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Buch Finster - textdichter

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S V


Herzlichen Dank für die Unterstützung bei der<br />

Realisierung des Projekts an die<br />

Sparkasse Elbe-Saale, den Landkreis Bernburg<br />

sowie die Stadt Bernburg!


Michael Schuster<br />

Ein Leben zwischen Nacht und<br />

Morgengrauen<br />

Der Schriftsteller Ernst <strong>Finster</strong><br />

Michael Schuster Verlag<br />

Baalberge<br />

S V


Das vorliegende <strong>Buch</strong> basiert auf den Lebenserinnerungen<br />

des Schriftstellers Ernst <strong>Finster</strong>,<br />

Gesprächen mit seiner Frau Emma <strong>Finster</strong> und umfangreichen Recherchen.<br />

Alle Fotos stammen aus dem Privatarchiv von Frau Emma <strong>Finster</strong><br />

sowie aus dem Verlagsarchiv.<br />

Reprotechnische Vervielfältigung und Nachdruck sind, auch auszugsweise, verboten.<br />

ISBN 3-9810141-0-3<br />

© 2005 Michael Schuster Verlag Baalberge<br />

Gestaltung/Satz/Layout: Michael Schuster<br />

Redaktionelle Mitarbeit: Heike Schuster<br />

Druck:<br />

Sächsisches Digitaldruck Zentrum GmbH


Inhalt<br />

Der Beginn einer Reise ..................6<br />

Dem Schrecken entronnen ..................8<br />

Am Anfang eines neuen Weges ................18<br />

Zeit der Veränderungen ................28<br />

Kreissekretär und Journalist ................39<br />

Zwischen Schreibtisch und Beerenobst ................59<br />

Erfolge eines Autors ................59<br />

Höhen und Tiefen ................71<br />

Fackeln am Fluss ................83<br />

Wolf unter Schakalen ................94<br />

Schlussakkord ..............103<br />

Nachwort ..............111<br />

Anhang ..............113


Der Beginn einer Reise<br />

Schon auf der Saalefähre bei Groß Rosenburg fängt mich die<br />

sattgrüne Landschaft mit ihrem eigenartigen Licht ein. Es riecht<br />

nach Flußwasser und fetter, saftiger Erde. Denkt man sich die<br />

PKW’s am jenseitigen Ufer fort und sieht dann nur auf die<br />

katzköpfige Pflasterstraße, erscheint das Werkleitzer Ufer wie vor<br />

über hundert Jahren, eigentlich gänzlich unberührt. Von hier in<br />

den Ort sind es noch ein oder zwei Kilometer, nicht der Rede wert<br />

für den, der ein Auto sein eigen nennt, aber auch mit dem Fahrrad<br />

bequem zu bewältigen.<br />

In Werkleitz, direkt gegenüber der kleinen Kirche, als ehemaliges<br />

Bauerngehöft noch deutlich auszumachen, befindet sich das<br />

Haus, in dem Ernst <strong>Finster</strong>, einer der bedeutendsten Schriftsteller<br />

dieser Region, viele Jahre seines Lebens verbrachte. Hier, hinter<br />

den zum Arbeitszimmer und zur Bibliothek gehörenden Fenstern,<br />

hat er sich einige Stunden des Tages in seine Arbeit vertieft, die ihn<br />

bis in’s hohe Alter nicht losgelassen hat. Seine Arbeit? Eher schon<br />

eine Leidenschaft, die Beschäftigung mit der deutschen und<br />

insbesondere der regionalen Geschichte, aus der eine Reihe<br />

großartiger Bücher erwuchsen. Nur drei seiner Romane wurden<br />

veröffentlicht, zwei vor und einer nach seinem Ausschluss aus<br />

dem Schriftstellerverband der damaligen DDR.<br />

Doch damit wären wir schon bei seiner Lebensgeschichte, die<br />

Ernst <strong>Finster</strong>, als er sich noch mit achtzig Jahren einen Computer<br />

anschaffte, eigenhändig aufgeschrieben hat und auf deren<br />

Grundlage dieses <strong>Buch</strong> unter anderem entstand. Betritt man sein<br />

Arbeitszimmer kann man sich des Gefühls nicht erwehren, er sei<br />

eben erst vom Schreibtisch aufgestanden und eigentlich möchte<br />

man nach ihm suchen. Finden kann man ihn nur noch in seinen<br />

Büchern, in unzähligen Texten zur Regionalgeschichte, in Erzählungen<br />

und in den warmherzigen Erinnerungen seiner Frau, ohne<br />

deren Hilfe und Unterstützung dieses <strong>Buch</strong> nie entstanden wäre.<br />

- 6 -


Eines der Gedichte von Ernst <strong>Finster</strong> für seine Frau, geschrieben<br />

Weihnachten 1948, soll deshalb die Erinnerungen an den Schriftsteller<br />

eröffnen.<br />

Dein Herz<br />

und mein Herz,<br />

ein einziger Schlag.<br />

Dein Glück<br />

und mein Glück<br />

nichts zu trüben vermag.<br />

Frei von der Sorge<br />

und der Hast nach dem Geld,<br />

voll Sonne<br />

und Wonne<br />

lacht uns die Welt!<br />

Ernst <strong>Finster</strong><br />

(1948)<br />

- 7 -


I. Dem Schrecken entronnen<br />

Über einen schmalen Weg am Frischen Haff in Ostpreußen<br />

versuchten sich im März 1945 die Reste der 552. Volksgrenadierdivision<br />

in das Fischerdorf Rosenberg zu retten. Unter<br />

denen, die das Inferno dieser Tage ein Leben lang nicht mehr<br />

loslassen sollte, war der dreißigjährige Oberfunkmeister Ernst<br />

<strong>Finster</strong> aus Plötzkau an der Saale.<br />

Die Stunden der heillosen und unorganisierten Flucht liefen bis in<br />

das hohe Alter wie Filmfetzen immer wieder vor ihm ab. Da war<br />

der sterbende Oberfeldwebel dem niemand mehr helfen konnte<br />

und helfen wollte, im Wege liegend und nur noch ein Hindernis<br />

für die Flüchtenden.<br />

Da war das Krepieren der Granaten, begleitet vom hässlichen<br />

Zirpen der Infanteriegeschosse und da war Rosenberg mit der<br />

Hoffnung auf einen rettenden Marinefährprahm. Im Feuerschein<br />

der brennenden Häuser, pausenlos untermalt vom Hämmern<br />

sowjetischer Geschütze, drängten sich alte Männer, Frauen und<br />

Kinder über Sterbende und Tote. „Eine von Menschen geschaffene<br />

Hölle!“, wie Ernst <strong>Finster</strong> die Situation rückblickend<br />

bezeichnete.<br />

Aufgewachsen im idyllischen Plötzkau, verbrachte der naturliebende<br />

Junge den Hauptteil seiner Freizeit in der weitläufigen<br />

Landschaft der Saaleauen. Hier fand er eine reichhaltige Tierwelt,<br />

die es wert war, ausgiebig beobachtet zu werden. Immer mehr<br />

verstärkte sich dadurch auch der Wunsch, diese Naturverbundenheit<br />

mit Gleichgesinnten zu teilen.<br />

Pfadfinder hießen die Organisationen damals und nur eine,<br />

nämlich die in Nienburg, gab es für Ernst <strong>Finster</strong> in erreichbarer<br />

Nähe.<br />

Da er stolzer Besitzer eines Fahrrades war, machte er sich Mitte<br />

der zwanziger Jahre am Wochenende auf den Weg in die Stadt,<br />

wo Saale und Bode sich begegnen.<br />

- 8 -


x<br />

Mit den Pfadfindern von Nienburg im Gelände<br />

x<br />

Lehrzeit als Dekorationsmaler in Bernburg


Dort lernte er den Aufbau von Zelten aus mehreren Zeltbahnen,<br />

das Einrichten einer Feuerstelle und das Orientieren an<br />

Merkmalen der Natur. Besondere Freude hatte Ernst <strong>Finster</strong> auch<br />

am Erkennen der verschiedenen Fährten und Trittsiegel des<br />

Wildes. Das Leben in und mit der Natur war ihm inzwischen zum<br />

tiefen inneren Bedürfnis geworden.<br />

Durch seine scheinbar angeborene Fähigkeit, sehr gut zu organisieren<br />

schaffte es der Sechzehnjährige 1931 sogar, deutschlandweit<br />

die erste dörfliche „Siedlung“ des Deutschen Pfadfinderbundes<br />

zu gründen. Allerdings war es nach dem Machtantritt<br />

der Nazis mit dem romantischen Pfadfinderleben bald vorbei.<br />

An die Stelle der unpolitischen Jugendorganisationen rückten<br />

nun das Jungvolk und die Hitlerjugend.<br />

Doch auch hier fand der begeisterungsfähige Ernst <strong>Finster</strong> schnell<br />

eine neue Heimat.<br />

Da gab es die aufregenden Geländespiele mit anschließender<br />

Erbsensuppe und gemeinsamen Liedern am Lagerfeuer.<br />

Die Nachtigall sang den in Decken gewickelten Jungs das<br />

Schlaflied und der Waldkauz wünschte mit seinem dumpfen Ruf<br />

eine gute Nacht.<br />

Konnte es für Heranwachsende der damaligen Zeit, einer Generation,<br />

die Geschichten von Karl May beim Licht der Taschenlampe<br />

unter der Bettdecke regelrecht verschlangen, jemals etwas<br />

Schöneres geben?<br />

Für Ernst <strong>Finster</strong> war es eine herrliche Zeit. 1934 gelang es ihm,<br />

als erster im sogenannten Gebiet „Mittelelbe“, alle Plötzkauer<br />

Schüler der Altersgruppe von zehn bis vierzehn Jahren im Deutschen<br />

Jungvolk zu organisieren.<br />

Und natürlich war er auch dabei, als es im Sommer des gleichen<br />

Jahres ein Feldlager an der Saale mit Jungen aus Osmarsleben,<br />

Ilberstedt, Gröna und Aderstedt gab.<br />

- 10 -


Doch nicht nur in der Freizeit zeigte er sich von einer guten Seite,<br />

auch seine schulischen Leistungen gehörten zu den besten.<br />

Der damals sehr bekannte Heimatforscher Franz Stieler, einer<br />

seiner Lehrer in Plötzkau, anvancierte dabei unbewusst zu seinem<br />

Vorbild, obwohl ihr Verhältnis dann doch von einer gegenseitigen<br />

Antipathie geprägt wurde. Stieler, während des Krieges von<br />

Plötzkau nach Jeßnitz versetzt, kehrte später nach Bernburg<br />

zurück und eröffnete 1956, nach dem Erscheinen von <strong>Finster</strong>s<br />

Roman „Die Wälder leben“ eine wütende Hetzkampagne.<br />

Vor dem Schaufenster der Bernburger Volksbuchhandlung<br />

erklärte er allen, die es hören wollten, mehrere Tage hintereinander,<br />

das sein einstiger Schüler ein grober Geschichtskitter sei,<br />

der von Heimatgeschichte keinen blassen Schimmer hätte und<br />

nur er, Franz Stieler, wäre in der Lage, diese Geschichte richtig zu<br />

deuten.<br />

Vorerst aber drückte der „Geschichtskitter“ noch die Schulbank<br />

bei Franz Stieler und anderen Lehrern der Plötzkauer Schule. Mit<br />

vierzehn Jahren nun sollte sich Ernst <strong>Finster</strong> für einen Beruf entscheiden.<br />

Sicherlich vom Vater geprägt, aber auch durch viel<br />

eigenes Talent, das ihn immer wieder zum Malen anregte,<br />

begann er eine Lehre als Dekorationsmaler bei der Firma Kunze<br />

in Bernburg. Nicht weit davon, in der Gewerbeschule, erhielt er<br />

seinen Unterricht, dem er mit Fleiß und interessiert folgte.<br />

Allerdings hatte Ernst <strong>Finster</strong> auch schon immer ein Faible für<br />

Technik. Natürlich konnte er durch Jungvolk und Hitlerjugend mit<br />

Militärtechnik Bekanntschaft schließen, Zeitungsartikel und<br />

Bücher mit entsprechenden Beschreibungen taten ein Übriges.<br />

1936 meldete sich Ernst <strong>Finster</strong> freiwillig für 12 Jahre zum Dienst<br />

bei der Deutschen Luftwaffe. Er hatte sich dabei für eine<br />

Ausbildung zum Funker entschieden, die er bei der Luftgau-<br />

Nachrichten-Abteilung 3 in Berlin-Kladow begann und die ihn<br />

über Landau und eine kurze Station bei der Luftnachrichtenschule<br />

Halle, weiter nach Straßburg und später bis nach Russland und<br />

vor die Tore Petersburgs führen sollte.<br />

- 11 -


Beim<br />

Reichsarbeitsdienst<br />

Oberfunkmeister<br />

Ernst <strong>Finster</strong><br />

So oder so ähnlich erlebte Ernst <strong>Finster</strong> die Flucht aus<br />

Ostpreußen


Dabei ereignete sich während seiner Zeit in Halle an der Saale<br />

ein besonderer Vorfall, den sich Ernst <strong>Finster</strong>, wie noch oft in<br />

seinem Leben, selbst organisiert hatte.<br />

Im Dezember 1940 wurden der Unteroffizier <strong>Finster</strong> und einer<br />

seiner Kameraden aus dem Unterricht weg verhaftet. Der Grund<br />

war eine nicht so ganz ernstzunehmende Eulenspiegelei, die sich<br />

der Plötzkauer und ein paar seiner Kameraden schon Monate<br />

vorher ausgedacht hatten. „Bund der Obdachlosen (BdO)“<br />

nannten sie ihre Organisation, die neben vielen Mitgliedern auch<br />

über eine eigene, im Abzugsverfahren hergestellte Zeitschrift<br />

vefügte. Titel: “Der Obdachlose“.<br />

Das roch den Offizieren der Luftnachrichtenkompanie in<br />

Straßburg dann doch sehr nach Wehrkraftzersetzung und deshalb<br />

sollte in Ludwigsburg das Kriegsgericht über die Sache beraten.<br />

<strong>Finster</strong> hatte Glück. Der mit dem Fall beauftragte Richter erkannte<br />

in dem „Bund der Obdachlosen“ eine harmlose Spinnerei und<br />

stellte das Verfahren ein.<br />

In dieser Episode zeigen sich schon sehr deutlich die Talente Ernst<br />

<strong>Finster</strong>s, die in seinem späteren Leben immer wieder ausschlaggebend<br />

für positive oder auch negative Entwicklungen wurden.<br />

Das beinahe geniale Talent, Menschen zu organisieren und zu<br />

überzeugen, aber auch die Lust am schriftstellerischen Arbeiten,<br />

gepaart mit einem augenzwinkernden Humor und reger Phantasie.<br />

Bei Rosenberg, am 24. März 1945, war es nicht der rechte<br />

Augenblick für positive menschliche Charakterzüge wie Humor<br />

und Phantasie. Im Trommelfeuer sowjetischer Geschütze ging es<br />

letztlich nur um das nackte Überleben. Auch als Ernst <strong>Finster</strong> die<br />

ostpreußische Stadt Pillau erreicht hatte, gab es noch keinen<br />

Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Rings um den<br />

Oberfunkmeister senkte sich eine einstmals blühende Landschaft<br />

in Schutt und Asche.<br />

Tausende, aus allen Teilen Ostpreußens stammende Menschen<br />

- 13 -


suchten händeringend nach einer Gelegenheit zum Weitertransport<br />

in Richtung Westen. Sassnitz oder Stettin waren Städtenamen,<br />

die in diesen Tagen nach Freiheit und Überleben klangen.<br />

Doch die wenigen der deutschen Marine noch verbliebenen<br />

Schiffe, umfunktionierte Handelsdampfer, Fischereikutter und<br />

größere Ausflugsboote reichten lange nicht aus, um allen die<br />

Sehnsucht nach Rettung erfüllen zu können. Immerhin aber rund<br />

450.000 Menschen schafften es während des Krieges, über den<br />

Pillauer Hafen vorerst dem Krieg zu entkommen. Auch Ernst<br />

<strong>Finster</strong> hatte Glück. Am 29. März erhielt er einen Marschbefehl<br />

für die Fahrt 602 mit dem Dampfer „Anna Gertraude“ nach<br />

Swinemünde und verließ als einer der Letzten den Hafen an der<br />

Frischen Nehrung.<br />

Sein Wunsch, von dort zum Fliegerhorst nach Bernburg in Marsch<br />

gesetzt zu werden, erfüllte sich nicht. Stattdessen ging es per Bahn<br />

nach Potsdam, wo der Angehörige der Luftwaffe per Befehl zum<br />

Unteroffizier einer Artillerie-Ersatzabteilung wurde.<br />

Erschöpft traf Ernst <strong>Finster</strong> Tage später in Roßlau ein. Man schrieb<br />

den 8. April 1945. Bis zum Inkrafttreten der vollständigen Kapitulation<br />

sollte nur noch ein Monat vergehen. Ein Monat voller<br />

sinnloser Opfer, militärischer und noch mehr ziviler. 30 Tage, an<br />

denen Menschen für einen längst untergegangenen Wahn vom<br />

tausendjährigen Reich geopfert wurden.<br />

Noch am 26. April 1945, Bernburg war da schon acht Tage von<br />

den Amerikanern besetzt, begann die aus Resten der einstigen<br />

deutschen Wehrmacht zusammengewürfelte „Armee Wenck“ im<br />

Raum Beelitz-Treuenbritzen mit einem Großangriff gegen die aus<br />

Osten vorstoßende Rote Armee. Vier Tage später stahl sich der<br />

„Führer“ Adolf Hitler aus dem Leben und die Russen hielten Berlin<br />

bis zum Stadtzentrum hin besetzt. Längst bestand schon keine<br />

Aussicht mehr auf den immer wieder versprochenen „Endsieg“<br />

und trotzdem, noch sollten tausende junge Menschen am Beginn<br />

ihres Lebens geopfert werden. Ernst <strong>Finster</strong> erinnerte sich später:<br />

- 14 -


„Wir marschierten, weil wir noch immer an den Führer und an den<br />

Sieg glaubten. Wir alle? Ich weiß es nicht. Die siebzehn- und<br />

achtzehnjährigen Fähnriche und Fahnenjunker-Unteroffiziere<br />

ganz bestimmt.“<br />

Am 8. Mai 1945 fand sich Ernst <strong>Finster</strong> mit den Resten seiner<br />

Einheit und in Begleitung eines vierzehnjährigen Jungen in dem<br />

Dorf Fischbeck an der Elbe.<br />

Den Jungen hatte der Unteroffizier tags zuvor in einem<br />

verlassenen Bauerngehöft aufgelesen. „Hör zu,“ hatte er dem aus<br />

Pommern stammenden Vollwaisen gesagt, „morgen geht der<br />

Krieg zu Ende, ganz gewiß. Für mich und für dich, für alle. Wenn<br />

wir heil aus dem Schlamassel herauskommen, dann wollen wir<br />

und dann müssen wir ein neues Leben beginnen. Wir alle.<br />

Verstehst du das?“.<br />

Der Junge, von einem betrunkenen Oberzahlmeister zum<br />

Gefreiten befördert und mit einem Eisernen Kreuz II. Klasse<br />

ausgerüstet, das er einem toten Unteroffizier abgenommen hatte,<br />

verstand es nicht. Doch er schloss sich nur zu gern dem Dreißigjährigen<br />

an, der für die nächsten Wochen zu einer Art Ersatzvater<br />

für ihn werden sollte.<br />

Gegenüber dem Dorf Fischbeck lag die Stadt Tangermünde.<br />

Dort, westlich der Elbe glaubten sich die kriegsmüden Soldaten<br />

auf der sicheren Seite, näherten sich von dort doch die<br />

Amerikaner. Das viele der feldgrauen Landser noch Monate nach<br />

dem Ende des Krieges in den Lagern der Amerikaner, unter<br />

anderem auf den Rheinwiesen und bei Bad Kreuznach regelrecht<br />

verfaulen würden, ahnte damals wohl noch keiner.<br />

Hier, auf den feuchten Niederungen am Fluß, endete nun der<br />

militärische Weg des Oberfunkmeisters Ernst <strong>Finster</strong>.<br />

Mit dem Blick auf die Türme der altehrwürdigen Elbestadt meinte<br />

er zu seinem Schützling, als der ihn nach seinen Erinnerungen an<br />

Russland befragte: „Es wäre besser, wir hätten dieses Land nie<br />

- 15 -


etreten. Es ist ein weites Land ohne Horizont. Ein trostloses Land<br />

ohne Hoffnung. Ein wildes Land ohne Erbarmen. Wir haben da<br />

eine Lawine losgetreten, die uns nun überrollen wird.“.<br />

Wie zur Bestätigung seiner Worte begann damit der Angriff der<br />

Roten Armee auf die Reste der „Armee Wenck“, die sich trotz der<br />

allgemeinen Kapitulation gegen eine Gefangennahme durch die<br />

Sowjets mit Geschützfeuer zu wehren versuchte.<br />

Und als deren Geschütze schwiegen, schossen die Amerikaner<br />

von Tangermünde her auf ihre eigenen Verbündeten. Dazwischen<br />

schob sich ein schier endloses Menschenknäul über die Brücke<br />

Richtung Westen. Jeder wollte es schaffen, es war doch schon<br />

Frieden verkündet worden. Es war doch schon Frühling.<br />

Und doch starben um den ebenfalls fliehenden Ernst <strong>Finster</strong> und<br />

seinen vierzehnjährigen Schützling herum an diesem ersten<br />

Friedenstag, an diesem 8. Mai 1945, noch unzählige deutsche<br />

Soldaten.<br />

Manche Hoffnung von einer Rückkehr in die Heimat versank<br />

unter dem MG-Feuer der herannahenden Russen in den Wassern<br />

der Elbe.<br />

Mit drei Tafeln Schoka-Cola aus ehemaligen deutschen Wehrmachtsbeständen,<br />

einer Dose gesalzener Erdnüsse aus amerikanischen<br />

Beständen und einem viertel Liter Wasser pro Tag begann<br />

für Ernst <strong>Finster</strong> und die Reste der ehemaligen „Armee Wenck“<br />

der Frieden auf dem Rollfeld des Feldflugplatzes Stendal.<br />

Merkwürdig erschien ihm nur, das er und die dreißigtausend<br />

internierten Deutschen Tage später in der Hindenburg-Kaserne<br />

wieder in militärische Hundertschaften eingeteilt wurden. Selbst<br />

als die Amerikaner die Aufsicht über die Deutschen in Stendal an<br />

die Engländer abgaben, blieb es noch eine Weile dabei.<br />

Erst als der Sommer sich kräftiger in das Land drängte, gaben die<br />

drei Westalliierten den ursprünglich gefassten Plan vom sofortigen<br />

„Roll Back“ gegen die Sowjetunion auf und die als<br />

Kanonenfutter vorgesehenen Deutschen wurden zum Ernteein-<br />

- 16 -


satz kommandiert. In Wernitz, einem Dorf zwischen Gardelegen<br />

und Oebisfelde hatte Ernst <strong>Finster</strong> eine wesentliche und für seine<br />

schriftstellerische Entwicklung wichtige Begegnung.<br />

Zunächst war nämlich nicht viel vom angekündigten Ernteeinsatz<br />

zu spüren, eher etwas von Langeweile und ziellosem Einerlei<br />

leerer Tage. Einer der nach Wernitz kommandierten Unteroffiziere,<br />

der spätere Schriftsteller Wolf D. Brennecke, gründete<br />

einen Theaterzirkel und beim abendlichen Gespräch beschlossen<br />

er und Ernst <strong>Finster</strong>, gemeinsam mit zwei weiteren Kriegsgefangenen,<br />

die Herstellung einer eigenen Zeitschrift unter dem<br />

Titel „Die Stunde für Dich“.<br />

Ein Fortsetzungsroman sollte darin enthalten sein, eine<br />

Kurzgeschichte, Rätsel und Illustrationen. Der Fortsetzungsroman,<br />

für den Ernst <strong>Finster</strong> verantwortlich gemacht wurde, hatte<br />

den Arbeitstitel „Der Sergeant von Kiviisbuurk“ und sollte in<br />

Estland, das <strong>Finster</strong> aus dem Krieg kannte, spielen. Brennecke,<br />

als „Hauptschriftleiter“ gewählt, übernahm die Entwicklung der<br />

Kurzgeschichte, die anderen beiden jeweils für Rätsel und Illustrationen.<br />

Doch der Traum und Brenneckes aus getrockneten<br />

Rosenblütenblättern stammender Tabakspfeifendunst lösten sich<br />

noch am selben Tag in Nichts auf.<br />

Die Gefangenen wurden in kleinere Einheiten geteilt und nun<br />

tatsächlich zum allgemeinen Ernteeinsatz auf die gesamte britisch<br />

besetzte Altmark verteilt. So endete die kurze, allerdings sehr prägende<br />

erste Begegnung zwischen Ernst <strong>Finster</strong> und Wolf D.<br />

Brennecke. Jahre später sollten sie sich in Halle an der Saale<br />

wiedertreffen und von da an als Freunde eng verbunden bleiben.<br />

Schriftsteller, die sie in Wernitz beide schon sein wollten, sind sie<br />

später tatsächlich auch geworden.<br />

Brennecke schrieb fünfzig Jahre später in seinem letzten Brief an<br />

Ernst <strong>Finster</strong>: „Am deutlichsten sehe ich noch die „Rosenlaube“<br />

vor mir, wo wir vier hockten und die Zeitschrift „Für Dich“ (bei<br />

<strong>Finster</strong> „Die Stunde für Dich“ d.Verf.) entwarfen. Böttcher (Der<br />

- 17 -


Verantwortliche für die Kreuzworträtsel/d. Verf.) habe ich später in<br />

Genthin, noch später in Wernigerode getroffen, wo er eine Krambude<br />

hatte. An den Namen des Vierten, der so gut zeichnete,<br />

kann ich mich nicht mehr erinnern.<br />

Aber noch an Nettgau, wo in jener Nacht alle über die neue<br />

Demarkationslinie gingen ...“.<br />

In Nettgau an der Ohre, auf dem Hof des Bauern Heinrich<br />

Böckel, wurde der Ernteeinsatz nun tatsächlich zur Realität.<br />

Der vierzehnjährigen Gefreite, den Ernst <strong>Finster</strong> auf den Elbwiesen<br />

bei Tangermünde aufgelesen hatte, befand sich da immer<br />

noch in seinem Schlepptau. Als Ziehsohn sozusagen.<br />

Doch hier endete dann auch diese sonderbare, aber für die<br />

Nachkriegszeit nicht ungewöhnliche Patenschaft.<br />

Im Juni 1945 vermehrten sich die Gerüchte, das die Besatzungszonen<br />

verschoben werden sollten. Bis weit hinter die Elbe sollte<br />

das Einflussgebiet der Russen fortan reichen und Ernst <strong>Finster</strong><br />

machte sich, wie viele seiner Mitgefangenen, ernsthafte Sorgen<br />

um seine Eltern.<br />

So zog er, bei Nacht und Nebel, unerlaubt mit dem „Die Stunde<br />

für Dich“ - Zeichner Böttcher aus Halle an der Saale, los in<br />

Richtung Bernburg. Sein Schützling blieb an Stelle des gefallenen<br />

Sohnes des Bauern auf dem Gehöft der Böckels.<br />

II. Am Anfang eines neuen Weges<br />

Der Marsch in die Heimat begann bis nach Bismark auf immer<br />

schwerer werdenden Füßen und ab da auf verschiedenen<br />

Fahrgelegenheiten Richtung Aschersleben, und mit einem<br />

zweiten LKW von dort erst einmal bis Hoym.<br />

Ein amerikanischer Jeep sorgte dann für den Weitertransport der<br />

abgängigen Kriegsgefangenen bis in den Keller des Bernburger<br />

Rathauses.<br />

Schon glaubte Ernst <strong>Finster</strong>, so nah an der Heimat, die<br />

Saaleregion wieder verlassen zu müssen, da rettete ihn die Situ-<br />

- 18 -


ation, derentwegen er von Nettgau überhaupt aufgebrochen war,<br />

der bevorstehende Einmarsch der Russen in Bernburg.<br />

Den Amerikanern erschien es viel zu umständlich, sich mit dem<br />

Transport, der Unterbringung und der Verpflegung der<br />

„Germans“ zu befassen. Sollten doch die Verbündeten dieses<br />

Problem lösen. Und wenn nicht, dann eben nicht. So also wurden<br />

Ernst <strong>Finster</strong>, der Hallenser Böttcher und einige weitere<br />

„Kriegsgefangene“ aus dem Keller der Rathauses in Bernburg am<br />

Morgen des 30. Juni mit freundlichen Worten nach Hause<br />

entlassen.<br />

Das heißt, Ernst <strong>Finster</strong> erhielt vorher noch das Angebot, in die<br />

US-Army einzutreten, bei vollen Bezügen und im Dienstrang eines<br />

Leutnants. Natürlich erschien dem damals gerade Dreißigjährigen<br />

dieses Angebot wie eine unverhoffte Rettung aus allen<br />

bevorstehenden Existenzproblemen und der damit verbundenen<br />

Angst und Skepsis vor der herannahenden Roten Armee Stalins.<br />

Vater <strong>Finster</strong> ist es zu danken, dass sein Sohn Ernst von dem<br />

Vorhaben, am 1. Juli mit den Amerikanern fortzugehen, abgelassen<br />

hat.<br />

So erwarteten sie also gemeinsam den Einmarsch der Russen, die<br />

am Nachmittag dieses ersten Julitages mit Panjewagen und<br />

einigen Jeeps und Fahrrädern aus Richtung Bernburg in Plötzkau<br />

einmarschierten. Doch nur ein kleiner Trupp, von einem Unterleutnant<br />

befehligt, blieb im Dorf zurück.<br />

Jeder arbeitsfähige Einwohner, auch Ernst <strong>Finster</strong>, hatte sich kurz<br />

darauf zur Arbeit auf dem zu der ehemaligen landwirtschaftlichen<br />

Domäne Plötzkau gehörigen Vorwerk Bründel zu melden. Für den<br />

gelernten Dekorationsmaler und ausgedienten Oberfunkmeister<br />

hieß das Schuften in der sogenannten Mistkolonne. Auf dem<br />

Kuhring, einer großen „duftenden“ Fläche mitten auf dem<br />

Gutshof, mussten er und die anderen Arbeiter den von den<br />

Jungrindern festgetretenen Mist auf die von schweren Kaltblütern<br />

gezogenen Wagen verladen. Auch auf den Feldern rings um<br />

Bründel und Plötzkau wurde gearbeitet.


Dann wurde aus dem Landarbeiter <strong>Finster</strong> eher widerwillig ein<br />

Neubauer, der im Rahmen der durch die in der sowjetischen<br />

Besatzungszone vollzogenen Bodenreform 1945 plötzlich<br />

Eigentümer über zwanzig Morgen Land war. Für ein paar Tage<br />

nur, denn die Ortsbodenkommission stellte fest, das Ernst <strong>Finster</strong><br />

als ehemaliger Berufssoldat und Oberfunkmeister wie ein<br />

„Kriegsverbrecher“ einzustufen war und damit kein Anrecht auf<br />

eine Neubauernstelle gehabt hatte.<br />

Wie gewonnen, so zerronnen, dachte sich, eigentlich erleichtert,<br />

der inzwischen wieder landlose ehemalige Dekorationsmaler, der<br />

sich mit den Vorgängen um die von den Kommunisten als<br />

„demokratisch“ bezeichneten Bodenreform nicht im Geringsten<br />

identifizieren konnte, obwohl er doch aus einer der früher wenig<br />

begünstigten Arbeiterfamilien stammte.<br />

Nein, der schon damals an der Geschichte seiner Heimat stark<br />

interessierte Ernst <strong>Finster</strong> konnte es nicht verstehen, dass bei der<br />

Plünderung des Schlosses in Poplitz alle noch vorhandenen Archivmaterialien,<br />

wertvolles Schriftgut und die gesamte Bibliothek<br />

als „Heizmaterial“ verbrannten.<br />

Damit gingen Aufzeichnungen einer sehr wichtigen geschichtlichen<br />

Epoche dieses Landstriches unwiderbringlich in Rauch und<br />

Flammen auf. Der ehemalige Besitzer des Schlosses, der Freiherr<br />

Heinrich von Krosigk war nämlich nicht nur ein enger Freund von<br />

historischen Persönlichkeiten wie Johann Christian Reil, Heinrich<br />

Steffens und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, er selbst war<br />

es auch, der am Vorabend der Völkerschlacht bei Leipzig das<br />

erste entscheidende Gefecht bei Möckern wesentlich beeinflusste<br />

und dabei den Tod fand.<br />

Als bekannter Reformer hatte er als erster Gutsbesitzer dafür<br />

gesorgt, das alle bei ihm beschäftigten Landarbeiter nach ihrer<br />

Dienstzeit in den Besitz der von ihm finanzierten und gebauten<br />

Wohnhäuser gelangten.<br />

Er sorgte für Schulbildung und eine grundlegende medizinische<br />

Betreuung. Nun, kurz nach dem Ende des so schrecklichen

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