Volker Wittmütz: Jahrhundertwende. Der ... - BGV-Wuppertal

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präsident. Das Erscheinen einer entsprechenden kaiserlichen Ordre ist auch andernorts belegt: der junge Journalist und Kritiker Alfred Kerr berichtete darüber in einer seiner regelmäßigen Korrespondenzen, in denen er das hauptstädtische Leben Berlins den Lesern der „Breslauer Zeitung“ schilderte 5 . Doch Kerr kritisierte nur, daß Kaiser und Regierung amtlich verfügten, daß das neue Jahrhundert am 1. Januar 1900 und nicht, wie mathematisch richtig, am 1. Januar 1901 zu beginnen habe. Er bemängelte nicht, was dem Redakteur der „Langenberger Zeitung“ auffiel: „Es bleibt fraglich, ob Beamte, die die Überzeugung von den Verdiensten der preußischen Krone zu befestigen haben, die gewünschte Wirkung haben werden. Werturteile bildet man nicht gern auf Kommando.“ 6 Beide Journalisten aber wandten sich nicht gegen die von der kaiserlichen Obrigkeit verfügte Anordnung, jenen Jahreswechsel überhaupt besonders feierlich zu begehen. Eben diese Anordnung erlaubt nun aller - dings die auch von anderer Seite gestützte 7 Vermutung, daß für die Bevölkerung in Deutschland die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kein Ereignis darstellte, das man mit größerem Aufwand als sonst zu feiern gedachte. Demgegenüber sahen der Kaiser und seine Umgebung in dem bevorstehenden Ereignis eine Gelegenheit, erneut die Verdienste der Hohenzollern-Dynastie um die politische Einigung Deutschlands ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und das Ereignis damit gewissermaßen politisch zu instrumentalisieren. Kerr berichtet in seinen Korrespondenzen, daß zur Feier des neues Jahrhunderts in Berlin „ein ungeheures Schlemmen losgehen“ und „der Champagner fließen“ würde 8 . Für das Wuppertal ist dagegen zu konstatieren, daß der Umfang und die Intensität von öffentlichen wie privaten Vergnügungen zur Jahreswende 1899/ 1900 nicht über das für einen „normalen“ Jahreswechsel übliche Ausmaß hinausging. Daß das neue Jahrhundert aber auch in anderen Städten zum Anlaß für verfeinerte kulinarische Genüsse genommen wurde, wird in einer Nachricht aus Köln deutlich, die im „Täglichen Anzeiger für Berg und Mark“ 9 abgedruckt wurde: Kölner Bürger hatten ihrer Stadt aus Anlaß der Jahrhundertwende ein aus 930 Teilen (!) bestehendes silbernes Eß- und Tafelservice geschenkt! Doch bei dieser so großzügig anmutenden Schenkung überwiegt der Eindruck, einige Kölner Bürger hätten überhaupt nur einen Anlaß gesucht, um mit ihrer mäzenatischen Geste ihren Reichtum zu demonstrieren, und da sei ihnen die Jahrhundertwende gerade recht gewesen. Also handelt es sich hierbei ebenfalls eine Instrumenta - lisierung dieses Datums. Originäre Produkte der Jahrhundertwende sind allerdings etliche Gelegenheitsgedichte, die auch in den Zeitungen des Wuppertals am Ende des Jahres 1899 erschienen. In ihnen verliehen meist unbekannt bleibende Autoren ihren Gefühlen, ihren Erwartungen, aber auch ihrer Skepsis gegenüber dem neuen Säkulum Ausdruck. Einige dieser Gedichte sollen im folgenden vorgestellt werden. Übrigens erschienen auch Prosatexte am 30. oder 31. Dezember 1899 in den Zeitungen; meist waren es zeitkritische Betrachtungen, manchmal fast mit dem Charakter einer religiösen Besinnung und Andacht, auch philosophische Überlegungen zum Wesen der Zeit werden hineinge - mischt. Diese Texte sollen ebenfalls mit herangezogen werden. Dabei geht es hier nicht darum, sie und die Gelegenheitsgedichte etwa als poetischen Ausdruck von individuellen Gefühlslagen oder auch von persönlichen Überlegungen und Einsichten literarisch zu würdigen. Die Gedichte und Texte sollen vor allem als Versuche einer „kollektiven Sinndeutung“ verstanden werden 10 . Dieser Zugriff vergewaltigt die Produkte nicht, er erscheint umso eher angemessen, da es sich bei den Publikationen nicht um „große“ Literatur handelt, sondern um Bemühungen, das Besondere einer Situation – den Anfang eines neuen Säkulums – sowohl durch einige von Distanz zum Tagesgeschehen zeugende, dabei doch dieses auch kritisch reflektierende Gedanken in einer sprachlich anspruchsvollen Form – möglichst ein Gedicht – zum Ausdruck zu bringen. Im „Täglichen Anzeiger für Berg und Mark“ erschien am Sonntag, dem 31. Dezem- 2

er 1899, das folgende Gedicht: Zum Jahrhundertwechsel Ein neu’ Jahrhundert ist emporgestiegen Am ewgen Firmament, genannt die Zeit – Zur Zukunft spannt es seinen lichten Bogen Heraus aus Trümmern der Vergangenheit – Und forschend schaut die Menschheit nun entgegen Dem strahlend aufgegangnen jungen Licht, Vertrauend, daß es ihr nur reichsten Segen In seinem hehren Rosenschein verspricht! Der Hoffnung Banner lieben wir zu schwingen Ja stets auf unserm rauhen Pilgerpfad – In diesem Zeichen kämpfen wir und ringen Im Daseinswogen immer früh und spat. – So laßt uns fürder denn auch vorwärts schauen Mit unerschüttert hoffnungsvollem Blick, So wollen froh der Zukunft wir vertrauen, Daß sie uns allen bringt ein neues Glück! Wohlan, du neuer Zeitenraum, wir grüßen Dich alle d’rum mit frischem Lebensmut. – Mög’ uns in deinem Lauf nur Heil ersprießen, Und immer schirmen Gottes treue Hut. – O, wahre ferner auch den gold’nen Frieden Dem vielgeliebten deutschen Vaterland, Damit ihm ferner Wohlfahrt sei beschieden Vom Firn der Alpen bis zum nord’schen Strand! Das ist keine emphatische Begrüßung des neuen Säkulum, wenn dessen Erscheinen auch mit positiven Epitheta belegt wird. Eher ist vorsichtige Zuversicht eine das Gedicht beherrschende Empfindung, gepaart mit einer Portion Skepsis. Die Anfangszeilen der zweiten Strophe lassen indessen anklingen, daß eine verhaltene Hoffnung schon immer zum täglichen Daseinskampf der Menschen dazugehörte und ihren „rauhen Pilgerpfad“ stets charakterisiert hat. Die Hoffnungen „der Menschheit“ (in der ersten Strophe) wie „des deutschen Vaterlands“ (in der dritten Strophe) – der Autor bleibt diesen Kollektiven verhaftet, an keiner Stelle gibt er seinen eigenen Empfindungen Ausdruck – richten sich auf den „gold’nen Frieden“. Aber es bleibt auch das Gefühl dafür lebendig, daß der Frieden und seine Folgen abhängig bleiben von „Gottes treuer Hut“. Überraschenderweise tritt der Rückblick auf das vergangene Jahrhundert deutlich hinter diesen Erwartungen an die Zukunft zurück, dabei ist nur sehr pauschal von den „Trümmern der Vergangenheit“ die Rede. Viele anderen Gelegenheitsgedichte vermitteln ähnlich unpersönliche, schematische und manchmal geradezu stereotype Erwartungen und Erfahrungen. In einem in der „Langenberger Zeitung“ am 30. Dezember 1899 erschienenen Gedicht verschwindet der Dichter ebenfalls in einem Kollektiv. Allerdings fällt sein Rückblick auf das vergangene Jahrhundert ausführlicher und im Sinne der eingangs erwähnten Aufforderung des Kaisers aus. Da heißt es: Doch auch viel Herrliches sah’n wir erstehen, Und mancher Stern ging neu und glänzend auf. Ein einig Deutschland, von der Welt bewundert Ein deutscher Kaiser, seiner Ahnen wert, Voll Friedenssinn, und doch die Hand am Schwert, War Deine Gabe, fliehendes Jahrhundert. Die Erfahrung der staatlichen Einigung Deutschlands beherrscht diesen Rückblick, während der Ausblick auf das 20. Jahrhundert fragender und skeptischer als in dem ersten Gedicht ausfällt: Du aber, das, mit Schleiern dich verhangen, Bei Glockenklang jetzt auf die Schwelle tritt, Hier jubelnd und dort sorgenvoll empfangen – Was bringst Du uns, was bringst der Welt Du mit? Wirst friedlich Du wohl lösen all’ die Fragen, Die unheilvoll bedrohen uns’re Zeit? Versöhnend schlichten der Parteien Streit Und Deutschlands Ruhm durch alle Lande tragen? Die größte Erwartung an das neue Jahrhundert besteht auch in Langenberg darin, daß es Frieden bringen möge. Der Frieden ist der Begleiter eines „stillen Glücks“, ein Ausdruck, der – jenseits des in allen Gelegenheitsgedichten auftretenden Kollektivs – auch eine gewisse persönliche, häusliche Sphäre evoziert. Ein stilles Glück, das sich mit Frieden paart, 3

präsident. Das Erscheinen einer entsprechenden<br />

kaiserlichen Ordre ist auch andernorts<br />

belegt: der junge Journalist und Kritiker Alfred<br />

Kerr berichtete darüber in einer seiner<br />

regelmäßigen Korrespondenzen, in denen er<br />

das hauptstädtische Leben Berlins den Lesern<br />

der „Breslauer Zeitung“ schilderte 5 . Doch Kerr<br />

kritisierte nur, daß Kaiser und Regierung<br />

amtlich verfügten, daß das neue Jahrhundert<br />

am 1. Januar 1900 und nicht, wie mathematisch<br />

richtig, am 1. Januar 1901 zu beginnen<br />

habe. Er bemängelte nicht, was dem Redakteur<br />

der „Langenberger Zeitung“ auffiel: „Es bleibt<br />

fraglich, ob Beamte, die die Überzeugung von<br />

den Verdiensten der preußischen Krone zu befestigen<br />

haben, die gewünschte Wirkung haben<br />

werden. Werturteile bildet man nicht gern auf<br />

Kommando.“ 6 Beide Journalisten aber<br />

wandten sich nicht gegen die von der kaiserlichen<br />

Obrigkeit verfügte Anordnung, jenen<br />

Jahreswechsel überhaupt besonders feierlich<br />

zu begehen.<br />

Eben diese Anordnung erlaubt nun aller -<br />

dings die auch von anderer Seite gestützte 7<br />

Vermutung, daß für die Bevölkerung in<br />

Deutschland die Wende vom 19. zum 20.<br />

Jahrhundert kein Ereignis darstellte, das man<br />

mit größerem Aufwand als sonst zu feiern<br />

gedachte. Demgegenüber sahen der Kaiser und<br />

seine Umgebung in dem bevorstehenden<br />

Ereignis eine Gelegenheit, erneut die Verdienste<br />

der Hohenzollern-Dynastie um die politische<br />

Einigung Deutschlands ins Zentrum der<br />

Aufmerksamkeit zu rücken und das Ereignis<br />

damit gewissermaßen politisch zu instrumentalisieren.<br />

Kerr berichtet in seinen Korrespondenzen,<br />

daß zur Feier des neues Jahrhunderts in Berlin<br />

„ein ungeheures Schlemmen losgehen“ und<br />

„der Champagner fließen“ würde 8 . Für das<br />

<strong>Wuppertal</strong> ist dagegen zu konstatieren, daß der<br />

Umfang und die Intensität von öffentlichen wie<br />

privaten Vergnügungen zur Jahreswende 1899/<br />

1900 nicht über das für einen „normalen“<br />

Jahreswechsel übliche Ausmaß hinausging.<br />

Daß das neue Jahrhundert aber auch in anderen<br />

Städten zum Anlaß für verfeinerte kulinarische<br />

Genüsse genommen wurde, wird in einer<br />

Nachricht aus Köln deutlich, die im „Täglichen<br />

Anzeiger für Berg und Mark“ 9 abgedruckt<br />

wurde: Kölner Bürger hatten ihrer Stadt aus<br />

Anlaß der <strong>Jahrhundertwende</strong> ein aus 930<br />

Teilen (!) bestehendes silbernes Eß- und<br />

Tafelservice geschenkt! Doch bei dieser so<br />

großzügig anmutenden Schenkung überwiegt<br />

der Eindruck, einige Kölner Bürger hätten<br />

überhaupt nur einen Anlaß gesucht, um mit<br />

ihrer mäzenatischen Geste ihren Reichtum zu<br />

demonstrieren, und da sei ihnen die <strong>Jahrhundertwende</strong><br />

gerade recht gewesen. Also handelt<br />

es sich hierbei ebenfalls eine Instrumenta -<br />

lisierung dieses Datums.<br />

Originäre Produkte der <strong>Jahrhundertwende</strong><br />

sind allerdings etliche Gelegenheitsgedichte,<br />

die auch in den Zeitungen des <strong>Wuppertal</strong>s am<br />

Ende des Jahres 1899 erschienen. In ihnen verliehen<br />

meist unbekannt bleibende Autoren<br />

ihren Gefühlen, ihren Erwartungen, aber auch<br />

ihrer Skepsis gegenüber dem neuen Säkulum<br />

Ausdruck. Einige dieser Gedichte sollen im<br />

folgenden vorgestellt werden. Übrigens erschienen<br />

auch Prosatexte am 30. oder 31.<br />

Dezember 1899 in den Zeitungen; meist waren<br />

es zeitkritische Betrachtungen, manchmal fast<br />

mit dem Charakter einer religiösen Besinnung<br />

und Andacht, auch philosophische Überlegungen<br />

zum Wesen der Zeit werden hineinge -<br />

mischt. Diese Texte sollen ebenfalls mit<br />

herangezogen werden. Dabei geht es hier nicht<br />

darum, sie und die Gelegenheitsgedichte etwa<br />

als poetischen Ausdruck von individuellen<br />

Gefühlslagen oder auch von persönlichen<br />

Überlegungen und Einsichten literarisch zu<br />

würdigen. Die Gedichte und Texte sollen vor<br />

allem als Versuche einer „kollektiven Sinndeutung“<br />

verstanden werden 10 . Dieser Zugriff<br />

vergewaltigt die Produkte nicht, er erscheint<br />

umso eher angemessen, da es sich bei den Publikationen<br />

nicht um „große“ Literatur handelt,<br />

sondern um Bemühungen, das Besondere einer<br />

Situation – den Anfang eines neuen Säkulums<br />

– sowohl durch einige von Distanz zum Tagesgeschehen<br />

zeugende, dabei doch dieses auch<br />

kritisch reflektierende Gedanken in einer<br />

sprachlich anspruchsvollen Form – möglichst<br />

ein Gedicht – zum Ausdruck zu bringen.<br />

Im „Täglichen Anzeiger für Berg und<br />

Mark“ erschien am Sonntag, dem 31. Dezem-<br />

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