischen Züge dieses Bildes in Rechnung<br />
stellt.<br />
Auch die am letzten Tag des Jahres 1899 in<br />
den Zeitungen publizierten „Besinnungen“<br />
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