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Volker Wittmütz: Jahrhundertwende. Der ... - BGV-Wuppertal

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Volkmar <strong>Wittmütz</strong><br />

<strong>Jahrhundertwende</strong><br />

<strong>Der</strong> Jahreswechsel 1899/1900 im <strong>Wuppertal</strong><br />

Dieser kleine Beitrag gründet auf der Vermutung,<br />

daß der Übergang von einem Jahrhundert<br />

oder gar Jahrtausend in das folgende, wie<br />

er uns jetzt bevorsteht, mehr ist als das Überschreiten<br />

einer von der Mathematik und der<br />

Astronomie gesetzten, von vielen Zeitzeugen<br />

deshalb als willkürlich empfundenen Scheidelinie.<br />

Ein derartiger Jahreswechsel hat immer<br />

Wirkungen gehabt, vor allem wohl des -<br />

halb, weil viele andere Zeitgenossen von ihm<br />

eine besondere Wirkung erwarteten, so daß<br />

eine <strong>Jahrhundertwende</strong> sich in der Art einer<br />

„self-fulfilling prophecy“ entfalten konnte 1 .<br />

Gewiß, die Geschichte orientiert sich nicht an<br />

Jahrhunderten, sie ist keine mathematische<br />

Wissenschaft, doch wenn viele Menschen<br />

meinen, daß mit einem neuen Jahrhundert auch<br />

eine neue Epoche beginnt und ein anderes<br />

Zeitalter vergeht, und wenn diese Menschen<br />

deshalb dem Ende und gleichzeitigen Anfang<br />

viel Gewicht beimessen – dann bekommen<br />

Ende und Anfang ein entsprechendes Gewicht.<br />

Es ist auch in der Geschichte so, daß jene<br />

Ereignisse Bedeutung haben, denen nicht nur<br />

die Nachwelt, sondern auch die Zeitgenossen<br />

Bedeutung zumessen. Und daß der Beginn<br />

eines neuen Jahrhunderts wie eines Jahr -<br />

tausends für bedeutungsvoll gehalten wird, das<br />

erleben wir zur Zeit selbst. Was wird nicht alles<br />

unternommen, um dem Silvesterabend dieses<br />

Jahres ein besonderes Gepräge zu geben, weil<br />

mit dem Neujahrstag des Jahres 2000 das neue<br />

Jahrtausend beginnt! 2<br />

Schon jede Jahreswende läßt dies in ge -<br />

ringem Umfang spürbar werden; wir begehen<br />

sie in besonderer, aus dem Alltag herausgehobener<br />

Weise, wir „lassen unseren Geist über<br />

das Geschäftige der alltäglichen Materie<br />

steigen, wie die „Elberfelder Zeitung“ am 31.<br />

Dezember 1899 schrieb 3 , und blicken – meist<br />

in eine besondere Stimmung versetzt – zurück<br />

auf das vergangene Jahr, doch ebenso nach<br />

vorn, dem neuen Jahr entgegen, oft voller Erwartungen<br />

und Hoffnungen, vielleicht aber<br />

auch voller Befürchtungen und Ängste. Bei<br />

einer Jahrhundert- oder gar Jahrtausendwende<br />

wird daraus ein Massenphänomen. Priester und<br />

Pfarrer, Psychologen und Soziologen, Ge -<br />

schäftsleute und Reiseveranstalter und nicht<br />

zuletzt Historiker verzeichnen eine Konzentration<br />

von Erwartungen, manchmal auch eine<br />

Zunahme von Ängsten. Nicht zu leugnen ist,<br />

daß der Charakter der unmittelbar bevorstehenden<br />

Jahrtausendwende vor allem durch die<br />

kommerzielle Werbung geprägt wird, die jede<br />

Gelegenheit ergreift, das Einzigartige des<br />

Ereignisses zu unterstreichen und ihm eine<br />

Aura von Exklusivität und Bedeutung zu<br />

geben. Aber auch hier verstärkt die Werbung<br />

nur unsere eigenen Neigungen und beutet unsere<br />

Stimmungen aus. Sicherlich ist dies alles<br />

irrational, noch viel irrationaler als die Furcht,<br />

die die Menschen früherer Jahrhunderte beim<br />

Anblick eines Kometen erfaßte. Doch auch irrationale<br />

Ängste und Hoffnungen sind nicht<br />

weniger geschichtsmächtig als rational begründete<br />

Handlungen der Menschen, manchmal<br />

sind sie sogar wirkungsvoller.<br />

„Seine Majestät der Kaiser und König<br />

haben mittelst Allerhöchster Ordre vom 11.<br />

dieses Monats (Dezember) zu bestimmen<br />

geruht, daß der am 1. Januar bevorstehende<br />

Jahrhundertwechsel in feierlicher Weise begangen<br />

werde.<br />

Ich ersuche infolgedessen, in geeigneter<br />

Weise bei gemeinnützigen Vereinen und auch<br />

anderweitig auf die Abhaltung von Versammlungen<br />

und Vorträgen hinzuwirken, bei denen<br />

des zur Neige gehenden Jahrhunderts und der<br />

Segnungen, die es unserer Nation gebracht hat,<br />

gedacht und namentlich auf die glorreiche<br />

Leitung unserer Geschicke durch die preußi -<br />

sche Krone hingewiesen wird.“<br />

Dieser Text erschien in den Zeitungen des<br />

Rheinlandes am Samstag, dem 23. Dezember<br />

1899 4 . Sein Verfasser war der rheinische Ober-<br />

1


präsident. Das Erscheinen einer entsprechenden<br />

kaiserlichen Ordre ist auch andernorts<br />

belegt: der junge Journalist und Kritiker Alfred<br />

Kerr berichtete darüber in einer seiner<br />

regelmäßigen Korrespondenzen, in denen er<br />

das hauptstädtische Leben Berlins den Lesern<br />

der „Breslauer Zeitung“ schilderte 5 . Doch Kerr<br />

kritisierte nur, daß Kaiser und Regierung<br />

amtlich verfügten, daß das neue Jahrhundert<br />

am 1. Januar 1900 und nicht, wie mathematisch<br />

richtig, am 1. Januar 1901 zu beginnen<br />

habe. Er bemängelte nicht, was dem Redakteur<br />

der „Langenberger Zeitung“ auffiel: „Es bleibt<br />

fraglich, ob Beamte, die die Überzeugung von<br />

den Verdiensten der preußischen Krone zu befestigen<br />

haben, die gewünschte Wirkung haben<br />

werden. Werturteile bildet man nicht gern auf<br />

Kommando.“ 6 Beide Journalisten aber<br />

wandten sich nicht gegen die von der kaiserlichen<br />

Obrigkeit verfügte Anordnung, jenen<br />

Jahreswechsel überhaupt besonders feierlich<br />

zu begehen.<br />

Eben diese Anordnung erlaubt nun aller -<br />

dings die auch von anderer Seite gestützte 7<br />

Vermutung, daß für die Bevölkerung in<br />

Deutschland die Wende vom 19. zum 20.<br />

Jahrhundert kein Ereignis darstellte, das man<br />

mit größerem Aufwand als sonst zu feiern<br />

gedachte. Demgegenüber sahen der Kaiser und<br />

seine Umgebung in dem bevorstehenden<br />

Ereignis eine Gelegenheit, erneut die Verdienste<br />

der Hohenzollern-Dynastie um die politische<br />

Einigung Deutschlands ins Zentrum der<br />

Aufmerksamkeit zu rücken und das Ereignis<br />

damit gewissermaßen politisch zu instrumentalisieren.<br />

Kerr berichtet in seinen Korrespondenzen,<br />

daß zur Feier des neues Jahrhunderts in Berlin<br />

„ein ungeheures Schlemmen losgehen“ und<br />

„der Champagner fließen“ würde 8 . Für das<br />

<strong>Wuppertal</strong> ist dagegen zu konstatieren, daß der<br />

Umfang und die Intensität von öffentlichen wie<br />

privaten Vergnügungen zur Jahreswende 1899/<br />

1900 nicht über das für einen „normalen“<br />

Jahreswechsel übliche Ausmaß hinausging.<br />

Daß das neue Jahrhundert aber auch in anderen<br />

Städten zum Anlaß für verfeinerte kulinarische<br />

Genüsse genommen wurde, wird in einer<br />

Nachricht aus Köln deutlich, die im „Täglichen<br />

Anzeiger für Berg und Mark“ 9 abgedruckt<br />

wurde: Kölner Bürger hatten ihrer Stadt aus<br />

Anlaß der <strong>Jahrhundertwende</strong> ein aus 930<br />

Teilen (!) bestehendes silbernes Eß- und<br />

Tafelservice geschenkt! Doch bei dieser so<br />

großzügig anmutenden Schenkung überwiegt<br />

der Eindruck, einige Kölner Bürger hätten<br />

überhaupt nur einen Anlaß gesucht, um mit<br />

ihrer mäzenatischen Geste ihren Reichtum zu<br />

demonstrieren, und da sei ihnen die <strong>Jahrhundertwende</strong><br />

gerade recht gewesen. Also handelt<br />

es sich hierbei ebenfalls eine Instrumenta -<br />

lisierung dieses Datums.<br />

Originäre Produkte der <strong>Jahrhundertwende</strong><br />

sind allerdings etliche Gelegenheitsgedichte,<br />

die auch in den Zeitungen des <strong>Wuppertal</strong>s am<br />

Ende des Jahres 1899 erschienen. In ihnen verliehen<br />

meist unbekannt bleibende Autoren<br />

ihren Gefühlen, ihren Erwartungen, aber auch<br />

ihrer Skepsis gegenüber dem neuen Säkulum<br />

Ausdruck. Einige dieser Gedichte sollen im<br />

folgenden vorgestellt werden. Übrigens erschienen<br />

auch Prosatexte am 30. oder 31.<br />

Dezember 1899 in den Zeitungen; meist waren<br />

es zeitkritische Betrachtungen, manchmal fast<br />

mit dem Charakter einer religiösen Besinnung<br />

und Andacht, auch philosophische Überlegungen<br />

zum Wesen der Zeit werden hineinge -<br />

mischt. Diese Texte sollen ebenfalls mit<br />

herangezogen werden. Dabei geht es hier nicht<br />

darum, sie und die Gelegenheitsgedichte etwa<br />

als poetischen Ausdruck von individuellen<br />

Gefühlslagen oder auch von persönlichen<br />

Überlegungen und Einsichten literarisch zu<br />

würdigen. Die Gedichte und Texte sollen vor<br />

allem als Versuche einer „kollektiven Sinndeutung“<br />

verstanden werden 10 . Dieser Zugriff<br />

vergewaltigt die Produkte nicht, er erscheint<br />

umso eher angemessen, da es sich bei den Publikationen<br />

nicht um „große“ Literatur handelt,<br />

sondern um Bemühungen, das Besondere einer<br />

Situation – den Anfang eines neuen Säkulums<br />

– sowohl durch einige von Distanz zum Tagesgeschehen<br />

zeugende, dabei doch dieses auch<br />

kritisch reflektierende Gedanken in einer<br />

sprachlich anspruchsvollen Form – möglichst<br />

ein Gedicht – zum Ausdruck zu bringen.<br />

Im „Täglichen Anzeiger für Berg und<br />

Mark“ erschien am Sonntag, dem 31. Dezem-<br />

2


er 1899, das folgende Gedicht:<br />

Zum Jahrhundertwechsel<br />

Ein neu’ Jahrhundert ist emporgestiegen<br />

Am ewgen Firmament, genannt die Zeit –<br />

Zur Zukunft spannt es seinen lichten Bogen<br />

Heraus aus Trümmern der Vergangenheit –<br />

Und forschend schaut die Menschheit nun<br />

entgegen<br />

Dem strahlend aufgegangnen jungen Licht,<br />

Vertrauend, daß es ihr nur reichsten Segen<br />

In seinem hehren Rosenschein verspricht!<br />

<strong>Der</strong> Hoffnung Banner lieben wir zu schwingen<br />

Ja stets auf unserm rauhen Pilgerpfad –<br />

In diesem Zeichen kämpfen wir und ringen<br />

Im Daseinswogen immer früh und spat. –<br />

So laßt uns fürder denn auch vorwärts schauen<br />

Mit unerschüttert hoffnungsvollem Blick,<br />

So wollen froh der Zukunft wir vertrauen,<br />

Daß sie uns allen bringt ein neues Glück!<br />

Wohlan, du neuer Zeitenraum, wir grüßen<br />

Dich alle d’rum mit frischem Lebensmut. –<br />

Mög’ uns in deinem Lauf nur Heil ersprießen,<br />

Und immer schirmen Gottes treue Hut. –<br />

O, wahre ferner auch den gold’nen Frieden<br />

Dem vielgeliebten deutschen Vaterland,<br />

Damit ihm ferner Wohlfahrt sei beschieden<br />

Vom Firn der Alpen bis zum nord’schen Strand!<br />

Das ist keine emphatische Begrüßung des<br />

neuen Säkulum, wenn dessen Erscheinen auch<br />

mit positiven Epitheta belegt wird. Eher ist<br />

vorsichtige Zuversicht eine das Gedicht beherrschende<br />

Empfindung, gepaart mit einer<br />

Portion Skepsis. Die Anfangszeilen der<br />

zweiten Strophe lassen indessen anklingen,<br />

daß eine verhaltene Hoffnung schon immer<br />

zum täglichen Daseinskampf der Menschen<br />

dazugehörte und ihren „rauhen Pilgerpfad“<br />

stets charakterisiert hat. Die Hoffnungen „der<br />

Menschheit“ (in der ersten Strophe) wie „des<br />

deutschen Vaterlands“ (in der dritten Strophe)<br />

– der Autor bleibt diesen Kollektiven verhaftet,<br />

an keiner Stelle gibt er seinen eigenen<br />

Empfindungen Ausdruck – richten sich auf den<br />

„gold’nen Frieden“. Aber es bleibt auch das<br />

Gefühl dafür lebendig, daß der Frieden und<br />

seine Folgen abhängig bleiben von „Gottes<br />

treuer Hut“. Überraschenderweise tritt der<br />

Rückblick auf das vergangene Jahrhundert<br />

deutlich hinter diesen Erwartungen an die<br />

Zukunft zurück, dabei ist nur sehr pauschal von<br />

den „Trümmern der Vergangenheit“ die Rede.<br />

Viele anderen Gelegenheitsgedichte vermitteln<br />

ähnlich unpersönliche, schematische und<br />

manchmal geradezu stereotype Erwartungen<br />

und Erfahrungen. In einem in der „Langenberger<br />

Zeitung“ am 30. Dezember 1899 erschienenen<br />

Gedicht verschwindet der Dichter<br />

ebenfalls in einem Kollektiv. Allerdings fällt<br />

sein Rückblick auf das vergangene Jahrhundert<br />

ausführlicher und im Sinne der eingangs erwähnten<br />

Aufforderung des Kaisers aus. Da<br />

heißt es:<br />

Doch auch viel Herrliches sah’n wir erstehen,<br />

Und mancher Stern ging neu und glänzend auf.<br />

Ein einig Deutschland, von der Welt bewundert<br />

Ein deutscher Kaiser, seiner Ahnen wert,<br />

Voll Friedenssinn, und doch die Hand am<br />

Schwert,<br />

War Deine Gabe, fliehendes Jahrhundert.<br />

Die Erfahrung der staatlichen Einigung<br />

Deutschlands beherrscht diesen Rückblick,<br />

während der Ausblick auf das 20. Jahrhundert<br />

fragender und skeptischer als in dem ersten<br />

Gedicht ausfällt:<br />

Du aber, das, mit Schleiern dich verhangen,<br />

Bei Glockenklang jetzt auf die Schwelle tritt,<br />

Hier jubelnd und dort sorgenvoll empfangen –<br />

Was bringst Du uns, was bringst der Welt<br />

Du mit?<br />

Wirst friedlich Du wohl lösen all’ die Fragen,<br />

Die unheilvoll bedrohen uns’re Zeit?<br />

Versöhnend schlichten der Parteien Streit<br />

Und Deutschlands Ruhm durch alle Lande<br />

tragen?<br />

Die größte Erwartung an das neue Jahrhundert<br />

besteht auch in Langenberg darin, daß es<br />

Frieden bringen möge. <strong>Der</strong> Frieden ist der Begleiter<br />

eines „stillen Glücks“, ein Ausdruck,<br />

der – jenseits des in allen Gelegenheitsgedichten<br />

auftretenden Kollektivs – auch eine<br />

gewisse persönliche, häusliche Sphäre<br />

evoziert.<br />

Ein stilles Glück, das sich mit Frieden paart,<br />

3


Das sei von Dir auf Deiner langen Fahrt,<br />

Erwachendes Jahrhundert, uns beschieden!<br />

<strong>Der</strong> Wunsch, daß das neue Jahrhundert vor<br />

allem Frieden bringen möge, ist die alle übrigen<br />

Gedichte ebenfalls beherrschende Erwartung.<br />

Dabei wird gelegentlich durchaus bemerkt,<br />

daß der Krieg als „Vater aller Dinge“<br />

auch Positives zu leisten imstande ist. Zum<br />

Beispiel ist, wie der Autor anführt 11 , nur durch<br />

die Kriege Bismarcks die nationalstaatliche<br />

Einigung Deutschlands erreicht worden. Doch<br />

droht diesem Werk „schnellverblich’ner<br />

Glanz“, und das nicht etwa, weil es den<br />

Kriegen entsprungen ist, sondern weil „Pfaff,<br />

Schranze und Demagog“ an ihm nagen, womit<br />

der Verfasser knapp die seiner Auffassung<br />

nach wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte<br />

be zeichnet, die die Einheit Deutschlands unterminieren.<br />

Dabei sind „Pfaff“ und „Dem -<br />

agog“ noch am ehesten zu identifizieren: es<br />

sind die Kirchen und die politischen Parteien,<br />

die der nationalen Einheit entgegenwirken, die<br />

Kir chen, weil sie die konfessionellen Schran -<br />

ken betonen, die Parteien, weil ihre Vertreter<br />

auf dem Marktplatz, aber auch im Reichstag<br />

demagogische Reden halten und damit ebenfalls<br />

Zwietracht in die mühsam errungene Eintracht<br />

der Nation säen – ein deutlicher Hinweis<br />

auf eine in bestimmten gesellschaftlichen<br />

Schich ten verbreitete Verständnislosigkeit<br />

gegenüber einem modernen politischen Plura -<br />

lismus.<br />

Daß zuletzt auch „Schranzen“ die Einheit<br />

Deutschlands bedrohen, kann nur bedeuten,<br />

daß es sogar am kaiserlichen Hof, in der nächsten<br />

Umgebung des Kaisers, Kräfte, nämlich<br />

„Hofschranzen“, gibt, die Wilhelm II. in eine<br />

falsche, gefährliche Richtung zu bewegen<br />

suchen – eine deutliche Kritik des Hofes und<br />

seiner Organisation, vielleicht gar eine verhaltene<br />

am Kaiser selbst, dem üblichen ge dank -<br />

lichen Muster folgend, der schlecht unterrichtete<br />

und beratene Kaiser möge sich mit<br />

besseren Beratern umgeben!<br />

<strong>Der</strong> kritische Ton des Gedichts wird sogar<br />

stärker, geradezu pessimistisch beim Blick auf<br />

andere Länder und deren Entwicklung:<br />

Doch, wo zu schau’n gehofft auf neuer Erde<br />

<strong>Der</strong> Freiheit Reis man sprießen, schlank und<br />

hehr,<br />

Herrscht über kläffender Banausenheerde<br />

<strong>Der</strong> Milliardär.<br />

Amerika, schnell hast du, lautre Quelle<br />

<strong>Der</strong> Väter Geist zum Pfuhl der Korruption<br />

Gewandelt du, McKinley füllt die Stelle<br />

Von Washington. 12<br />

Libertas, deine Leuchte droht zu fallen,<br />

Die bessre Zeiten wundervoll erhellt,<br />

Ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />

Scheint heut die Welt.<br />

<strong>Der</strong> Jobber, aufgestiegen zum Minister,<br />

Sich waschend in des Golds erhöhter Fluth,<br />

Und neben ihm mit langem Borgregister<br />

<strong>Der</strong> Prinz von Blut.<br />

Und nach einer ähnlichen Kritik an<br />

Großbritannien heißt es in den letzten Zeilen,<br />

sicherlich vom Autor überspitzt formuliert,<br />

aber in der Tendenz doch deutlich:<br />

Die Reiter der Apokalypse reiten<br />

Im Börsensold.<br />

Diese fundamentale Opposition zum zeitgenössischen<br />

Imperialismus und Kapitalismus<br />

entspringt nicht allein der Überzeugung, daß<br />

ein ungeheurer Materialismus überall die Welt<br />

regiert und sich das Geld alles untertan macht,<br />

sie wird noch verschärft dadurch, daß auch<br />

dort, wo die Ideen und Werte der Aufklärung<br />

noch eine Heimstatt zu haben schienen, nämlich<br />

in den USA, daß nun auch dort der Kapitalismus<br />

herrscht und die Ideale der Menschheit<br />

ihm schon fast vollständig zum Opfer<br />

gefallen sind – ein wenig Hoffnung hat der Autor<br />

immerhin noch, etwa wenn er schreibt, daß<br />

die „Leuchte der Libertas zu fallen drohe“ und<br />

daß die „Welt ein Opfer für Gewerbebeuterkrallen<br />

zu sein scheine“ und nicht „sei“.<br />

Freilich ist das apokalyptische Schlußbild<br />

dieses Gedichts nicht dazu angetan, dieser<br />

winzigen Hoffnung für das neue Jahrhundert<br />

Nahrung zu geben, selbst wenn man die<br />

manieristischen Züge dieses Bildes in Rechnung<br />

stellt.<br />

Auch die am letzten Tag des Jahres 1899 in<br />

den Zeitungen publizierten „Besinnungen“<br />

4


oder „Gedanken“ sind nicht dazu angetan, den<br />

vorherrschenden Eindruck von Zurückhaltung,<br />

Skepsis, geringer Erwartung, zum Teil sogar<br />

von Hoffnungslosigkeit gegenüber dem neuen<br />

Säkulum zu korrigieren. Da ist überhaupt kein<br />

Aufbruch zu Neuem, trotz vieler Erfolge und<br />

Errungenschaften des zu Ende gehenden<br />

Jahrhunderts, zu spüren. Die „Elberfelder<br />

Zeitung“ etwa brachte am 31. Dezember 1899<br />

„Syvester-Gedanken“, die ein mit den Initialen<br />

„H. T.“ auftretender Verfasser sich gemacht<br />

hatte. Auch darin heißt es: „Die Welt versinkt<br />

im Materialismus“. Dieser Eindruck sei weit<br />

verbreitet, aber es werde von keiner Seite etwas<br />

unternommen, um dieser unheilvollen<br />

Ent wicklung entgegenzuwirken. Angesichts<br />

der drohenden Katastrophe beschwört der Autor<br />

die Zukunftshoffnung des christlichen<br />

Glau bens und die Botschaft des Neuen Testaments:<br />

„Es werden Zeiten kommen, wo wirklich<br />

Gleich heit und Brüderlichkeit herrschen“.<br />

Dieses Zitat aus der Französischen Revolution<br />

gibt allerdings die eschatologische Dimension<br />

der christlichen Hoffnung in die Zukunft kaum<br />

wieder; insofern ist der Aufsatz selbst ein<br />

Beispiel für jene Säkularisation und Entfernung<br />

von den Ideen und Idealen des Christentums,<br />

deren materialistische Wirkung der Autor<br />

zuvor beklagt hatte.<br />

Die „Barmer Zeitung“ entledigte sich des<br />

Auftrags, zum Jahrhundertwechsel etwas<br />

Besinnliches zu veröffentlichen, bereits am<br />

Samstag, dem 30. Dezember. <strong>Der</strong> von ihr<br />

gedruckte Aufsatz ist bestimmt von einem ausführlichen<br />

Rückblick auf das vergehende<br />

Jahrhundert. Dabei geht es fast ausschließlich<br />

um die rasante und umstürzende technische<br />

Entwicklung der letzten hundert Jahre, und<br />

dem entsprechend beeindruckt zeigt sich der<br />

Autor. Das „Jahrhundert der Technik“ hat dem<br />

Menschen faktisch die Beherrschung der Natur<br />

gebracht:<br />

Wie schön, o Mensch, mit Deinem Palmenzweige<br />

Stehst Du an des Jahrhunderts Neige<br />

In edler, stolzer Männlichkeit...<br />

Herr der Natur, die Deine Fesseln liebet,<br />

Die Deine Kraft in tausend Kämpfen übet<br />

Und prangend unter Dir aus der Verwildrung<br />

stieg.<br />

Die Überwindung der Grenzen von Zeit<br />

und Raum durch Erfindungen wie die Eisenbahn<br />

und die Nachrichtenübermittlung hat das<br />

alltägliche Leben der Menschen grundlegend<br />

verändert. Doch sind diese und andere Er fin -<br />

dun gen auch für Krieg und Vernichtung eingesetzt<br />

worden, und am Ende des 19. Jahrhunderts<br />

tobt der Krieg Großbritanniens gegen die<br />

Burenrepublik in Südafrika:<br />

Edler Freund, wo öffnet sich dem Frieden,<br />

Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort!<br />

Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,<br />

Und das neue öffnet sich mit Mord.<br />

Angesichts der technischen Errungenschaften<br />

wie der blutigen Kriege stellt der Autor<br />

sich die Frage, ob man wirklich von einem<br />

Fortschritt sprechen könne, den das Jahrhundert<br />

den Menschen gebracht habe. Er neigt<br />

dazu, die Frage zu verneinen, denn „haben alle<br />

Bequemlichkeiten des Daseins nicht dahin<br />

geführt, indem sie uns Zeit ersparen sollten,<br />

uns immer weniger Zeit für uns selbst zu<br />

lassen?“ 13 Allein, für den Autor ist entscheidend,<br />

daß die „Bedürfnisfähigkeit des mensch -<br />

lichen Geistes“ während des 19. Jahrhunderts<br />

gesteigert wurde, „und das ist Culturfort -<br />

schritt“.<br />

Die Frage, ob diese Entwicklung auch im<br />

neuen Jahrhundert weitergehen wird, stellt der<br />

Verfasser nicht explizit, er äußert nur den<br />

Wunsch, daß die „Wogen des kommenden<br />

Jahrhunderts ruhiger, gemessener und harmo -<br />

ni scher fließen“ mögen, ist also offensichtlich<br />

der Auffassung, wenn diese Entwicklung<br />

schon nicht geändert oder rückgängig gemacht<br />

werden könne, so könne doch ihr Tempo verlangsamt<br />

werden. Mit dieser Auffassung aber<br />

hat er den Charakter des Prozesses der<br />

Nutzbarmachung von Erfindungen nicht oder<br />

nur unvollkommen erfaßt, denn die permanente<br />

Beschleunigung der Entwicklung ist<br />

eines seiner wesentlichen Charakteristika. Aus<br />

diesem Wunsch nach mehr Ruhe und<br />

Langsamkeit spricht auch – bei aller positiven<br />

Würdigung der technischen Entwicklung<br />

während des 19. Jahrhunderts – eine gewisse,<br />

5


auch an anderer Stelle bemerkbare negative<br />

Sicht der Technik: sie wird dem Menschen immer<br />

unverständlicher, enteilt ihm sozusagen,<br />

und er muß hurtig sein und selbst immer<br />

schneller werden, um mit der Technik<br />

mitzuhalten. Sie verändert dazu seine traditionellen<br />

Lebensumstände, so daß er den Umständen,<br />

unter denen seine Großväter und Urgroßväter<br />

gelebt haben, und damit auch diesen<br />

selbst entfremdet wird. Er wird sie immer<br />

weniger verstehen, und unausgesprochen, aber<br />

greifbar ist der Gedanke, daß das 19. Jahrhundert<br />

zwar „Culturfortschritt“ brachte, aber auf<br />

Kosten menschlicher Nähe, vielleicht sogar<br />

menschlichen Glücks. Die „Kosten“ dieses<br />

Fortschritts kommen bei diesem nachdenk -<br />

lichen Aufsatz deutlich in den Blick.<br />

Auch in dem kurzen Aufsatz „Zum neuen<br />

Jahre und zum neuen Jahrhundert“ in dem<br />

„Täglichen Anzeiger für Berg“ klingen diese<br />

Kosten an 14 . Auch dort ist von vielen Fort -<br />

schritten während des vergangenen Jahrhunderts<br />

die Rede, auch von politischen Fortschritten,<br />

eben solchen, die errungen wurden durch<br />

„nationale Kämpfe“ und die in eine „größere<br />

Freiheit der politischen, sozialen, wirt schaft -<br />

lichen und geistigen Bewegung an die Stelle<br />

überlebter, beschränkter alter Zustände“ mündeten.<br />

„Ob der größeren Freiheit ...auch immer<br />

die rechte Weisheit und Würde im Menschenund<br />

Völkerleben gefolgt ist, wird indessen<br />

wohl niemand zu behaupten wagen, denn viele<br />

Mißstände und Gebrechen, viele Aufgaben und<br />

Rätsel nehmen wir aus dem alten Jahre und<br />

dem scheidenden Jahrhundert mit hinüber ins<br />

neue Säkulum“. Auch hier das Ungenügen hinsichtlich<br />

der vorübergehenden Zeitspanne, und<br />

es ist noch nicht einmal Skepsis gegenüber<br />

dem anbrechenden Säkulum, was diese Zeilen<br />

bestimmt, sondern eher die Gewißheit, daß das<br />

neue Jahrhundert sich mit den gleichen,<br />

vielfach sogar denselben „Mißständen und Gebrechen,<br />

Aufgaben und Rätseln“ wird be -<br />

schäftigen müssen wie das alte, das sie nicht<br />

hat lösen können. Dazu dann die Auffassung,<br />

daß zwar bestimmte „Errungenschaften“ das<br />

vergangene Jahrhundert kennzeichneten, denen<br />

jedoch keine entsprechenden Entwicklungen<br />

in den Menschen selbst, etwa in ihrer<br />

„Weisheit“, ihrer „Würde“ oder ihren morali -<br />

schen Fähigkeiten, folgten. Deshalb äußert der<br />

Autor zum Schluß den Wunsch, das kommende<br />

Jahrhundert möge „eine innere Konsolidation<br />

begründen, der Befestigung, der<br />

Sammlung, der Würde und Weihe im Leben<br />

der Völker und Menschen“ dienen.<br />

Wenn man die Äußerungen in der Presse<br />

des <strong>Wuppertal</strong>s zum Jahresende 1899 insgesamt<br />

überblickt, stellt man fest, daß kein Blatt<br />

der Anordnung des Kaisers nachgekommen ist.<br />

Nirgendwo findet sich eine Verherrlichung der<br />

Hohenzollern, noch nicht einmal eine Würdigung<br />

ihrer politischen oder militärischen Taten,<br />

allenfalls eine positive Erwähnung Bismarcks.<br />

Die Hochstimmung der nationalen Einheit ist<br />

weitgehend verflogen, der Blick in die Vergangenheit<br />

läßt sie nur am Rande anklingen. Das<br />

Politische spielt überhaupt nur eine untergeordnete<br />

Rolle bei den Rückblicken, die Errungenschaften<br />

von Wissenschaft und Technik<br />

faszinieren mehr. Doch werden beider Leistungen<br />

nicht überschwenglich gelobt, sondern –<br />

mit überraschender Deutlichkeit – in ihren<br />

sozialen und politischen Bezügen gesehen und<br />

dann eben auch als möglicherweise durchaus<br />

gefährlich, manchmal sogar als verhängnisvoll<br />

beurteilt. Natürlich werden im Angesicht des<br />

neuen Jahrhunderts auch Hoffnungen und Erwartungen<br />

formuliert, aber doch überraschend<br />

verhalten und verbunden mit gehöriger Skepsis.<br />

Und wenn ein Autor feststellt, daß der Ent -<br />

wicklung auf den Feldern von Wissenschaft<br />

und Technik während des 19. Jahrhunderts<br />

kein Fortschritt der Weisheit, der Würde oder<br />

der Moral der Menschen entsprach, so impliziert<br />

er damit, daß durch das entstandene –<br />

und sich möglicherweise noch erweiternde –<br />

Ungleichgewicht zwischen technischem Fort -<br />

schritt und moralischer Entwicklung der Menschen<br />

das Risiko technischer Errungenschaften<br />

deren Chancen für die Menschen übersteigt.<br />

Schließlich wird der Gedanke formuliert, daß<br />

viele Probleme und Schwie rig keiten, die im<br />

alten Jahrhundert nicht bewältigt wurden, in<br />

das neue Jahrhundert mitgenommen werden<br />

müssen, daß mithin die zeitliche Grenzlinie für<br />

den Charakter von Problemen ebenso wie für<br />

6


ihre Lösungsmöglichkeit unerheblich ist.<br />

Schauen wir, wenn wir diese einhundert<br />

Jahre alten Texte lesen, nicht in einen Spiegel?<br />

Anmerkungen<br />

1 Diese Auffassung widerspricht der Einschätzung<br />

anderer Historiker; vgl. dazu etwa<br />

den französischen Historiker Gilbert Badia, der<br />

die <strong>Jahrhundertwende</strong> als eine „notion arbitraire,<br />

irrationelle et historiquement non pertinente“<br />

bezeichnet hat; vgl. ders.: Les limites de<br />

siècles; in: M.Gilli (Hg.): Les limites de siècles.<br />

Grußkarte zum Jahreswechsel 1900/1901<br />

(Privatbesitz)<br />

Lieux de ruptures novatrices depuis les temps<br />

modernes. Actes du colloque international à Besançon<br />

29–31 mai 1997. Paris 1998, S. 765–770<br />

2 Es bleibt hierbei unberücksichtigt, daß das neue<br />

Jahrtausend – mathematisch korrekt – erst am 1.<br />

Januar 2001 beginnt; die Diskussion um den<br />

„exakten“ Beginn eines neuen Jahrhunderts<br />

kennzeichnet auch die Silvestertage der Jahre<br />

1799 und 1899<br />

3 Vgl. Stadtarchiv <strong>Wuppertal</strong> (SAW), Elberfelder<br />

Zeitung vom 31.12.1899<br />

4 Hier zitiert nach der Langenberger Zeitung vom<br />

23.12.1899, im Stadtarchiv Velbert (StV)<br />

5 Vgl. Alfred Kerr: Wo liegt Berlin? Briefe aus der<br />

Reichshauptstadt 1895–1900. Hg. von G. Rühle.<br />

Berlin o.J. (1998), S. 538 ff.<br />

6 Vgl. Langenberger Zeitung (wie Anm. 4)<br />

7 Ein Blick in die Zeitungen des <strong>Wuppertal</strong>s wie<br />

den Täglichen Anzeiger für Berg und Mark, die<br />

Elberfelder Zeitung, die Barmer Zeitung (alle<br />

im SAW) und auch in die Langenberger Zeitung<br />

für den Landkreis Mettmann (im StV) zeigt<br />

deutlich, daß sowohl in den Anzeigen wie in den<br />

Berichten und Meldungen auf die Jahrhundert -<br />

wende kaum Bezug genommen wurde; es finden<br />

sich vor allem vermehrt Verlo bungs an zeigen,<br />

dazu zahlreiche private Glück wünsche zum<br />

Neuen Jahrhundert, als sei das Erleben desselben<br />

ein persönliches Verdienst, dazu Hinweise<br />

auf Silvesterkonzerte und Anzeigen von Buchhandlungen,<br />

zur <strong>Jahrhundertwende</strong> sich mit<br />

Memoirenliteratur zu versorgen<br />

8 Vgl. Alfred Kerr (wie Anm. 5), S. 538<br />

9 Vgl. Täglicher Anzeiger für Berg und Mark vom<br />

30.12.1899, im SAW<br />

10 Vgl. dazu H.U.Gumbrecht: Funktionen parlamentarischer<br />

Rhetorik in der Französischen<br />

Revolution. Vorstudien zur Entwicklung einer<br />

historischen Textpragmatik. München 1978<br />

11 Das Gedicht heißt „Zum Abschied“ und erschien<br />

in der Elberfelder Zeitung am 31.12.1899<br />

12 William McKinley war von 1897 bis 1901 der<br />

25. Präsident der USA und ein Vertreter des<br />

amerikanischen Imperialismus, etwa im Krieg<br />

gegen Spanien<br />

13 Vgl. „An der Wende des Jahrhunderts“; Barmer<br />

7

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