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Die<br />
<strong>Gemeinwirtschaft</strong><br />
Untersuchungen über <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
Von<br />
Ludwig Mises<br />
Jena<br />
Verlag von Gustav Fischer<br />
1922<br />
PDF-Version von Alexan<strong>de</strong>r Dörrbecker und Gerhard Grasruck für<br />
www.mises.<strong>de</strong>
Inhaltsverzeichnis<br />
Einleitung<br />
Seite<br />
§ 1. Der Sieg <strong>de</strong>r sozialistischen I<strong>de</strong>en..........................................................................1<br />
§ 2. Die wissenschaftliche Behandlung <strong>de</strong>s Sozialismus ..............................................4<br />
§ 3. Soziologisch-nationalökonomische und kulturgeschichtlich-psychologische<br />
Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>s Sozialismus .............................................................9<br />
§ 4. Gesellschaftsentwicklung und Gesellschaftserkenntnis .......................................11<br />
§ 5. Willensmacht und Notwendigkeit ........................................................................12<br />
I. Teil: Liberalismus und Sozialismus<br />
I. Das Eigentum...........................................................................................................14<br />
§ 1. Das Wesen <strong>de</strong>s Eigentums..............................................................................14<br />
§ 2. Gewalt und Vertrag ........................................................................................20<br />
§ 3. Gewalttheorie und Vertragstheorie.................................................................25<br />
§ 4. Das Gemeineigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln...........................................29<br />
§ 5. Theorien über die Entwicklung <strong>de</strong>s Eigentums ..............................................31<br />
II. Der Sozialismus......................................................................................................34<br />
§ 1. Staat und Wirtschaft .......................................................................................34<br />
§ 2. Die sozialistischen Grundrechte .....................................................................37<br />
§ 3. Kollektivismus und Sozialismus ....................................................................42<br />
III. Gesellschaftsordnung und politische Verfassung ..................................................49<br />
§ 1. Gewaltpolitik und Vertragspolitik ..................................................................49<br />
§ 2. Die gesellschaftliche Funktion <strong>de</strong>r Demokratie..............................................51<br />
§ 3. Das Gleichheitsi<strong>de</strong>al.......................................................................................58<br />
§ 4. Demokratie und Sozial<strong>de</strong>mokratie .................................................................61<br />
§ 5. Die politische Verfassung sozialistischer Gemeinwesen................................67<br />
IV. Gesellschaftsordnung und Familienverfassung.....................................................69<br />
§ 1. Die Stellung <strong>de</strong>s Sozialismus zum Sexualproblem.........................................69<br />
§ 2. Mann und Weib im Zeitalter <strong>de</strong>s Gewalteigentums .......................................71<br />
§ 3. Die Ehe unter <strong>de</strong>r Einwirkung <strong>de</strong>r Vertragsi<strong>de</strong>e.............................................77<br />
§ 4. Die Probleme <strong>de</strong>s ehelichen Lebens...............................................................80<br />
§ 5. Die freie Liebe................................................................................................85<br />
§ 6. Die Prostitution...............................................................................................91
III<br />
II. Teil: Die Wirtschaft <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens<br />
Seite<br />
I. Abschnitt: Das isolierte sozialistische Gemeinwesen ..............................................94<br />
I. Das Wesen <strong>de</strong>r Wirtschaft..................................................................................94<br />
§ 1. Zur Kritik <strong>de</strong>s Begriffes <strong>de</strong>r Wirtschaft....................................................94<br />
§ 2. Das rationale Han<strong>de</strong>ln ..............................................................................97<br />
§ 3. Die Wirtschaftsrechnung ........................................................................100<br />
§ 4. Die kapitalistische Wirtschaft.................................................................110<br />
§ 5. Der engere Begriff <strong>de</strong>s Wirtschaftlichen ................................................112<br />
II. Der Charakter <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise ......................................116<br />
§ 1. Die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel .......................................116<br />
§ 2. Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen ...................119<br />
§ 3. Die jüngste sozialistische Doktrin und das Problem <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsrechnung...............................................................................124<br />
§ 4. Profitwirtschaft und Bedarfs<strong>de</strong>ckungswirtschaft; Rentabilität und<br />
Produktivität...........................................................................................129<br />
§ 5. Rohertrag und Reinertrag .......................................................................132<br />
III. Die Verteilung <strong>de</strong>s Einkommens...................................................................138<br />
§ 1. Das Wesen <strong>de</strong>r Verteilung in <strong>de</strong>r liberalen und in <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung .............................................................................138<br />
§ 2. Die Sozialdivi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>................................................................................140<br />
§ 3. Die Grundsätze <strong>de</strong>r Verteilung ...............................................................142<br />
§ 4. Die Durchführung <strong>de</strong>r Verteilung...........................................................146<br />
§ 5. Die Kosten <strong>de</strong>r Verteilung......................................................................149<br />
IV. Die <strong>Gemeinwirtschaft</strong> im Beharrungszustand...............................................151<br />
§ 1. Der statische Zustand .............................................................................151<br />
§ 2. Arbeitsgenuß und Arbeitsleid.................................................................152<br />
§ 3. Der Antrieb zur Überwindung <strong>de</strong>s Arbeitsleids......................................159<br />
§ 4. Die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit ...................................................................169<br />
V. Die Einordnung <strong>de</strong>s Einzelnen in die gesellschaftliche Arbeitsgemeinschaft 173<br />
§ 1. Auslese und Berufswahl .........................................................................173<br />
§ 2. Kunst und Literatur, Wissenschaft und Tagespresse ..............................175<br />
§ 3. Die persönliche Freiheit..........................................................................180<br />
VI. Die <strong>Gemeinwirtschaft</strong> in Bewegung .............................................................185<br />
§ 1. Die bewegen<strong>de</strong>n Kräfte <strong>de</strong>r Wirtschaft ..................................................185<br />
§ 2. Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Bevölkerungsgröße .................................................186<br />
§ 3. Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Bedarfs....................................................................188<br />
§ 4. Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>s Kapitals..............................................190<br />
§ 5. Der dynamische Charakter <strong>de</strong>r <strong>Gemeinwirtschaft</strong>..................................193<br />
§ 6. Die Spekulation ......................................................................................194<br />
§ 7. <strong>Gemeinwirtschaft</strong> und Aktiengesellschaften ..........................................198<br />
VII. Die Undurchführbarkeit <strong>de</strong>s Sozialismus.....................................................199<br />
§ 1. Die Probleme <strong>de</strong>r nicht im Beharrungszustan<strong>de</strong> befindlichen<br />
sozialistischen Wirtschaft.......................................................................199
IV<br />
Seite<br />
§ 2. Die Versuche zur Lösung dieser Probleme.............................................201<br />
§ 3. Die kapitalistische Wirtschaft als einzig mögliche Lösung ....................207<br />
II. Abschnitt: Das Sozialistische Gemeinwesen im Verkehr .....................................210<br />
I. Weltsozialismus und Staatensozialismus .........................................................210<br />
§ 1. Die räumliche Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens.............210<br />
§ 2. Das Problem <strong>de</strong>r räumlichen Grenzen <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens im Marxismus ...............................................................211<br />
§ 3. Der Liberalismus und das Problem <strong>de</strong>r Staatsgrenzen............................212<br />
II. Die Wan<strong>de</strong>rungen als Problem <strong>de</strong>s Sozialismus.............................................213<br />
§ 1. Die nationalen Gegensätze und die Wan<strong>de</strong>rungen .................................213<br />
§ 2. Die Ten<strong>de</strong>nz zur Dezentralisation im Sozialismus .................................215<br />
III. Die auswärtige Han<strong>de</strong>lspolitik sozialistischer Gemeinwesen........................218<br />
§ 1. Autarkie und Sozialismus.......................................................................218<br />
§ 2. Der sozialistische Außenhan<strong>de</strong>l..............................................................219<br />
§ 3. Die Kapitalsanlage im Ausland ..............................................................219<br />
III. Abschnitt: Beson<strong>de</strong>re Gestaltungen <strong>de</strong>s sozialistischen I<strong>de</strong>als und pseudosozialistische<br />
Gebil<strong>de</strong> ........................................................................222<br />
I. Beson<strong>de</strong>re Gestaltungen <strong>de</strong>s sozialistischen I<strong>de</strong>als..........................................222<br />
§ 1. Das Wesen <strong>de</strong>s Sozialismus ...................................................................222<br />
§ 2. Der Staatssozialismus.............................................................................224<br />
§ 3. Der Militärsozialismus ...........................................................................234<br />
§ 4. Der kirchliche Sozialismus.....................................................................237<br />
§ 5. Die Planwirtschaft ..................................................................................241<br />
§ 6. Der Gil<strong>de</strong>nsozialismus............................................................................244<br />
II. Pseudosozialistische Gebil<strong>de</strong>..........................................................................248<br />
§ 1. Der Solidarismus ....................................................................................248<br />
§ 2. Enteignungsvorschläge verschie<strong>de</strong>ner Art..............................................253<br />
§ 3. Die Gewinnbeteiligung...........................................................................254<br />
§ 4. Der Syndikalismus..................................................................................257<br />
§ 5. Halbsozialismus......................................................................................262<br />
III. Teil: Die Lehre von <strong>de</strong>r Unentrinnbarkeit <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
I. Abschnitt: Die gesellschaftliche Entwicklung .......................................................265<br />
I. Der sozialistische Chiliasmus ..........................................................................265<br />
§ 1. Die Herkunft <strong>de</strong>s Chiliasmus..................................................................265<br />
§ 2. Chiliasmus und Gesellschaftstheorie......................................................271<br />
II. Die Gesellschaft..............................................................................................273<br />
§ 1. Das Wesen <strong>de</strong>r Gesellschaft ...................................................................273<br />
§ 2. Die Arbeitsteilung als Prinzip <strong>de</strong>r Vergesellschaftung ...........................277
V<br />
Seite<br />
§ 3. Organismus und Organisation ................................................................280<br />
§ 4. Individuum und Gesellschaft..................................................................283<br />
§ 5. Die Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung .......................................................285<br />
§ 6. Die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Individuums in <strong>de</strong>r Gesellschaft ..........................290<br />
§ 7. Entgesellschaftung..................................................................................293<br />
§ 8. Das Son<strong>de</strong>reigentum in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung ..................299<br />
III. Der Kampf als Faktor <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung ...........................301<br />
§ 1. Der Gang <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung........................................301<br />
§ 2. Der Darwinismus....................................................................................302<br />
§ 3. Kampf und Wettkampf ...........................................................................308<br />
§ 4. Der Völkerkampf....................................................................................310<br />
§ 5. Der Rassenkampf....................................................................................313<br />
IV. Klassengegensatz und Klassenkampf............................................................316<br />
§ 1. Der Begriff <strong>de</strong>r Klasse und <strong>de</strong>s Klassengegensatzes ..............................316<br />
§ 2. Stän<strong>de</strong> und Klassen.................................................................................321<br />
§ 3. Der Klassenkampf ..................................................................................326<br />
§ 4. Die Formen <strong>de</strong>s Klassenkampfes............................................................334<br />
§ 5. Der Klassenkampf als treiben<strong>de</strong>r Faktor <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung.................................................................................................336<br />
§ 6. Die Verwendung <strong>de</strong>r Klassenkampftheorie zur Erklärung <strong>de</strong>r Geschichte...................................................................................................339<br />
§ 7. Zusammenfassung ..................................................................................342<br />
V. Die materialistische Geschichtsauffassung.....................................................344<br />
§ 1. Sein und Denken.....................................................................................344<br />
§ 2. Die Wissenschaft und <strong>de</strong>r Sozialismus...................................................348<br />
§ 3. Die psychologischen Voraussetzungen <strong>de</strong>s Sozialismus ........................350<br />
II. Abschnitt: Kapitalskonzentration und Monopolbildung als Vorstufe <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus.........................................................................................352<br />
I. Die Problemstellung.........................................................................................352<br />
§ 1. Die marxistische Konzentrationstheorie.................................................352<br />
§ 2. Die Theorie <strong>de</strong>r Antimonopolpolitik ......................................................355<br />
II. Die Konzentration <strong>de</strong>r Betriebe ......................................................................357<br />
§ 1. Die Betriebskonzentration als Kehrseite <strong>de</strong>r Arbeitsteilung...................357<br />
§ 2. Das Optimum <strong>de</strong>r Betriebsgröße in <strong>de</strong>r Rohstoffgewinnung und im<br />
Verkehrswesen .......................................................................................358<br />
§ 3. Das Optimum <strong>de</strong>r Betriebsgröße in <strong>de</strong>r Verarbeitung <strong>de</strong>r Rohstoffe......360<br />
III. Die Konzentration <strong>de</strong>r Unternehmungen.......................................................361<br />
§ 1. Die horizontale Konzentration <strong>de</strong>r Unternehmungen .............................361<br />
§ 2. Die vertikale Konzentration <strong>de</strong>r Unternehmungen .................................361<br />
IV. Die Konzentration <strong>de</strong>r Vermögen .................................................................363<br />
§ 1. Das Problem ...........................................................................................363<br />
§ 2. Die Vermögensbildung außerhalb <strong>de</strong>s Tauschverkehrs..........................364<br />
§ 3. Die Vermögensbildung im Tauschverkehr .............................................366
VI<br />
Seite<br />
§ 4. Die Verelendungstheorie ........................................................................371<br />
V. Das Monopol und seine Wirkungen ...............................................................375<br />
§ 1. Das Wesen <strong>de</strong>s Monopols und seine Be<strong>de</strong>utung für die Preisgestaltung<br />
...............................................................................................375<br />
§ 2. Die volkswirtschaftlichen Wirkungen <strong>de</strong>s vereinzelten Monopols.........379<br />
§ 3. Die Grenzen <strong>de</strong>r Monopolbildung ..........................................................380<br />
§ 4. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Monopole in <strong>de</strong>r Urproduktion................................383<br />
IV. Teil: Der Sozialismus als sittliche For<strong>de</strong>rung<br />
I. Sozialismus und Ethik............................................................................................384<br />
§ 1. Die Stellung <strong>de</strong>s Sozialismus zur Ethik........................................................384<br />
§ 2. Die eudämonistische Ethik und <strong>de</strong>r Sozialismus..........................................385<br />
§ 3. Zum Verständnis <strong>de</strong>r eudämonistischen Lehre.............................................391<br />
II. Sozialismus als Ausfluß asketischer Lebensführung ............................................394<br />
§ 1. Die asketische Weltanschauung ...................................................................394<br />
§ 2. Askese und Sozialismus ...............................................................................398<br />
III. Christentum und Sozialismus..............................................................................399<br />
§ 1. Religion und Sozialethik ..............................................................................399<br />
§ 2. Die Bibel als Quelle <strong>de</strong>r christlichen Sozialethik .........................................402<br />
§ 3. Die Lehren <strong>de</strong>s Urchristentums und die Gesellschaft...................................404<br />
§ 4. Das kanonische Zinsverbot...........................................................................408<br />
§ 5. Das Christentum und das Eigentum .............................................................410<br />
§ 6. Der christliche Sozialismus ..........................................................................415<br />
IV. Der ethische Sozialismus, beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Neukritizismus .............................421<br />
§ 1. Die Begründung <strong>de</strong>s Sozialismus durch <strong>de</strong>n kategorischen Imperativ.........421<br />
§ 2. Die Begründung <strong>de</strong>s Sozialismus durch die Arbeitspflicht ..........................426<br />
§ 3. Einkommensgleichheit als ethisches Postulat...............................................428<br />
§ 4. Die ethisch-ästhetische Verdammung <strong>de</strong>s Erwerbstriebs .............................430<br />
§ 5. Die kulturellen Leistungen <strong>de</strong>s Kapitalismus ...............................................432<br />
V. Das Argument <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Demokratie ..................................................434<br />
§ 1. Das Schlagwort „wirtschaftliche Demokratie“.............................................434<br />
§ 2. Die Verbraucher als Leiter <strong>de</strong>r Produktion...................................................438<br />
§ 3. Der Sozialismus als Ausdruck <strong>de</strong>s Willens <strong>de</strong>r Mehrheit.............................443<br />
VI. Kapitalistische Ethik ...........................................................................................444<br />
§ 1. Die kapitalistische Ethik und die Undurchführbarkeit <strong>de</strong>s Sozialismus .......444<br />
§ 2. Die vermeintlichen Mängel <strong>de</strong>r kapitalistischen Ethik.................................445<br />
V. Teil: Der Destruktionismus<br />
I. Die Triebkräfte <strong>de</strong>s Destruktionismus....................................................................447<br />
§ 1. Das Wesen <strong>de</strong>s Destruktionismus.................................................................447<br />
§ 2. Die Demagogie.............................................................................................448
VII<br />
Seite<br />
§ 3. Der Destruktionismus <strong>de</strong>r Literaten..............................................................453<br />
II. Der Weg <strong>de</strong>s Destruktionismus ............................................................................458<br />
§ 1. Die Mittel <strong>de</strong>s Destruktionismus ..................................................................458<br />
§ 2. Der gesetzliche Arbeiterschutz.....................................................................460<br />
§ 3. Die Arbeiterversicherung und Arbeiterversorgung ......................................465<br />
§ 4. Die Gewerkschaften .....................................................................................469<br />
§ 5. Die Sozialisierung ........................................................................................475<br />
§ 6. Die Steuerpolitik...........................................................................................480<br />
§ 7. Die Inflation .................................................................................................485<br />
§ 8. Marxismus und Destruktionismus ................................................................486<br />
III. Die Überwindung <strong>de</strong>s Destruktionismus.............................................................487<br />
§ 1. Der Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r „Interessenten“ <strong>de</strong>s Kapitalismus.................................487<br />
§ 2. Gewalt und Autorität ....................................................................................492<br />
§ 3. Der Kampf <strong>de</strong>r Geister .................................................................................495<br />
Schlußausführungen: Die geschichtliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
Sozialismus<br />
§ 1. Der Sozialismus in <strong>de</strong>r Geschichte.....................................................................499<br />
§ 2. Die Reifezeit <strong>de</strong>r Kultur .....................................................................................500
Einleitung.<br />
§ 1. Sozialismus ist die Losung unserer Tage. Die sozialistische I<strong>de</strong>e<br />
beherrscht heute die Geister. Ihr hängen die Massen an, sie erfüllt das<br />
Denken und Empfin<strong>de</strong>n aller, sie gibt <strong>de</strong>r Zeit ihren Stil. Die Geschichte<br />
wird über <strong>de</strong>n Abschnitt, in <strong>de</strong>m sie von uns berichtet, die Worte setzen:<br />
das Zeitalter <strong>de</strong>s Sozialismus. 1<br />
Die Aufrichtung <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens, das <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r<br />
Sozialisten entspricht, ist freilich noch nicht vollen<strong>de</strong>t. Doch seit mehr als<br />
einem Menschenalter ist die Politik <strong>de</strong>r Kulturvölker auf nichts an<strong>de</strong>res<br />
gerichtet als auf die schrittweise Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus. In <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahren hat die Politik <strong>de</strong>r Sozialisierung an Kraft und<br />
Nachhaltigkeit noch beträchtlich zugenommen. Einige Völker sind daran<br />
gegangen, das sozialistische Programm mit einem Schlage bis in seine<br />
letzten Auswirkungen durchzuführen. Vor unseren Augen hat <strong>de</strong>r<br />
russische Bolschewismus ein Werk vollbracht, das, wie immer man auch<br />
über seine Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>nken mag, schon wegen <strong>de</strong>r Großartigkeit seines<br />
Entwurfes zu <strong>de</strong>m Merkwürdigsten gerechnet wer<strong>de</strong>n muß, das die<br />
Weltgeschichte gesehen hat. An<strong>de</strong>rwärts ist man nicht so weit gelangt.<br />
Doch das, was die Vollendung <strong>de</strong>r sozialistischen Pläne bei <strong>de</strong>n übrigen<br />
Völkern hemmt, sind nur die inneren Wi<strong>de</strong>rsprüche <strong>de</strong>s Sozialismus und<br />
die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung; auch sie haben ihn so weit zu<br />
bringen gesucht, als es unter <strong>de</strong>n gegebenen Verhältnissen überhaupt<br />
anging. Eine grundsätzliche Gegnerschaft fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Sozialismus nirgends.<br />
Es gibt heute keine einflußreiche Partei, die es wagen dürfte, frank und<br />
frei für das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
1 Man kann schon jetzt mit vollem Recht behaupten, daß die mo<strong>de</strong>rne sozialistische<br />
Philosophie nichts an<strong>de</strong>res ist, als die bewußte und bestimmte Anerkennung von<br />
gesellschaftlichen Grundsätzen, die zum großen Teil schon unbewußt befolgt wer<strong>de</strong>n. Die<br />
ökonomische Geschichte dieses Jahrhun<strong>de</strong>rts ist eine fast ununterbrochene Aufzählung <strong>de</strong>r<br />
Fortschritte <strong>de</strong>s Sozialismus. Vgl. Sidney Webb, Die historische Entwicklung (Englische<br />
Sozialreformer, eine Sammlung „Fabian Essays“, herg. v. Grunwald, Leipzig 1897) S. 44.
1<br />
Produktionsmitteln einzutreten. In <strong>de</strong>m Worte „Kapitalismus“ drückt sich<br />
für unsere Zeit die Summe alles Bösen aus. Selbst die Gegner <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus stehen ganz und gar unter <strong>de</strong>m Banne seiner I<strong>de</strong>en. Wenn sie<br />
- wie jene Parteien, die sich vorzüglich als die „bürgerlichen“ o<strong>de</strong>r<br />
„bäuerlichen“ bezeichnen - <strong>de</strong>n Sozialismus nur vom Standpunkte <strong>de</strong>r<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen ihrer Klassen bekämpfen, dann geben sie mittelbar die<br />
Richtigkeit aller wesentlichen Teile <strong>de</strong>s sozialistischen Gedankenbaues<br />
zu. Denn wenn man <strong>de</strong>m sozialistischen Programm nichts an<strong>de</strong>res<br />
entgegenzuhalten weiß als das, daß es die Son<strong>de</strong>rinteressen eines Teiles<br />
<strong>de</strong>r Menschen verletzt, dann hat man es in Wahrheit bejaht. Wenn man<br />
<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n<br />
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vorwirft, daß sie die Interessen <strong>de</strong>r<br />
Gesamtheit nicht genügend berücksichtige, daß sie nur <strong>de</strong>n Zwecken<br />
einzelner Schichten diene, und daß sie die Produktivität hemme, und<br />
darum mit <strong>de</strong>n Anhängern <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen „sozialpolitischen“ und<br />
„sozialreformerischen“ Richtungen staatliche Einmischung auf allen<br />
Gebieten <strong>de</strong>r Volkswirtschaft for<strong>de</strong>rt, dann hat man sich <strong>de</strong>m<br />
sozialistischen Programm grundsätzlich angeschlossen. Wenn man wie<strong>de</strong>r<br />
gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung nichts an<strong>de</strong>res einzuwen<strong>de</strong>n<br />
vermag als das, daß sie wegen <strong>de</strong>r Unvollkommenheit <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Natur <strong>de</strong>rzeit noch undurchführbar sei, o<strong>de</strong>r daß es im Hinblick auf die<br />
augenblickliche wirtschaftliche Lage unangebracht sei, schon jetzt mit <strong>de</strong>r<br />
Durchführung <strong>de</strong>s Sozialismus vorzugehen, so ist auch dies in Wahrheit<br />
nichts an<strong>de</strong>res als ein Bekenntnis zu <strong>de</strong>n sozialistischen I<strong>de</strong>en. Auch <strong>de</strong>r<br />
Nationalismus bejaht <strong>de</strong>n Sozialismus; was er ihm vorzuwerfen hat, ist<br />
lediglich das, daß er „international“ sei. Der Nationalist will auch <strong>de</strong>n<br />
Sozialismus mit <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>s Imperialismus und <strong>de</strong>s Kampfes gegen<br />
die frem<strong>de</strong>n Völker verbin<strong>de</strong>n. Er ist nicht internationaler, son<strong>de</strong>rn<br />
nationaler Sozialist; aber auch er bekennt sich im Wesen zum Sozialismus.<br />
1<br />
1 Fr. W. Foerster weist beson<strong>de</strong>rs darauf hin, daß die Arbeiterbewegung ihren<br />
wirklichen Triumph „in <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r besitzen<strong>de</strong>n Klassen“ erzielt habe; dadurch sei<br />
„diesen Klassen die moralische Kraft zum Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong> genommen wor<strong>de</strong>n“. (Vgl.<br />
Foerster, Christentum und Klassenkampf, Zürich 1908, S. 111 f.) - Schon 1869 stellte<br />
Prince-Smith die Tatsache fest, daß die sozialistischen I<strong>de</strong>en auch in <strong>de</strong>n Kreisen <strong>de</strong>r<br />
Unternehmer Anhänger gefun<strong>de</strong>n haben. Er spricht davon, daß unter <strong>de</strong>n<br />
Geschäftsmännern „so son<strong>de</strong>rbar es auch klingt, es einige gibt, die ihr eigenes Wirken im<br />
Volkshaushalt so wenig klar erfassen, daß sie die sozialistischen Auffassungen für mehr<br />
o<strong>de</strong>r weniger begrün<strong>de</strong>t halten, wenigstens die Gegengrün<strong>de</strong> nicht einsehen, und darum<br />
wirklich ein böses Gewissen haben, als wenn sie sich eingestehen müßten, daß ihre<br />
Gewinne tatsächlich auf Kosten ihrer Arbeiter gemacht wür<strong>de</strong>n, was sie zaghaft darum
2<br />
Anhänger <strong>de</strong>s Sozialismus sind nicht nur die russischen Bolschewiki<br />
und ihre Freun<strong>de</strong> außerhalb Rußlands, sind nicht nur jene, die sich zu<br />
irgen<strong>de</strong>iner <strong>de</strong>r vielen sozialistischen Richtungen bekennen; wir müssen<br />
alle jene als Sozialisten bezeichnen, die die sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung für wirtschaftlich vollkommener und sittlich<br />
höherwertig als die auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
beruhen<strong>de</strong> ansehen, mögen sie auch aus irgendwelchen Rücksichten für<br />
<strong>de</strong>n Augenblick o<strong>de</strong>r für immer ein Kompromiß zwischen ihrem<br />
sozialistischen I<strong>de</strong>al und irgendwelchen Son<strong>de</strong>rinteressen und<br />
Son<strong>de</strong>rwünschen, die sie zu vertreten glauben, anstreben. Fassen wir <strong>de</strong>n<br />
Begriff <strong>de</strong>s Sozialisten so weit, dann erkennt man unschwer, daß die<br />
weitaus überwiegen<strong>de</strong> Mehrzahl <strong>de</strong>r Menschen heute im Lager <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus steht. Nur ganz wenige bekennen sich zu <strong>de</strong>n Grundsätzen<br />
<strong>de</strong>s Liberalismus und erblicken in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsordnung die allein mögliche<br />
Form <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Wirtschaft.<br />
Durch nichts kann die Größe <strong>de</strong>s Erfolges <strong>de</strong>r sozialistischen I<strong>de</strong>en<br />
besser beleuchtet wer<strong>de</strong>n als gera<strong>de</strong> durch die Feststellung <strong>de</strong>r Tatsache,<br />
daß man sich daran gewöhnt hat, nur jene Politik, die auf die sofortige und<br />
vollständige Durchführung <strong>de</strong>s sozialistischen Programms hinzielt, als<br />
sozialistisch zu bezeichnen, und allen jenen Richtungen, die mit mehr<br />
Maß und Zurückhaltung zu <strong>de</strong>mselben Ziele hinstreben o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Sozialismus nur mit gewissen Einschränkungen verwirklichen wollen,<br />
diese Benennung verweigert, ja sie selbst als Gegner <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
bezeichnet. Dieser Sprachgebrauch konnte sich nur einbürgern, weil es<br />
wahre Gegner <strong>de</strong>s Sozialismus kaum noch gibt. Selbst in England, <strong>de</strong>m<br />
Heimatland <strong>de</strong>s Liberalismus, das durch seine liberale Politik groß und<br />
reich gewor<strong>de</strong>n ist, weiß man heute nicht mehr, was Liberalismus<br />
eigentlich ist. Die englischen „Liberalen“ von heute sind mehr o<strong>de</strong>r<br />
weniger gemäßigte Sozialisten. In Deutschland, das <strong>de</strong>n Liberalismus nie<br />
noch verwirrter macht. Dies ist das Allerschlimmste. Denn ernstlich gefähr<strong>de</strong>t wäre unsere<br />
wirtschaftliche Kultur, wenn <strong>de</strong>ren Träger nicht aus <strong>de</strong>m Gefühl voller Berechtigung <strong>de</strong>n<br />
Mut schöpften, die Grundlagen <strong>de</strong>rselben auf das Entschlossenste zu verteidigen.“ (Vgl.<br />
Prince-Smiths Gesammelte Schriften, I. Bd., Berlin 1877, S. 362.) Prince-Smith war<br />
freilich nicht <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r es verstan<strong>de</strong>n hätte, sich mit <strong>de</strong>n sozialistischen Theorien<br />
kritisch auseinan<strong>de</strong>rzusetzen.
3<br />
wirklich gekannt hat und das durch seine antiliberale Politik ohnmächtig<br />
und arm gewor<strong>de</strong>n ist, hat man kaum noch eine Ahnung davon, was<br />
Liberalismus eigentlich sein kann. 1<br />
Auf <strong>de</strong>m vollen Siege, <strong>de</strong>n die sozialistische I<strong>de</strong>e in <strong>de</strong>n letzten<br />
Jahrzehnten errungen hat, beruht die große Macht <strong>de</strong>s russischen<br />
Bolschewismus. Nicht die Kanonen und Maschinengewehre, über die<br />
Lenin und Trotzki verfügen, machen die Kraft <strong>de</strong>s Bolschewismus aus,<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Umstand, daß seine I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r ganzen Welt mit Sympathie<br />
aufgenommen wer<strong>de</strong>n. Viele Sozialisten halten das Unternehmen <strong>de</strong>r<br />
Bolschewiken für verfrüht und erwarten die Verwirklichung <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus erst von <strong>de</strong>r Zukunft. Doch kein Sozialist kann sich <strong>de</strong>m<br />
Einfluß <strong>de</strong>r Worte entziehen, mit <strong>de</strong>nen die „Dritte Internationale“ die<br />
Völker <strong>de</strong>r Welt zum Kampfe gegen <strong>de</strong>n Kapitalismus aufruft. Auf <strong>de</strong>m<br />
ganzen Er<strong>de</strong>nrund schlagen die Herzen <strong>de</strong>m Bolschewismus entgegen.<br />
Bei <strong>de</strong>n Schwachen und Lauen fin<strong>de</strong>t er jene mit Grauen und<br />
Bewun<strong>de</strong>rung gemischte Sympathie, die <strong>de</strong>r mutige Bekenner beim<br />
ängstlichen Opportunisten erweckt. Die Kühneren und Folgerichtigeren<br />
aber begrüßen in ihm ohne Scheu die Morgenröte einer neuen Zeit.<br />
§ 2. Der Ausgangspunkt <strong>de</strong>r sozialistischen Lehren ist die Kritik <strong>de</strong>r<br />
bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Es ist bekannt, daß sie dabei nicht<br />
gera<strong>de</strong> mit großem Geschick vorgegangen sind, daß sie die wichtigsten<br />
Zusammenhänge <strong>de</strong>s Wirtschaftsmechanismus verkannt und daß sie kein<br />
Verständnis für die Funktion <strong>de</strong>r einzelnen Einrichtungen <strong>de</strong>r<br />
arbeitteilen<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
aufgebauten Gesellschaftsordnung gezeigt haben. Es war nicht schwer, die<br />
Fehler aufzuzeigen, die <strong>de</strong>n so-<br />
1 Wie wenig man in Deutschland heute eine Ahnung von <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Liberalismus<br />
hat, zeigt He1versen, Kernpunkte liberaler Wirtschaftspolitik nach <strong>de</strong>m Kriege, Karlsruhe<br />
1918. Da heißt es, <strong>de</strong>r Liberalismus müsse „zunächst <strong>de</strong>r weiteren Ausbreitung <strong>de</strong>s<br />
städtischen, gewerblichen Großkapitalismus tatkräftigen Wi<strong>de</strong>rstand entgegensetzen“ (S.<br />
12). Dazu wird die Verstaatlichung „<strong>de</strong>r wichtigsten syndizierten o<strong>de</strong>r kartellierten<br />
Gewerbezweige, z. B. <strong>de</strong>s Kohlen- und Kalibergbaues“, dann <strong>de</strong>r Rüstungsindustrie<br />
gefor<strong>de</strong>rt (S. 13), wozu noch zu bemerken ist, daß die Schrift aus <strong>de</strong>m Frühjahr 1918, also<br />
aus <strong>de</strong>r Zeit vor <strong>de</strong>r Novemberrevolution datiert ist. Dann heißt es, <strong>de</strong>r Liberalismus müsse<br />
darauf Bedacht nehmen, „daß das Interesse <strong>de</strong>r Bauern in <strong>de</strong>r auswärtigen Han<strong>de</strong>lspolitik<br />
genügend wahrgenommen und die Preisgestaltung <strong>de</strong>r Agrarprodukte durch die<br />
Konkurrenz von Län<strong>de</strong>rn mit extensiverer Wirtschaft nicht beeinträchtigt wird“ (S. 16 f.).<br />
Für Helversen sind alle jene For<strong>de</strong>rungen, die man noch vor einem Menschenalter als<br />
Kernpunkte eines antiliberalen Programms bezeichnet hat, Kernpunkte liberaler<br />
Wirtschaftspolitik.
4<br />
zialistischen Theoretikern bei <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>s ökonomischen Prozesses<br />
unterlaufen sind; es ist restlos gelungen, ihre ökonomischen Lehren als grobe<br />
Irrtümer zu entlarven. Doch die Frage, ob die kapitalistische<br />
Gesellschaftsordnung mehr o<strong>de</strong>r weniger mangelhaft sei, ist für die<br />
Entscheidung <strong>de</strong>r Frage, ob <strong>de</strong>r Sozialismus imstan<strong>de</strong> sei, etwas Besseres an<br />
ihre Stelle zu setzen, nicht allein auschlaggebend. Es genügt nicht,<br />
nachgewiesen zu haben, daß die auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung nicht fehlerlos sei, daß<br />
sie eine Welt geschaffen habe, die nicht die beste aller Welten sei; man muß<br />
auch zeigen können, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung besser sei als<br />
sie. Diesen Nachweis haben nur wenige Sozialisten zu erbringen versucht; die<br />
es versuchten, haben es meist in durchaus unwissenschaftlicher, ja manche<br />
gera<strong>de</strong>zu in leichtfertiger Art getan. Die Wissenschaft vom Sozialismus ist<br />
über die Anfänge nicht hinausgekommen. Schuld daran trägt nicht in letzter<br />
Linie gera<strong>de</strong> jene Richtung <strong>de</strong>s Sozialismus, die sich <strong>de</strong>n Namen<br />
„wissenschaftlicher Sozialismus“ beigelegt hat. Der Marxismus hat sich nicht<br />
damit begnügt, das Kommen <strong>de</strong>s Sozialismus als eine unentrinnbare<br />
Notwendigkeit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung hinzustellen; hätte er nur<br />
das getan, dann hätte er nicht jenen ver<strong>de</strong>rblichen Einfluß auf die<br />
wissenschaftliche Behandlung <strong>de</strong>r Probleme <strong>de</strong>s Gesellschaftslebens ausüben<br />
können, <strong>de</strong>r ihm zur Last geschrieben wer<strong>de</strong>n muß. Wenn er nichts weiter<br />
getan hätte, als die sozialistische Gesellschaftsordnung als die <strong>de</strong>nkbar beste<br />
Gestalt <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenlebens zu bezeichnen, hätte er noch<br />
nicht in solcher Weise schädlich wer<strong>de</strong>n können, wie er es durch die<br />
Kunstgriffe wur<strong>de</strong>, durch die er die wissenschaftliche Bearbeitung<br />
soziologischer Probleme unterbun<strong>de</strong>n und die geistige Atmosphäre <strong>de</strong>r Zeit<br />
vergiftet hat.<br />
Nach marxistischer Auffassung bestimmt das gesellschaftliche Sein<br />
das Bewußtsein. Die Ansichten, die ein Schriftsteller äußert, sind durch<br />
seine Klassenzugehörigkeit bestimmt; es ist ihm nicht gegeben, über seine<br />
Klasse hinauszuwachsen und sein Denken von <strong>de</strong>r Richtung, die ihm sein<br />
Klasseninteresse vorschreibt, zu befreien. 1 Damit wird die Möglichkeit<br />
einer allgemeinen, für alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre<br />
Klassenzugehörigkeit gelten<strong>de</strong>n Wissenschaft bestritten, und es ist nur<br />
folgerichtig, wenn Dietzgen<br />
1 „Die Wissenschaft existiert nur in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Forscher, und die sind Produkte<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft, können nicht aus ihr und über sie hinaus.“ (Kautsky, Die soziale<br />
Revolution, 3. Aufl., Berlin 1911, II., S. 39.)
5<br />
daran ging, eine beson<strong>de</strong>re proletarische Logik aufzubauen. 1 Die Wahrheit<br />
ist aber nur bei <strong>de</strong>r proletarischen Wissenschaft; es sind „die Gedanken<br />
<strong>de</strong>r proletarischen Logik nicht Parteigedanken, son<strong>de</strong>rn Konsequenzen <strong>de</strong>r<br />
Logik schlechthin.“ 2 So schützt sich <strong>de</strong>r Marxismus gegen alle unliebsame<br />
Kritik; <strong>de</strong>r Gegner wird nicht wi<strong>de</strong>rlegt, es genügt, ihn als Bourgeois zu<br />
entlarven. 3 Er selbst kritisiert die Leistungen aller An<strong>de</strong>rs<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r<br />
Weise, daß er sie als feile Knechte <strong>de</strong>r Bourgeoisie hinstellt. Marx und<br />
Engels haben es nie versucht, ihre Gegner mit Argumenten zu wi<strong>de</strong>rlegen.<br />
Sie haben sie beschimpft, verspottet, verhöhnt, verdächtigt, verleum<strong>de</strong>t,<br />
und ihre Nachfolger stehen darin nicht zurück. 4 Ihre Polemik richtet sich<br />
nie gegen die Darlegungen, immer gegen die Person <strong>de</strong>s Gegners. Solcher<br />
Kampfweise gegenüber haben die wenigsten Stand gehalten. Nur wenige,<br />
sehr wenige haben sich gefun<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Mut aufgebracht haben, <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus mit jener Kritik gegenüberzutreten, die überall rücksichtslos<br />
anzuwen<strong>de</strong>n Pflicht <strong>de</strong>s wissenschaftlich Denken<strong>de</strong>n ist. Nur so ist es zu<br />
erklären, daß das Verbot, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Marxismus je<strong>de</strong> nähere Besprechung<br />
<strong>de</strong>r wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Gemeinwesens belegt hat, von Anhängern und Gegnern<br />
<strong>de</strong>s Sozialismus streng befolgt wur<strong>de</strong>. In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Marxis-<br />
1<br />
Vgl. Dietzgen, Briefe über Logik, speziell <strong>de</strong>mokratisch-proletarische Logik<br />
(Internationale Bibliothek, 22. Bd., 2. Aufl., Stuttgart 1903) S. 112: „Schließlich verdient<br />
die Logik auch schon <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n proletarischen Beinamen, weil ihr Verständnis die<br />
Überwindung aller Vorurteile for<strong>de</strong>rt, welche die Bourgeoiswelt im Leime halten.“<br />
2 Ebendort.<br />
3 Es ist eine feine Ironie <strong>de</strong>r Geschichte, daß selbst Marx von diesem Schicksale<br />
betroffen wur<strong>de</strong>. Untermann fin<strong>de</strong>t, daß „auch das Gedankenleben typischer proletarischer<br />
Denker marxistischer Richtung“ noch „Überreste vergangener Gedankenepochen, sei es<br />
auch nur in rudimentärer Form“ enthalte. „Diese Rudimente wer<strong>de</strong>n um so stärker<br />
hervortreten, je mehr die vor <strong>de</strong>m Übergang zum Marxismus verlebten Denkstadien in<br />
einem bürgerlichen o<strong>de</strong>r feudalen Milieu zugebracht wur<strong>de</strong>n, wie das bei Marx, Engels,<br />
Plechanow, Kautsky, Mehring und an<strong>de</strong>ren hervorragen<strong>de</strong>n Marxisten bekanntlich <strong>de</strong>r Fall<br />
war.“ Ja, er spricht von Marx als von „einer durch die bürgerliche Klassenerziehung<br />
metaphysisch beschränkten Intelligenz“. (Vgl. Untermann, Die logischen Mängel <strong>de</strong>s<br />
engeren Marxismus, München 1910, S. 125, 165.)<br />
4 Lenin hat einmal in einer Verteidigungsre<strong>de</strong> erklärt: einen politischen Gegner,<br />
beson<strong>de</strong>rs wenn er unserem eigenen sozialistischen Lager angehört, soll man mit<br />
vergifteten Waffen bekämpfen, in<strong>de</strong>m man <strong>de</strong>n schlimmsten Verdacht gegen ihn zu<br />
erwecken versucht. Vgl. Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, 7. Aufl., Jena 1919,<br />
S. 148.
6<br />
mus die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel einerseits als das En<strong>de</strong><br />
bezeichnet, zu <strong>de</strong>m die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung mit<br />
Naturnotwendigkeit hinführe, sie an<strong>de</strong>rerseits aber als das Ziel seiner<br />
politischen Bestrebungen hinstellte, hat er das Bild <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaft im Wesen dargelegt. Das Verbot <strong>de</strong>r Beschäftigung mit <strong>de</strong>n<br />
Problemen <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft, das mit einer Reihe von<br />
fa<strong>de</strong>nscheinigen Argumenten begrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, hatte <strong>de</strong>n Zweck, zu<br />
verhin<strong>de</strong>rn, daß in <strong>de</strong>r Diskussion <strong>de</strong>s Aufbaues einer je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nkbaren<br />
und möglichen sozialistischen Gesellschaft die Schwächen <strong>de</strong>r<br />
marxistischen Lehren <strong>de</strong>utlich zutage treten. Die Klarlegung <strong>de</strong>s Wesens<br />
<strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaft hätte <strong>de</strong>r Inbrunst, mit <strong>de</strong>r die Massen<br />
vom Sozialismus die Erlösung von allen irdischen Übeln erwarteten, sehr<br />
gefährlich wer<strong>de</strong>n können. Es war einer <strong>de</strong>r geschicktesten Schachzüge<br />
von Marx, daß er diese gefährlichen Untersuchungen, die allen älteren<br />
sozialistischen Theorien <strong>de</strong>n Untergang bereitet hatten, mit Erfolg<br />
unterdrückte. Nur weil über das sozialistische Gemeinwesen nicht<br />
gesprochen und nicht nachgedacht wer<strong>de</strong>n durfte, konnte <strong>de</strong>r Sozialismus<br />
zur herrschen<strong>de</strong>n politischen Richtung <strong>de</strong>s ausgehen<strong>de</strong>n neunzehnten und<br />
<strong>de</strong>s beginnen<strong>de</strong>n zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts wer<strong>de</strong>n.<br />
Man kann diese Ausführungen nicht besser belegen als durch<br />
Anführung einer Stelle aus <strong>de</strong>n Schriften Hermann Cohens, <strong>de</strong>r zu jenen<br />
gehört, die in <strong>de</strong>n Jahrzehnten, die <strong>de</strong>m Weltkrieg unmittelbar<br />
vorausgingen, <strong>de</strong>n stärksten Einfluß auf das <strong>de</strong>utsche Geistesleben<br />
ausgeübt haben. „Heute,“ sagt Cohen, „wehrt sich kein Unverstand mehr<br />
gegen <strong>de</strong>n ‚guten Kern’ <strong>de</strong>r sozialen Frage und <strong>de</strong>m gemäß auch nur<br />
verstohlen gegen die unabwendbare Notwendigkeit einer Sozialpolitik;<br />
son<strong>de</strong>rn nur noch <strong>de</strong>r böse o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r nicht zureichend gute Wille. Aus<br />
solcher mangelhaften Gesinnung allein kann auch die Zumutung<br />
erklärlich wer<strong>de</strong>n, durch welche man <strong>de</strong>n Partei-Sozialismus zu verwirren<br />
trachtet, daß er sein Bild <strong>de</strong>s Zukunftsstaates zum allgemeinen Schauspiel<br />
aufrolle. Für die sittlichen For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Rechtes setzt man das<br />
Staatsbild ein, während doch <strong>de</strong>r Staatsbegriff erst <strong>de</strong>n Rechtsbegriff zur<br />
Voraussetzung hat. Bei solchem Umsturze <strong>de</strong>r Begriffe verwechselt man<br />
die Ethik <strong>de</strong>s Sozialismus mit <strong>de</strong>r Poesie <strong>de</strong>r Utopien. Die Ethik aber ist<br />
nicht Poesie, und die I<strong>de</strong>e hat Wahrheit ohne Bild Ihr Bild ist die<br />
Wirklichkeit, die erst nach ihrem Vorbild entstehen soll. Der Rechts-<br />
I<strong>de</strong>alismus <strong>de</strong>s Sozialismus darf heute als eine allgemeine Wahrheit <strong>de</strong>s<br />
öffentlichen Bewußtseins bezeichnet wer<strong>de</strong>n, freilich als eine
7<br />
solche, die doch noch immer ein öffentliches Geheimnis ist. Nur <strong>de</strong>r<br />
i<strong>de</strong>alfeindliche Egoismus <strong>de</strong>r nackten Habsucht, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r wahre<br />
Materialismus ist, versagt ihr <strong>de</strong>n Glauben.“ 1 Der so schrieb und dachte,<br />
wur<strong>de</strong> von manchen als <strong>de</strong>r größte und kühnste <strong>de</strong>utsche Denker seiner<br />
Zeit gepriesen, und auch Gegner seiner Lehren achten seine<br />
Gedankenarbeit. Und gera<strong>de</strong> darum muß beson<strong>de</strong>rs hervorgehoben<br />
wer<strong>de</strong>n, daß Cohen nicht nur kritiklos die sozialistischen For<strong>de</strong>rungen<br />
ohne Vorbehalt annimmt und auch das Verbot <strong>de</strong>r Beschäftigung mit <strong>de</strong>n<br />
Verhältnissen <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens anerkennt, son<strong>de</strong>rn daß<br />
er je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n „Parteisozialismus“ durch die For<strong>de</strong>rung nach<br />
Aufhellung <strong>de</strong>r Probleme <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaftsverfassung „zu<br />
verwirren trachtet“ als ein sittlich min<strong>de</strong>rwertiges Individuum hinstellt.<br />
Daß die Kühnheit eines Denkers, <strong>de</strong>ssen Kritik sonst nichts verschont, vor<br />
einem mächtigen Idol seiner Zeit Halt macht, ist eine Erscheinung, die<br />
man auch sonst in <strong>de</strong>r Geistesgeschichte häufig genug beobachten kann;<br />
auch Cohens großem Vorbild, Kant, wird Ähnliches vorgeworfen. 2 Doch<br />
daß ein Philosoph nicht nur allen jenen, die an<strong>de</strong>rer Meinung sind,<br />
son<strong>de</strong>rn schon <strong>de</strong>nen, die mit einer Frage an ein <strong>de</strong>n Machthabern gefährliches<br />
Problem rühren sollten, bösen Willen, mangelhafte Gesinnung und<br />
nackte Habsucht vorwirft, ist doch etwas, was in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r<br />
Philosophie glücklicherweise nur durch wenige Beispiele belegt wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
Verfehmt und vogelfrei war je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich nicht bedingungslos diesem<br />
Zwang fügte. So konnte es geschehen, daß von Jahr zu Jahr die<br />
<strong>Gemeinwirtschaft</strong> immer mehr an Bo<strong>de</strong>n gewann, ohne daß es jemand<br />
eingefallen wäre, ihre Verhältnisse grundsätzlich zu untersuchen. So<br />
konnte es geschehen, daß eines Tages <strong>de</strong>r marxistische Sozialismus die<br />
volle Herrschaft antrat und nun, da er sich anschicken wollte, sein<br />
Programm ganz zu erfüllen, erkennen mußte, daß er keine Ahnung von<br />
<strong>de</strong>m hatte, was er durch Jahrzehnte angestrebt hatte.<br />
Die Erörterung <strong>de</strong>r Probleme <strong>de</strong>r <strong>Gemeinwirtschaft</strong> ist nicht nur für das<br />
Verständnis <strong>de</strong>s Gegensatzes zwischen liberaler und sozia-<br />
1 Vgl. Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur neunten Auflage <strong>de</strong>r Geschichte<br />
<strong>de</strong>s Materialismus von Friedrich Albert Lauge in dritter, erweiterter Auflage, Leipzig<br />
1914, S. 115. Vgl. auch Natorp, Sozialpädagogik, 4. Aufl., Leipzig 1920, S. 201f.<br />
2 Vgl. Anton Menger, Neue Sittenlehre, Jena 1905, S. 45, 62 ff.
8<br />
listischer Politik von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung. Ohne sie ist ein<br />
Begreifen <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong>, wie sie sich seit <strong>de</strong>m Einsetzen <strong>de</strong>r Verstaatlichungs-<br />
und Verstadtlichungsbewegung herausgebil<strong>de</strong>t haben, nicht<br />
<strong>de</strong>nkbar. Es war eine begreifliche, aber bedauerliche Einseitigkeit, daß die<br />
Nationalökonomie bisher ausschließlich <strong>de</strong>n Mechanismus einer auf <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaft<br />
untersucht hat. Die Lücke, die dadurch entstan<strong>de</strong>n ist, darf nicht länger<br />
offen bleiben.<br />
Die Frage, ob die Gesellschaft auf Grundlage <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums<br />
o<strong>de</strong>r auf Grundlage <strong>de</strong>s Gemeineigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
aufgebaut wer<strong>de</strong>n soll, ist eine politische. Die Wissenschaft kann sie nie<br />
entschei<strong>de</strong>n; sie kann kein Urteil über Wert o<strong>de</strong>r Unwert <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Organisationsformen abgeben. Doch sie allein vermag<br />
durch Untersuchung <strong>de</strong>r Wirkungen bestimmter Einrichtungen die<br />
Grundlagen zu schaffen, durch die wir zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
vorzudringen vermögen. Mag auch <strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Mensch, <strong>de</strong>r Politiker,<br />
die Ergebnisse dieser Arbeit mitunter achtlos übergehen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nken<strong>de</strong><br />
Mensch wird nie aufhören, nach <strong>de</strong>n letzten unserer Einsicht noch<br />
zugänglichen Dingen zu forschen. Schließlich und endlich aber muß das<br />
Han<strong>de</strong>ln durch das Denken bestimmt wer<strong>de</strong>n.<br />
§ 3. Es gibt zwei Wege für die Behandlung <strong>de</strong>r Probleme, die <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus <strong>de</strong>r Wissenschaft stellt.<br />
Man kann <strong>de</strong>n Sozialismus kulturphilosophisch betrachten, in<strong>de</strong>m man<br />
versucht, ihn in die Gesamtheit <strong>de</strong>r Kulturerscheinungen einzuordnen.<br />
Man forscht nach seiner geistigen Abstammung, man prüft sein Verhältnis<br />
zu allen übrigen Erscheinungsformen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens, man<br />
spürt seinen in <strong>de</strong>r Seele <strong>de</strong>s Einzelnen verborgenen Quellen nach, man<br />
bemüht sich, ihn als Massenerscheinung zu verstehen. Man untersucht<br />
seine Auswirkungen in Religion und Philosophie, in Kunst und Literatur.<br />
Man bemüht sich nachzuweisen, in welchem Verhältnis er zur<br />
Naturwissenschaft und zur Geisteswissenschaft <strong>de</strong>r Zeit steht. Man faßt<br />
ihn als Lebensstil auf, als Äußerung <strong>de</strong>r Seelenstimmung, als Ausdruck<br />
ethischer und ästhetischer Anschauungen. Das ist <strong>de</strong>r kulturgeschichtlich-psychologische<br />
Weg. Er wird immer wie<strong>de</strong>r betreten, und<br />
die Zahl <strong>de</strong>r Bücher und Aufsätze, die ihn wan<strong>de</strong>ln, ist Legion.<br />
Man kann über eine wissenschaftliche Metho<strong>de</strong> nie von vornherein<br />
aburteilen. Es gibt nur einen Prüfstein für ihre Leistungsfähigkeit: <strong>de</strong>n<br />
Erfolg. Es ist ganz gut möglich, daß es auch <strong>de</strong>r
9<br />
kulturgeschichtlich-psychologischen Metho<strong>de</strong> gelingen könnte, zur<br />
Lösung <strong>de</strong>r Probleme, die <strong>de</strong>r Sozialismus <strong>de</strong>r Wissenschaft stellt,<br />
beizutragen. Daß ihre Ergebnisse bis nun nur wenig befriedigen können,<br />
ist jedoch nicht nur <strong>de</strong>r Unzulänglichkeit <strong>de</strong>r Bearbeiter zuzuschreiben,<br />
son<strong>de</strong>rn vor allem <strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong>, daß <strong>de</strong>r kulturgeschichtlich-psychologischen<br />
Behandlung <strong>de</strong>r Probleme die<br />
soziologisch-nationalökonomische vorangehen muß. Denn <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus ist ein Programm <strong>de</strong>r Umgestaltung <strong>de</strong>r Gesellschafts- und<br />
Wirtschaftsverfassung nach einem bestimmten I<strong>de</strong>al. Will man seine Auswirkung<br />
auf die übrigen Gebiete <strong>de</strong>s Geistes- und Kulturlebens erkennen,<br />
so muß man vorerst Klarheit über seine gesellschaftliche und<br />
wirtschaftliche Be<strong>de</strong>utung gewonnen haben. Solange man darüber noch<br />
im Zweifel ist, hat es keinen Sinn, sich an seine kulturgeschichtliche und<br />
psychologische Deutung zu wagen. Man kann von <strong>de</strong>r Ethik <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus nicht re<strong>de</strong>n, bevor man sein Verhältnis zu an<strong>de</strong>ren sittlichen<br />
Zielsetzungen nicht geklärt hat. Man kann über seine Rückwirkung auf<br />
Religion und öffentliches Leben nichts Zutreffen<strong>de</strong>s vorbringen, wenn<br />
man von seinem eigentlichen Wesen nur un<strong>de</strong>utliche Vorstellungen hat.<br />
Das tritt bei je<strong>de</strong>m einzelnen <strong>de</strong>r Punkte, an <strong>de</strong>nen die kulturgeschichtlich-psychologische<br />
Betrachtungsweise anzusetzen pflegt, klar<br />
zutage. Man faßt <strong>de</strong>n Sozialismus als letzte Konsequenz <strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>mokratischen Gleichheitsgedankens auf, ohne darüber nachgedacht zu<br />
haben, was <strong>de</strong>nn eigentlich Demokratie und was Gleichheit be<strong>de</strong>uten und<br />
in welcher Beziehung sie untereinan<strong>de</strong>r stehen, und ohne geprüft zu<br />
haben, ob <strong>de</strong>r Sozialismus in erster Linie o<strong>de</strong>r auch nur überhaupt mit <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Gleichheit etwas zu tun habe. Man spricht bald davon, daß <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus eine Reaktion <strong>de</strong>r Psyche auf die seelische Verödung durch<br />
<strong>de</strong>n vom Kapitalismus unzertrennlichen Rationalismus sei, bald wie<strong>de</strong>r<br />
davon, daß er höchste Rationalisierung <strong>de</strong>s äußeren Lebens, die <strong>de</strong>r<br />
Kapitalismus nie zu erreichen vermöge, sich zum Ziel gesetzt habe. 1 Von<br />
jenen, die ihre kulturtheoretischen Ausführungen über <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
mit einem Wust von Mystik und unverstan<strong>de</strong>nen Phrasen umgeben, sei<br />
dabei gar nicht die Re<strong>de</strong>.<br />
Die Untersuchungen dieses Buches sollen vor allem <strong>de</strong>n soziologisch-<br />
1 Muck1e (Das Kulturi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s Sozialismus, München 1919) bringt es sogar fertig,<br />
vom Sozialismus zu erwarten, daß er sowohl „höchste Rationalisierung <strong>de</strong>s<br />
Wirtschaftslebens“ als auch Erlösung von <strong>de</strong>r fürchterlichsten aller Barbareien: „<strong>de</strong>m<br />
kapitalistischen Rationalismus“ bringen wer<strong>de</strong> (S. 208 und 213).
10<br />
nationalökonomischen Problemen <strong>de</strong>s Sozialismus gewidmet sein. Ihre<br />
Behandlung muß <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r kulturpsychologischen Probleme vorangehen;<br />
nur auf <strong>de</strong>n Ergebnissen solcher Arbeit können sich Untersuchungen über<br />
die Kulturpsychologie <strong>de</strong>s Sozialismus aufbauen. Sie erst können eine<br />
feste Grundlage für die <strong>de</strong>m großen Publikum gewiß anziehen<strong>de</strong>r<br />
erscheinen<strong>de</strong>n Abhandlungen zur allgemein menschlichen Würdigung <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Gedankensystems abgeben.<br />
§ 4. Man kann die allgemein soziologischen und die beson<strong>de</strong>ren<br />
nationalökonomischen Probleme <strong>de</strong>s Sozialismus nicht behan<strong>de</strong>ln, ohne<br />
auf die wichtigsten Fragen <strong>de</strong>r Soziologie und <strong>de</strong>r Nationalökonomie<br />
zurückzugreifen. So erweitert sich die Untersuchung unversehens zu<br />
einem Versuch über Hauptprobleme <strong>de</strong>r Wissenschaft. Das gilt weniger<br />
von <strong>de</strong>n nationalökonomischen Fragen, für die die Katallaktik <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rnen subjektivistischen Wertlehre einen festen Ausgangspunkt<br />
bietet, als von <strong>de</strong>n soziologischen, für <strong>de</strong>ren Bearbeitung weniger<br />
brauchbare Grundlagen vorliegen als für die <strong>de</strong>r spezifisch<br />
nationalökonomischen. Noch hat die Soziologie nicht jene Geschlossenheit<br />
<strong>de</strong>s Systems und jene Sicherheit <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> erreicht, die <strong>de</strong>n<br />
Bearbeiter eines Son<strong>de</strong>rgebietes <strong>de</strong>r Pflicht entheben könnte, selbst <strong>de</strong>n<br />
Versuch zu wagen, bis zu <strong>de</strong>n Kernfragen vorzudringen.<br />
Manchem, <strong>de</strong>m die systematische Behandlung <strong>de</strong>r Wissenschaft über<br />
alles geht, wird es vielleicht scheinen, daß es unter solchen Umstän<strong>de</strong>n<br />
besser gewesen wäre, die Arbeit über <strong>de</strong>n Sozialismus zurückzustellen<br />
und sich zunächst mit <strong>de</strong>n Grundfragen <strong>de</strong>r Gesellschaftslehre<br />
auseinan<strong>de</strong>rzusetzen. Wenn hier ein an<strong>de</strong>res Verfahren eingeschlagen<br />
wird, so wird dabei das Beispiel befolgt, das die vorbildlichen<br />
soziologischen Arbeiten geben. Mehr noch als in an<strong>de</strong>ren Wissenschaften<br />
fühlt <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich mit <strong>de</strong>n Rätseln <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens befaßt,<br />
das Bedürfnis, von <strong>de</strong>r Behandlung <strong>de</strong>s Beson<strong>de</strong>ren auszugehen und von<br />
da erst zu <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Allgemeineren aufzusteigen.<br />
Das Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gesellschaft und die Erkenntnis <strong>de</strong>s Gesellschaftlichen<br />
sind in hohem Maße wechselseitig bedingt. Die gesellschaftliche<br />
Bindung ist selbst ein Stück Äußerung <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Vernunft, und ihr vernunftgemäßes Verstehen ist ein Selbstbesinnen <strong>de</strong>s<br />
Menschen, ein Bewußtwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Intellekts. Gesellschaftswissenschaft ist<br />
ein Stück Selbsterkenntnis. Ihr Gegenstand ist im Innern, nicht im Äußern<br />
zu suchen; wir stehen zu ihm ganz an<strong>de</strong>rs als zu <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>ssen,<br />
das uns innerlich fremd ist, das wir nur zu erkennen, nicht auch zu erleben<br />
vermögen. In diesem Sinne
11<br />
muß auch die - heute übrigens längst nicht mehr wichtige - Frage, ob<br />
Gesellschaftserkenntnis Natur- o<strong>de</strong>r Geisteswissenschaft sei, beantwortet<br />
wer<strong>de</strong>n. Das gesellschaftliche Leben ist ein Teil <strong>de</strong>ssen, was wir Geist zu<br />
nennen pflegen.<br />
So muß einerseits die Erkenntnis <strong>de</strong>s Gesellschaftlichen mit <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Gesellschaft selbst fortschreiten und an<strong>de</strong>rerseits die<br />
Verstärkung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Bindung von <strong>de</strong>m Fortgang <strong>de</strong>r<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>s Gesellschaftlichen abhängig sein. Das Wissen von <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft ist selbst ein Stück Gesellschaft, die Gesellschaftswissenschaft<br />
an sich schon eine gesellschaftliche Erscheinung. Darum<br />
kann sich je<strong>de</strong>s Geschlecht <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>r ihm auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r<br />
Soziologie erreichbaren Probleme nur in <strong>de</strong>r Weise nähern, daß es von<br />
<strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Verhältnissen <strong>de</strong>r eigenen Zeit <strong>de</strong>n Ausgang nimmt; und<br />
in<strong>de</strong>m es sich diese Aufgabe setzt, greift es zugleich mitbestimmend in die<br />
gesellschaftliche Entwicklung ein.<br />
§ 5. Die Wissenschaft strebt nach Erfassung <strong>de</strong>r wechselseitigen<br />
Beziehungen von Gegebenheiten. Es steht ihr frei, von Annahmen<br />
auszugehen, <strong>de</strong>nen die Wirklichkeit nicht entspricht. Die Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>r formalen Logik befriedigt je<strong>de</strong>s wi<strong>de</strong>rspruchslos geschlossene System<br />
ohne Rücksicht auf <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r Daten, die ihm zugrun<strong>de</strong> liegen.<br />
Doch das, was uns die wissenschaftliche Erkenntnis wertvoll macht, ihre<br />
Be<strong>de</strong>utung für unser Sichselbstzurechtfin<strong>de</strong>n im All, verlangt, daß sie nur<br />
von solchen Gegebenheiten ausgehe, die uns als wirklich erscheinen - auf<br />
eine schärfere erkenntniskritische Erfassung <strong>de</strong>s Begriffes <strong>de</strong>r<br />
Wirklichkeit einzugehen, ist hier nicht nötig - und daß sie keine <strong>de</strong>r<br />
Gegebenheiten, die für die Bestimmung <strong>de</strong>r zu erforschen<strong>de</strong>n<br />
Abhängigkeiten von Einfluß sind, außer acht lasse.<br />
Von <strong>de</strong>n Gegebenheiten <strong>de</strong>r Erfahrung ausgehend, läßt uns das<br />
wissenschaftliche Denken ihre funktionellen Beziehungen erkennen. Wir<br />
gelangen zu <strong>de</strong>r - ursprünglich anthropomorphistischen - Annahme einer<br />
Gesetzmäßigkeit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen und erkennen das Walten <strong>de</strong>r<br />
Notwendigkeit. Von allen menschlichen Erlebnissen ist dieses das<br />
folgenschwerste.<br />
Im vernunftgemäßen Erkennen <strong>de</strong>r Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen die<br />
Verän<strong>de</strong>rungen vor sich gehen, sucht <strong>de</strong>r Mensch die Anweisung für ein<br />
Verhalten, das ihm die Herbeiführung gewünschter Erfolge ermöglicht.<br />
Das Denken ist Werkzeug <strong>de</strong>s Willens, Mittel zur Meisterung <strong>de</strong>s Lebens.<br />
Doch es zeigt auch zugleich die Grenzen, die <strong>de</strong>m Wollen und <strong>de</strong>m<br />
Han<strong>de</strong>ln gesetzt sind. So hebt es das
12<br />
Selbstvertrauen, erweckt ein Gefühl göttergleicher Kraft, um dann sofort<br />
wie<strong>de</strong>r die Ohnmacht aller Versuche, die gezogenen Schranken zu<br />
übersteigen, auf das <strong>de</strong>utlichste zum Bewußtsein zu bringen.<br />
Der Weise schickt sich in die Notwendigkeit, <strong>de</strong>r Stumpfe läßt sich<br />
von ihr nie<strong>de</strong>rwerfen. Der Trotzige aber will sich nicht fügen; er vermißt<br />
sich in seiner Tollheit, alle Hin<strong>de</strong>rnisse zu überwin<strong>de</strong>n, und reibt sich<br />
schließlich in zwecklosem Rütteln an <strong>de</strong>n Gittern seines Kerkers auf.<br />
Die Gesellschaftswissenschaften zeigen die Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen<br />
das gesellschaftliche Leben abläuft, und lassen die Grenzen, die <strong>de</strong>m<br />
Wollen und Han<strong>de</strong>ln gezogen sind, erkennen. Der Sozialismus ist ein<br />
Versuch, diese Schranken zu überschreiten. Eine dismal science, eine<br />
traurige Wissenschaft, nennt Carlyle die Nationalökonomie; und er und<br />
mit ihm alle Sozialisten konstruieren Systeme, in <strong>de</strong>nen über die Tatsache<br />
<strong>de</strong>r Begrenztheit <strong>de</strong>r Mittel leicht hinweggegangen wird, um die<br />
Möglichkeit voller Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse zu<br />
beweisen. 1<br />
Daß sie darauf verzichtet, um je<strong>de</strong>n Preis, selbst um <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wahrheit,<br />
die Allmacht <strong>de</strong>s Menschen zu erweisen, das schei<strong>de</strong>t die<br />
Sozialwissenschaft von <strong>de</strong>n sozialistischen Lehren.<br />
1 Kolnai (Psychoanalyse und Soziologie, Wien 1920, S. 123 f.) spricht daher von<br />
„kommunistischem Infantilismus“ und fin<strong>de</strong>t im Kommunismus <strong>de</strong>n „Glauben an die<br />
Allmacht <strong>de</strong>s Gedankens“.
I. Teil.<br />
Liberalismus und Sozialismus.<br />
I.<br />
Das Eigentum.<br />
§ 1. Als soziologische Kategorie betrachtet erscheint das Eigentum als<br />
das Vermögen, die Verwendung wirtschaftlicher Güter zu bestimmen.<br />
Eigentümer ist, wer über ein wirtschaftliches Gut verfügt.<br />
Die Eigentumsbegriffe <strong>de</strong>r Soziologie und <strong>de</strong>r Rechtslehre sind somit<br />
verschie<strong>de</strong>n. Das ist übrigens selbstverständlich, und man kann nur<br />
darüber staunen, daß es noch immer mitunter übersehen wird. Für die<br />
soziologische und nationalökonomische Betrachtung ist Eigentum jenes<br />
Haben <strong>de</strong>r Güter, das die wirtschaftlichen Zwecke <strong>de</strong>r Menschen<br />
erfor<strong>de</strong>rn. 1 Dieses Haben kann man als das natürliche o<strong>de</strong>r Ureigentum in<br />
<strong>de</strong>m Sinne bezeichnen, als es ein rein physisches Verhältnis <strong>de</strong>s<br />
Menschen zu <strong>de</strong>n Gütern darstellt, das von <strong>de</strong>m Bestand gesellschaftlicher<br />
Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Menschen und von <strong>de</strong>r Geltung einer<br />
Rechtsordnung unabhängig ist. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s rechtlichen<br />
Eigentumsbegriffes liegt gera<strong>de</strong> darin, daß er zwischen diesem physischen<br />
Haben und <strong>de</strong>m rechtlichen Habensollen unterschei<strong>de</strong>t. Das Recht kennt<br />
Eigentümer und Besitzer, die das natürliche Haben entbehren, die nicht<br />
haben, aber haben sollten. Für das Recht bleibt <strong>de</strong>r Bestohlene<br />
Eigentümer, kann <strong>de</strong>r Dieb niemals Eigentum erwerben. Doch<br />
wirtschaftlich ist nur das natürliche Haben von Belang, und die<br />
wirtschaftliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s rechtlichen Habensollens liegt allein in <strong>de</strong>r<br />
Unterstützung, die es <strong>de</strong>r Erlangung, Erhaltung und Wie<strong>de</strong>rgewinnung <strong>de</strong>s<br />
natürlichen Habens leiht.<br />
Für das Recht ist das Eigentum ein einheitliches Institut. Es macht<br />
keinen Unterschied aus, ob Güter erster Ordnung o<strong>de</strong>r Güter höherer<br />
Ordnung seinen Gegenstand bil<strong>de</strong>n, und ob es<br />
1<br />
Vgl. Böhm-Bawerk, Rechte und Verhältnisse vom Standpunkte <strong>de</strong>r<br />
volkswirtschaftlichen Güterlehre, Innsbruck 1881, S. 37.
14<br />
sich um Verbrauchs- o<strong>de</strong>r Gebrauchsgüter han<strong>de</strong>lt. Der von <strong>de</strong>r<br />
wirtschaftlichen Grundlage losgelöste Formalismus <strong>de</strong>s Rechtes gelangt<br />
hierin scharf zum Ausdruck. Ganz kann sich freilich das Recht <strong>de</strong>n<br />
wirtschaftlichen Verschie<strong>de</strong>nheiten, die in Frage kommen, nicht<br />
verschließen. Manches, wodurch <strong>de</strong>m Eigentum an Grund und Bo<strong>de</strong>n eine<br />
Son<strong>de</strong>rstellung eingeräumt wird, ist eben durch die Stellung <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns<br />
als Produktionsmittel bedingt. Deutlicher als im Eigentumsrecht selbst<br />
gelangen die wirtschaftlichen Unterschie<strong>de</strong> bei manchen, soziologisch<br />
<strong>de</strong>m Eigentum gleichwertigen, im juristischen Sinne ihm nur verwandten<br />
Verhältnissen, z. B. bei <strong>de</strong>n Dienstbarkeiten, beson<strong>de</strong>rs beim Fruchtgenuß<br />
und beim Nießbrauch, zum Ausdruck. Doch im großen und ganzen<br />
ver<strong>de</strong>ckt im Recht, wie es seinem Wesen entspricht, die formale<br />
Gleichheit die materielle Verschie<strong>de</strong>nheit.<br />
Wirtschaftlich betrachtet ist das Eigentum durchaus nicht einheitlich.<br />
Eigentum an Genußgütern und Eigentum an Produktivgütern sind in<br />
vielem verschie<strong>de</strong>n und bei bei<strong>de</strong>n Gruppen ist es wie<strong>de</strong>r etwas an<strong>de</strong>res,<br />
ob es sich um Gebrauchs- o<strong>de</strong>r um Verbrauchsgüter han<strong>de</strong>lt.<br />
Die Güter erster Ordnung, die Genußgüter, dienen unmittelbar <strong>de</strong>r<br />
Bedürfnisbefriedigung. Soweit sie Verbrauchsgüter sind, d. h. ihrer Natur<br />
nach ihre Nutzleistung nur einmal abgeben und durch <strong>de</strong>ren Abgabe ihre<br />
Gutseigenschaft erschöpfen, liegt die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Eigentums an ihnen<br />
praktisch allein in <strong>de</strong>r Möglichkeit <strong>de</strong>r Verzehrung. Der Eigentümer kann<br />
das Gut auch ungenossen ver<strong>de</strong>rben lassen o<strong>de</strong>r es gar absichtlich<br />
zerstören, er mag es auch im Tausche fortgeben o<strong>de</strong>r verschenken, in<br />
je<strong>de</strong>m Falle verfügt er über seine Verwendung, die nicht geteilt wer<strong>de</strong>n<br />
kann.<br />
Ein wenig an<strong>de</strong>rs liegt die Sache bei <strong>de</strong>n Gebrauchsgütern, das ist bei<br />
jenen Genußgütern, die mehr als eine Nutzleistung abzugeben vermögen.<br />
Sie vermögen mehreren Menschen nacheinan<strong>de</strong>r zu dienen. Auch hier<br />
sind wirtschaftlich als Eigentümer jene anzusehen, die in <strong>de</strong>r Lage sind,<br />
die Nutzleistung <strong>de</strong>s Gutes für sich zu verwen<strong>de</strong>n. In diesem Sinne ist<br />
Eigentümer eines Zimmers <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r es jeweils bewohnt, sind Eigentümer<br />
<strong>de</strong>s Ortlers, soweit sein Gebiet als Naturpark in Frage kommt, die ihn<br />
betreten, um die landschaftlichen Reize zu genießen, sind Eigentümer<br />
eines Bil<strong>de</strong>s alle jene, die sich an seinem Anblick erfreuen. 1 Das Haben<br />
<strong>de</strong>r<br />
1 Vgl. Fetter, The Principles of Economics, Third Edition, New York 1913, S. 408.
15<br />
Nutzleistungen, die das Gut abgibt, ist bei diesen Gütern teilbar, darum ist<br />
auch das natürliche Eigentum an ihnen teilbar.<br />
Das Haben <strong>de</strong>r Produktivgüter dient nur mittelbar <strong>de</strong>m Genuß. Sie<br />
fin<strong>de</strong>n ihre Verwendung in <strong>de</strong>r Produktion von Genußgütern. Aus<br />
zielstrebiger gelungener Verbindung von Produktivgütern und Arbeit<br />
gehen schließlich Genußgüter hervor. In <strong>de</strong>r Fähigkeit, solcherweise<br />
mittelbar <strong>de</strong>r Bedürfnisbefriedigung zu dienen, liegt die Gutseigenschaft<br />
<strong>de</strong>r Produktivgüter. Das natürliche Haben <strong>de</strong>r Produktivgüter ist die<br />
Verfügung darüber. Nur weil und insoweit ihr Haben schließlich zu einem<br />
Haben von Genußgütern führt, hat es wirtschaftliche Be<strong>de</strong>utung.<br />
An genußreifen Verbrauchsgütern ist nur ein Haben möglich, das jenes<br />
Menschen, <strong>de</strong>r sie verzehrt. Genußreife Gebrauchsgüter lassen zwar in<br />
zeitlichem Hintereinan<strong>de</strong>r ein mehrfaches Haben zu, bei gleichzeitigem<br />
Gebrauch aber stört auch in ihrem Haben das Mithaben an<strong>de</strong>rer, wenn es<br />
nicht <strong>de</strong>r Beschaffenheit <strong>de</strong>s Gutes nach überhaupt ausgeschlossen<br />
erscheint. Ein Bild können mehrere zugleich betrachten, wenn es auch <strong>de</strong>n<br />
Genuß je<strong>de</strong>s einzelnen stören mag, daß neben ihm noch an<strong>de</strong>re stehen und<br />
ihm etwa <strong>de</strong>n günstigsten Platz wegnehmen; einen Rock können nicht<br />
zwei zugleich tragen. An Genußgütern ist das Haben, das zu <strong>de</strong>r durch das<br />
Gut vermittelten Bedürfnisbefriedigung führt, nicht weiter teilbar als die<br />
Nutzleistungen, die von ihnen ausgehen. Das be<strong>de</strong>utet, daß bei <strong>de</strong>n<br />
Verbrauchsgütern das natürliche Eigentum <strong>de</strong>s einen das aller an<strong>de</strong>ren<br />
überhaupt ausschließt, und daß bei <strong>de</strong>n Gebrauchsgütern die<br />
Ausschließlichkeit zumin<strong>de</strong>st für einen und <strong>de</strong>nselben Zeitpunkt und für<br />
<strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>r kleinsten <strong>de</strong>r von ihnen ausgehen<strong>de</strong>n Nutzleistung<br />
besteht. Bei Genußgütern ist ein an<strong>de</strong>res Verhältnis von wirtschaftlicher<br />
Be<strong>de</strong>utsamkeit als das <strong>de</strong>s natürlichen Habens von Einzelpersonen<br />
un<strong>de</strong>nkbar. Sie können - als Verbrauchsgüter überhaupt und als<br />
Gebrauchsgüter zumin<strong>de</strong>st gleichzeitig und für Umfang <strong>de</strong>r kleinsten <strong>de</strong>r<br />
von ihnen ausgehen<strong>de</strong>n Nutzleistung - nur im natürlichen Eigentum eines<br />
Menschen stehen. Das Eigentum ist hier auch in <strong>de</strong>m Sinne<br />
Privateigentum, als es die an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r Vorteile, die von <strong>de</strong>r Verfügung<br />
über das Gut abhängen, beraubt.<br />
Daher wäre es <strong>de</strong>nn auch ganz sinnlos, an eine Beseitigung o<strong>de</strong>r auch<br />
nur an eine Reform <strong>de</strong>s Eigentums an Genußgütern zu <strong>de</strong>nken. An <strong>de</strong>n<br />
natürlichen Tatsachen, daß ein Apfel, <strong>de</strong>r genossen wird, aufgezehrt wird,<br />
und daß ein Rock sich im Tragen abnützt, kann man nichts än<strong>de</strong>rn.<br />
Miteigentum mehrerer, Gemeineigentum
16<br />
aller sind in natürlichem Sinne an Genußgütern ausgeschlossen. Das, was<br />
man als Gütergemeinschaft zu bezeichnen pflegt, kann in bezug auf die<br />
Genußgüter immer nur eine Gemeinschaft vor <strong>de</strong>m Genusse sein; sie wird<br />
je<strong>de</strong>smal in <strong>de</strong>m Augenblick gesprengt, in <strong>de</strong>m ein Gut <strong>de</strong>m Verbrauche<br />
o<strong>de</strong>r Gebrauche zugeführt wird. Das Haben <strong>de</strong>s einen, <strong>de</strong>r die<br />
Nutzleistung konsumieren will, muß ein ausschließliches sein. Die<br />
Gütergemeinschaft kann nie etwas an<strong>de</strong>res sein als ein Grundsatz über die<br />
Aneignung von Gütern aus einem gemeinsamen Stock. Je<strong>de</strong>r einzelne<br />
Genosse ist Eigentümer jenes Teiles <strong>de</strong>s ganzen Vorrats, <strong>de</strong>n er für sich<br />
verwen<strong>de</strong>n kann. Ob er es rechtlich schon von vornherein ist o<strong>de</strong>r erst<br />
durch die Verteilung o<strong>de</strong>r überhaupt nicht wird, und ob <strong>de</strong>r Konsumtion<br />
eine beson<strong>de</strong>re förmliche Verteilung vorangeht o<strong>de</strong>r nicht, ist<br />
wirtschaftlich gleichgültig; materiell ist er auch ohne Verteilung<br />
Eigentümer seines Loses. Daß diese Auffassung allein <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s<br />
Verhältnisses entspricht, erkennen wir an <strong>de</strong>r Beurteilung, die die<br />
Gütergemeinschaft im täglichen Leben erfährt. Man bezeichnet alle<br />
Angehörigen einer in Gemeinschaft leben<strong>de</strong>n Familie als reich, mag auch<br />
rechtlich <strong>de</strong>r Reichtum nur <strong>de</strong>s Vaters sein.<br />
Die Gütergemeinschaft kann das Eigentum an <strong>de</strong>n Genußgütern nicht<br />
aufheben, sie kann es nur an<strong>de</strong>rs verteilen, als es sonst geschehen mag.<br />
Sie beschränkt sich wie alle an<strong>de</strong>ren Reformen, die bei <strong>de</strong>n Genußgütern<br />
stehen bleiben, auf die Herbeiführung einer an<strong>de</strong>ren Verteilung <strong>de</strong>s<br />
vorhan<strong>de</strong>nen Genußgütervorrates. Mit <strong>de</strong>r Erschöpfung dieses Stocks ist<br />
auch ihre Wirkung zu En<strong>de</strong>. Daß die leeren Vorratskammern sich wie<strong>de</strong>r<br />
füllen, kann sie nicht bewirken. Darüber können nur jene entschei<strong>de</strong>n, die<br />
über die Produktivgüter und über die Arbeit verfügen. Sind sie mit <strong>de</strong>m,<br />
was ihnen geboten wird, nicht zufrie<strong>de</strong>n, dann stockt <strong>de</strong>r Güterstrom, <strong>de</strong>r<br />
die Vorräte neu auffüllen soll. Darum muß je<strong>de</strong>r Versuch, die Verteilung<br />
<strong>de</strong>r Genußgüter zu än<strong>de</strong>rn, auf die Verfügung über die Produktionsmittel<br />
zurückgreifen.<br />
Das Haben <strong>de</strong>r Produktivgüter ist - an<strong>de</strong>rs als das <strong>de</strong>r Genußgüter - in<br />
natürlichem Sinne teilbar. In <strong>de</strong>r isolierten Produktion ohne Arbeitsteilung<br />
gilt von <strong>de</strong>r Teilbarkeit <strong>de</strong>s Habens <strong>de</strong>r Produktivgüter wohl dasselbe, was<br />
von <strong>de</strong>r Teilbarkeit <strong>de</strong>s Habens <strong>de</strong>r Genußgüter unter allen Bedingungen<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft Geltung hat. Sie geht nicht weiter als die Teilbarkeit <strong>de</strong>r<br />
Nutzleistungen, die von <strong>de</strong>m Gute ausgehen. Das heißt, die verbrauchlichen<br />
Produktivgüter lassen überhaupt keine Teilung <strong>de</strong>s Habens
17<br />
zu, wogegen das Haben <strong>de</strong>r Gebrauchsgüter unter <strong>de</strong>n Produktivgütern in<br />
<strong>de</strong>r ihrer Natur entsprechen<strong>de</strong>n Weise teilbar ist. Das Haben von Getrei<strong>de</strong><br />
kann nur einem zukommen, doch einen Hammer können mehrere<br />
hintereinan<strong>de</strong>r haben, ein Wasserlauf kann mehrere Rä<strong>de</strong>r treiben. Soweit<br />
ist für das Haben <strong>de</strong>r Produktivgüter keine Beson<strong>de</strong>rheit festzustellen.<br />
Doch in <strong>de</strong>r arbeitsteilig verrichteten Produktion gibt es ein zweifaches<br />
Haben <strong>de</strong>r Produktivgüter. Das Haben, das die wirtschaftlichen Zwecke<br />
erfor<strong>de</strong>rn, ist, soweit Produktivgüter, die vom Prozeß <strong>de</strong>r Arbeitsteilung<br />
erfaßt wer<strong>de</strong>n, in Frage kommen, stets ein zweifaches: ein physisches<br />
(unmittelbares) und ein gesellschaftliches (mittelbares). Jenes steht <strong>de</strong>m<br />
zu, <strong>de</strong>r das Gut physisch hat und produktiv verwen<strong>de</strong>t, dieses <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r<br />
ohne physisch o<strong>de</strong>r rechtlich über das Gut verfügen zu können, über seine<br />
Nutzwirkungen mittelbar zu verfügen in <strong>de</strong>r Lage ist, also <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r seine<br />
Produkte o<strong>de</strong>r die Nutzdienste, die es gewährt, einzutauschen o<strong>de</strong>r<br />
einzukaufen vermag. In diesem Sinne ist in <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n<br />
Gesellschaft das natürliche Eigentum an allen Produktivgütern zwischen<br />
<strong>de</strong>m Erzeuger und <strong>de</strong>nen, für <strong>de</strong>ren Bedarf er produziert, geteilt. Der<br />
selbstgenügsam außerhalb <strong>de</strong>s Verban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Tauschgesellschaft leben<strong>de</strong><br />
Landwirt kann seinen Acker, seinen Pflug, sein Zugtier in <strong>de</strong>m Sinne sein<br />
nennen, als sie nur ihm dienen. Der Landwirt, <strong>de</strong>ssen Unternehmen in <strong>de</strong>n<br />
Verkehr einbezogen ist, <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Markt erzeugt und auf <strong>de</strong>m Markt<br />
einkauft, ist nur in einem ganz an<strong>de</strong>ren Sinne Eigentümer <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel, mit <strong>de</strong>nen er produziert. Er ist nicht mehr Herr <strong>de</strong>r<br />
Produktion wie <strong>de</strong>r autarke Bauer. Er bestimmt nicht mehr ihre Richtung;<br />
darüber entschei<strong>de</strong>n die, für die er arbeitet, die Verbraucher. Sie, nicht die<br />
Erzeuger setzen <strong>de</strong>r Wirtschaft das Ziel. Die Erzeuger führen die<br />
Wirtschaft nur <strong>de</strong>m Ziele zu, das die Verbraucher gewählt haben.<br />
Die Eigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel sind aber auch nicht mehr<br />
imstan<strong>de</strong>, ihr physisches Haben <strong>de</strong>r Produktionsmittel unmittelbar in <strong>de</strong>n<br />
Dienst <strong>de</strong>r Produktion zu stellen. Da alle Produktion in <strong>de</strong>r<br />
Zusammenfassung verschie<strong>de</strong>ner Produktionsmittel besteht, muß ein Teil<br />
<strong>de</strong>r Eigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel ihr natürliches Eigentum an an<strong>de</strong>re<br />
übertragen, damit diese die Kombinationen, aus <strong>de</strong>nen die Produktion<br />
besteht, ins Werk setzen. Kapitalisten, Bo<strong>de</strong>nbesitzer und Eigner <strong>de</strong>r<br />
Arbeitskraft übertragen die Verfügung an <strong>de</strong>n Unternehmer, <strong>de</strong>r damit die<br />
unmittelbare Leitung im Produktionsprozeß übernimmt. Die Unternehmer<br />
führen nun die Wirtschaft nach <strong>de</strong>n Weisungen <strong>de</strong>r Verbraucher, die<br />
wie<strong>de</strong>r keine
18<br />
an<strong>de</strong>ren sind als die Eigner <strong>de</strong>r Produktionsmittel: Kapitalbesitzer,<br />
Grundbesitzer, Arbeiter. Von <strong>de</strong>m Produkte aber fällt je<strong>de</strong>m Faktor jener<br />
Teil zu, <strong>de</strong>r seiner produktiven Mitwirkung am Erfolge ökonomisch<br />
zugerechnet wird.<br />
Das Wesen <strong>de</strong>s natürlichen Eigentums an <strong>de</strong>n Produktivgütern ist<br />
somit ein ganz an<strong>de</strong>res als das <strong>de</strong>s natürlichen Eigentums an <strong>de</strong>n<br />
Genußgütern. Um ein Produktivgut im wirtschaftlichen Sinne zu haben, d.<br />
h. es seinen eigenen wirtschaftlichen Zwecken dienstbar zu machen, muß<br />
man es nicht in <strong>de</strong>r Weise physisch haben, in <strong>de</strong>r man Konsumgüter haben<br />
muß, um sie zu verbrauchen o<strong>de</strong>r zu gebrauchen. Um Kaffee zu trinken,<br />
muß ich nicht Eigentümer einer Kaffeepflanzung in Brasilien, eines<br />
Ozeandampfers und einer Kaffeerösterei sein, wenn auch alle diese<br />
Produktionsmittel verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n müssen, damit eine Schale Kaffee<br />
auf meinen Tisch kommt. Es genügt, daß an<strong>de</strong>re jene Produktionsmittel<br />
besitzen und für mich verwen<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n Gesellschaft ist<br />
niemand mehr ausschließlicher Eigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel, <strong>de</strong>r<br />
sachlichen sowohl als auch <strong>de</strong>r persönlichen, <strong>de</strong>r Arbeitskraft. Alle<br />
Produktionsmittel stehen im Dienste <strong>de</strong>r Gesamtheit <strong>de</strong>r am Marktverkehr<br />
teilnehmen<strong>de</strong>n Menschen. Wenn man hier nicht, ganz abgesehen von <strong>de</strong>m<br />
Verhältnisse, das zwischen <strong>de</strong>n Unternehmern und <strong>de</strong>n ihnen die<br />
Produktionsmittel zur produktiven Verwendung überlassen<strong>de</strong>n<br />
Eigentümern besteht, von einer Teilung <strong>de</strong>s Eigentums zwischen <strong>de</strong>n<br />
Eigentümern <strong>de</strong>r Produktionsmittel und <strong>de</strong>n Verbrauchern sprechen will,<br />
müßte man wohl eher diesen das ganze Eigentum im natürlichen Sinne<br />
zuschreiben und jene als Verwalter frem<strong>de</strong>n Eigentums bezeichnen. 1 Wir<br />
wür<strong>de</strong>n uns mit dieser Re<strong>de</strong>weise freilich allzuweit von <strong>de</strong>m üblichen<br />
Sprachgebrauch entfernen: um Miß<strong>de</strong>utungen zu vermei<strong>de</strong>n, ist es<br />
notwendig, möglichst ohne neue Worte auszukommen und auf keinen Fall<br />
Ausdrücke, mit <strong>de</strong>nen man üblicherweise einen bestimmten Begriff<br />
verbin<strong>de</strong>t, für an<strong>de</strong>re<br />
1 Vgl. die Verse <strong>de</strong>s Horaz:<br />
Si proprium est quod quis libra mereatus et aere est,<br />
quaedam, si eredis consultis, mancipat usus:<br />
qui te paseit ager, tuus est; et vilicus Orbi<br />
cum segetes occat tibi mox frumenta daturas,<br />
te dominum sentit. das nummos: accipis uvam<br />
pullos ova, eadum temeti.<br />
(2. Epistol., 2., 158-163.) - Die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Nationalökonomie hat auf diese Stelle<br />
zuerst Effertz (Arbeit und Bo<strong>de</strong>n, Neue Ausgabe, Berlin 1897, I. Bd., S. 72, 79 f.) gelenkt.
19<br />
Begriffe zu gebrauchen. Darum sei unter Verzicht auf je<strong>de</strong> beson<strong>de</strong>re<br />
Terminologie hier nur noch einmal hervorgehoben, daß das Wesen <strong>de</strong>s<br />
Eigentums an <strong>de</strong>n Produktivgütern in <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n Gesellschaft ein<br />
an<strong>de</strong>res ist als in <strong>de</strong>r verkehrslosen Wirtschaft und als das <strong>de</strong>s Eigentums<br />
an <strong>de</strong>n Konsumgütern in je<strong>de</strong>r Wirtschaftsverfassung.<br />
§ 2. Jenes physische Haben <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Güter, das,<br />
soziologisch betrachtet, das Wesen <strong>de</strong>s natürlichen Eigentums ausmacht,<br />
kann man sich nur durch Okkupation entstan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nken. Da das<br />
Eigentum nicht eine vom Wollen und Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>s Menschen<br />
unabhängige Tatsache ist, kann man nicht absehen, wie es originär an<strong>de</strong>rs<br />
hätte ins Leben treten können als durch Aneignung von herrenlosem Gut.<br />
Ist es einmal ins Leben getreten, dann bleibt es, so lange sein Gegenstand<br />
nicht untergeht, fortbestehen, bis es entwe<strong>de</strong>r durch Wollen und Han<strong>de</strong>ln<br />
<strong>de</strong>s Eigners aufgegeben wird o<strong>de</strong>r bis es trotz <strong>de</strong>s auf das Gegenteil<br />
gerichteten Wollens und Han<strong>de</strong>lns <strong>de</strong>s Eigners aus seinem physischen<br />
Haben tritt. Jener Fall liegt vor, wenn <strong>de</strong>r Eigentümer sich <strong>de</strong>s Eigentums<br />
freiwillig entäußert, dieser, wenn er es an die Natur zurückverliert, z. B.<br />
wenn ein Stück Vieh sich verläuft, o<strong>de</strong>r wenn es ihm durch einen an<strong>de</strong>ren<br />
Menschen gewaltsam entrissen wird.<br />
Alles Eigentum leitet sich von Okkupation und Gewalt her. Beachten<br />
wir, von <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Gütern stecken<strong>de</strong>n Arbeitskomponente absehend,<br />
allein die in ihnen enthaltene Naturkomponente, so gelangen wir, wenn<br />
wir <strong>de</strong>n Rechtstitel eines rechtmäßigen Eigentümers zurückverfolgen,<br />
notwendigerweise zu einem Punkt, an <strong>de</strong>m es aus <strong>de</strong>r Aneignung<br />
allgemein zugänglichen Gutes entstan<strong>de</strong>n ist, wenn wir nicht schon vorher<br />
auf gewaltsame Enteignung eines Vorgängers stoßen, <strong>de</strong>ssen Eigentum in<br />
letzter Linie sich auch wie<strong>de</strong>r auf Aneignung o<strong>de</strong>r Raub zurückführen<br />
läßt. Alles Recht führt auf tatsächliche Gewalt zurück, alles Eigentum war<br />
ursprünglich Aneignung o<strong>de</strong>r Raub; das kann man <strong>de</strong>n von<br />
naturrechtlichen Erwägungen ausgehen<strong>de</strong>n Gegnern <strong>de</strong>s Eigentums ruhig<br />
zugestehen. Nur freilich ist damit noch nicht das min<strong>de</strong>ste zum Beweise<br />
<strong>de</strong>r Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit o<strong>de</strong>r sittlichen Rechtfertigung seiner<br />
Beseitigung gesagt.<br />
Das natürliche Eigentum hat mit Anerkennung durch die Mitmenschen<br />
<strong>de</strong>s Eigentümers nicht zu rechnen. Es wird so lange faktisch gedul<strong>de</strong>t, als<br />
die Kraft fehlt, es umzustoßen; es besteht nicht länger als bis sich ein<br />
Gewaltigerer fin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r es an sich
20<br />
reißt. Durch Eigenmächtigkeit entstan<strong>de</strong>n muß es je<strong>de</strong>n Augenblick die<br />
stärkere Macht fürchten. Das ist <strong>de</strong>r Zustand, <strong>de</strong>n die naturrechtliche<br />
Doktrin als <strong>de</strong>n Krieg aller gegen alle bezeichnet hat. Es wird been<strong>de</strong>t<br />
durch die Anerkennung <strong>de</strong>s tatsächlichen Verhältnisses als eines, das wert<br />
ist, erhalten zu wer<strong>de</strong>n. Aus Gewalt wird Recht.<br />
Die naturrechtliche Doktrin hat darin gefehlt, daß sie diese große<br />
Wandlung, die <strong>de</strong>n Übergang <strong>de</strong>r Menschen vom tierischen<br />
Nebeneinan<strong>de</strong>r und Gegeneinan<strong>de</strong>r zur menschlichen Gesellschaft<br />
bezeichnet, als das Ergebnis eines bewußten Han<strong>de</strong>lns ansah, das sich<br />
über seine Beweggrün<strong>de</strong>, über die anzustreben<strong>de</strong>n Ziele und über die<br />
Wege, die zu ihrer Erreichung eingeschlagen wer<strong>de</strong>n müßten,<br />
vollkommen klar gewesen sei. So sei es zum Abschlusse <strong>de</strong>s<br />
Gesellschaftsvertrages gekommen, durch <strong>de</strong>n die staatliche Gemeinschaft,<br />
die Rechtsordnung, ins Leben trat. Dem Rationalismus stand, nach<strong>de</strong>m er<br />
einmal die ältere Auffassung, die die gesellschaftlichen Einrichtungen auf<br />
göttliche Einsetzung o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st auf die durch göttliche Eingebung<br />
<strong>de</strong>n Menschen gewor<strong>de</strong>ne Erleuchtung zurückführte, überwun<strong>de</strong>n hatte,<br />
keine an<strong>de</strong>re Erklärungsmöglichkeit zu Gebote. 1 Wie sollte das, was man,<br />
weil es zum gegenwärtigen Zustand hergeführt hat, schlechthin als das an<br />
sich Zweckmäßige und Vernünftige ansah, an<strong>de</strong>rs haben ins Leben treten<br />
können als dadurch, daß man es in Erkenntnis seiner Zweckmäßigkeit und<br />
Vernünftigkeit bewußt erwählt hat? Wir haben heute an<strong>de</strong>re<br />
Denkschemata hierfür zur Verfügung. Wir sprechen von natürlicher<br />
Auslese im Kampf ums Dasein und von Vererbung erworbener<br />
Eigenschaften, ohne freilich damit <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>r letzten Rätsel um<br />
einen Schritt näher gekommen zu sein als die Theologen o<strong>de</strong>r als die<br />
Rationalisten. Wir können die Entstehung und Fortbildung <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Einrichtungen so „erklären“, daß wir sagen, sie seien<br />
im Kampfe ums Dasein för<strong>de</strong>rlich, so daß die, die sie angenommen und<br />
am besten entwickelt haben, besser imstan<strong>de</strong> gewesen waren, die<br />
Fährlichkeiten <strong>de</strong>s Lebens zu überwin<strong>de</strong>n als jene, die in ihrer<br />
Entwicklung zurückgeblieben waren. Es hieße wohl Eulen nach Athen<br />
tragen, wollte man heute neuerdings versuchen, auf das Unbefriedigen<strong>de</strong><br />
solcher Deutung hinzuweisen. Die Zeit, da man sich bei ihr beruhigt hat<br />
und da man dachte, mit ihr alle Probleme<br />
1 Die etatistische Sozialphilosophie, die alle diese Einrichtungen auf <strong>de</strong>n „Staat“<br />
zurückführt, kehrt wie<strong>de</strong>r zur alten theologischen Erklärung zurück. In ihr nimmt <strong>de</strong>r Staat<br />
die Stellung ein, die die Theologen Gott zuweisen.
21<br />
<strong>de</strong>s Seins und Wer<strong>de</strong>ns endgültig gelöst zu haben, ist längst vorüber. Sie<br />
führt uns nicht einen Schritt weiter als Theologie und Rationalismus. Hier<br />
ist <strong>de</strong>r Punkt, wo die Einzelwissenschaften in die große Wissenschaft<br />
einmün<strong>de</strong>n, wo die große Frage <strong>de</strong>r Philosophie beginnt und wo - alle<br />
unsere Weisheit zu En<strong>de</strong> ist.<br />
Es gehörte wahrlich nicht allzuviel Witz dazu, um zu zeigen, daß<br />
Recht und Staat nicht auf Verträge zurückgeführt wer<strong>de</strong>n können. Man<br />
mußte nicht erst <strong>de</strong>n gelehrten Apparat <strong>de</strong>r historischen Schule aufbieten,<br />
um die Behauptung zu belegen, daß sich ein Gesellschaftsvertrag nirgends<br />
in <strong>de</strong>r Geschichte nachweisen lasse. An Kenntnissen, die man aus<br />
Pergamenten und Inschriften gewinnen kann, war die realistische<br />
Wissenschaft <strong>de</strong>m Rationalismus zweifellos überlegen; in soziologischer<br />
Einsicht blieb sie weit hinter ihm zurück. Denn was immer man auch <strong>de</strong>r<br />
Sozialphilosophie <strong>de</strong>s Rationalismus vorwerfen mag, man kann nicht<br />
bestreiten, daß sie für die Erkenntnis <strong>de</strong>r Wirkungen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Einrichtungen Unvergängliches geschaffen hat. Ihr verdanken wir vor<br />
allem die erste Einsicht in die funktionale Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Rechtsordnung<br />
und <strong>de</strong>r staatlichen Gemeinschaft.<br />
Wirtschaft verlangt Beständigkeit <strong>de</strong>r Verhältnisse, weil sie weit<br />
ausgreifen<strong>de</strong>s zeitrauben<strong>de</strong>s Beginnen ist, das um so erfolgreicher ist, auf<br />
je größere Zeitspannen es eingestellt wird. Wirtschaft verlangt endlose<br />
Kontinuität, die ohne tiefsten Scha<strong>de</strong>n nicht gestört wer<strong>de</strong>n kann. Das<br />
heißt: Wirtschaft for<strong>de</strong>rt Frie<strong>de</strong>n, Ausschluß von Gewalt. Frie<strong>de</strong>n, sagt <strong>de</strong>r<br />
Rationalist, ist <strong>de</strong>r Sinn und <strong>de</strong>r Zweck aller Rechtseinrichtungen;<br />
Frie<strong>de</strong>n, sagen wir, ist ihre Wirkung, ist ihre Funktion. 1 Das Recht, sagt<br />
<strong>de</strong>r Rationalist, ist aus Verträgen hervorgegangen; das Recht, sagen wir,<br />
ist ein Sichvertragen, ist Streitbeendung, Streitvermei<strong>de</strong>n. Gewalt und<br />
Recht, Krieg und Frie<strong>de</strong>n, sind die bei<strong>de</strong>n Pole <strong>de</strong>r Form <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Lebens; sein Inhalt aber ist die Wirtschaft.<br />
Das Ziel aller Gewalt ist das Eigentum <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren. Die Person, d. i.<br />
das Leben und die Gesundheit, ist nur soweit Gegenstand von Angriffen,<br />
als sie <strong>de</strong>r Erlangung von Eigentum im Wege steht. (Sadistische<br />
Ausschreitungen, Bluttaten, die um ihrer selbst willen vollbracht wer<strong>de</strong>n,<br />
sind Ausnahmeerscheinungen; um sie zu verhin<strong>de</strong>rn, bedurfte man nicht<br />
<strong>de</strong>r Rechtsordnung; und heute bekämpft sie <strong>de</strong>r Arzt, nicht <strong>de</strong>r Richter.)<br />
Es ist daher kein Zufall, daß das<br />
1 Vgl. J. St. Mill, Principles of Political Economy, Peoples Edition, London 1867, S.<br />
124.
22<br />
Recht, gera<strong>de</strong> im Eigentumsschutz noch beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich <strong>de</strong>n Charakter<br />
<strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nsbereitung erkennen läßt. In <strong>de</strong>r zweifachen Ordnung <strong>de</strong>s<br />
Schutzes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Haben zuteil wird, in <strong>de</strong>r Unterscheidung zwischen<br />
Eigentum und Besitz, tritt das Wesen <strong>de</strong>s Rechts, Frie<strong>de</strong>n, ja Frie<strong>de</strong>n um<br />
je<strong>de</strong>n Preis zu schaffen, am klarsten zutage. Der Besitz wird geschützt,<br />
obgleich er - wie die Juristen sagen - kein Recht ist. Nicht bloß redliche,<br />
auch unredliche Besitzer, selbst Räuber und Diebe dürfen <strong>de</strong>n<br />
Besitzesschutz für sich in Anspruch nehmen. 1<br />
Man glaubt, das Eigentum, wie es in <strong>de</strong>r gegebenen Eigentumsverteilung<br />
zutage tritt, damit bekämpfen zu können, daß man auf<br />
seinen unrechtmäßigen Ursprung aus eigenmächtiger Aneignung und<br />
gewalttätigem Raub hinweist. Alles Recht sei so nichts an<strong>de</strong>res als<br />
verjährtes Unrecht. Darum müsse die bestehen<strong>de</strong> Rechtsordnung, als <strong>de</strong>m<br />
ewigen unverlierbaren Gedanken <strong>de</strong>s Rechts zuwi<strong>de</strong>rlaufend, beseitigt<br />
und an ihre Stelle eine neue gesetzt wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e<br />
<strong>de</strong>s Rechts entspricht. Es könne nicht Aufgabe <strong>de</strong>s Staates sein, „nur auf<br />
<strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Besitzes, in welchem er seine Bürger antreffe, zu sehen,<br />
nach <strong>de</strong>m Rechtsgrun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Erwerbung aber nicht zu fragen“. Es sei<br />
vielmehr „die Bestimmung <strong>de</strong>s Staats, je<strong>de</strong>m erst das Seinige zu geben,<br />
ihn in sein Eigentum erst einzusetzen, und sodann erst, ihn dabei zu<br />
schützen“. 2 Damit wird entwe<strong>de</strong>r die Existenz einer ewig gelten<strong>de</strong>n<br />
Rechtsi<strong>de</strong>e, die zu erkennen und zu verwirklichen Aufgabe <strong>de</strong>s Staates<br />
sei, postuliert, o<strong>de</strong>r aber es wird, ganz im Sinne <strong>de</strong>r Vertragstheorie, <strong>de</strong>r<br />
Ursprung <strong>de</strong>s wahren Rechts in <strong>de</strong>n Gesellschaftsvertrag verlegt, <strong>de</strong>r nicht<br />
an<strong>de</strong>rs zustan<strong>de</strong> kommen kann als durch einhelligen Beschluß aller<br />
Individuen, die sich in ihm eines Teiles ihrer natürlichen Rechte<br />
entäußern. Bei<strong>de</strong>n Annahmen liegt die naturrechtliche Auffassung vom<br />
„Rechte, das mit uns geboren“ zugrun<strong>de</strong>. Wir müssen uns darnach richten,<br />
sagt jene; in<strong>de</strong>m wir uns seiner vertragsmäßig bedingt entäußern, entsteht<br />
die positive Rechtsordnung, sagt diese. Woher das absolute Recht<br />
herkommt, das wird verschie<strong>de</strong>n erklärt; nach <strong>de</strong>r Meinung <strong>de</strong>r einen hat<br />
es die Vorsehung <strong>de</strong>n Menschen geschenkt, nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren hat <strong>de</strong>r<br />
Mensch es sich mit seiner Vernunft selbst erschaffen. Aber darin stimmen<br />
sie überein, daß <strong>de</strong>r Mensch eben dadurch, daß er<br />
1 Vgl. Dernburg, Pan<strong>de</strong>kten, 6. Aufl., Berlin 1900, I. Bd., II. Abt., S. 12<br />
2 Vgl. Fichte, Der geschlossene Han<strong>de</strong>lsstaat, herg. v. Mediens, Leipzig 1910, S. 12.
23<br />
Recht und Unrecht zu schei<strong>de</strong>n vermag, sich vom Tier unterschei<strong>de</strong>; das<br />
sei seine „moralische Natur“.<br />
Wir können auf diese Gedankengänge heute nicht mehr eingehen, weil<br />
die Voraussetzungen, mit <strong>de</strong>nen wir an das Problem herantreten, an<strong>de</strong>re<br />
gewor<strong>de</strong>n sind. Uns ist die Vorstellung einer Menschennatur, die sich von<br />
<strong>de</strong>r aller an<strong>de</strong>ren Lebewesen grundsätzlich unterschei<strong>de</strong>t, fremd<br />
gewor<strong>de</strong>n. Wir <strong>de</strong>nken uns <strong>de</strong>n Menschen nicht mehr als ein von Anfang<br />
an mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Rechts behaftetes Wesen. Und wenn wir auch<br />
vielleicht darauf verzichten müssen, die Frage zu beantworten, wie das<br />
Recht entstan<strong>de</strong>n ist, so müssen wir uns doch darüber klar sein, daß es<br />
nicht rechtlich entstan<strong>de</strong>n sein kann. Das Recht kann sich nicht aus sich<br />
selbst erzeugt haben. Der Ursprung <strong>de</strong>s Rechts liegt jenseits <strong>de</strong>r Rechtsordnung.<br />
Wenn man <strong>de</strong>m Recht vorwirft, daß es nichts an<strong>de</strong>res sei als<br />
sanktioniertes Unrecht, so verkennt man, daß es an<strong>de</strong>rs gar nicht sein<br />
könnte, außer es wäre von allem Uranfang an dagewesen. Wenn es einmal<br />
entstan<strong>de</strong>n sein soll, dann kann das, was damals Recht wur<strong>de</strong>, nicht schon<br />
früher Recht gewesen sein. Wer vom Rechte verlangt, daß es rechtlich<br />
entstan<strong>de</strong>n sein soll, for<strong>de</strong>rt Unmögliches. Er wen<strong>de</strong>t einen Begriff, <strong>de</strong>r<br />
nur innerhalb <strong>de</strong>s Rechtssystems Geltung hat, auf einen Zustand an, <strong>de</strong>r<br />
außerhalb <strong>de</strong>s Systems steht.<br />
Wir, die wir nur die Wirkung <strong>de</strong>s Rechts, die Frie<strong>de</strong>nsstiftung, sehen,<br />
müssen erkennen, daß es nicht an<strong>de</strong>rs ins Leben treten konnte als durch<br />
Anerkennung <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n, wie immer dieses auch entstan<strong>de</strong>n sein<br />
mag. Je<strong>de</strong>r Versuch, es an<strong>de</strong>rs zu machen, hätte <strong>de</strong>n Kampf erneuert und<br />
verewigt. Frie<strong>de</strong>n kann nur wer<strong>de</strong>n, wenn man <strong>de</strong>n augenblicklichen<br />
Zustand gegen gewaltsame Störung sichert und je<strong>de</strong> künftige Verän<strong>de</strong>rung<br />
von <strong>de</strong>r Zustimmung <strong>de</strong>r Betroffenen abhängig macht. Das ist <strong>de</strong>r wahre<br />
Sinn <strong>de</strong>s Schutzes erworbener Rechte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Wesenskern aller<br />
Rechtsordnung ausmacht.<br />
Das Recht ist nicht auf einmal entstan<strong>de</strong>n. Seit Jahrtausen<strong>de</strong>n ist es im<br />
Wer<strong>de</strong>n, es wird noch immer fort, und es ist ungewiß, ob einmal <strong>de</strong>r Tag<br />
kommen wird, an <strong>de</strong>m es vollen<strong>de</strong>t sein wird, <strong>de</strong>r Tag <strong>de</strong>s endgültigen<br />
Frie<strong>de</strong>ns. Die Systematiker <strong>de</strong>s Rechts haben sich vergebens bemüht, die<br />
Scheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht, die uns die Doktrin<br />
überliefert und die die Praxis nicht zu entbehren vermeint, dogmatisch<br />
durchzuführen. Der Mißerfolg dieser Versuche, die schließlich dazu<br />
geführt haben, daß diese Unterscheidung von vielen überhaupt<br />
aufgegeben wur<strong>de</strong>, darf uns nicht in Erstaunen setzen. Die Scheidung ist<br />
in <strong>de</strong>r Tat keine
24<br />
dogmatische; das System <strong>de</strong>s Rechts ist einheitlich und kann sie nicht<br />
kennen. Sie ist eine geschichtliche, ist das Ergebnis <strong>de</strong>r allmählichen<br />
Entwicklung und Durchsetzung <strong>de</strong>r Rechtsi<strong>de</strong>e. Die Rechtsi<strong>de</strong>e wird<br />
zunächst in jener Sphäre verwirklicht, in <strong>de</strong>r die Frie<strong>de</strong>nserhaltung für die<br />
Sicherung <strong>de</strong>r Kontinuität <strong>de</strong>r Wirtschaft am dringlichsten ist, in <strong>de</strong>n<br />
Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n einzelnen. Erst für die Kultur, die sich auf<br />
dieser Grundlage aufbaut, wird die Frie<strong>de</strong>nserhaltung in weiterer Sphäre<br />
zum Bedürfnis <strong>de</strong>r Fortentwicklung. Ihr dient das öffentliche Recht, das<br />
sich vom privaten formal nicht unterschei<strong>de</strong>t, aber als an<strong>de</strong>rsartig<br />
empfun<strong>de</strong>n wird, weil es erst später jene Entwicklung erreicht, die jenem<br />
schon früher beschie<strong>de</strong>n war. Im öffentlichen Recht ist <strong>de</strong>r Schutz<br />
erworbener Rechte lange nicht so stark entwickelt wie auf <strong>de</strong>m Gebiete<br />
<strong>de</strong>s Privatrechts. 1 Äußerlich ist die verhältnismäßige Jugend <strong>de</strong>s<br />
öffentlichen Rechts vielleicht am besten daran zu erkennen, daß es in <strong>de</strong>r<br />
Systematik hinter <strong>de</strong>m privaten zurückgeblieben ist. Auf einer noch<br />
zurückgebliebeneren Entwicklungsstufe steht das Völkerrecht. Im<br />
Verkehr <strong>de</strong>r Staaten ist die eigenmächtige Gewalt im Krieg noch als ein<br />
unter bestimmten Voraussetzungen zulässiges Auskunftsmittel anerkannt,<br />
während sie auf <strong>de</strong>m übrigen Gebiet, das das öffentliche Recht regelt, als<br />
Revolution, wenn auch noch nicht wirksam unterdrückt, bereits außerhalb<br />
<strong>de</strong>s Rechts steht und auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>s Privatrechts, von <strong>de</strong>n in<br />
Ausnahmefällen zur Ergänzung <strong>de</strong>s Rechtsschutzes als zulässig erkannten<br />
Abwehrhandlungen abgesehen, durchweg rechtswidrig erscheint.<br />
Daß das, was Recht wur<strong>de</strong>, früher Unrecht o<strong>de</strong>r, genauer ausgedrückt,<br />
rechtlich indifferent gewesen ist, ist kein Mangel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Rechtsordnung<br />
anhaftet. Wer für sie eine Rechtfertigung sucht, mag ihn als solchen<br />
empfin<strong>de</strong>n. Zur Begründung <strong>de</strong>r Notwendigkeit o<strong>de</strong>r Ersprießlichkeit<br />
einer Aufhebung o<strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Eigentumsordnung kann aber diese<br />
Feststellung nichts beitragen. Völlig sinnlos aber wäre es, aus ihr die<br />
For<strong>de</strong>rung nach Aufhebung <strong>de</strong>s Eigentums als rechtmäßig erweisen zu<br />
wollen.<br />
§ 3. Nur schwer und langsam ringt sich <strong>de</strong>r Rechtsgedanke durch; nur<br />
schwer und langsam drängt er das Gewaltprinzip zurück.<br />
1 Der Liberalismus war bestrebt, <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>r erworbenen Rechte durch Ausbau <strong>de</strong>r<br />
subjektiven öffentlichen Rechte und Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s Rechtsschutzes durch die Gerichte<br />
zu erweitern. Etatismus und Sozialismus suchen umgekehrt <strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>s Privatrechts<br />
zugunsten <strong>de</strong>s Öffentlichen Rechts immer mehr einzuengen.
25<br />
Immer wie<strong>de</strong>r gibt es Rückschläge, immer wie<strong>de</strong>r fängt die Rechtsgeschichte<br />
von vorn an. Von <strong>de</strong>n Germanen berichtet Tacitus: pigrum<br />
quin immo et iners vi<strong>de</strong>tur sudore adquirere quod possis sanguine parare. 1<br />
Es ist ein weiter Weg, <strong>de</strong>r von dieser Auffassung zu <strong>de</strong>n Anschauungen<br />
führt, die das mo<strong>de</strong>rne Erwerbsleben beherrschen.<br />
Der Gegensatz <strong>de</strong>r Auffassung ist nicht auf das Eigentumsproblem<br />
beschränkt; er umfaßt <strong>de</strong>n ganzen Stil <strong>de</strong>s Lebens. Es ist <strong>de</strong>r Gegensatz<br />
zwischen feudaler (ritterlicher, kavaliermäßiger) und bürgerlicher<br />
Denkungsart. Jene ist nie<strong>de</strong>rgelegt in <strong>de</strong>n Werken <strong>de</strong>r romantischen<br />
Dichtung, <strong>de</strong>ren Schönheit unser Entzücken erregt, wenn wir uns ihrer<br />
Lebensauffassung auch nur unter <strong>de</strong>m frischen Eindruck ihrer Worte und<br />
dann auch nur für flüchtige Stun<strong>de</strong>n hinzugeben vermögen. 2 Diese ist in<br />
<strong>de</strong>r liberalen Sozialphilosophie zu einem gewaltigen System verarbeitet,<br />
an <strong>de</strong>ssen Ausbau die größten Geister aller Zeiten mitgearbeitet haben und<br />
<strong>de</strong>ssen Großartigkeit sich in <strong>de</strong>r klassischen Dichtung wie<strong>de</strong>rspiegelt. Im<br />
Liberalismus gelangt die Menschheit zum Bewußtsein <strong>de</strong>r Kräfte, die ihre<br />
Entwicklung leiten. Das Dunkel, das über Ziele und Wege <strong>de</strong>r Geschichte<br />
gelagert war, weicht. Man beginnt das gesellschaftliche Leben zu<br />
begreifen, und man geht daran, es bewußt ablaufen zu lassen.<br />
Der feudalen Auffassung ist eine ähnlich geschlossene Systematisierung<br />
nicht zuteil gewor<strong>de</strong>n. Es war unmöglich, die Gewalttheorie<br />
folgerichtig bis ans En<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>nken. Wenn man das Gewaltprinzip auch<br />
nur in Gedanken restlos durchzuführen versucht, gelangt man zu<br />
Folgerungen, die seinen unsozialen Charakter schonungslos enthüllen. An<br />
seinem En<strong>de</strong> steht das Chaos <strong>de</strong>s Krieges aller gegen alle. Darüber kann<br />
keine Sophistik hinweghelfen. Alle antiliberalen Sozialtheorien mußten<br />
notwendigerweise Bruchstück bleiben o<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>n absur<strong>de</strong>sten Schlüssen<br />
gelangen. Wenn sie <strong>de</strong>m Liberalismus vorwerfen, daß er nur auf Irdisches<br />
Bedacht nehme, daß er über <strong>de</strong>m Streben <strong>de</strong>s Alltags die Sorge um höhere<br />
Güter vernachlässige, dann rennen sie offene Türen ein. Denn <strong>de</strong>r<br />
Liberalismus hat sich nie als mehr geben wollen <strong>de</strong>nn als eine Philosophie<br />
<strong>de</strong>s irdischen Lebens; was er lehrt, ist nur auf irdisches Tun und Lassen<br />
abge-<br />
1 Vgl. Tacitus, Germania, 14.<br />
2 Eine feine dichterische Verspottung <strong>de</strong>s romantischen Sehnsuchtsmottos: wo Du<br />
nicht bist, da ist das Glück, fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>n Erlebnissen <strong>de</strong>s Justizrates Knap im<br />
An<strong>de</strong>rsenschen Märchen „Die Galoschen <strong>de</strong>s Glücks“.
26<br />
stellt; er hat nie beansprucht, das Letzte und Geheimste <strong>de</strong>s Menschen<br />
auszuschöpfen. Die antiliberalen Lehren versprechen alles, sie wollen Glück<br />
und Seelenfrie<strong>de</strong>n bringen, als ob dies von außen in die Menschen<br />
hineingetragen wer<strong>de</strong>n könnte. Nur das eine steht fest, daß ihr<br />
Gesellschaftsi<strong>de</strong>al die Versorgung mit äußeren Gütern ganz be<strong>de</strong>utend<br />
verschlechtert; über <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>ssen, was sie als Ersatz dafür bringen, sind<br />
die Meinungen min<strong>de</strong>stens geteilt. 1<br />
Die Kritiker <strong>de</strong>s liberalen Gesellschaftsi<strong>de</strong>als werfen sich schließlich<br />
darauf, <strong>de</strong>n Liberalismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Sie<br />
wollen aufzeigen, daß er nur <strong>de</strong>n Interessen einzelner Schichten dienen<br />
wolle und diene; <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n er bereiten will, sei nur einem engen<br />
Kreise günstig, schädige aber alle an<strong>de</strong>ren. Auch die im Rechtsstaate<br />
realisierte Gesellschaftsordnung beruhe auf Gewalt. Die freien Verträge,<br />
auf die sie sich zu stützen vorgebe, seien in Wahrheit nur<br />
Gewaltfrie<strong>de</strong>nssatzungen, die von Siegern <strong>de</strong>n Besiegten auferlegt wur<strong>de</strong>n<br />
und nur solange gelten, als die Machtverhältnisse Bestand haben, aus<br />
<strong>de</strong>nen sie hervorgegangen sind. Alles Eigentum sei durch Gewalt<br />
begrün<strong>de</strong>t und wer<strong>de</strong> nur durch Gewalt aufrechterhalten. Der freie<br />
Arbeiter <strong>de</strong>r liberalen Gesellschaft sei nichts an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r Unfreie <strong>de</strong>r<br />
Feudalzeit; <strong>de</strong>r Unternehmer beute ihn nicht weniger aus als ein<br />
Grundherr seine Grundhol<strong>de</strong>n, ein Plantagenbesitzer seine Sklaven. Daß<br />
solche und ähnliche Einwendungen gemacht und geglaubt wer<strong>de</strong>n<br />
konnten, zeigt <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>s Verständnisses für die liberalen<br />
Lehren. Doch sie ersetzen keineswegs <strong>de</strong>n Mangel einer ausgearbeiteten<br />
Theorie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Liberalismus bekämpfen<strong>de</strong>n Richtung.<br />
Die liberale Auffassung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenlebens hat<br />
die arbeitteilen<strong>de</strong> Volkswirtschaft geschaffen. Der sichtbarste Ausdruck<br />
<strong>de</strong>r Verkehrswirtschaft ist die städtische Siedlung, die überhaupt nur in ihr<br />
möglich ist. In <strong>de</strong>n Städten ist die liberale Lehre zu einem geschlossenen<br />
System ausgebil<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n, hier fand sie die meisten Anhänger. Doch je<br />
mehr und je schneller <strong>de</strong>r Wohlstand wuchs und je zahlreicher <strong>de</strong>shalb die<br />
Zuzügler vom flachen Lan<strong>de</strong> in die Städte strömten, <strong>de</strong>sto stärker wur<strong>de</strong>n<br />
die Anfechtungen, die sie vom Gewaltprinzipe erfuhr. Die Zugewan<strong>de</strong>rten<br />
fin<strong>de</strong>n sich schnell im städtischen Erwerbsleben zurecht, sie nehmen bald<br />
äußerlich die städtischen Sitten und Lebensanschauungen an, doch <strong>de</strong>m<br />
bürgerlichen Denken bleiben sie lange fremd. Eine Sozialphilosophie<br />
1 Vgl. Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1917, S. 58 ff.
27<br />
kann man sich nicht so leicht zu eigen machen wie eine neue Tracht; sie muß<br />
durch eigenes Denken erarbeitet wer<strong>de</strong>n. So fin<strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>r Geschichte<br />
immer wie<strong>de</strong>r, daß Epochen stark fortschreiten<strong>de</strong>r Ausbreitung <strong>de</strong>r liberalen<br />
Gedankenwelt und <strong>de</strong>r dadurch bewirkten Erhöhung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s durch<br />
Ausgestaltung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung mit Epochen abwechseln, in <strong>de</strong>nen das<br />
Gewaltprinzip wie<strong>de</strong>r die Oberhand zu gewinnen sucht und <strong>de</strong>mgemäß <strong>de</strong>r<br />
Wohlstand sinkt, weil die Arbeitsteilung Rückschritte macht. Das Wachstum<br />
<strong>de</strong>r Städte und <strong>de</strong>s bürgerlichen Lebens war zu schnell, es war mehr extensiv<br />
als intensiv gewesen, die neuen Bürger waren es mehr äußerlich als innerlich<br />
gewor<strong>de</strong>n, sie hatten nichtbürgerlicher Gesinnung in <strong>de</strong>n Bürgerschaften zur<br />
Herrschaft verholfen. Daran sind alle vom bürgerlichen Geiste <strong>de</strong>s<br />
Liberalismus erfüllten Kulturepochen zugrun<strong>de</strong> gegangen, daran scheint auch<br />
unsere bürgerliche Kultur, die großartigste, die die bisherige Geschichte<br />
gesehen hat, zugrun<strong>de</strong> zu gehen. Nicht die Barbaren, die von außen her gegen<br />
die Mauern <strong>de</strong>r Städte anstürmen, bedrohen sie mit Untergang; von <strong>de</strong>n<br />
Scheinbürgern im Innern, von <strong>de</strong>nen, die nur im äußeren Gehaben, aber nicht<br />
im Denken Bürger sind, ist Ärgeres zu fürchten.<br />
Wir haben in <strong>de</strong>n letzten Menschenaltern eine gewaltige Wie<strong>de</strong>rerstarkung<br />
<strong>de</strong>s Gewaltprinzips erlebt. Der mo<strong>de</strong>rne Imperialismus, <strong>de</strong>ssen<br />
Frucht <strong>de</strong>r Weltkrieg mit allen seinen fürchterlichen Folgen war, bringt<br />
die alten Gedanken <strong>de</strong>r Verfechter <strong>de</strong>s Gewaltprinzips in einem neuen<br />
Gewan<strong>de</strong>. Auch er hat natürlich nicht vermocht, <strong>de</strong>r liberalen Theorie<br />
seinerseits ein geschlossenes System entgegenzustellen. Das<br />
Kampfprinzip kann eben auf keine Weise zu einer Theorie <strong>de</strong>s<br />
Zusammenwirkens - und das muß je<strong>de</strong> Sozialtheorie sein - führen. Was<br />
die Theorie <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Imperialismus kennzeichnet, das ist die<br />
Verwendung bestimmter Ausdrücke <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Naturwissenschaft, z.<br />
B. <strong>de</strong>r Lehre vom Kampf ums Dasein und <strong>de</strong>s Rassenbegriffes. Damit<br />
konnte man leicht eine Menge von Schlagwörtern prägen, die sich für die<br />
Werbearbeit sehr wirksam erwiesen haben, aber nicht mehr. Alle I<strong>de</strong>en,<br />
mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Imperialismus prunkt, sind schon längst vom<br />
Liberalismus schonungslos als Irrlehren bloßgelegt wor<strong>de</strong>n.<br />
Ein Argument, vielleicht das stärkste, holt <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Imperialismus<br />
aus einer vollständigen Verkennung <strong>de</strong>s Wesens, das <strong>de</strong>m Eigentum an<br />
Produktionsmitteln in <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n Gesellschaft zukommt. Wenn<br />
<strong>de</strong>r Imperialismus es als eines seiner wichtigsten Ziele betrachtet, seinem<br />
Volke eigene Kohlengruben, eigene Rohstoff-
28<br />
bezugsquellen, eigene Schiffe, eigene Häfen zu schaffen, so geht er von<br />
<strong>de</strong>r Vorstellung aus, daß das natürliche Eigentum an diesen<br />
Produktionsmitteln ungeteilt sei und daß nur jene von ihnen Vorteil<br />
ziehen, die sie physisch haben. Er bemerkt nicht, daß das folgerichtige<br />
Festhalten an dieser Auffassung zu <strong>de</strong>r sozialistischen Lehre über <strong>de</strong>n<br />
Charakter <strong>de</strong>s Eigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln führt. Denn wenn es<br />
uns Deutschen nicht recht sein kann, daß wir nicht „eigene <strong>de</strong>utsche“<br />
Baumwollplantagen besitzen, warum sollte es je<strong>de</strong>m einzelnen Deutschen<br />
recht sein können, daß er nicht auch „sein“ Kohlenwerk, „seine“<br />
Baumwollspinnerei besitzt? Darf <strong>de</strong>nn ein Deutscher eine lothringische<br />
Erzfundstätte eher „sein“ nennen, wenn ein <strong>de</strong>utscher Staatsbürger sie<br />
besitzt als wenn ein französischer Bürger dort Herr ist?<br />
Soweit stimmt <strong>de</strong>r Imperialist mit <strong>de</strong>m Sozialisten in <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>s<br />
bürgerlichen Eigentums überein. Doch <strong>de</strong>r Sozialismus hat, was <strong>de</strong>m<br />
Imperialismus nicht gelingen konnte, ein geschlossenes System einer<br />
künftigen Gesellschaftsordnung auszubil<strong>de</strong>n gesucht.<br />
§ 4. Die älteren Bestrebungen zur Reform <strong>de</strong>r Eigentumsordnung und<br />
<strong>de</strong>s Eigentumsrechtes lassen sich, gleichviel ob sie sich als von<br />
Erwägungen sozialer Zweckmäßigkeit o<strong>de</strong>r als von solchen sozialer<br />
Gerechtigkeit geleitet gegeben haben, samt und son<strong>de</strong>rs als Bemühungen<br />
zur Herstellung möglichster Gleichheit in <strong>de</strong>r Vermögensverteilung<br />
charakterisieren. Es soll je<strong>de</strong>r ein gewisses Min<strong>de</strong>stausmaß, keiner mehr<br />
als ein bestimmtes Höchstausmaß, es sollen alle ungefähr gleich viel<br />
besitzen; das ist so ziemlich das Ziel. Die Wege zum Ziel sind nicht immer<br />
dieselben; meist wird eine Einziehung alles Eigentums o<strong>de</strong>r eines Teiles, an<br />
die sich dann eine Neuaufteilung anschließen soll, vorgeschlagen. Die Welt<br />
bevölkert von lauter selbstgenügsam wirtschaften<strong>de</strong>n Landwirten, neben<br />
<strong>de</strong>nen noch allenfalls für einige Handwerker Raum bleiben könnte, das war<br />
das Gesellschaftsi<strong>de</strong>al, <strong>de</strong>m man zustrebte. Man braucht auf alle diese<br />
Reformentwürfe heute nicht mehr einzugehen. Sie sind unter <strong>de</strong>n<br />
Verhältnissen <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n Volkswirtschaft nicht durchführbar; eine<br />
Eisenbahn, ein Walzwerk, eine Maschinenfabrik können nicht aufgeteilt<br />
wer<strong>de</strong>n. Hätte man sie vor Jahrhun<strong>de</strong>rten o<strong>de</strong>r Jahrtausen<strong>de</strong>n verwirklicht,<br />
dann stün<strong>de</strong>n wir noch immer auf <strong>de</strong>r Stufe <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Entwicklung,<br />
die zu jener Zeit erreicht wor<strong>de</strong>n war, wenn wir nicht überhaupt in einen Zustand,<br />
<strong>de</strong>r sich kaum über <strong>de</strong>n tierischen erbebt, zurückgesunken wären. Die<br />
Er<strong>de</strong> wür<strong>de</strong> nur einen kleinen Teil <strong>de</strong>r Menschenzahl,
29<br />
die sie heute ernährt, tragen können, und je<strong>de</strong>r einzelne Mensch wäre weit<br />
schlechter versorgt, als es heute auch die Ärmsten im Industriestaate sind.<br />
Unsere Kultur beruht darauf, daß es immer wie<strong>de</strong>r gelungen ist, <strong>de</strong>n<br />
Ansturm <strong>de</strong>r Neuverteiler abzuschlagen. Der Verteilungsgedanke hat noch<br />
immer selbst in <strong>de</strong>n Industrielän<strong>de</strong>rn große Volkstümlichkeit; in jenen<br />
Gebieten, in <strong>de</strong>nen die landwirtschaftliche Produktion vorherrscht, ist er -<br />
nicht gera<strong>de</strong> zutreffend Agrarsozialismus genannt - das Um und Auf aller<br />
sozialen Reformbestrebungen. Er ist die Hauptstütze <strong>de</strong>r großen<br />
russischen Revolution, die ihre aus <strong>de</strong>m Marxismus hervorgegangenen<br />
Führer wi<strong>de</strong>r ihren Willen zu seinen Vorkämpfern gemacht hat. Er wird<br />
vielleicht auch in <strong>de</strong>r übrigen Welt siegen und die Gesittung, die die<br />
Jahrtausen<strong>de</strong> aufgebaut haben, in kurzer Zeit zerstören. Dennoch, es sei<br />
wie<strong>de</strong>rholt, ist es überflüssig, ihm auch nur ein Wort <strong>de</strong>r Kritik zu<br />
widmen. Die Meinungen über ihn sind nicht geteilt. Daß man mit Bo<strong>de</strong>nund<br />
Heimatstättenkommunismus keine Sozialverfassung zu begrün<strong>de</strong>n<br />
vermag, die <strong>de</strong>n Hun<strong>de</strong>rten von Millionen Angehörigen <strong>de</strong>r weißen Rasse<br />
Lebensmöglichkeit gewährt, bedarf heute wohl keines weiteren Beweises<br />
mehr.<br />
Der naive Gleichheitsfanatismus <strong>de</strong>r Aufteiler ist schon lange durch<br />
ein an<strong>de</strong>res Gesellschaftsi<strong>de</strong>al verdrängt wor<strong>de</strong>n. Nicht Verteilung,<br />
Gemeineigentum ist die Losung <strong>de</strong>s Sozialismus. Das Son<strong>de</strong>reigentum an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln zu beseitigen und sie in das Eigentum <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft überzuführen., das und nichts an<strong>de</strong>res ist das Ziel <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus.<br />
Der sozialistische Gedanke hat in seiner vollen Strenge und Reinheit<br />
mit <strong>de</strong>m Aufteilungsi<strong>de</strong>al nichts mehr gemein. Er ist ebensoweit entfernt<br />
von <strong>de</strong>r unklaren Vorstellung einer Gemeinschaft <strong>de</strong>r Genußgüter. Sein<br />
Ziel ist, je<strong>de</strong>m ein auskömmliches Dasein zu ermöglichen. Doch er ist<br />
nicht mehr so naiv, dieses Ziel durch Zertrümmerung <strong>de</strong>s arbeitteilen<strong>de</strong>n<br />
Wirtschaftsbetriebes anstreben zu wollen. Die Abneigung gegen das<br />
Austauschsystem, die die Aufteilungsschwärmer kennzeichnet, ist ihm<br />
zwar geblieben. Doch er will <strong>de</strong>n Verkehr an<strong>de</strong>rs beseitigen als durch<br />
Aufhebung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung und durch Rückkehr zur Autarkie <strong>de</strong>r<br />
geschlossenen Hauswirtschaft o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>stens zur einfacheren<br />
Austauschorganisation <strong>de</strong>s sich selbst genügen<strong>de</strong>n Landkreises.<br />
Es ist klar, warum <strong>de</strong>r sozialistische Gedanke nicht eher entstehen<br />
konnte, als bis das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln <strong>de</strong>n<br />
Charakter angenommen hatte, <strong>de</strong>r ihm in <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n
30<br />
Gesellschaft zukommt. Erst mußte die gesellschaftliche Verflechtung <strong>de</strong>r<br />
Einzelwirtschaften jenen Grad erreichen, auf <strong>de</strong>m die Erzeugung für<br />
frem<strong>de</strong>n Bedarf Regel ist, ehe <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>s Gemeineigentums an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln feste Gestalt annehmen konnte. Zu voller Klarheit<br />
konnte es <strong>de</strong>r sozialistische I<strong>de</strong>enkreis erst bringen, bis die liberale<br />
Sozialphilosophie das Wesen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion enthüllt<br />
hatte. In diesem Sinne, doch in keinem an<strong>de</strong>ren, mag man <strong>de</strong>n<br />
Sozialismus als eine Frucht <strong>de</strong>s Liberalismus bezeichnen.<br />
Man muß zugeben, daß <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>s Sozialismus, wie auch immer<br />
man über die Zweckmäßigkeit und Möglichkeit seiner Durchführung<br />
<strong>de</strong>nken mag, großartig und einfach zugleich ist. Wer ihn noch so<br />
entschie<strong>de</strong>n ablehnt, wird nicht leugnen können, daß er einer eingehen<strong>de</strong>n<br />
Überprüfung wert ist. Ja, man darf sagen, daß er eine <strong>de</strong>r gewaltigsten<br />
Schöpfungen <strong>de</strong>s menschlichen Geistes darstellt. Das Beginnen, unter<br />
Bruch mit allen überlieferten Formen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Organisation<br />
die Wirtschaft auf neuer Grundlage aufzubauen, aus <strong>de</strong>m Geiste heraus<br />
einen neuen Weltplan zu entwerfen und im Geiste die künftige<br />
Gestaltung, die die menschlichen Dinge annehmen müssen, zu erschauen,<br />
ist so großartig und kühn, daß es mit Recht die höchste Bewun<strong>de</strong>rung<br />
gefun<strong>de</strong>n hat. Man kann die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Sozialismus vielleicht überwin<strong>de</strong>n,<br />
man muß sie vielleicht überwin<strong>de</strong>n, man kann sie aber nicht achtlos<br />
beiseite schieben.<br />
§ 5. Es ist ein alter Kunstgriff <strong>de</strong>r politischen Neuerer, daß sie das, was<br />
sie in <strong>de</strong>r Zukunft verwirklicht sehen wollen, als das Alte und<br />
Naturgemäße bezeichnen, das von allem Anfang her bestan<strong>de</strong>n habe und<br />
nur durch die Ungunst <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung verloren<br />
gegangen sei; nun müsse man zu ihm zurückkehren und damit das<br />
gol<strong>de</strong>ne Zeitalter wie<strong>de</strong>r herstellen. So hat das Naturrecht die Rechte, die<br />
es für das Individuum for<strong>de</strong>rte, als angeborene unveräußerliche Rechte,<br />
die <strong>de</strong>m Menschen von Natur aus zustehen, erklärt; nicht um Neuerung<br />
handle es sich, son<strong>de</strong>rn um Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r „ew'gen Rechte, die<br />
droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst“.<br />
So ist auch die romantische Utopie vom Gemeineigentum einer grauen<br />
Vorzeit entstan<strong>de</strong>n. Nahezu alle Völker kennen sie. Im alten Rom hat sie<br />
sich zur Sage vom gol<strong>de</strong>nen saturnischen Zeitalter verdichtet. In<br />
prächtigen Farben schil<strong>de</strong>rn es Vergil, Tibull und Ovid; auch Seneea
31<br />
erging sich in seinem Preise. 1 Das waren herrliche, selige Zeiten! Es gab<br />
kein Son<strong>de</strong>reigentum; allen ging es gut, <strong>de</strong>nn die Natur war freigebiger. 2<br />
Der mo<strong>de</strong>rne Sozialismus wähnt sich über die Einfachheit und<br />
Kindlichkeit solcher Vorstellungen erhaben; doch er macht es kaum<br />
an<strong>de</strong>rs als die Römer <strong>de</strong>r Kaiserzeit.<br />
Die liberale Doktrin hatte die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r sozialen Funktion <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln für die Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Kultur nachdrücklich hervorgehoben. Der Sozialismus hätte sich damit<br />
begnügen können, die Ersprießlichkeit <strong>de</strong>r weiteren Beibehaltung <strong>de</strong>r<br />
Einrichtung <strong>de</strong>s Eigentums zu leugnen, ohne zugleich <strong>de</strong>n Nutzen, <strong>de</strong>n sie<br />
in <strong>de</strong>r Vergangenheit gestiftet, zu bestreiten. Der Marxismus versucht dies<br />
auch, in<strong>de</strong>m er die Zeitalter <strong>de</strong>r einfachen und <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Warenproduktion als notwendige Entwicklungsstufen <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
hinstellt. Doch er trifft sich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren sozialistischen Lehren in <strong>de</strong>m<br />
Bestreben, mit einem starken Aufwand von sittlicher Entrüstung über alles<br />
Son<strong>de</strong>reigentum, das in <strong>de</strong>r Geschichte aufgetreten ist, <strong>de</strong>n Stab zu<br />
brechen. Es gab einst gute Zeiten, da noch kein Son<strong>de</strong>reigentum war; es<br />
wird wie<strong>de</strong>r gute Zeiten geben, wenn man das Son<strong>de</strong>reigentum wie<strong>de</strong>r<br />
beseitigt haben wird.<br />
Zur Begründung mußte die junge Wissenschaft <strong>de</strong>r Wirtschaftsgeschichte<br />
herhalten. Man konstruierte eine Theorie von <strong>de</strong>r<br />
Ursprünglichkeit <strong>de</strong>r Feldgemeinschaft. Alles Grun<strong>de</strong>igentum sei einst<br />
Gemeinbesitz aller Stammesgenossen gewesen. Zuerst sei es auch von<br />
allen gemeinsam benutzt wor<strong>de</strong>n; erst später seien, unter Aufrechterhaltung<br />
<strong>de</strong>s Gemeineigentums, die Fel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n einzelnen Genossen<br />
zur Son<strong>de</strong>rnutzung auf bestimmte Zeit verteilt wor<strong>de</strong>n, doch hätten immer<br />
wie<strong>de</strong>r, zuerst alljährlich, dann nach längeren Zeitabschnitten<br />
Neuverteilungen stattgefun<strong>de</strong>n. Das Son<strong>de</strong>reigentum selbst sei eine<br />
verhältnismäßig junge Einrichtung; wie es entstan<strong>de</strong>n, sei nicht recht klar,<br />
doch wäre anzunehmen, daß es sich durch Unterlassung <strong>de</strong>r Neuverteilung<br />
gewissermaßen durch Gewohnheit eingeschlichen habe, wenn man es<br />
nicht gar auf rechtswidrige Aneignung zurückführen wolle. Man sehe<br />
also, daß es ein Fehler gewesen sei, <strong>de</strong>m Eigentum eine große Be<strong>de</strong>utung<br />
für die Geschichte <strong>de</strong>r Kultur zuzusprechen. Es sei erwiesen, daß sich <strong>de</strong>r<br />
Ackerbau<br />
1 Vgl. Poehlmann, Geschichte <strong>de</strong>r sozialen Frage und <strong>de</strong>s Sozialismus in <strong>de</strong>r antiken<br />
Welt, 2. Aufl., München 1912, II. Bd., 8. 577 ff.<br />
2 ipsaque tellus, omnia liberius nullo poscente ferebat. (Vergil, Georg., I, 127 f.)
32<br />
unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Gemeineigentums mit periodischer Teilung<br />
entwickelt habe. „Damit <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>n Acker baut und säet, braucht<br />
man ihm nur <strong>de</strong>n Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit zu gewährleisten, und dazu genügt zur<br />
Not <strong>de</strong>r einjährige Besitz.“ Auch sei es falsch, die Entstehung <strong>de</strong>s<br />
Grun<strong>de</strong>igentums auf Okkupation herrenlosen Bo<strong>de</strong>ns zurückzuführen.<br />
Das nichtokkupierte Land sei „keinen Augenblick eine herrenlose Sache<br />
gewesen. Überall, früher wie gegenwärtig, hat man es für <strong>de</strong>m Staate o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> gehörig erklärt; folglich hat früher ebensowenig als heute<br />
eine Besitzergreifung stattfin<strong>de</strong>n können“. 1<br />
Von <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r neugewonnenen geschichtlichen Erkenntnis sah man<br />
mit mitleidigem Lächeln auf die Ausführungen <strong>de</strong>r liberalen<br />
Sozialphilosophie herab. Man war überzeugt, <strong>de</strong>n Beweis erbracht zu<br />
haben, daß das Son<strong>de</strong>reigentum „nur“ eine historisch-rechtliche Kategorie<br />
sei. Es habe nicht immer bestan<strong>de</strong>n, es sei nichts an<strong>de</strong>res als ein nicht<br />
gera<strong>de</strong> empfehlenswertes Kulturgewächs, also könne man es auch wie<strong>de</strong>r<br />
abschaffen. Die Sozialisten aller Richtungen, vor allem aber die<br />
Marxisten, waren eifrig darauf bedacht, diese Lehren zu verbreiten. Sie<br />
haben <strong>de</strong>n Schriften ihrer Vorkämpfer zu einer Volkstümlichkeit<br />
verholfen, die wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen sonst versagt<br />
bleibt.<br />
Die Wissenschaft <strong>de</strong>r Wirtschaftsgeschichte hat die Anschauung, daß<br />
das Gemeineigentum am Ackerlan<strong>de</strong> ein notwendiges Durchgangsstadium<br />
bei allen Völkern - Ureigentum - gewesen sei, bald wi<strong>de</strong>rlegt. Sie hat<br />
nachgewiesen, daß <strong>de</strong>r russische Mir in <strong>de</strong>r Neuzeit unter <strong>de</strong>m Drucke <strong>de</strong>r<br />
Leibeigenschaft und <strong>de</strong>r Kopfsteuer entstan<strong>de</strong>n ist, daß die<br />
Hauberggenossenschaften <strong>de</strong>s Kreises Siegen erst seit <strong>de</strong>m 16.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt auftreten, daß die Trierer Gehöferschaften sich im 13.,<br />
vielleicht erst im 17. und 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt entwickelt haben, daß die<br />
südslawische Zadruga durch Einführung <strong>de</strong>s byzantinischen<br />
Steuersystems entstan<strong>de</strong>n ist. 2 Die älteste germanische Agrargeschichte<br />
konnte bis nun noch nicht genügend geklärt wer<strong>de</strong>n; es ist in wichtigen<br />
Fragen noch nicht gelungen, Einhelligkeit <strong>de</strong>r Meinungen zu erzielen. Die<br />
Deutung <strong>de</strong>r spärlichen Nachrichten, die Cäsar und Taeitus übermitteln,<br />
bereitet beson<strong>de</strong>re Schwierigkeiten. Doch man darf auf keinen Fall bei<br />
<strong>de</strong>n Versuchen, sie zu verstehen, übersehen, daß die Verhältnisse <strong>de</strong>s alten<br />
Germanien,<br />
1 Vgl. Laveleye, Das Ureigentum, Deutsch von Bücher, Leipzig 1879, S. 514 f.<br />
2 Vgl. Below, Probleme <strong>de</strong>r Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1920, S. 13 ff.
33<br />
wie sie uns diese bei<strong>de</strong>n Schriftsteller schil<strong>de</strong>rn, vor allem dadurch<br />
gekennzeichnet sind, daß guter Ackerbo<strong>de</strong>n noch in so reichlichem Maße<br />
zur Verfügung steht, daß die Grun<strong>de</strong>igentumsfrage wirtschaftlich noch<br />
nicht von Belang ist. Superest ager, das ist die Grundtatsache <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Agrarverhältnisse zur Zeit <strong>de</strong>s Tacitus. 1<br />
Man muß übrigens gar nicht erst auf die wirtschaftsgeschichtlichen<br />
Nachweise, die die Lehre vom Ureigentum wi<strong>de</strong>rlegen, eingehen, um zu<br />
erkennen, daß man aus ihr nichts gegen das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln folgern kann. Ob <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum überall<br />
Gemeineigentum vorausgegangen ist o<strong>de</strong>r nicht, ist sowohl für die<br />
Beurteilung seiner geschichtlichen Leistungen als auch seiner Funktion in<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaftsverfassung <strong>de</strong>r Gegenwart und <strong>de</strong>r Zukunft ohne Belang.<br />
Wenn es auch gelingen könnte, nachzuweisen, daß alle Völker einst das<br />
Gemeineigentum als Grun<strong>de</strong>inrichtung ihres Bo<strong>de</strong>nrechts gekannt hätten,<br />
und daß alles Son<strong>de</strong>reigentum durch rechtswidrige Aneignung entstan<strong>de</strong>n<br />
sei, so wäre damit noch lange nicht bewiesen, daß rationelle<br />
Landwirtschaft mit intensiver Bewirtschaftung sich ohne Son<strong>de</strong>reigentum<br />
hätte entwickeln können. Noch weniger aber wäre es erlaubt, daraus zu<br />
schließen, daß man das Son<strong>de</strong>reigentum auch aufheben könne o<strong>de</strong>r solle.<br />
II.<br />
Der Sozialismus.<br />
§ 1. Sozialismus ist Überführung <strong>de</strong>r Produktionsmittel aus <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum in das Eigentum <strong>de</strong>r organisierten Gesellschaft, <strong>de</strong>s<br />
Staates. 2 Der sozialistische Staat ist Eigentümer aller sachlichen<br />
Produktionsmittel und damit <strong>de</strong>r Leiter <strong>de</strong>r gesamten Produktion. Es ist,<br />
was immer wie<strong>de</strong>r übersehen wird, nicht notwendig, daß die Überführung<br />
<strong>de</strong>s Eigentums in die Verfügungsgewalt <strong>de</strong>s Staates sich unter<br />
Beobachtung <strong>de</strong>r Formen vollzieht, die das Recht <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln aufgebauten<br />
Geschichtsepoche für Eigentumsübertragungen ausgebil<strong>de</strong>t hat; noch<br />
weniger kommt es darauf an, daß dabei am überlieferten Sprach-<br />
1 Vgl. Germania 26.<br />
2 Der Ausdruck „Kommunismus“ besagt nichts an<strong>de</strong>res als „Sozialismus“. Der<br />
Gebrauch <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Wörter hat in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten wie<strong>de</strong>rholt die Be<strong>de</strong>utung<br />
gewechselt, doch immer waren es nur Fragen <strong>de</strong>r Taktik, die Sozialisten und<br />
Kommunisten schie<strong>de</strong>n. Bei<strong>de</strong> streben Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel an.
34<br />
gebrauch <strong>de</strong>s Privatrechts festgehalten wird. Eigentum ist Verfügungsmöglichkeit,<br />
und wenn die Verfügungsmöglichkeit vom überlieferten<br />
Namen getrennt und damit ein eine neue Bezeichnung führen<strong>de</strong>s<br />
Rechtsinstitut ausgestattet wird, so ist dies für das Wesen <strong>de</strong>r Dinge ohne<br />
Be<strong>de</strong>utung. Nicht auf das Wort, auf die Sache ist zu sehen. Die<br />
Entwicklung zum Sozialismus hat sich nicht nur durch formelle<br />
Übertragung <strong>de</strong>s Eigentums an <strong>de</strong>n Staat vollzogen. Auch die<br />
Beschränkung <strong>de</strong>r Befugnisse <strong>de</strong>s Eigentümers ist ein Mittel <strong>de</strong>r<br />
Sozialisierung. Wenn ihm die Verfügungsmöglichkeit stückweise<br />
genommen wird, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Staat sich immer mehr Einfluß auf die<br />
Bestimmung <strong>de</strong>r Richtung und <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Produktion sichert und von<br />
<strong>de</strong>m Ertrag <strong>de</strong>r Produktion einen immer größeren Anteil heischt, so wird<br />
<strong>de</strong>m Eigentümer immer mehr und mehr entzogen, bis ihm schließlich nur<br />
<strong>de</strong>r leere Name <strong>de</strong>s Eigentums bleibt, das Eigentum selbst aber ganz in die<br />
Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Staates übergegangen ist.<br />
Man pflegt oft die grundsätzliche Verschie<strong>de</strong>nheit, die zwischen <strong>de</strong>m<br />
liberalen und <strong>de</strong>m anarchistischen Gedanken besteht, zu verkennen. Der<br />
Anarchismus lehnt alle gesellschaftliche Zwangsorganisation ab, er<br />
verwirft <strong>de</strong>n Zwang als Mittel gesellschaftlicher Technik. Er will <strong>de</strong>n<br />
Staat und die Rechtsordnung wirklich abschaffen, weil er <strong>de</strong>r Meinung ist,<br />
daß die Gesellschaft sie ohne Scha<strong>de</strong>n entbehren könnte. Er befürchtet<br />
von <strong>de</strong>r Anarchie nicht Unordnung, <strong>de</strong>nn er glaubt, daß die Menschen sich<br />
auch ohne Zwang zu gesellschaftlichem Zusammenwirken<br />
zusammenschließen und dabei alle jene Rücksichten nehmen wür<strong>de</strong>n, die<br />
das Leben in <strong>de</strong>r Gesellschaft verlangt. Der Anarchismus ist an sich we<strong>de</strong>r<br />
liberal noch sozialistisch; er bewegt sich in einer an<strong>de</strong>ren Ebene als<br />
Liberalismus und Sozialismus. Wer <strong>de</strong>n Grundgedanken <strong>de</strong>s Anarchismus<br />
als verfehlt ansieht, wer es für eine Illusion hält, daß es möglich sei o<strong>de</strong>r<br />
je möglich wer<strong>de</strong>n könnte, die Menschen ohne <strong>de</strong>n Zwang einer<br />
verpflichten<strong>de</strong>n Rechtsordnung zu friedlichem Zusammenwirken zu<br />
vereinen, <strong>de</strong>r wird sowohl als Liberaler als auch als Sozialist sich von<br />
anarchistischen I<strong>de</strong>en fernhalten. Alle liberalen und alle sozialistischen<br />
Theorien, die <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r streng logischen Gedaukenverknüpfung nicht<br />
verlassen, haben ihr System unter bewußter und scharfer Ablehnung <strong>de</strong>s<br />
Anarchismus ausgebaut. Inhalt und Umfang <strong>de</strong>r Rechtsordnung sind im<br />
Liberalismus und im Sozialismus verschie<strong>de</strong>n; doch bei<strong>de</strong> erkennen ihre<br />
Notwendigkeit. Wenn <strong>de</strong>r Liberalismus das Gebiet <strong>de</strong>r staatlichen<br />
Tätigkeit einengt, so
35<br />
liegt es ihm fern, die Notwendigkeit <strong>de</strong>s Bestan<strong>de</strong>s einer Rechtsordnung<br />
zu bestreiten. Er ist nicht staatsfeindlich, er sieht <strong>de</strong>n Staat nicht als ein -<br />
wenn auch notwendiges - Übel an. Seine Stellung zum Staatsproblem ist<br />
überhaupt nicht durch seine Abneigung gegen die „Person“ <strong>de</strong>s Staates<br />
gegeben, son<strong>de</strong>rn durch seine Stellung zum Eigentumsproblem. Weil er<br />
das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln will, muß er folgerichtig<br />
alles ablehnen, was ihm entgegensteht. Der Sozialismus wie<strong>de</strong>r muß,<br />
sobald er sich grundsätzlich vom Anarchismus abgewen<strong>de</strong>t hat, das<br />
Gebiet, das die Zwangsordnung <strong>de</strong>s Staates regelt, zu erweitern suchen; ist<br />
es doch, sein ausgesprochenes Ziel, die „Anarchie <strong>de</strong>r Produktion“ zu beseitigen.<br />
Der Sozialismus hebt die staatliche Rechtsordnung mit ihrem<br />
Zwange nicht auf; er <strong>de</strong>hnt sie im Gegenteil auf ein Gebiet aus, das <strong>de</strong>r<br />
Liberalismus staatsfrei lassen will.<br />
Die sozialistischen Schriftsteller, beson<strong>de</strong>rs jene, die <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
aus ethischen Grün<strong>de</strong>n empfehlen, lieben es, <strong>de</strong>n Sozialismus als die<br />
Gesellschaftsform darzustellen, bei welcher das allgemeine Beste<br />
Berücksichtigung fin<strong>de</strong>, wogegen <strong>de</strong>r Liberalismus nur die Interessen<br />
einer Son<strong>de</strong>rschicht im Auge habe. Über Wert o<strong>de</strong>r Unwert einer<br />
gesellschaftlichen Organisationsform kann man erst urteilen, bis man sich<br />
von ihren Wirkungen ein klares Bild gemacht hat; was Sozialismus und<br />
Liberalismus wirklich leisten, kann nur auf Grundlage eingehen<strong>de</strong>r<br />
Untersuchungen festgestellt wer<strong>de</strong>n. Die Behauptung <strong>de</strong>s Sozialismus,<br />
daß er allein das Beste wolle, kann man aber von vorneherein als unrichtig<br />
zurückweisen. Denn <strong>de</strong>r Liberalismus tritt nicht aus Rücksicht auf die<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen <strong>de</strong>r Eigentümer für das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln ein, son<strong>de</strong>rn weil er von einer auf <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsverfassung eine bessere<br />
Versorgung erwartet. In <strong>de</strong>r liberalen Wirtschaftsverfassung wer<strong>de</strong> mehr<br />
erzeugt als in <strong>de</strong>r sozialistischen; dieser Überschuß komme nicht nur <strong>de</strong>n<br />
Besitzen<strong>de</strong>n zu gute, so daß die Bekämpfung <strong>de</strong>r sozialistischen Irrlehren<br />
nicht etwa ein Son<strong>de</strong>rinteresse <strong>de</strong>r Reichen sei; auch <strong>de</strong>r Ärmste wür<strong>de</strong><br />
durch <strong>de</strong>n Sozialismus geschädigt wer<strong>de</strong>n. Man mag sich zu dieser<br />
Behauptung wie immer stellen, keineswegs ist es gestattet, <strong>de</strong>m<br />
Liberalismus zu unterstellen, er wäre eine Politik, die nur auf die<br />
Wahrung von Son<strong>de</strong>rinteressen einer engen Schicht bedacht sei.<br />
Sozialismus und Liberalismus unterschei<strong>de</strong>n sich nicht durch das Ziel, daß<br />
sie anstreben, son<strong>de</strong>rn durch die Mittel, die sie anwen<strong>de</strong>n Wollen, um das<br />
Ziel zu erreichen.
36<br />
§ 2. Der Liberalismus hatte sein Programm in eine Anzahl Punkte<br />
zusammengefaßt, die er als For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Naturrechtes empfahl. Das<br />
sind die Menschen- und Bürgerrechte, die in <strong>de</strong>n Befreiungskämpfen <strong>de</strong>s<br />
18. und <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>de</strong>n Gegenstand <strong>de</strong>s Streites gebil<strong>de</strong>t haben.<br />
Sie stehen mit ehernen Lettern in <strong>de</strong>n Verfassungsgesetzen, die unter <strong>de</strong>r<br />
Einwirkung <strong>de</strong>r Volksbewegungen dieser Zeit zustan<strong>de</strong> gekommen sind.<br />
Ob sie hier gera<strong>de</strong> am Platze sind, ist eine Frage, die recht wohl auch von<br />
Anhängern liberaler Denkungsart verneint wer<strong>de</strong>n könnte. Denn sie sind,<br />
ihrer Fassung und ihrem Wortlaute nach, weniger Rechtssätze, die zum<br />
Inhalte eines zur praktischen Handhabung bestimmten Gesetzes geeignet<br />
sind, <strong>de</strong>nn ein politisches Programm, das von <strong>de</strong>r Gesetzgebung und von<br />
<strong>de</strong>r Verwaltung befolgt wer<strong>de</strong>n will. Je<strong>de</strong>nfalls ist es klar, daß es nicht<br />
genügen kann, sie feierlich in Staatsgrundgesetze und<br />
Verfassungsurkun<strong>de</strong>n aufzunehmen; sie müssen mit ihrem Geiste <strong>de</strong>n<br />
ganzen Staat durchdringen. Es hat <strong>de</strong>m Bürger Österreichs wenig genützt,<br />
daß ihm vom Staatsgrundgesetz das Recht eingeräumt wor<strong>de</strong>n war, „durch<br />
Wort, Schrift, Druck o<strong>de</strong>r bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb<br />
<strong>de</strong>r gesetzlichen Schranken frei zu äußern“. Diese gesetzlichen Schranken<br />
behin<strong>de</strong>rten die freie Meinungsäußerung nicht weniger, als wenn jenes<br />
Grundgesetz nie erlassen wor<strong>de</strong>n wäre. England kennt das Grundrecht <strong>de</strong>r<br />
freien Meinungsäußerung nicht, doch Re<strong>de</strong> und Presse sind dort wirklich<br />
frei, weil <strong>de</strong>r Geist, <strong>de</strong>r sich in ihm äußert, die ganze englische<br />
Gesetzgebung durchdringt.<br />
Nach <strong>de</strong>m Muster dieser politischen Grundrechte haben einzelne<br />
antiliberale Schriftsteller ökonomische Grundrechte aufzustellen versucht.<br />
Sie verfolgen damit einen doppelten Zweck; sie wollen einerseits die<br />
Unzulänglichkeit einer Gesellschaftsordnung dartun, die nicht einmal<br />
diese natürlichen Rechte <strong>de</strong>s Menschen gewährleistet, an<strong>de</strong>rerseits wollen<br />
sie einige leicht zu merken<strong>de</strong> wirksame Schlagwörter schaffen, die für<br />
ihre I<strong>de</strong>en werben sollen. Die Anschauung, daß es schon genügen könnte,<br />
diese Grundrechte gesetzlich festzulegen, um eine ihren I<strong>de</strong>alen<br />
entsprechen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung aufzurichten, lag ihnen im<br />
allgemeinen fern. Die Mehrzahl <strong>de</strong>r Autoren, wenigstens <strong>de</strong>r späteren, war<br />
sich darüber klar, daß an<strong>de</strong>rs als auf <strong>de</strong>m Wege über die<br />
Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel das, was sie anstreben, nicht zu<br />
erreichen sei. Die ökonomischen Grundrechte sollten nur zeigen, welchen<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen eine Gesellschaftsordnung Genüge leisten müßte. Sie<br />
waren mehr
37<br />
eine Kritik als ein Programm. Wenn wir sie unter diesem Gesichtspunkte<br />
betrachten, erschließen sie uns die Einsicht in das, was <strong>de</strong>r Sozialismus<br />
nach <strong>de</strong>r Meinung seiner Vorkämpfer leisten soll.<br />
Mit Anton Menger pflegt man drei ökonomische Grundrechte <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus anzunehmen: das Recht auf <strong>de</strong>n vollen Arbeitsertrag, das<br />
Recht auf Existenz und das Recht auf Arbeit. 1<br />
Je<strong>de</strong> Produktion verlangt das Zusammenwirken sachlicher und<br />
persönlicher Produktionsfaktoren; sie ist zielstrebige Verbindung von<br />
Bo<strong>de</strong>n, Kapital und Arbeit. Wieviel die einzelnen dieser Faktoren zum<br />
Erfolge <strong>de</strong>r Produktion physisch beigetragen haben, kann nicht ermittelt<br />
wer<strong>de</strong>n. Wieviel von <strong>de</strong>m Werte <strong>de</strong>s Produkts <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Produktionsfaktoren zuzurechnen ist, ist eine Frage, die <strong>de</strong>r<br />
wirtschaften<strong>de</strong> Mensch täglich und stündlich beantwortet, mag auch die<br />
wissenschaftliche Erklärung dieses Vorganges erst in <strong>de</strong>r jüngsten Zeit zu<br />
einigermaßen befriedigen<strong>de</strong>n Ergebnissen, die von einer endgültigen<br />
Lösung noch immer entfernt sind, geführt haben. In<strong>de</strong>m für alle<br />
Produktionsfaktoren Marktpreise gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, wird je<strong>de</strong>m die<br />
Be<strong>de</strong>utung beigelegt, die seiner Mitwirkung am Ergebnisse <strong>de</strong>r<br />
Produktion entspricht. Je<strong>de</strong>r Produktionsfaktor empfängt im Preise <strong>de</strong>n<br />
Ertrag seiner Mitwirkung. Im Lohn bezieht <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>de</strong>n vollen<br />
Arbeitsertrag. So erscheint im Lichte <strong>de</strong>r subjektivistischen Wertlehre die<br />
sozialistische For<strong>de</strong>rung eines Rechtes auf <strong>de</strong>n vollen Arbeitsertrag als<br />
völlig sinnlos. Sie ist es aber keineswegs. Nur <strong>de</strong>r Sprachgebrauch, in <strong>de</strong>n<br />
sie sich klei<strong>de</strong>t, erscheint unserem mo<strong>de</strong>rnen wissenschaftlichen Denken<br />
unverständlich. Er entstammt einer Auffassung, die die Quelle <strong>de</strong>s Wertes<br />
allein in <strong>de</strong>r Arbeit erblickt. Wer in <strong>de</strong>r Wertlehre diesen Standpunkt<br />
einnimmt, <strong>de</strong>m erscheint die For<strong>de</strong>rung nach Beseitigung <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln als For<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>m<br />
vollen Arbeitsertrag für <strong>de</strong>n Arbeiter. Es ist zunächst eine negative<br />
For<strong>de</strong>rung: Ausschluß alles Einkommens, das nicht auf Arbeit beruht.<br />
Doch sobald man daran geht, ein System zu konstruieren, in <strong>de</strong>m diesem<br />
Grundsatze genau Rechnung getragen wer<strong>de</strong>n soll, ergeben sich<br />
unüberwindliche Schwierigkeiten, die eben darauf beruhen, daß <strong>de</strong>r<br />
Gedankengang, <strong>de</strong>r zur Aufstellung <strong>de</strong>s Rechtes auf <strong>de</strong>n vollen<br />
Arbeitsertrag geführt hat, auf unhaltbaren Theorien über<br />
1 Vgl. Anton Menger, Das Recht auf <strong>de</strong>n vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher<br />
Darstellung, 4. Aufl., Stuttgart und Berlin 1910, S. 6.
38<br />
die Wertbildung beruht. Daran sind alle diese Systeme gescheitert. Ihre<br />
Urheber mußten schließlich gestehen, daß das, was sie wollen, nichts<br />
an<strong>de</strong>res sei als die Beseitigung <strong>de</strong>s nicht durch Arbeit begrün<strong>de</strong>ten<br />
Einkommens einzelner, und daß dies wie<strong>de</strong>r nicht an<strong>de</strong>rs erreicht wer<strong>de</strong>n<br />
könne, als durch Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel. Von <strong>de</strong>m<br />
Recht auf <strong>de</strong>n vollen Arbeitsertrag, das durch Jahrzehnte die Geister<br />
beschäftigt hatte, blieb nichts übrig als das für die Werbearbeit freilich<br />
sehr wirksame Schlagwort von <strong>de</strong>r Beseitigung <strong>de</strong>s „unverdienten“<br />
arbeitslosen Einkommens.<br />
Das Recht auf Existenz kann verschie<strong>de</strong>n aufgefaßt wer<strong>de</strong>n. Versteht<br />
man darunter nur <strong>de</strong>n Anspruch <strong>de</strong>r mittellosen Arbeitsunfähigen, für<br />
<strong>de</strong>ren Unterhalt kein Angehöriger aufzukommen hat, auf eine notdürftige<br />
Versorgung, dann ist es eine harmlose Einrichtung, die in <strong>de</strong>n meisten<br />
Gemeinwesen seit Jahrhun<strong>de</strong>rten annähernd verwirklicht ist, mag auch<br />
seine Durchführung manches zu wünschen übrig lassen, und mag es aus<br />
Grün<strong>de</strong>n, die auf seine Entstehung aus <strong>de</strong>r charitativen Armenpflege und<br />
<strong>de</strong>r Wohlfahrtspolizei zurückführen, im allgemeinen auch nicht <strong>de</strong>n<br />
Charakter eines subjektiven öffentlichen Rechtes tragen. In diesem Sinne<br />
fassen es jedoch die Sozialisten nicht auf. Sie bestimmen es dahin, „daß<br />
je<strong>de</strong>s Mitglied <strong>de</strong>r Gesellschaft einen Anspruch hat, daß ihm die zur<br />
Erhaltung seiner Existenz notwendigen Sachen und Dienstleistungen nach<br />
Maßgabe <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen Mittel zugewiesen wer<strong>de</strong>n, bevor min<strong>de</strong>r<br />
dringen<strong>de</strong> Bedürfnisse an<strong>de</strong>rer befriedigt wer<strong>de</strong>n“. 1 Bei <strong>de</strong>r Unbestimmtheit<br />
<strong>de</strong>s Begriffes <strong>de</strong>r Erhaltung <strong>de</strong>r Existenz und bei <strong>de</strong>r<br />
Unmöglichkeit, die Dringlichkeit <strong>de</strong>r Bedürfnisse verschie<strong>de</strong>ner<br />
Menschen an einem objektiven Merkmal zu erkennen und zu vergleichen,<br />
läuft das auf die For<strong>de</strong>rung möglichst gleichmäßiger Verteilung <strong>de</strong>r<br />
Genußgüter hinaus. Die Fassung, die das Recht auf Existenz mitunter<br />
erhält: es soll niemand darben, solange an<strong>de</strong>re im Überfluß leben, bringt<br />
diese Absicht noch <strong>de</strong>utlicher zum Ausdruck. Es ist klar, daß dieser<br />
For<strong>de</strong>rung nach ihrer negativen Seite hin nur Genüge geleistet wer<strong>de</strong>n<br />
kann, wenn alle Produktionsmittel vergesellschaftet wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r<br />
Ertrag <strong>de</strong>r Produktion vom Staate verteilt wird. Ob ihr nach ihrer positiven<br />
Seite hin überhaupt entsprochen wer<strong>de</strong>n kann, ist eine an<strong>de</strong>re Frage, über<br />
die sich jene, die das Recht auf Existenz vertreten, kaum irgendwelche<br />
Sorgen gemacht haben. Der Gedankengang, von <strong>de</strong>m sie sich haben<br />
1 Ebendort S. 9.
39<br />
leiten lassen, ist <strong>de</strong>r, daß die Natur selbst allen Menschen ein genügen<strong>de</strong>s<br />
Auskommen gewähre, und daß nur verkehrte gesellschaftliche<br />
Einrichtungen an <strong>de</strong>r ungenügen<strong>de</strong>n Versorgung eines großen Teiles <strong>de</strong>r<br />
Menschheit Schuld trügen. Wür<strong>de</strong> es gelingen, <strong>de</strong>n Reichen das<br />
abzunehmen, was sie über das „Notwendige“ verzehren dürfen, dann<br />
könnten alle in die Lage versetzt wer<strong>de</strong>n, anständig zu leben. Erst unter<br />
<strong>de</strong>m Eindrucke <strong>de</strong>r Kritik, die vom Malthusschen Bevölkerungsgesetz an<br />
diesen Illusionen geübt wur<strong>de</strong> 1 , hat die sozialistische Doktrin sich zu ihrer<br />
Ummo<strong>de</strong>lung genötigt gesehen. Es wird zugegeben, daß unter <strong>de</strong>n<br />
Verhältnissen <strong>de</strong>r nichtsozialistischen Produktionsweise nicht genug<br />
erzeugt wird, um alle reichlich zu versorgen; <strong>de</strong>r Sozialismus aber wer<strong>de</strong><br />
die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit so ungeheuer steigern, daß es möglich sein<br />
wer<strong>de</strong>, einer unbegrenzten Menge Menschen auf Er<strong>de</strong>n ein Paradies zu<br />
schaffen. Selbst <strong>de</strong>r sonst vorsichtig zurückhalten<strong>de</strong> Marx meint, die<br />
sozialistische Gesellschaft wer<strong>de</strong> die Bedürfnisse je<strong>de</strong>s einzelnen zum<br />
Maßstabe <strong>de</strong>r Verteilung machen können. 2<br />
Soviel ist je<strong>de</strong>nfalls gewiß, daß die Voraussetzung für die Anerkennung<br />
eines Rechtes auf Existenz in <strong>de</strong>m Sinne, in <strong>de</strong>m es von <strong>de</strong>n<br />
Theoretikern <strong>de</strong>s Sozialismus gefor<strong>de</strong>rt wird, nur durch die<br />
Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel geschaffen wer<strong>de</strong>n könnte.<br />
Anton Menger hat zwar die Anschauung vertreten, daß sich die Fortdauer<br />
<strong>de</strong>r privatrechtlichen Ordnung neben <strong>de</strong>m Recht auf Existenz recht wohl<br />
<strong>de</strong>nken lasse. Die Ansprüche aller Staatsbürger auf Befriedigung ihrer<br />
Existenzbedürfnisse wären in diesem Falle gleichsam als eine Hypothek<br />
zu betrachten, die auf <strong>de</strong>m Nationaleinkommen ruht und berichtigt wer<strong>de</strong>n<br />
muß, bevor einzelnen begünstigten Personen ein arbeitsloses Einkommen<br />
gewährt wer<strong>de</strong>n kann. Doch auch er muß zugeben, daß eine vollständige<br />
Durchführung <strong>de</strong>s Rechtes auf Existenz von <strong>de</strong>m arbeitslosen Einkommen<br />
einen so be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Teil in Anspruch nehmen und das Privateigentum<br />
seines wirtschaftlichen Nutzens so sehr entklei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, daß dieses sich<br />
bald in Kollektiveigentum verwan<strong>de</strong>ln müßte. 3 Hätte Menger nicht<br />
übersehen, daß das Recht auf Existenz schwerlich an<strong>de</strong>rs gehandhabt<br />
wer<strong>de</strong>n könnte <strong>de</strong>nn als Recht auf gleich-<br />
1 Vgl. Malthus, An Essay on the Principle of Population, Fifth Ed., London 1817, III.<br />
Bd., S. 154 ff.<br />
2 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen Parteiprogramms von Gotha, herg.<br />
von Kreibich, Reichenberg 1920, S. 17.<br />
3 Vgl. Anton Menger, Das Recht auf <strong>de</strong>n vollen Arbeitsertrag, a. a. O., S. 10.
40<br />
mäßige Verteilung <strong>de</strong>r Genußgüter, so hätte er seine grundsätzliche<br />
Verträglichkeit mit <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln nicht<br />
behaupten können.<br />
Das Recht auf Arbeit steht in engstem Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Recht<br />
auf Existenz. 1 Der Gedanke, <strong>de</strong>r ihm zugrun<strong>de</strong> liegt, ist zunächst nicht <strong>de</strong>r<br />
eines Rechtes auf Arbeit als vielmehr <strong>de</strong>r einer Pflicht zur Arbeit. Die<br />
Gesetze, die <strong>de</strong>m Arbeitsunfähigen eine Art Anspruch auf Versorgung<br />
einräumen, schließen <strong>de</strong>n Arbeitsfähigen von dieser Begünstigung ans;<br />
ihm wird nur ein Anspruch auf Zuweisung von Arbeit zugestan<strong>de</strong>n. Die<br />
sozialistischen Schriftsteller und, ihnen folgend, die ältere sozialistische<br />
Politik haben freilich einen an<strong>de</strong>ren Begriff von diesem Rechte. Sie<br />
verwan<strong>de</strong>ln es, mehr o<strong>de</strong>r weniger <strong>de</strong>utlich, in einen Anspruch auf eine<br />
<strong>de</strong>n Neigungen und Fähigkeiten <strong>de</strong>s Arbeiters entsprechen<strong>de</strong> und zugleich<br />
einen seinen Existenzbedürfnissen genügen<strong>de</strong>n Lohn abwerfen<strong>de</strong> Arbeit.<br />
Dem Recht auf Arbeit in diesem erweiterten Sinne liegt dieselbe<br />
Anschauung zugrun<strong>de</strong>, die das Recht auf Existenz hat entstehen lassen,<br />
daß nämlich im „natürlichen“ Zustan<strong>de</strong> - <strong>de</strong>n man sich vor und außerhalb<br />
<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung zu <strong>de</strong>nken<br />
hat, und <strong>de</strong>r nach ihrer Beseitigung durch eine sozialistische Verfassung<br />
sogleich wie<strong>de</strong>r hergestellt wer<strong>de</strong>n könnte - je<strong>de</strong>rmann imstan<strong>de</strong> wäre,<br />
sich durch Arbeit ein auskömmliches Einkommen zu beschaffen. Die<br />
bürgerliche Gesellschaft, <strong>de</strong>r die Beseitigung dieser befriedigen<strong>de</strong>n<br />
Verhältnisse zur Last falle, schul<strong>de</strong> <strong>de</strong>n dadurch Geschädigten ein<br />
Äquivalent <strong>de</strong>ssen, um das sie gebracht wur<strong>de</strong>n, und dieses Äquivalent<br />
soll eben das Recht auf Arbeit darstellen. Man sieht, es ist immer wie<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>rselbe Wahn von <strong>de</strong>n schon durch die Natur selbst außerhalb <strong>de</strong>r<br />
geschichtlich gewor<strong>de</strong>nen Gesellschaft <strong>de</strong>n Menschen gewährten<br />
ausreichen<strong>de</strong>n Unterhaltsmöglichkeiten. Doch die Natur kennt und<br />
gewährt überhaupt keine Rechte, und gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Umstand, daß sie die<br />
Unterhaltsmittel gegenüber einem praktisch unbegrenzten Bedarf nur<br />
kärglich spen<strong>de</strong>t, ist es, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Menschen zum Wirtschaften nötigt. Aus<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft aber entspringt erst die gesellschaftliche Zusammenarbeit,<br />
aus keinem an<strong>de</strong>ren Grun<strong>de</strong> als aus <strong>de</strong>m, daß sie die Produktivität erhöht<br />
und die Versorgung verbessert. Die <strong>de</strong>n naivsten naturrechtlichen<br />
Theorien entlehnte Vorstellung, daß die Gesellschaft die Lage <strong>de</strong>s<br />
1<br />
Ebendort S. 10 ff.; vgl. ferner Singer-Sieghart, Das Recht auf Arbeit in<br />
geschichtlicher Darstellung, Jena 1895, S. 1 ff.; Mutasoff, Zur Geschichte <strong>de</strong>s Rechts auf<br />
Arbeit mit beson<strong>de</strong>rer Rücksicht auf Charles Fourier, Bern 1897, S. 4 ff.
41<br />
Individuums, das sich „im freien Urstand <strong>de</strong>r Natur" wohler befun<strong>de</strong>n<br />
habe, verschlechtert habe und sich von ihm die Duldung gewissermaßen<br />
erst durch Einräumung von beson<strong>de</strong>ren Rechten erkaufen müsse, bil<strong>de</strong>t<br />
<strong>de</strong>n Kern <strong>de</strong>r Ausführungen aller Vorkämpfer <strong>de</strong>s Rechtes auf Arbeit<br />
ebenso wie <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Rechtes auf Existenz.<br />
Im statischen Zustand <strong>de</strong>r Volkswirtschaft gibt es keine unbeschäftigten<br />
Arbeitskräfte. Die Arbeitslosigkeit ist eine Folge <strong>de</strong>r<br />
Einwirkung dynamischer Kräfte, sie ist stets nur eine Übergangserscheinung,<br />
und das freie Spiel <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Faktoren hat immer<br />
wie<strong>de</strong>r die Ten<strong>de</strong>nz, sie zum Verschwin<strong>de</strong>n zu bringen. Durch<br />
zweckentsprechen<strong>de</strong> Einrichtungen, wie zum Beispiel durch Ausgestaltung<br />
<strong>de</strong>r Arbeitsvermittlung, die sich auf <strong>de</strong>m unbehin<strong>de</strong>rten<br />
Markte, d. i. bei voller Freizügigkeit <strong>de</strong>r Person und bei Aufhebung aller<br />
die Berufswahl und <strong>de</strong>n Berufswechsel erschweren<strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m<br />
Wirtschaftsmechanismus heraus entwickeln wür<strong>de</strong>n, könnte man die<br />
Dauer <strong>de</strong>r einzelnen Fälle von Arbeitslosigkeit so sehr verkürzen, daß sie<br />
kaum noch als ein ernstes Übel empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n könnte. Doch das<br />
Verlangen, je<strong>de</strong>m Bürger einen Anspruch auf Beschäftigung in seinem<br />
gewohnten Berufe zu einem Lohn zuzugestehen, <strong>de</strong>r hinter <strong>de</strong>m Lohnsatz<br />
an<strong>de</strong>rer Arbeit, die gera<strong>de</strong> stärker gesucht wird, nicht zurückbleibt, ist<br />
ganz und gar verkehrt. Die Wirtschaft kann ein Mittel zur Erzwingung <strong>de</strong>s<br />
Berufswechsels nicht entbehren. In dieser Gestalt ist das Recht auf Arbeit<br />
nicht nur in einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung schlechterdings undurchführbar. Auch<br />
das sozialistische Gemeinwesen könnte <strong>de</strong>m Arbeiter nicht das Recht<br />
zugestehen, gera<strong>de</strong> in seinem gewohnten Berufe tätig zu sein; es müßte<br />
die Befugnis haben, die Arbeitskräfte dort zu verwen<strong>de</strong>n, wo sie gera<strong>de</strong><br />
benötigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Die drei ökonomischen Grundrechte - ihre Zahl ließe sich Übrigens<br />
noch leicht vermehren - gehören einer überwun<strong>de</strong>nen Epoche <strong>de</strong>r sozialen<br />
Reformbestrebungen an. Sie sind heute nur noch als volkstümliche<br />
Schlagwörter von wirksamer Werbekraft von Be<strong>de</strong>utung. Das soziale<br />
Reformprogramm, das sie alle verdrängt hat, ist <strong>de</strong>r Sozialismus mit<br />
seiner For<strong>de</strong>rung nach Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel.<br />
§ 3. Der Gegensatz von Realismus und Nominalismus, <strong>de</strong>r die<br />
Geschichte <strong>de</strong>s menschlichen Denkens seit Plato und Aristoteles
42<br />
durchzieht, tritt auch in <strong>de</strong>r Sozialphilosophie zutage. 1 Durch die Stellung,<br />
die sie <strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verbän<strong>de</strong> gegenüber<br />
einnehmen, schei<strong>de</strong>n sich Kollektivismus und Individualismus nicht<br />
an<strong>de</strong>rs wie Universalismus und Nominalismus durch die Stellung zum<br />
Problem <strong>de</strong>r Gattungsbegriffe. Doch auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sozialwissenschaft<br />
gewinnt dieser Gegensatz, <strong>de</strong>r schon in <strong>de</strong>r Philosophie<br />
durch die Stellung zum Gottesbegriff zu einer weit über die Grenzen <strong>de</strong>r<br />
wissenschaftlichen Forschung hinausgehen<strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utung gelangt,<br />
höchste politische Wichtigkeit. Aus <strong>de</strong>m Gedankensystem <strong>de</strong>s<br />
Kollektivismus holen die Mächte, die sind und nicht weichen wollen, die<br />
Waffen zur Verteidigung ihrer Rechte. Der Nominalismus ist aber auch<br />
hier die Kraft. die nie ruht und immer weiter will. Wie er in <strong>de</strong>r<br />
Philosophie die alten Begriffe <strong>de</strong>r metaphysischen Spekulation auflöst, so<br />
zerschlägt er auch die Metaphysik <strong>de</strong>s soziologischen Kollektivismus.<br />
Der politische Mißbrauch <strong>de</strong>s ursprünglich nur erkenntnistheoretischen<br />
Gegensatzes wird in <strong>de</strong>r teleologischen Gestalt, die er in <strong>de</strong>r Ethik und<br />
Politik unversehens annimmt, <strong>de</strong>utlich sichtbar. Hier wird das Problem<br />
an<strong>de</strong>rs gestellt als in <strong>de</strong>r reinen Philosophie. Ob <strong>de</strong>r Einzelne o<strong>de</strong>r ob die<br />
Gesamtheit <strong>de</strong>r Zweck sein soll, lautet die Frage. 2 Damit wird ein<br />
Gegensatz zwischen <strong>de</strong>n Zwecken <strong>de</strong>r Individuen und jenen <strong>de</strong>r<br />
Kollektivgebil<strong>de</strong> vorausgesetzt, <strong>de</strong>r nur durch Opferung <strong>de</strong>r einen<br />
zugunsten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann. Aus <strong>de</strong>m Streit über die<br />
Realität o<strong>de</strong>r Nominalität <strong>de</strong>r Begriffe wird ein Streit über <strong>de</strong>n Vorrang<br />
<strong>de</strong>r Zwecke. Für <strong>de</strong>n Kollektivismus entsteht dabei eine neue<br />
Schwierigkeit. Da es verschie<strong>de</strong>ne gesellschaftliche Kollektiva gibt, <strong>de</strong>ren<br />
Zwecke gera<strong>de</strong> so einan<strong>de</strong>r zuwi<strong>de</strong>r zu laufen scheinen wie die <strong>de</strong>r<br />
einzelnen und die <strong>de</strong>r Kollektiva, muß <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstreit ihrer Interessen<br />
ausgetragen wer<strong>de</strong>n. Der praktische Kollektivismus kümmert sich freilich<br />
wenig darum. Er fühlt sich nur als Apologetik <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Mächte<br />
und dient als Polizeiwissenschaft ebenso bereitwillig <strong>de</strong>m Schutze jener,<br />
die gera<strong>de</strong> am Ru<strong>de</strong>r sitzen, wie die politische Polizei.<br />
Der Gegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus<br />
1 Vgl. Pribram, Die Entstehung <strong>de</strong>r individualistischen Sozialphilosophie, Leipzig 1912, S.<br />
3 ff.<br />
2<br />
So formuliert Dietzel (Artikel „Individualismus“ im Handwörterbuch <strong>de</strong>r<br />
Staatswissenschaften, 3. Aufl., V. Bd., S. 590) <strong>de</strong>n Gegensatz von Individualprinzip und<br />
Sozialprinzip. Ähnlich Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920, S. 14.
43<br />
wird durch die individualistische Sozialphilosophie <strong>de</strong>s Aufklärungszeitalters<br />
überwun<strong>de</strong>n. Sie wird als individualistisch bezeichnet, weil ihre<br />
erste Arbeit die Freilegung <strong>de</strong>s Weges für je<strong>de</strong> spätere Sozialphilosophie<br />
durch Auflösung <strong>de</strong>r Begriffe <strong>de</strong>s herrschen<strong>de</strong>n Kollektivismus gewesen<br />
ist. Doch sie hat keineswegs an Stelle <strong>de</strong>r zertrümmerten Götzenbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Kollektivismus <strong>de</strong>n Kult <strong>de</strong>s Individuums gesetzt. In<strong>de</strong>m sie die Lehre<br />
von <strong>de</strong>r Harmonie <strong>de</strong>r Interessen zum Ausgangspunkt <strong>de</strong>s soziologischen<br />
Denkens macht, begrün<strong>de</strong>t sie die mo<strong>de</strong>rne Sozialwissenschaft und zeigt,<br />
daß jener Gegensatz <strong>de</strong>r Zwecke, um <strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>r Streit drehte, in<br />
Wahrheit gar nicht bestehe. Denn nur so sei Gesellschaft überhaupt<br />
möglich, daß das Individuum in ihr eine Verstärkung seines eigenen Ichs<br />
und seines eigenen Wollens fin<strong>de</strong>t.<br />
Nicht aus einem innerem Bedürfnis <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen wissenschaftlichen<br />
Denkens son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>m politischen Wollen eines Romantik und<br />
Mystizismus for<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Zeitalters schöpft das kollektivistische Streben<br />
<strong>de</strong>r Gegenwart seine Kraft. Geistige Bewegungen sind Auflehnung <strong>de</strong>s<br />
Denkens gegen die Trägheit, <strong>de</strong>r Wenigen gegen die Vielen, <strong>de</strong>rer, die<br />
allein am stärksten sind, weil sie im Geiste stark sind, gegen die, die sich<br />
nur im Haufen und in <strong>de</strong>r Hor<strong>de</strong> fühlen und nur zählen, weil sie zahlreich<br />
sind. Der Kollektivismus ist das Gegenteil von alle <strong>de</strong>m, er ist die Waffe<br />
<strong>de</strong>rer, die <strong>de</strong>n Geist und das Denken ertöten wollen. So gebiert er <strong>de</strong>n<br />
„neuen Götzen“, „das kälteste aller kalten Ungeheuer“, <strong>de</strong>n Staat. 1 In<strong>de</strong>m<br />
er dieses geheimnisvolle Wesen zum Abgott erhebt, es in ausschweifen<strong>de</strong>r<br />
Phantasie mit allen Vorzügen schmückt und von allen Schlacken reinigt 2 ,<br />
und seine Bereitwilligkeit ausspricht, ihm alles zu opfern, will er bewußt<br />
je<strong>de</strong>s Band zerschnei<strong>de</strong>n, das das soziologische Denken mit <strong>de</strong>m Denken<br />
<strong>de</strong>r Wissenschaft verbin<strong>de</strong>t. Das wird am <strong>de</strong>utlichsten bei jenen Denkern<br />
sichtbar, die das wissenschaftliche Denken mit schärfster Kritik von aller<br />
Vermengung mit teleologischen. Elementen zu befreien suchten, während<br />
sie auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Erkenntnis nicht nur in <strong>de</strong>n<br />
überkommenen Vorstellungen und Denkweisen <strong>de</strong>r Teleologie verharrten,<br />
son<strong>de</strong>rn selbst<br />
1 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (Werke, Krönersche Klassiker-Ausgabe, VI. Bd.)<br />
S. 73.<br />
2 „L’État étant conçu comme un être idéal, on le pare <strong>de</strong> toutes les qualités que l‘on<br />
rêve et on le déponille <strong>de</strong> toutes les faiblesses que l‘on hait.“ (P. Leroy-Beaulieu, L’État<br />
mo<strong>de</strong>rne et ses functions, Troisiéme Éd., Paris 1900, S. 11); Vgl. auch Bamberger,<br />
Deutschland und <strong>de</strong>r Sozialismus, Leipzig 1878, S. 86 ff.
44<br />
durch das Bestreben, eine Rechtfertigung für dieses Verfahren zu fin<strong>de</strong>n,<br />
von Neuem <strong>de</strong>n Weg verrammelten, auf <strong>de</strong>m die Soziologie sich zur<br />
Freiheit <strong>de</strong>s Denkens, das die Naturwissenschaft eben für sich gewonnen<br />
hatte, hätte durchkämpfen können. Für Kants Naturerkenntnis lebt kein<br />
Gott und kein Lenker <strong>de</strong>r Natur, doch die Geschichte sieht er „als die<br />
Vollziehung eines verborgenen Planes <strong>de</strong>r Natur“ an, „um eine innerlich -<br />
und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich - vollkommene Staatsverfassung<br />
zustan<strong>de</strong> zu bringen, als <strong>de</strong>n einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre<br />
Anlagen in <strong>de</strong>r Menschheit entwickeln kann“. 1 Es ist bei Kant beson<strong>de</strong>rs<br />
<strong>de</strong>utlich zu erkennen, daß <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Kollektivismus mit <strong>de</strong>m alten Begriffsrealismus<br />
nichts mehr zu tun hat, vielmehr, aus politischen, nicht aus<br />
philosophischen Bedürfnissen entsprungen, eine Son<strong>de</strong>rstellung außerhalb<br />
<strong>de</strong>r Wissenschaft einnimmt, die durch erkenntniskritische Angriffe nicht<br />
erschüttert wer<strong>de</strong>n kann. Im zweiten Teile seiner „I<strong>de</strong>en zu einer<br />
Philosophie <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit“ hatte Her<strong>de</strong>r die kritische<br />
Philosophie Kants, die ihm als „Averroische“ Hypostasierung <strong>de</strong>s<br />
Allgemeinen erschien, mit Heftigkeit angegriffen. Wenn jemand<br />
behaupten wollte, daß nicht <strong>de</strong>r einzelne Mensch, son<strong>de</strong>rn das Geschlecht<br />
das Subjekt <strong>de</strong>r Erziehung und Bildung sei, so spräche er unverständlich<br />
„da Geschlecht und Gattung mir allgemeine Begriffe sind, außer insofern<br />
sie, im einzelnen Wesen existieren“. Gäbe man diesem allgemeinen<br />
Begriff auch alle Vollkommenheiten <strong>de</strong>r Humanität, Kultur und höchsten<br />
Aufklärung, die ein i<strong>de</strong>alischer Begriff gestattet, so hätte man „zur wahren<br />
Geschichte unseres Geschlechtes ebensoviel gesagt, als wenn ich von <strong>de</strong>r<br />
Tierheit, <strong>de</strong>r Steinheit, <strong>de</strong>r Metallheit im allgemeinen spräche und sie mit<br />
<strong>de</strong>n herrlichsten, aber in einzelnen Individuen einan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n<br />
Attributen auszierte. 2 In <strong>de</strong>r Antwort, die Kant darauf erteilt hat, vollzieht<br />
er die Scheidung <strong>de</strong>s ethisch-politischen Kollektivismus vom<br />
philosophischem Begriffsrealismus. „Wer da sagte: kein einziges Pferd<br />
hat Hörner, aber die Pfer<strong>de</strong>gattung ist doch gehörnt, <strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> eine platte<br />
Ungereimtheit sagen. Denn Gattung be<strong>de</strong>utet dann nichts weiter als das<br />
Merkmal, worin gera<strong>de</strong> alle Individuen übereinstimmen müssen. Wenn<br />
aber Menschengattung das Ganze einer ins Unendliche (Unbestimmbare)<br />
gehen<strong>de</strong>n Reihe von Zeugungen<br />
1 Vgl. Kant, I<strong>de</strong>e zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht<br />
(Sämtliche Werke, Inselausgabe, 1. Bd., Leipzig 1912), S. 235.<br />
2 Vgl. Her<strong>de</strong>r, I<strong>de</strong>en zu einer Philosophie <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit (Sämtliche<br />
Werke, herg. v. Suphan, XIII. Bd., Berlin 1887), S. 845 f.
45<br />
be<strong>de</strong>utet, (wie dieser Sinn <strong>de</strong>nn ganz gewöhnlich ist) und es wird<br />
angenommen, daß diese Reihe <strong>de</strong>r Linie ihrer Bestimmung, die ihr zur<br />
Seite läuft, sich unaufhörlich nähere, so ist es kein Wi<strong>de</strong>rspruch, zu sagen:<br />
daß sie in allen ihren Teilen dieser asymptotisch sei, und doch im Ganzen<br />
mit ihr zusammenkomme, mit an<strong>de</strong>ren Worten, daß kein Glied aller<br />
Zeugungen <strong>de</strong>s Menschengeschlechtes, son<strong>de</strong>rn nur die Gattung ihre<br />
Bestimmung völlig erreiche. Der Mathematiker kann hierüber Erläuterung<br />
geben; <strong>de</strong>r Philosoph wür<strong>de</strong> sagen: die Bestimmung <strong>de</strong>s menschlichen<br />
Geschlechts im Ganzen ist unaufhörliches Fortschreiten, und die<br />
Vollendung <strong>de</strong>rselben ist eine bloße, aber in aller Absicht sehr nützliche<br />
I<strong>de</strong>e von <strong>de</strong>m Ziele, worauf wir, <strong>de</strong>r Absicht <strong>de</strong>r Vorsehung gemäß,<br />
unsere Bestrebungen zu richten haben“. 1 Hier wird <strong>de</strong>r teleologische<br />
Charakter <strong>de</strong>s Kollektivismus offen zugegeben, und damit tut sich<br />
zwischen ihm und <strong>de</strong>r Denkweise <strong>de</strong>r reinen Erkenntnis ein Abgrund auf,<br />
<strong>de</strong>r nicht überbrückt wer<strong>de</strong>n kann. Die Erkenntnis <strong>de</strong>r verborgenen<br />
Endabsicht <strong>de</strong>r Natur liegt jenseits aller Erfahrung; und unser Denken gibt<br />
uns nichts in die Hand, woraus wir auf ihren Bestand und auf ihren Inhalt<br />
einen Schluß ziehen könnten. Das Verhalten <strong>de</strong>r einzelnen Menschen und<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verbän<strong>de</strong>, das wir zu beobachten vermögen, läßt<br />
keine dahingehen<strong>de</strong> Annahme zu. Zwischen <strong>de</strong>r Erfahrung und <strong>de</strong>m, was<br />
wir annehmen sollen o<strong>de</strong>r wollen, läßt sich keine logische Verbindung<br />
herstellen; keine Hypothese kann uns über die Lücke, die hier klafft,<br />
hinweghelfen. Wir sollen glauben, weil es nicht bewiesen wer<strong>de</strong>n kann,<br />
daß <strong>de</strong>r Mensch gegen seinen Willen das tut, was die Natur will, die es<br />
besser weiß, was <strong>de</strong>m Geschlechte, nicht <strong>de</strong>m Einzelnen frommt. 2 Das ist<br />
nicht jenes Verfahren, das sonst in <strong>de</strong>r Wissenschaft üblich ist.<br />
Der Kollektivismus ist eben nicht aus wissenschaftlicher Notwendigkeit,<br />
son<strong>de</strong>rn allein aus <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>r Politik zu erklären.<br />
Darum bleibt er nicht wie <strong>de</strong>r Begriffsrealismus dabei stehen, die reale<br />
Existenz <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verbän<strong>de</strong> zu behaupten - sie als<br />
Organismen und Lebewesen im eigentlichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes zu<br />
bezeichnen -, er i<strong>de</strong>alisiert sie und erhebt sie als Götter in <strong>de</strong>n Himmel.<br />
Ganz offen und unverblümt erklärt Gierke, daß man an<br />
1 Vgl. Kant, Rezension zum zweiten Teil von Her<strong>de</strong>rs I<strong>de</strong>en zur Philosophie <strong>de</strong>r<br />
Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit (Werke, a. a. O., I. Bd.), S. 267. - Vgl. dazu Cassirer, Freiheit<br />
und Form, Berlin 1916, S. 504ff.<br />
2 Vgl. Kant, I<strong>de</strong>e zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a. a. O.,<br />
S. 228.
46<br />
„<strong>de</strong>m Gedanken <strong>de</strong>r realen Einheit <strong>de</strong>r Gemeinschaft" festhalten müsse,<br />
weil nur er allein es ermögliche, vom Einzelnen zu for<strong>de</strong>rn, daß er Kraft<br />
und Leben für Volk und Staat einsetze. 1 Daß <strong>de</strong>r Kollektivismus nichts<br />
an<strong>de</strong>res sei als „Bemäntelung <strong>de</strong>r Tyrannei“ hat schon Lessing<br />
ausgesprochen. 2<br />
Bestün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gegensatz von Allgemeininteresse <strong>de</strong>s Ganzen und<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen <strong>de</strong>r Einzelnen, so wie die kollektivistische Lehre es<br />
behauptet, dann wäre überhaupt gesellschaftliches Zusammenwirken <strong>de</strong>r<br />
Menschen unmöglich. Der natürliche Zustand <strong>de</strong>s Verkehrs zwischen <strong>de</strong>n<br />
Menschen wäre <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Krieges aller gegen alle. Frie<strong>de</strong>n und<br />
Sichvertragen könnte es nicht geben, nur vorübergehen<strong>de</strong> Waffenruhe, die<br />
nicht länger währen könnte als die Erschöpfung eines o<strong>de</strong>r aller Teile,<br />
durch die sie entstan<strong>de</strong>n. Der Einzelne wäre zumin<strong>de</strong>st potentiell immer in<br />
Auflehnung gegen das Ganze und gegen Alle, nicht an<strong>de</strong>rs wie er sich im<br />
ständigen Kampfe gegen Raubtiere und Bazillen befin<strong>de</strong>t. Die<br />
kollektivistische Geschichtsauffassung, die durchaus asozial ist, kann sich<br />
daher die Entstehung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verbän<strong>de</strong> nicht an<strong>de</strong>rs<br />
vorstellen <strong>de</strong>nn als Ergebnis <strong>de</strong>s Eingreifens eines Weltbildners von <strong>de</strong>r<br />
Art <strong>de</strong>s platonischen δηµιουζγός; dieser arbeitet in <strong>de</strong>r Geschichte durch<br />
seine Werkzeuge, die Heroen, die die wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>n Menschen dorthin<br />
führen, wohin er sie gebracht wissen will. So wird <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s<br />
Einzelnen gebrochen. Das Individuum, das sich selbst leben will, wird<br />
durch die Statthalter Gottes auf Er<strong>de</strong>n zur Befolgung <strong>de</strong>s Sittengesetzes<br />
gezwungen, das im Interesse <strong>de</strong>s Ganzen und seiner künftigen<br />
Entwicklung von ihm das Opfer seines Wohlseins heischt.<br />
Die Wissenschaft von <strong>de</strong>r Gesellschaft beginnt damit, daß sie diesen<br />
Dualismus überwin<strong>de</strong>t. Da sie innerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft Verträglichkeit<br />
<strong>de</strong>r Interessen <strong>de</strong>r einzelnen Individuen untereinan<strong>de</strong>r sieht und keinen<br />
Gegensatz zwischen <strong>de</strong>r Gesamtheit und <strong>de</strong>m Einzelnen fin<strong>de</strong>t, vermag sie<br />
<strong>de</strong>n Bestand <strong>de</strong>r Gesellschaft zu verstehen, ohne erst Götter und Hel<strong>de</strong>n<br />
zur Hilfe zu rufen. Der Demiurg, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Einzelnen wie<strong>de</strong>r seinen Willen<br />
in das Kollektivum hineinzwingt, wird entbehrlich, sobald man erkannt<br />
hat, daß die gesellschaftliche Bindung <strong>de</strong>m Einzelnen mehr gibt, als sie<br />
ihm nimmt. Die Entwicklung zu engeren Formen <strong>de</strong>r Vergesellschaftung<br />
wird auch ohne<br />
1 Vgl. Gierke, Das Wesen <strong>de</strong>r menschlichen Verbän<strong>de</strong>, Leipzig 1902, S.34 f.<br />
2 In „Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer“ (Werke, Stuttgart 1873, V. Bd., S. 80).
47<br />
die Annahme eines „verborgenen Planes <strong>de</strong>r Natur“ verständlich, wenn<br />
man begriffen hat, daß je<strong>de</strong>r neue Schritt auf diesem Wege schon <strong>de</strong>nen,<br />
die ihn machen, nützt, nicht erst ihren entfernten Urenkeln.<br />
Der Kollektivismus wußte <strong>de</strong>r neuen Gesellschaftstheorie nichts<br />
entgegenzusetzen. Wenn er ihr immer wie<strong>de</strong>r zum Vorwurf macht, daß sie<br />
die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Kollektiva, vor allem die <strong>de</strong>s Staates und <strong>de</strong>r Nation,<br />
verkenne, so zeigt er nur, daß er von <strong>de</strong>r Wandlung, die sich unter <strong>de</strong>m<br />
Einfluß <strong>de</strong>r liberalen Soziologie in <strong>de</strong>r Problemstellung selbst vollzogen<br />
hat, nichts bemerkt hat. Der Kollektivismus hat es nicht mehr dazu<br />
gebracht, ein geschlossenes System <strong>de</strong>s Gesellschaftslebens aufzustellen;<br />
alles, was er zu sagen wußte, waren im besten Falle geistreiche<br />
Aphorismen, nicht mehr. Er hat sich durchaus unfruchtbar erwiesen; wie<br />
in <strong>de</strong>r allgemeinen Soziologie so hat er auch in <strong>de</strong>r Nationalökonomie<br />
nichts geleistet. Es ist kein Zufall, daß <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Geist, ganz beherrscht<br />
von <strong>de</strong>n Sozialtheorien <strong>de</strong>r klassischen Philosophie von Kant bis Hegel,<br />
lange in <strong>de</strong>r Nationalökonomie nur Unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s hervorgebracht hat,<br />
und daß die, die <strong>de</strong>n Bann gebrochen haben, zuerst Thänen und Gossen,<br />
dann die Österreicher Karl Menger, Böhm-Bawerk und Wieser, von<br />
je<strong>de</strong>m Einflusse <strong>de</strong>r kollektivistischen Staatsphilosophie frei waren.<br />
Wie wenig <strong>de</strong>r Kollektivismus die Schwierigkeiten, die <strong>de</strong>m Ausbau<br />
seiner Lehre im Wege stehen, zu überwin<strong>de</strong>n vermochte, zeigt am besten<br />
die Behandlung, die er <strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>s Sozialwillens hat zuteil wer<strong>de</strong>n<br />
lassen. Damit, daß man immer wie<strong>de</strong>r vom Willen <strong>de</strong>s Staates, vom<br />
Volkswillen, von <strong>de</strong>r Volksüberzeugung spricht, hat man das Problem<br />
keineswegs gelöst. Die Frage, wie sich <strong>de</strong>r Kollektivwillen <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Verbän<strong>de</strong> bil<strong>de</strong>t, bleibt unbeantwortet. Da er von <strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>r einzelnen Individuen nicht nur verschie<strong>de</strong>n ist, ihm vielmehr in<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Punkten gera<strong>de</strong>zu entgegensteht, kann er nicht als Summe<br />
o<strong>de</strong>r als Resultieren<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Einzelwillen entstehen. Je<strong>de</strong>r Kollektivist<br />
nimmt nach seiner politischen, religiösen o<strong>de</strong>r nationalen Überzeugung<br />
eine an<strong>de</strong>re Quelle für die Emanation <strong>de</strong>s Kollektivwillens an. Es ist im<br />
Grun<strong>de</strong> genommen einerlei, ob man dabei an die übernatürlichen Kräfte<br />
eines Königs o<strong>de</strong>r Priesters <strong>de</strong>nkt, ob man gleich eine ganze Kaste o<strong>de</strong>r<br />
gar ein ganzes Volk für auserwählt ansieht. Friedrich Wilhelm IV. und<br />
Wilhelm II. waren in ihrem Herzen voll <strong>de</strong>r Überzeugung durchdrungen,<br />
daß Gott sie selbst mit beson<strong>de</strong>rer Autorität beklei<strong>de</strong>t
48<br />
habe, und dieser Glaube war ihnen zweifellos Ansporn zur höchsten<br />
Kraftentfaltung und Gewissenhaftigkeit, <strong>de</strong>ren sie nur fähig waren. Viele<br />
Zeitgenossen haben ganz wie sie gedacht und waren bereit, <strong>de</strong>m ihnen von<br />
Gott gesetzten König bis zum letzten Blutstropfen zu dienen. Doch die<br />
Wissenschaft ist ebensowenig in <strong>de</strong>r Lage, <strong>de</strong>n Beweis für die Wahrheit<br />
dieses Glaubens zu erbringen, wie sie die Wahrheit einer religiösen Lehre<br />
zu erweisen vermag. Der Kollektivismus ist eben nicht Wissenschaft,<br />
son<strong>de</strong>rn Politik; was er lehrt, sind Werturteile.<br />
Der Kollektivismus ist im allgemeinen für die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel, weil dies seiner Weltanschauung näher liegt. Doch es<br />
gibt auch Kollektivisten, die für das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln eintreten, weil sie dadurch das Wohl <strong>de</strong>s sozialen<br />
Ganzen, wie sie es sich vorstellen, besser gewährleistet sehen. 1<br />
An<strong>de</strong>rerseits kann man auch ohne je<strong>de</strong> Beeinflussung durch<br />
kollektivistische I<strong>de</strong>en zur Anschauung gelangen, daß das Son<strong>de</strong>reigentum<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln weniger geeignet ist, die menschlichen<br />
Zwecke zu erfüllen, als das Gemeineigentum.<br />
III.<br />
Gesellschaftsordnung und politische Verfassung.<br />
§ 1. Die Herrschaft <strong>de</strong>s Gewaltprinzips bleibt naturgemäß nicht auf das<br />
Eigentum allein beschränkt. Der Geist, <strong>de</strong>r allein auf die nackte Gewalt<br />
vertraut und die Grundlagen <strong>de</strong>r Wohlfahrt nicht im Vertragen, son<strong>de</strong>rn<br />
im fortwähren<strong>de</strong>n Kämpfen sucht, durchdringt das ganze Leben. Alle<br />
menschlichen Beziehungen wer<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m Recht <strong>de</strong>s Stärkeren, das in<br />
Wahrheit Negation <strong>de</strong>s Rechts ist, geregelt. Es gibt keinen Frie<strong>de</strong>n, es gibt<br />
höchstens Waffenstillstand.<br />
Die Gesellschaft baut sich von <strong>de</strong>n kleinsten Verbän<strong>de</strong>n aus auf. Der<br />
Kreis jener, die sich zusammentun, um untereinan<strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>n zu halten,<br />
ist zunächst sehr eng; er erweitert sich schrittweise im Laufe <strong>de</strong>r<br />
Jahrtausen<strong>de</strong>, bis die Völkerrechtsgemeinschaft, <strong>de</strong>r weiteste Rechts- und<br />
Frie<strong>de</strong>nsverband, sich auf <strong>de</strong>n größten Teil <strong>de</strong>r Menschheit erstreckte und<br />
nur die auf <strong>de</strong>r untersten Stufe <strong>de</strong>r Kultur dahinleben<strong>de</strong>n halbwil<strong>de</strong>n<br />
Völkerschaften ausschloß. Inner-<br />
1<br />
Vgl. Huth, Soziale und individualistische Auffassung im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt,<br />
vornehmlich bei Adam Smith und Adam Ferguson, Leipzig 1907, S. 6.
49<br />
halb dieser Gemeinschaft hatte das Vertragsprinzip nicht überall die<br />
gleiche Kraft erreicht. Am vollständigsten gelangte es zur Anerkennung in<br />
allem, was mit <strong>de</strong>m Eigentum in Zusammenhang steht. Am schwächsten<br />
blieb es auf <strong>de</strong>n Gebieten, wo es die Frage <strong>de</strong>r politischen Herrschaft<br />
berührt. In allem, was die Außenpolitik berührt, ist es heute nicht viel<br />
weiter vorgedrungen als bis zur Beschränkung <strong>de</strong>s Gewaltprinzips durch<br />
die Aufstellung von Kampfregeln. Der Prozeß zwischen Staaten spielt<br />
sich, von <strong>de</strong>m ganz jungen Schiedsgerichtsverfahren abgesehen, noch in<br />
<strong>de</strong>n Formen ab, die für das älteste Gerichtsverfahren üblich waren; er ist<br />
im wesentlichen auf die Entscheidung <strong>de</strong>r Waffen gestellt, nur daß <strong>de</strong>r<br />
Kampf, aus <strong>de</strong>m sie hervorgehen soll, ähnlich <strong>de</strong>m gerichtlichen<br />
Zweikampf <strong>de</strong>r alten Rechte, an bestimmte Regeln gebun<strong>de</strong>n ist. Dennoch<br />
wäre es nicht richtig, zu behaupten, daß im Verkehr <strong>de</strong>r Staaten<br />
untereinan<strong>de</strong>r die Furcht vor frem<strong>de</strong>r Gewalt so ziemlich das einzige sei,<br />
was <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>r eigenen Stärke beschränke. 1 Auch in <strong>de</strong>r<br />
auswärtigen Politik <strong>de</strong>r Staaten sind seit Jahrtausen<strong>de</strong>n Kräfte wirksam,<br />
die <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns über <strong>de</strong>n eines siegreichen Krieges stellen.<br />
Kein noch so mächtiger Kriegsherr kann sich in unserer Zeit ganz <strong>de</strong>m<br />
Einfluß <strong>de</strong>s Rechtsatzes entziehen, daß Kriege nur aus triftigen Ursachen<br />
begonnen wer<strong>de</strong>n dürfen; in <strong>de</strong>m Bestreben aller Kriegführen<strong>de</strong>n, ihre<br />
Sache als die gerechte und ihren Kampf als Verteidigung, zumin<strong>de</strong>st als<br />
Präventivverteidigung, keineswegs aber als Angriff hinzustellen, liegt<br />
gera<strong>de</strong>zu eine feierliche Anerkennung <strong>de</strong>s Rechts- und Frie<strong>de</strong>nsprinzips.<br />
Je<strong>de</strong> Politik, die sich offen zum Gewaltprinzip bekannt hat, hat gegen sich<br />
eine Weltkoalition herausgefor<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>r sie endlich erlegen ist.<br />
Die Überwindung <strong>de</strong>s Gewaltprinzips durch das Frie<strong>de</strong>nsprinzip wird<br />
<strong>de</strong>m menschlichen Geiste in <strong>de</strong>r liberalen Sozialphilosophie bewußt, in<br />
<strong>de</strong>r sich die Menschheit zum erstenmal über ihr Han<strong>de</strong>ln Rechenschaft<br />
gibt. Sie zerreißt <strong>de</strong>n romantischen Nimbus, mit <strong>de</strong>m die Ausübung <strong>de</strong>r<br />
Gewalt bis dahin umgeben war. Krieg ist schädlich, nicht nur für die<br />
Besiegten, son<strong>de</strong>rn auch für die Sieger. Durch Werke <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns ist die<br />
Gesellschaft entstan<strong>de</strong>n, ihr Wesen ist Frie<strong>de</strong>nsstiftung. Nicht <strong>de</strong>r Krieg,<br />
<strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>n ist <strong>de</strong>r Vater aller Dinge. Nur durch wirtschaftliche Arbeit ist<br />
<strong>de</strong>r Wohlstand um uns herum entstan<strong>de</strong>n; Arbeit, nicht Waffenhandwerk<br />
bringt<br />
1 Wie dies z. B. Lasson, Prinzip und Zukunft <strong>de</strong>s Völkerrechts, Berlin 1871, S. 35,<br />
behauptet.
50<br />
<strong>de</strong>n Völkern Glück. Der Frie<strong>de</strong>n baut auf, <strong>de</strong>r Krieg reißt nie<strong>de</strong>r. Die<br />
Völker sind durchaus friedfertig, weil sie <strong>de</strong>n überwiegen<strong>de</strong>n Nutzen <strong>de</strong>s<br />
Frie<strong>de</strong>ns erkennen; sie wollen <strong>de</strong>n Krieg nur als Abwehr, <strong>de</strong>r Gedanke<br />
eines Angriffskrieges liegt ihnen fern. Die Fürsten allein sind kriegslustig,<br />
weil sie durch <strong>de</strong>n Krieg Geld und Gut und neue Macht zu gewinnen<br />
hoffen. Sache <strong>de</strong>r Völker ist es ihnen zu wehren, in<strong>de</strong>m sie die<br />
Bereitstellung <strong>de</strong>r Mittel für die Kriegführung verweigern.<br />
Die Frie<strong>de</strong>nsliebe <strong>de</strong>s Liberalismus entspringt nicht philantropischen<br />
Erwägungen wie <strong>de</strong>r Pazifismus Bertha Suttners und an<strong>de</strong>rer<br />
Frie<strong>de</strong>nsfreun<strong>de</strong> <strong>de</strong>sselben Schlages. Er hat nichts von dieser<br />
Wehleidigkeit, die die Romantik <strong>de</strong>s Blutrausches mit <strong>de</strong>r Nüchternheit<br />
internationaler Kongresse zu bekämpfen strebt. Seine Vorliebe für <strong>de</strong>n<br />
Frie<strong>de</strong>n ist nicht ein Wohltätigkeitssport, <strong>de</strong>r sich im übrigen mit allen<br />
möglichen Gesinnungen verträgt; sie entspricht seiner ganzen<br />
Gesellschaftstheorie, in die sie sich harmonisch einfügt. Wer die<br />
Solidarität <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Interessen aller Völker behauptet, wer <strong>de</strong>m<br />
Problem <strong>de</strong>s Umfanges <strong>de</strong>s Staatsgebietes und <strong>de</strong>r Staatsgrenzen ganz<br />
gleichgültig gegenübersteht, wer die kollektivistischen Vorstellungen so<br />
sehr überwun<strong>de</strong>n hat, daß ihm Ausdrücke wie „Ehre <strong>de</strong>s Staates“<br />
unverständlich klingen, kann nirgends einen triftigen Grund für<br />
Angriffskriege fin<strong>de</strong>n. Der liberale Pazifismus erwächst aus <strong>de</strong>m System<br />
<strong>de</strong>r liberalen Sozialphilosophie. Es sind zwei verschie<strong>de</strong>ne Äußerungen<br />
eines und <strong>de</strong>sselben Grundsatzes, wenn er das Eigentum geschützt wissen<br />
will und wenn er <strong>de</strong>n Krieg verwirft. 1<br />
§ 2. In <strong>de</strong>r inneren Politik verlangt <strong>de</strong>r Liberalismus sowohl volle<br />
Freiheit wie jeglicher so auch <strong>de</strong>r politischen Meinungsäußerung und<br />
Betätigung als auch Ausrichtung <strong>de</strong>s Staates nach <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r<br />
Mehrheit <strong>de</strong>s Volkes: Gesetzgebung durch Vertreter <strong>de</strong>s Volkes, Bindung<br />
<strong>de</strong>r Regierung, die ein Ausschuß <strong>de</strong>r Volksvertreter ist,<br />
1 In ihrem Bestreben, alles Böse auf das Schuldkonto <strong>de</strong>s Kapitalismus zu setzen,<br />
haben die Sozialisten es selbst versucht, <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Imperialismus und damit <strong>de</strong>n<br />
Weltkrieg als Produkte <strong>de</strong>s Kapitalismus zu bezeichnen. Es ist wohl nicht notwendig, sich<br />
mit diesem auf die Urteilslosigkeit <strong>de</strong>r Masse berechneten Theorem eingehen<strong>de</strong>r zu<br />
befassen. Doch scheint es nicht unangebracht zu sein, daran zu erinnern, daß Kant <strong>de</strong>n<br />
Sachverhalt richtig dargestellt hat, wenn er vom wachsen<strong>de</strong>n Einfluß <strong>de</strong>r „Geldmacht“ die<br />
allmähliche Abnahme <strong>de</strong>r kriegerischen Neigungen erwartete. „Es ist <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>lsgeist“,<br />
sagt er, „<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Kriege nicht zusammen bestehen kann“. Vgl. Kant, Zum ewigen<br />
Frie<strong>de</strong>n (Sämtliche Werke, a. a. O., V. Bd., S. 688).
51<br />
an die Gesetze. Es ist nur ein Kompromiß, wenn sich <strong>de</strong>r Liberalismus mit<br />
<strong>de</strong>m Königtum abfin<strong>de</strong>t. Sein I<strong>de</strong>al bleibt die Republik o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st<br />
das Schattenfürstentum wie in England. Denn sein oberster politischer<br />
Grundsatz ist Selbstbestimmung <strong>de</strong>r Völker wie <strong>de</strong>r Einzelnen. Es ist<br />
mäßig, die Frage zu erörtern, ob man dieses politische I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>mokratisch<br />
nennen soll o<strong>de</strong>r nicht. Die neueren Schriftsteller neigen dazu, einen<br />
Gegensatz zwischen Liberalismus und Demokratie anzunehmen. Es<br />
scheint, daß sie dabei we<strong>de</strong>r von dieser noch von jener ganz klare<br />
Vorstellungen haben, und daß sie vor allem über <strong>de</strong>n legislativen Grund<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Einrichtungen I<strong>de</strong>en hegen, die ausschließlich <strong>de</strong>m<br />
naturrechtlichen Gedankenkreise entstammen.<br />
Nun ist es wohl richtig, daß die Mehrzahl <strong>de</strong>r liberalen Theoretiker die<br />
<strong>de</strong>mokratischen Einrichtungen ganz o<strong>de</strong>r auch durch <strong>de</strong>n Hinweis auf<br />
Grün<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>n naturrechtlichen Anschauungen von <strong>de</strong>r<br />
Unveräußerlichkeit <strong>de</strong>s Menschenrechts auf Selbstbestimmung<br />
entsprachen, zu empfehlen gesucht hat. Doch die Grün<strong>de</strong>, die eine<br />
politische Zeitströmung zur Rechtfertigung ihrer Postulate anzugeben<br />
pflegt, stimmen nicht immer mit jenen überein, aus <strong>de</strong>nen sie genötigt ist,<br />
sich zu ihnen zu bekennen. Es ist oft leichter, politisch zu han<strong>de</strong>ln, als sich<br />
über die letzten Motive seines Han<strong>de</strong>lns klar zu wer<strong>de</strong>n. Der alte<br />
Liberalismus wußte, daß die <strong>de</strong>mokratischen For<strong>de</strong>rungen sich mit<br />
Notwendigkeit aus seinem ganzen sozialphilosophischen System ergaben.<br />
Über ihre Stellung in diesem System war er aber durchaus nicht im<br />
Reinen. Daraus erklärt sich die Unsicherheit, die er immer wie<strong>de</strong>r in<br />
grundsätzlichen Fragen bekun<strong>de</strong>t hat, und die maßlose Überspannung, die<br />
einzelne pseudo<strong>de</strong>mokratische For<strong>de</strong>rungen durch jene erfahren haben,<br />
die schließlich <strong>de</strong>n Namen Demokraten für sich allein in Anspruch<br />
genommen haben und damit in einen Gegensatz zu <strong>de</strong>n übrigen Liberalen,<br />
die nicht soweit gingen, geraten sind.<br />
Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Verfassungsform liegt nicht darin,<br />
daß sie natürlichen und angeborenen Rechten <strong>de</strong>r Menschen besser<br />
entspräche als eine an<strong>de</strong>re, und auch nicht darin, daß sie die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r<br />
Freiheit und Gleichheit besser verwirkliche als irgen<strong>de</strong>ine an<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>r<br />
Regierung. Es ist ebensowenig an und für sich eines Menschen unwürdig,<br />
sich von an<strong>de</strong>ren „regieren“ zu lassen, als es an und für sich<br />
menschenunwürdig ist, irgen<strong>de</strong>ine an<strong>de</strong>re Arbeit durch an<strong>de</strong>re für sich<br />
verrichten zu lassen. Daß <strong>de</strong>r Bürger einer fortgeschrittenen Gesellschaft<br />
sich nur in <strong>de</strong>r Demokratie frei
53<br />
und glücklich fühlt, daß er sie über alle an<strong>de</strong>ren Staatsformen stellt, und<br />
daß er bereit ist, für die Erlangung o<strong>de</strong>r für die Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>mokratischen Staatsform Opfer zu bringen, ist auch nicht daraus zu<br />
erklären, daß die Demokratie an und für sich wert ist, geliebt zu wer<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn daraus, daß sie die Funktionen erfüllt, die man nicht missen will.<br />
Man pflegt als die wesentliche Funktion <strong>de</strong>r Demokratie ihre<br />
Be<strong>de</strong>utung für die Auslese <strong>de</strong>r politischen Führer hinzustellen. Im<br />
<strong>de</strong>mokratischen Staatswesen entschei<strong>de</strong>t bei <strong>de</strong>r Berufung für staatliche<br />
Stellungen, zumin<strong>de</strong>st für die wichtigeren, <strong>de</strong>r Wettbewerb in <strong>de</strong>r<br />
Öffentlichkeit <strong>de</strong>s politischen Lebens, durch <strong>de</strong>n, meint man, die<br />
Tüchtigsten in die Höhe kommen. Doch es ist nicht abzusehen, warum die<br />
Demokratie in <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>r für die Führung <strong>de</strong>r Staatsämter berufenen<br />
Persönlichkeiten notwendigerweise eine glücklichere Hand haben müßte<br />
als die Autokratie o<strong>de</strong>r die Aristokratie. Die Geschichte kennt genug<br />
Beispiele, daß sich auch in nicht <strong>de</strong>mokratischen Staaten politische<br />
Talente durchgesetzt haben, und an<strong>de</strong>rerseits kann man nicht behaupten,<br />
daß die Demokratie immer die Besten in die Ämter beruft. Gegner und<br />
Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Demokratie wer<strong>de</strong>n in diesem Punkte nie zu einer<br />
einheitlichen Meinung gelangen.<br />
In Wahrheit ist die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Verfassungsform<br />
eine ganz an<strong>de</strong>re. Ihre Funktion ist Frie<strong>de</strong>nsstiftung, Vermeidung von<br />
gewaltsamen Umwälzungen. Auch in nicht <strong>de</strong>mokratischen Staaten kann<br />
sich auf die Dauer nur eine solche Regierung behaupten, die auf die<br />
Zustimmung <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung rechnen kann. Die Kraft und die<br />
Macht aller Regierungen liegt nicht in <strong>de</strong>n Waffen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>m Geist,<br />
<strong>de</strong>r ihnen die Waffen gefügig macht. Die Regieren<strong>de</strong>n, selbst immer<br />
notwendigerweise eine kleine Min<strong>de</strong>rheit gegenüber einer ungeheueren<br />
Mehrheit, können die Herrschaft über die Mehrheit nur dadurch erlangen<br />
und bewahren, daß sie sich <strong>de</strong>n Geist dieser Mehrheit gefügig macht. Tritt<br />
hier eine Än<strong>de</strong>rung ein, verlieren jene, auf <strong>de</strong>ren Meinung die Regierung<br />
aufgebaut ist, die Überzeugung, daß man diese Regierung stützen müsse,<br />
dann ist auch <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m ihre Macht aufgebaut ist, untergraben,<br />
und sie muß früher o<strong>de</strong>r später einer an<strong>de</strong>ren weichen. In nicht<br />
<strong>de</strong>mokratischen Staatswesen kann sich Personen- und Systemwechsel in<br />
<strong>de</strong>r Regierung nur auf gewaltsame Weise vollziehen. Der gewaltsame<br />
Umsturz beseitigt das System o<strong>de</strong>r die Per-
53<br />
sonen, die die Wurzel in <strong>de</strong>r Bevölkerung verloren haben, und setzt an<br />
ihre Stelle an<strong>de</strong>re Personen und ein an<strong>de</strong>res System.<br />
Doch je<strong>de</strong> gewaltsame Umwälzung kostet Blut und Gut.<br />
Menschenopfer fallen, und <strong>de</strong>r Gang <strong>de</strong>r Wirtschaft wird durch<br />
Zerstörungen unterbrochen. Diese materiellen Kosten und die seelischen<br />
Erschütterungen, die mit je<strong>de</strong>r gewaltsamen Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r politischen<br />
Verhältnisse verbun<strong>de</strong>n sind, zu ersparen, ist die Funktion <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>mokratischen Verfassungsform. Die Demokratie schafft für die<br />
Übereinstimmung <strong>de</strong>s durch die staatlichen Organe zum Ausdrucke<br />
gelangen<strong>de</strong>n Staatswillens und <strong>de</strong>s Volkswillens eine Gewähr, in<strong>de</strong>m sie<br />
die Staatsorgane in eine rechtliche Abhängigkeit von <strong>de</strong>m jeweiligen<br />
Volkswillen bringt. Sie verwirklicht für das Gebiet <strong>de</strong>r inneren Politik das,<br />
was <strong>de</strong>r Pazifismus für das Gebiet <strong>de</strong>r äußeren Politik zu verwirklichen<br />
bestrebt ist. 1<br />
Daß dies die allein entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Funktion <strong>de</strong>r Demokratie ist, wird<br />
uns beson<strong>de</strong>rs klar, wenn wir an <strong>de</strong>n oft gehörten Einwand <strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>r<br />
gegen das <strong>de</strong>mokratische Staatswesen von <strong>de</strong>n Gegnern <strong>de</strong>r Demokratie<br />
geltend gemacht wird. Wenn die russischen Konservativen darauf<br />
hinwiesen, daß <strong>de</strong>r Bestand <strong>de</strong>s russischen Zartums und die von <strong>de</strong>m<br />
Zaren betriebene Politik von <strong>de</strong>r großen Masse <strong>de</strong>r russischen<br />
Bevölkerung gebilligt wur<strong>de</strong>, so daß auch eine <strong>de</strong>mokratische Staatsform<br />
in Rußland kein an<strong>de</strong>res Regierungssystem ergeben könnte, so haben sie<br />
mit dieser Behauptung zweifellos recht gehabt; die russischen<br />
Demokraten haben sich auch über diese Tatsache nie einer Täuschung<br />
hingegeben. Solange die Mehrheit <strong>de</strong>r russischen Bevölkerung o<strong>de</strong>r,<br />
besser gesagt, jenes Teiles <strong>de</strong>rselben, <strong>de</strong>r die politische Reife und die<br />
Gelegenheit hatte, in die Politik einzugreifen, hinter <strong>de</strong>m Zartum stand,<br />
hat das russische Reich die <strong>de</strong>mokratische Verfassungsform in Wahrheit<br />
nicht entbehrt. Erst in <strong>de</strong>m Augenblick, in <strong>de</strong>m eine Divergenz zwischen<br />
<strong>de</strong>r russischen öffentlichen Meinung und <strong>de</strong>m vom Zarismus befolgten<br />
politischen System eintrat, ward das Fehlen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen<br />
Verfassungsform für Rußland zum Verhängnis. Die Anpassung <strong>de</strong>s<br />
Staatswillens an <strong>de</strong>n Volkswillen konnte sich nicht im friedlichen Wege<br />
vollziehen;<br />
1 Es ist in manchem Sinne vielleicht nicht ganz Zufall, daß <strong>de</strong>r Schriftsteller, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r<br />
Schwelle <strong>de</strong>r Renaissance zuerst die <strong>de</strong>mokratische For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gesetzgebung durch das<br />
Volk aufstellte, Marsilius von Padua, seiner Schrift <strong>de</strong>n Titel Defensor Paris gegeben hat.<br />
Vgl. Atger, Essai sur l‘Histoire <strong>de</strong>s Doctrines du Contrat Social, Paris 1906, S. 75; Scholz,<br />
Marsilius von Padua und die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Demokratie (Zeitschrift für Politik, I. Bd., 1908), S.<br />
66 ff.
55<br />
es mußte zu einer politischen Katastrophe kommen, <strong>de</strong>ren Folgen für das<br />
russische Volk verhängnisvoll gewor<strong>de</strong>n sind. Und was vom Rußland <strong>de</strong>r<br />
Zaren gilt, gilt auch von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Bolschewiken, gilt ganz genau so auch<br />
von je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Staate, gilt genau so auch von Preußen-Deutschland.<br />
Was für einen gewaltigen Scha<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m es sich nie wie<strong>de</strong>r ganz zu<br />
erholen vermochte, hat Frankreich in <strong>de</strong>r großen Revolution erfahren!<br />
Welch gewaltiger Vorteil war es für England, daß es seit <strong>de</strong>m 17.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt je<strong>de</strong> Revolution vermei<strong>de</strong>n konnte!<br />
Man sieht daher, wie leichtfertig es ist, die Begriffe <strong>de</strong>mokratisch und<br />
revolutionär als gleichbe<strong>de</strong>utend o<strong>de</strong>r nahe verwandt zu betrachten. Die<br />
Demokratie ist nicht nur nicht revolutionär, sie hat gera<strong>de</strong> die Funktion,<br />
die Revolution auszuschalten. Der Kultus <strong>de</strong>r Revolution, <strong>de</strong>s<br />
gewaltsamen Umsturzes um je<strong>de</strong>n Preis, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Marxismus<br />
eigentümlich ist, hat mit Demokratie nichts zu tun. Der Liberalismus,<br />
erkennend, daß die Erreichung <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Ziele <strong>de</strong>s Menschen<br />
Frie<strong>de</strong>n zur Voraussetzung hat, verlangt nach <strong>de</strong>r Demokratie, weil er von<br />
ihr Ausschaltung aller Kampfursachen in <strong>de</strong>r inneren und in <strong>de</strong>r äußeren<br />
Politik erwartet. Die Gewaltanwendung, die mit Kriegen und<br />
Revolutionen verbun<strong>de</strong>n ist, gilt ihm immer als ein Übel, das sich nur,<br />
solange es noch keine Demokratie gibt, mitunter nicht ganz umgehen läßt.<br />
Selbst dort, wo die Revolution fast unvermeidlich scheint, will <strong>de</strong>r<br />
Liberalismus noch versuchen, sie <strong>de</strong>m Volke zu ersparen. Er gibt die<br />
Hoffnung nicht auf, daß es <strong>de</strong>r Philosophie durch Überredung gelingen<br />
könnte, die Tyrannen so zu erleuchten, daß sie auf ihre <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Entwicklung entgegenstehen<strong>de</strong> Rechte freiwillig<br />
verzichten. Es ist ganz im Sinne dieses <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n über alles stellen<strong>de</strong>n<br />
Liberalismus gedacht, wenn Schiller <strong>de</strong>n Marquis Posa um<br />
Gedankenfreiheit gera<strong>de</strong>zu bitten läßt, und die große Nacht vom 4. August<br />
1789, in <strong>de</strong>r die französischen Feudalherren auf ihre Vorrechte freiwillig<br />
Verzicht geleistet haben, zeigt, daß diese Hoffnungen nicht ganz eitel<br />
waren. Der Liberalismus hat nichts übrig für die heroische Großzügigkeit,<br />
mit <strong>de</strong>r die berufsmäßigen Revolutionäre <strong>de</strong>s Marxismus das Leben von<br />
Tausen<strong>de</strong>n aufs Spiel setzen und Werte zerstören, die Jahrzehnte und<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte mühsam geschaffen haben. Ihm gilt auch hier das<br />
wirtschaftliche Prinzip: er will <strong>de</strong>n Erfolg mit <strong>de</strong>m geringsten Aufwand<br />
erreichen.<br />
Demokratie ist Selbstherrschaft <strong>de</strong>s Volkes, ist Autonomie. Das aber<br />
be<strong>de</strong>utet nicht, daß alle in gleicher Weise an <strong>de</strong>r Gesetzgebung
55<br />
und Verwaltung mitwirken müssen. Die unmittelbare Demokratie ist nur<br />
in kleinsten Verhältnissen zu verwirklichen. Selbst kleine Parlamente<br />
können ihre Aufgaben nicht in Vollversammlungen bewältigen;<br />
Ausschüsse müssen gewählt wer<strong>de</strong>n, und die eigentliche Arbeit wird<br />
immer nur von einzelnen, von <strong>de</strong>n Antragstellern, <strong>de</strong>n Rednern, <strong>de</strong>n<br />
Berichterstattern, vor allem aber von <strong>de</strong>n Verfassern <strong>de</strong>r Vorlagen<br />
geleistet. Auch hier bewährt sich schließlich die Tatsache, daß die Massen<br />
<strong>de</strong>r Führung weniger folgen. Daß die Menschen nicht gleichwertig sind,<br />
daß es unter ihnen von Natur aus Führer und Geführte gibt, daran kann<br />
auch durch <strong>de</strong>mokratische Einrichtungen nichts geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Alle<br />
können nicht zugleich als Bahnbrecher an <strong>de</strong>r Spitze marschieren, und die<br />
meisten wünschen es sich auch gar nicht und hätten nicht die Kraft dazu.<br />
Die I<strong>de</strong>e, daß in <strong>de</strong>r reinen Demokratie das ganze Volk seine Tage ratend<br />
und beschließend etwa in <strong>de</strong>r Weise zu verbringen hätte wie die<br />
Mitglie<strong>de</strong>r eines Parlaments zur Zeit <strong>de</strong>r Tagung, entstammt einer<br />
Vorstellung, die man sich nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong>de</strong>r Verhältnisse in <strong>de</strong>n<br />
altgriechischen Stadtstaaten <strong>de</strong>r Verfallszeit gebil<strong>de</strong>t hat. Man übersieht<br />
dabei, daß jene Gemeinwesen in Wahrheit gar nicht <strong>de</strong>mokratisch waren,<br />
da sie die Sklaven und alle jene, die nicht das Vollbürgerrecht besaßen,<br />
von je<strong>de</strong>r Teilnahme am öffentlichen Leben ausschlossen. Bei<br />
Heranziehung aller zur Mitwirkung ist das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r reinen wie das <strong>de</strong>r<br />
unmittelbaren Demokratie undurchführbar. Es ist aber auch nichts an<strong>de</strong>res<br />
als pedantischer naturrechtlicher Doktrinarismus, wenn man die<br />
Demokratie gera<strong>de</strong> in dieser unmöglichen Gestalt verwirklicht wissen<br />
will. Um das Ziel zu erreichen, <strong>de</strong>m die <strong>de</strong>mokratischen Einrichtungen<br />
dienen wollen, ist nichts weiter erfor<strong>de</strong>rlich als daß Gesetzgebung und<br />
Verwaltung sich nach <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r Volksmehrheit richten; das aber<br />
leistet auch die mittelbare Demokratie ganz. Nicht daß je<strong>de</strong>r selbst<br />
Gesetze schreibt und verwaltet, macht das Wesen <strong>de</strong>r Demokratie aus,<br />
son<strong>de</strong>rn das, daß Gesetzgeber und Regierer vom Volkswillen in <strong>de</strong>r Weise<br />
abhängig sind, daß sie friedlich gewechselt wer<strong>de</strong>n können, wenn sie sich<br />
in einen Gegensatz zu ihm gestellt haben.<br />
Damit fallen viele von jenen Be<strong>de</strong>nken gegen die Möglichkeit,<br />
Demokratie zu verwirklichen weg, die von Freun<strong>de</strong>n und Gegnern <strong>de</strong>r<br />
Volksherrschaft vorgebracht wur<strong>de</strong>n. 1 Die Demokratie wird<br />
1 Vgl. auf <strong>de</strong>r einen Seite beson<strong>de</strong>rs die Schriften <strong>de</strong>r Vorkämpfer <strong>de</strong>s preußischen<br />
Obrigkeitsstaates, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite vor allem die Syndikalisten. Vgl. Michels, zur<br />
Soziologie <strong>de</strong>s Parteiwesens in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Demokratie, Leipzig 1911, S. 350 ff.
56<br />
nicht schon dadurch aufgehoben, daß auch in ihr aus <strong>de</strong>r Masse Führer<br />
heraustreten, die sich ganz <strong>de</strong>r Politik widmen. Die Politik for<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n<br />
ganzen Mann wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Beruf in <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n Gesellschaft;<br />
mit <strong>de</strong>n Gelegenheitspolitikern allein ist ihr nicht gedient. 1 Doch wenn <strong>de</strong>r<br />
Berufspolitiker in Abhängigkeit von <strong>de</strong>r Volksmehrheit bleibt, so daß er<br />
nur das durchführen kann, wofür er die Mehrheit gewonnen hat, ist <strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>mokratischen Prinzip Genüge geschehen. Es ist auch durchaus keine<br />
Bedingung <strong>de</strong>r Demokratie, daß die Führer aus <strong>de</strong>n sozialen Schichten<br />
stammen, die im Volke am zahlreichsten vertreten sind, so daß das<br />
Parlament in verkleinertem Maßstab ein Abbild <strong>de</strong>r sozialen Schichtung<br />
<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zu geben hätte und etwa in einem Lan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen Bevölkerung<br />
zum größten Teile aus Bauern und Industriearbeitern besteht, auch zum<br />
größten Teile aus Bauern und Industriearbeitern zusammengesetzt sein<br />
müßte. 2 Der beruflose Gentleman, <strong>de</strong>r im englischen Parlament eine große<br />
Rolle spielt, <strong>de</strong>r Advokat und <strong>de</strong>r Journalist <strong>de</strong>r Parlamente <strong>de</strong>r<br />
romanischen Völker sind min<strong>de</strong>stens so gute Volksvertreter wie die<br />
Gewerkschaftsführer und Bauern, die <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen und <strong>de</strong>n slawischen<br />
Parlamenten <strong>de</strong>n Stempel geistiger Ö<strong>de</strong> aufgedrückt haben. Wenn die<br />
Angehörigen <strong>de</strong>r höheren Gesellschaftsschichten tatsächlich von <strong>de</strong>r<br />
parlamentarischen Mitarbeit ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n, können die<br />
Parlamente und die aus ihnen hervorgehen<strong>de</strong>n Regierungen nicht <strong>de</strong>n<br />
wahren Volkswillen darstellen. Denn in <strong>de</strong>r Gesellschaft haben die<br />
höheren Schichten einen weit stärkeren Einfluß auf die Geister als ihrer<br />
Zahl entsprechen wür<strong>de</strong>. Wenn sie von <strong>de</strong>r Mitwirkung an <strong>de</strong>r<br />
Gesetzgebung und Verwaltung ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n, weil man sie <strong>de</strong>n<br />
Wählern als zur Bekleidung politischer Ämter offenbar ungeeignet<br />
hinzustellen wußte, dann ent-<br />
1 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, München und Leipzig 1920, S. 17 ff.<br />
2 Die naturrechtlichen, das Wesen <strong>de</strong>r Arbeitsteilung verkennen<strong>de</strong>n Theorien <strong>de</strong>r<br />
Demokratie klammern sich an <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r „Repräsentation“ <strong>de</strong>r Wähler durch <strong>de</strong>n<br />
Gewählten. Es war nicht allzu schwer, das Gekünstelte dieser Vorstellung nachzuweisen.<br />
Der Abgeordnete, <strong>de</strong>r für mich Gesetze macht und die Verwaltung <strong>de</strong>s Postwesens<br />
kontrolliert, „repräsentiert“ mich nicht mehr als <strong>de</strong>r Arzt, <strong>de</strong>r mich heilt, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schuster,<br />
<strong>de</strong>r für mich Schuhe macht. Nicht das unterschei<strong>de</strong>t ihn im Wesen vom Arzt und vom<br />
Schuster, daß er an<strong>de</strong>rer Art Dienste für mich besorgt, son<strong>de</strong>rn das, daß ich ihm, wenn ich<br />
unzufrie<strong>de</strong>n bin, die Besorgung meiner Angelegenheiten nicht in <strong>de</strong>r einfachen Weise<br />
entziehen kann wie <strong>de</strong>m Arzt und <strong>de</strong>m Schuster. Um mir jenen Einfluß auf die Regierung<br />
zu sichern, <strong>de</strong>n ich auf die Heiltätigkeit und die Schuherzeugung habe, will ich Wähler<br />
sein.
57<br />
steht zwischen <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>m, was die<br />
Meinung <strong>de</strong>r parlamentarischen Körperschaften ist, ein Gegensatz, <strong>de</strong>r das<br />
Funktionieren <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Einrichtungen erschwert, wenn nicht<br />
unmöglich macht. Auf die Gesetzgebung und Verwaltung machen sich<br />
außerparlamentarische Einwirkungen geltend; <strong>de</strong>nn die geistigen<br />
Strömungen, die von <strong>de</strong>n Ausgeschlossenen ausgehen, können durch die<br />
min<strong>de</strong>rwertigen Elemente, die im parlamentarischen Leben führen, nicht<br />
überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Der Parlamentarismus hat unter keinem an<strong>de</strong>ren<br />
Übelstand so sehr zu lei<strong>de</strong>n wie unter diesem; hier vor allem ist die<br />
Ursache seines vielbeklagten Nie<strong>de</strong>rganges zu suchen. Demokratie ist<br />
eben nicht Ochlokratie. Ein Parlament, das seinen Aufgaben gerecht<br />
wer<strong>de</strong>n soll, müßte die besten politischen Köpfe <strong>de</strong>r Nation in seiner Mitte<br />
zählen.<br />
Die folgenschwerste Verkennung aber hat <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Demokratie<br />
dadurch erfahren, daß man sie, in Überspannung <strong>de</strong>s naturrechtlichen<br />
Souveränitätsbegriffes, als schrankenlose Herrschaft <strong>de</strong>r volonté génerale<br />
aufgefaßt hat. Die Allmacht <strong>de</strong>s <strong>de</strong>mokratischen Staates ist im Wesen<br />
durch nichts von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s unumschränkten Selbstherrschers verschie<strong>de</strong>n.<br />
Die Vorstellung, die die Köpfe unserer Demagogen und ihrer Anhänger<br />
erfüllt, daß <strong>de</strong>r Staat alles könne, was er wolle, und daß es gegenüber <strong>de</strong>m<br />
Willen <strong>de</strong>s souveränen Volkes keinen Wi<strong>de</strong>rstand geben dürfe, hat<br />
vielleicht mehr Übel gestiftet als je <strong>de</strong>r Cäsarenwahn entarteter<br />
Fürstensprossen. Wie dieser stammt auch er aus <strong>de</strong>r rein machtpolitischen<br />
Auffassung <strong>de</strong>s Staates her. Der Gesetzgeber fühlt sich frei von allen<br />
Beschränkungen, weil er aus <strong>de</strong>r Rechtstheorie die Kun<strong>de</strong> schöpft, daß<br />
alles Recht auf seinen Willen zurückgeht. Es ist nur eine kleine, aber<br />
folgenschwere Verwechslung, wenn er seine formelle Freiheit für<br />
materielle nimmt und glaubt, auch über <strong>de</strong>n natürlichen Bedingungen <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Lebens zu stehen. Die Konflikte, die daraus entstehen,<br />
zeigen, daß Demokratie nur im Liberalismus Sinn hat; nur in seinem<br />
Rahmen erfüllt sie eine gesellschaftliche Funktion. Demokratie ist ohne<br />
Liberalismus eine hohle Form.<br />
§ 3. Der Liberalismus bedingt notwendigerweise politische<br />
Demokratie. Doch, meint man vielfach, das <strong>de</strong>mokratische Prinzip müsse<br />
schließlich über <strong>de</strong>n Liberalismus hinausführen; streng durchgeführt<br />
verlange es nicht nur politische son<strong>de</strong>rn auch wirtschaftliche<br />
Gleichberechtigung; die aber sei im Liberalismus nicht zu erreichen. So<br />
entwickle sich <strong>de</strong>r Sozialismus mit dialektischer Not-
58<br />
wendigkeit aus <strong>de</strong>m Liberalismus. Der Liberalismus hebe sich im<br />
geschichtlichem Prozeß selbst auf.<br />
Auch das Gleichheitsi<strong>de</strong>al ist ursprünglich als naturrechtliche<br />
For<strong>de</strong>rung aufgestellt wor<strong>de</strong>n. Man hat versucht, es mit religiösen,<br />
physiologischen und philosophischen Erwägungen zu rechtfertigen. Doch<br />
alle diese Begründungen erweisen sich als unstichhaltig. Es steht ja gera<strong>de</strong><br />
fest, daß die Menschen von Natur aus verschie<strong>de</strong>n veranlagt sind. Man<br />
kann mithin die For<strong>de</strong>rung, daß alle gleich behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n sollen, nicht<br />
darauf stützen, daß alle gleich seien. Nirgends erweist sich die<br />
naturrechtliche Begründung fa<strong>de</strong>nscheiniger als gera<strong>de</strong> beim<br />
Gleichheitsprinzip.<br />
Wenn wir das Gleichheitsi<strong>de</strong>al verstehen wollen, müssen wir von<br />
seiner geschichtlichen Be<strong>de</strong>utung ausgehen. Es ist, wie überall dort, wo es<br />
früher aufgetreten war, auch in <strong>de</strong>r Neuzeit wie<strong>de</strong>r als Verwerfung <strong>de</strong>r<br />
ständischen Differenzierung <strong>de</strong>r Rechtsfähigkeit <strong>de</strong>r Einzelnen aufgestellt<br />
wor<strong>de</strong>n. So lange Schranken für die Entwicklung <strong>de</strong>s Einzelnen und<br />
ganzer Volksschichten bestehen, kann man auf einen durch gewaltsame<br />
Umwälzungen nicht gestörten Gang <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens nicht<br />
hoffen. Die Rechtlosen bil<strong>de</strong>n immer eine Gefahr für <strong>de</strong>n Bestand <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Ordnung. Das gemeinsame Interesse, das sie an <strong>de</strong>r<br />
Beseitigung <strong>de</strong>r sie bedrücken<strong>de</strong>n Schranken haben, verbin<strong>de</strong>t sie zu einer<br />
Gemeinschaft, die ihre For<strong>de</strong>rungen, da es auf friedlichem Wege nicht<br />
geht, auch gewaltsam durchzusetzen bereit ist. Der gesellschaftliche<br />
Frie<strong>de</strong>n kann nur erreicht wer<strong>de</strong>n, wenn man alle Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
an <strong>de</strong>n <strong>de</strong>mokratischen Einrichtungen teilnehmen läßt. Das aber be<strong>de</strong>utet<br />
die Gleichheit aller vor <strong>de</strong>m Gesetz.<br />
Dem Liberalismus spricht aber noch eine an<strong>de</strong>re Erwägung für die<br />
Gleichheit vor <strong>de</strong>m Gesetze. Es liegt im Interesse <strong>de</strong>r Gesellschaft, daß<br />
die Produktionsmittel in die Hän<strong>de</strong> jener gelangen, die sie am Besten zu<br />
nutzen verstehen. Die Abstufung <strong>de</strong>r Rechtsfähigkeit nach <strong>de</strong>m Zufall <strong>de</strong>r<br />
Geburt hin<strong>de</strong>rt die Produktivgüter auf <strong>de</strong>m Wege zum besten Wirt. Es ist<br />
bekannt, welche Rolle dieses Argument in <strong>de</strong>n liberalen Kämpfen, vor<br />
allem bei <strong>de</strong>r Bauernbefreiung, gespielt hat.<br />
So sind es durchaus nüchterne Zweckmäßigkeitsgrün<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>m<br />
Liberalismus für das Gleichheitsprinzip sprechen. Er ist sich dabei voll<br />
bewußt, daß die Gleichheit vor <strong>de</strong>m Gesetze mitunter zu Ungeheuerlichkeiten<br />
führen und daß sie für <strong>de</strong>n Einzelnen unter Umstän<strong>de</strong>n<br />
sehr drückend wer<strong>de</strong>n kann, weil <strong>de</strong>n einen das hart treffen
59<br />
mag, was <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren willkommen ist. Doch die Gleichheitsi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Liberalismus entspringt sozialen Rücksichten; wo die mitspielen, müssen<br />
die Empfindlichkeiten Einzelner zurücktreten. Wie alle an<strong>de</strong>ren<br />
gesellschaftlichen Einrichtungen bestehen auch die Rechtsnormen um <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaftszwecke willen; <strong>de</strong>r Einzelne muß sich ihnen beugen, weil<br />
seine eigenen Ziele nur in <strong>de</strong>r Gesellschaft und mit <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
erreicht wer<strong>de</strong>n können.<br />
Es ist ein Verkennen <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r Rechtseinrichtungen, wenn man<br />
sie als mehr auffaßt <strong>de</strong>nn als solche und daraus neue Ansprüche<br />
abzuleiten sucht, die verwirklicht wer<strong>de</strong>n sollen, ob darunter auch die<br />
angestrebten Zwecke <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenwirkens lei<strong>de</strong>n<br />
mögen. Die Gleichheit, die <strong>de</strong>r Liberalismus schafft, ist Gleichheit vor<br />
<strong>de</strong>m Gesetze; eine an<strong>de</strong>re hat er nie angestrebt. Es ist daher im Sinne <strong>de</strong>s<br />
Liberalismus eine ungerechtfertigte Kritik, wenn man diese Gleichheit als<br />
unzulänglich ta<strong>de</strong>lt und darüber hinaus volle Einkommensgleichheit durch<br />
gleichmäßige Verteilung <strong>de</strong>r Genüsse als die wahre Gleichheit bezeichnet.<br />
Gera<strong>de</strong> in dieser Gestalt fin<strong>de</strong>t aber das Gleichheitsprinzip immer<br />
freudige Zustimmung bei allen jenen, die bei <strong>de</strong>r gleichmäßigen<br />
Verteilung <strong>de</strong>r Güter mehr zu gewinnen als zu verlieren hoffen. Die<br />
Massen sind leicht für diese Gleichheit anzuwerben. Hier liegt ein<br />
dankbares Betätigungsfeld für Demagogen. Wer gegen die Reichen<br />
auftritt, wer immer wie<strong>de</strong>r das Ressentiment <strong>de</strong>r Wenigerbemittelten zu<br />
erwecken sucht, kann auf großen Zulauf rechnen. Die Demokratie schafft<br />
nur die günstigsten Vorbedingungen für die Entfaltung dieses Geistes, <strong>de</strong>r<br />
verborgen immer und überall vorhan<strong>de</strong>n ist. 1 Das ist die Klippe, an <strong>de</strong>r<br />
alle <strong>de</strong>mokratischen Staatswesen bisher zugrun<strong>de</strong> gegangen sind. Die<br />
Demokratie unserer Zeit ist auf <strong>de</strong>m besten Wege, ihnen zu folgen.<br />
Es ist eigentümlich, daß man jene Auffassung <strong>de</strong>s Gleichheitsprinzips,<br />
die die Gleichheit nur vom Gesichtspunkte <strong>de</strong>r Erreichung <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Zwecke betrachtet und nur soweit durchgeführt wissen<br />
will, als sie diesen Zwecken dient, als unsozial bezeichnet, dagegen jene<br />
Auffassung, die ohne Rücksicht auf die Folgen daraus ein subjektives<br />
Recht auf Einräumung einer Kopfquote <strong>de</strong>s Nationaleinkommens gemacht<br />
hat, als die soziale Auffassung ansieht. In <strong>de</strong>n griechischen Stadtstaaten<br />
fühlte im vierten Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Bürger sich als Herr <strong>de</strong>s Eigentums aller<br />
Staatsangehörigen<br />
1 Insofern kann man mit Proudhon sagen: la démocratie c‘est l‘envie. Vgl. Poehlmann,<br />
a. a. O., I. Bd., S. 317, Anm. 4.
60<br />
und heischte gebieterisch seinen Anteil, wie ein Aktionär seine Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
for<strong>de</strong>rt. Äschines hat im Hinblicke auf die Übung, Austeilungen von<br />
gemeinem Gut und von konfisziertem Privatgut vorzunehmen, das<br />
treffen<strong>de</strong> Wort gesprochen, die Athener kämen aus <strong>de</strong>r Ekklesie nicht wie<br />
aus einer politischen Versammlung, son<strong>de</strong>rn wie aus <strong>de</strong>r Sitzung einer<br />
Genossenschaft, in <strong>de</strong>r die Verteilung <strong>de</strong>s Überschusses erfolgt ist. 1 Man<br />
kann nicht leugnen, daß auch heute <strong>de</strong>r gemeine Mann dazu neigt, <strong>de</strong>n<br />
Staat als eine Rentenquelle zu betrachten, aus <strong>de</strong>r er möglichst viel<br />
Einkommen ziehen will.<br />
Das Gleichheitsprinzip in <strong>de</strong>r erweiterten Fassung ergibt sich<br />
keineswegs mit Notwendigkeit aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>mokratischen; es ist geson<strong>de</strong>rt<br />
zu betrachten. Man darf es ebensowenig wie eine an<strong>de</strong>re Norm für das<br />
gesellschaftliche Leben von vornherein als gültig anerkennen. Man muß<br />
sich über seine Wirkungen Klarheit verschaffen, ehe man es beurteilen<br />
kann. Daß es bei <strong>de</strong>r Masse im allgemeinen sehr beliebt ist und daher in<br />
<strong>de</strong>mokratischen Staaten leicht Anerkennung fin<strong>de</strong>n kann, stempelt es<br />
ebensowenig zu einem <strong>de</strong>mokratischen Grundsatz, wie es <strong>de</strong>n Theoretiker<br />
veranlassen darf, sich in seiner Prüfung Schranken aufzuerlegen.<br />
§ 4. Die Vorstellung, daß Demokratie und Sozialismus innerlich eng<br />
verwandt seien, hat in <strong>de</strong>n Jahrzehnten, die <strong>de</strong>r bolschewistischen<br />
Revolution vorangingen, immer mehr um sich gegriffen. Viele waren<br />
schließlich dazu gelangt, die Begriffe Sozialismus und Demokratie für<br />
gleichbe<strong>de</strong>utend zu halten o<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>nken, daß Demokratie ohne<br />
Sozialismus und Sozialismus ohne Demokratie nicht möglich seien.<br />
Es war vornehmlich die Verbindung zweier Gedankengänge, die bei<strong>de</strong><br />
in letzter Linie auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie zurückgehen,<br />
was zu dieser Vorstellung führte. Für Hegel ist die Weltgeschichte „<strong>de</strong>r<br />
Fortschritt im Bewußtsein <strong>de</strong>r Freiheit“. Dieser Fortschritt vollzieht sich<br />
in <strong>de</strong>r Form, „daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei sei, die<br />
griechische und römische Welt, daß einige frei sind, daß wir aber wissen,<br />
daß alle Menschen an sich frei, <strong>de</strong>r Mensch als Mensch frei ist“. 2 Es ist<br />
kein Zweifel darüber zulässig, daß die Freiheit, die Hegel hier meinte,<br />
eine an<strong>de</strong>re war als die, für die die radikalen Politiker seiner Tage<br />
kämpften. Hegel nahm Gedanken, die Gemeingut <strong>de</strong>r politischen<br />
1 Vgl. Poehlmann, a. a. O., I. Bd., S. 333.<br />
2 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie <strong>de</strong>r Weltgeschichte, Ausgabe von<br />
Lasson, I. Bd., Leipzig 1917, S. 40.
61<br />
Lehren <strong>de</strong>s Aufklärungszeitalters waren, auf und vergeistigte sie. Doch<br />
<strong>de</strong>r Radikalismus <strong>de</strong>r Junghegelianer las aus seinen Worten das heraus,<br />
was ihm zusagte. Für sie ist es ausgemacht, daß die Entwicklung zur<br />
Demokratie eine Notwendigkeit im Hegelschen Sinne dieses Begriffes sei.<br />
Die Geschichtsschreibung schließt sich <strong>de</strong>m an. Für Gervinus ist „ganz im<br />
Großen in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Menschheit“ wie „in <strong>de</strong>m Verlaufe <strong>de</strong>r<br />
inneren Entwicklung <strong>de</strong>r Staaten“ „ein regelmäßiger Fortschritt zu<br />
gewahren von <strong>de</strong>r geistigen und bürgerlichen Freiheit <strong>de</strong>r Einzelnen zu<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mehreren und <strong>de</strong>r Vielen“. 1<br />
In <strong>de</strong>r materialistischen Geschichtsauffassung gewinnt <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r<br />
Freiheit <strong>de</strong>r Vielen einen bestimmten Inhalt. Die Vielen, das sind die<br />
Proletarier; die aber müssen, weil das Bewußtsein durch das<br />
gesellschaftliche Sein bestimmt wird, notwendigerweise Sozialisten<br />
wer<strong>de</strong>n. So fallen Entwicklung zur Demokratie und Entwicklung zum<br />
Sozialismus zusammen. Die Demokratie ist das Mittel zur Verwirklichung<br />
<strong>de</strong>s Sozialismus, <strong>de</strong>r Sozialismus aber zugleich auch das Mittel zur<br />
Verwirklichung <strong>de</strong>r Demokratie. In <strong>de</strong>m Parteinamen „Sozial<strong>de</strong>mokratie“<br />
gelangt die Gleichsetzung von Demokratie und Sozialismus am schärfsten<br />
zum Ausdruck. Mit <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>r Demokratie aber übernimmt die<br />
sozialistische Arbeiterpartei auch das geistige Erbe <strong>de</strong>r Bewegungen <strong>de</strong>s<br />
jungen Europa. Alle Schlagwörter <strong>de</strong>s politischen Radikalismus <strong>de</strong>s<br />
Vormärz fin<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>n sozial<strong>de</strong>mokratischen Parteiprogrammen<br />
wie<strong>de</strong>r. Sie werben für die Partei auch Anhänger, die sich von <strong>de</strong>n<br />
sozialistischen For<strong>de</strong>rungen nicht angezogen o<strong>de</strong>r selbst abgestoßen<br />
fühlen.<br />
Das Verhältnis <strong>de</strong>s marxistischen Sozialismus zu <strong>de</strong>n <strong>de</strong>mokratischen<br />
For<strong>de</strong>rungen war dadurch bestimmt, daß er die sozialistische Partei <strong>de</strong>r<br />
Deutschen, <strong>de</strong>r Russen und <strong>de</strong>r kleineren Völker, die die<br />
österreichisch-ungarische Monarchie und das Zarenreich bevölkerten,<br />
war. In diesen mehr o<strong>de</strong>r weniger autokratischen Staaten mußte je<strong>de</strong><br />
Oppositionspartei vor allem Demokratie for<strong>de</strong>rn, um die Vorbedingungen<br />
für die Entfaltung politischer Tätigkeit zu schaffen. Damit war das<br />
Problem <strong>de</strong>r Demokratie für die Sozial<strong>de</strong>mokratie gewissermaßen aus <strong>de</strong>r<br />
Erörterung ausgeschaltet; es ging nicht an, die <strong>de</strong>mokratische I<strong>de</strong>ologie<br />
pro foro externo überhaupt auch nur in Zweifel zu ziehen.<br />
1 Vgl- Gervinus, Einleitung in die Geschichte <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts, Leipzig<br />
1853, S. 13.
62<br />
Im Innern <strong>de</strong>r Partei konnte die Frage nach <strong>de</strong>m Verhältnis <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
I<strong>de</strong>en, die in ihrem Doppelnamen zum Ausdrucke gelangten, nicht ganz<br />
unterdrückt wer<strong>de</strong>n. Man begann damit, sie in zwei Teile zu zerlegen. Für<br />
das kommen<strong>de</strong> Reich <strong>de</strong>r endlichen Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus hielt<br />
man auch weiterhin daran fest, daß Sozialismus und Demokratie in letzter<br />
Linie eins Seien. Da man fortfuhr, die Demokratie an sich als ein Gut<br />
anzusehen, konnte man als gläubiger Sozialist, <strong>de</strong>r vom sozialistischen<br />
Zukunftsparadies die Erfüllung allen Heils erwartet, zu keinem an<strong>de</strong>ren<br />
Schlusse gelangen. Das Land <strong>de</strong>r Verheißung hätte ja einen Fehler, wenn<br />
es nicht auch in politischer Hinsicht das <strong>de</strong>nkbar beste wäre. So hörten<br />
<strong>de</strong>nn die sozialistischen Schriftsteller nicht auf zu verkün<strong>de</strong>n, daß es nur<br />
in <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaft wahre Demokratie geben könne, und<br />
daß alles das, was die kapitalistischen Staatswesen als solche bezeichnen,<br />
nur Zerrbil<strong>de</strong>r seien, die die Herrschaft <strong>de</strong>r Ausbeuter ver<strong>de</strong>cken.<br />
Doch wenn es auch festzustehen schien, daß Sozialismus und<br />
Demokratie sich am Ziel treffen müßten, war es nicht ebenso sicher, ob<br />
<strong>de</strong>r Weg zum Ziel für bei<strong>de</strong> gemeinsam sei. Man fing an, die Frage zu<br />
erörtern, ob man die Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus - und damit im<br />
Sinne <strong>de</strong>r eben besprochenen Anschauungen auch die <strong>de</strong>r wahren<br />
Demokratie - immer nur mit <strong>de</strong>n Mitteln <strong>de</strong>r Demokratie anzustreben habe<br />
o<strong>de</strong>r ob man im Kampfe von <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>r Demokratie abgehen<br />
dürfe. Das ist <strong>de</strong>r Streit um die Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats, <strong>de</strong>r bis zur<br />
bolschewistischen Revolution einen Gegenstand <strong>de</strong>r aka<strong>de</strong>mischen<br />
Erörterung in <strong>de</strong>r marxistischen Literatur bil<strong>de</strong>te, seither aber zu einem<br />
<strong>de</strong>r großen politischen Probleme <strong>de</strong>r Welt gewor<strong>de</strong>n ist.<br />
Wie alle an<strong>de</strong>ren Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten, die die Marxisten in<br />
Gruppen trennen, ist auch <strong>de</strong>r Streit um die Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats aus<br />
<strong>de</strong>r Zwiespältigkeit entsprungen, die jenes Bün<strong>de</strong>l von Dogmen, die man<br />
das System <strong>de</strong>s Marxismus zu nennen pflegt, durchzieht. Im Marxismus<br />
gibt es für alles und je<strong>de</strong>s stets min<strong>de</strong>stens zwei einan<strong>de</strong>r vollkommen<br />
wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong> Auffassungen, zwischen <strong>de</strong>nen durch dialektische<br />
Künsteleien nur eine scheinbare Übereinstimmung erzielt wird. Das<br />
wichtigste Mittel dieser Dialektik ist die Verwendung eines Wortes, <strong>de</strong>m<br />
je nach Bedarf ein an<strong>de</strong>rer Sinn zugesprochen wird. Mit diesen Wörtern,<br />
die zugleich in <strong>de</strong>r politischen Agitation als Schlagwörter zur<br />
Hypnotisierung <strong>de</strong>r Massenpsyche dienen, wird ein wahrer Kultus<br />
getrieben, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Fetisch-
63<br />
dienst erinnert. Das Wesen <strong>de</strong>r marxistischen Dialektik ist<br />
Wortfetischismus. Je<strong>de</strong>r marxistische Glaubensatz ist in einem Wortfetisch<br />
vergegenständlicht, <strong>de</strong>ssen doppelte o<strong>de</strong>r gar mehrfache Be<strong>de</strong>utung<br />
die Verbindung unverträglicher Gedanken und For<strong>de</strong>rungen<br />
vermitteln soll. Und die Auslegung dieser Ausdrücke, die wie die Worte<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>lphischen Pythia absichtlich so gewählt zu sein scheinen, daß sie<br />
verschie<strong>de</strong>ne Deutungen zulassen, geht ein Streit, in <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r Teil in <strong>de</strong>r<br />
Lage ist zu seinen Gunsten Stellen aus <strong>de</strong>n Schriften von Marx und Engels<br />
anzuführen, <strong>de</strong>nen autoritative Be<strong>de</strong>utung beigelegt wird.<br />
Ein solcher Wortfetisch <strong>de</strong>s Marxismus steckt in <strong>de</strong>m Ausdruck<br />
Revolution. Wenn <strong>de</strong>r Marxismus von industrieller Revolution spricht, so<br />
meint er damit die allmählich vor sich gehen<strong>de</strong> Umwandlung <strong>de</strong>r<br />
vorkapitalistischen in die kapitalistische Produktionsweise. Hier erscheint<br />
<strong>de</strong>r Ausdruck Revolution als gleichbe<strong>de</strong>utend mit Entwicklung, und <strong>de</strong>r<br />
Gegensatz, in <strong>de</strong>m sonst die Begriffe Evolution und Revolution stehen,<br />
wird nahezu ausgelöscht. So wird es <strong>de</strong>m Marxismus möglich, dort, wo es<br />
ihm zusagt, <strong>de</strong>n revolutionären Geist als Putschismus verächtlich zu<br />
machen. Die Revisionisten hatten nicht Unrecht, wenn sie sich für ihre<br />
Auffassung auf viele Stellen <strong>de</strong>r Schriften von Marx und Engels beriefen.<br />
Doch <strong>de</strong>r Marxismus gebraucht <strong>de</strong>n Ausdruck Revolution noch in einem<br />
an<strong>de</strong>ren Sinne. Wenn er die Arbeiterbewegung eine revolutionäre<br />
Bewegung, die Arbeiterklasse die einzige wahrhaft revolutionäre Klasse<br />
nennt, dann gebracht er <strong>de</strong>n Ausdruck Revolution in <strong>de</strong>m Sinne, bei <strong>de</strong>m<br />
man sofort an Barrika<strong>de</strong>n und Straßenkämpfe <strong>de</strong>nkt. Darum hat auch <strong>de</strong>r<br />
Syndikalismus recht, wenn er sich auf Marx beruft.<br />
Ebenso unklar ist <strong>de</strong>r Marxismus im Gebrauche <strong>de</strong>s Ausdruckes Staat.<br />
Für ihn ist <strong>de</strong>r Staat nichts an<strong>de</strong>res als ein Instrument <strong>de</strong>r<br />
Klassenherrschaft; das Proletariat hebt, in<strong>de</strong>m es die politische Macht<br />
erlangt, <strong>de</strong>n Klassengegensatz auf und damit stirbt <strong>de</strong>r Staat ab. Sobald es<br />
keine Gesellschaftsklasse mehr in <strong>de</strong>r Unterdrückung zu halten gibt,<br />
sobald mit <strong>de</strong>r Klassenherrschaft und <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r bisherigen Anarchie <strong>de</strong>r<br />
Produktion begrün<strong>de</strong>ten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus<br />
entspringen<strong>de</strong>n Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr<br />
zu reprimieren, das eine beson<strong>de</strong>re Repressionsgewalt, einen Staat, nötig<br />
machte. Der erste Akt, worin <strong>de</strong>r Staat wirklich als Repräsentant <strong>de</strong>r<br />
ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />
im Namen <strong>de</strong>r Gesellschaft - ist auch zugleich sein letzter selbständiger<br />
Akt als
64<br />
Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse<br />
wird auf einem Gebiete nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren überflüssig und schläft dann<br />
von selbst ein. 1 Das ist, so unklar und undurchdacht es auch in bezug auf<br />
die Erkenntnis <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r politischen Organisation sein mag, in <strong>de</strong>r<br />
Frage <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Proletariats so bestimmt, daß es scheint, man<br />
könne an <strong>de</strong>r Auslegung nicht zweifeln. Es wird schon weniger bestimmt,<br />
wenn man dagegen die Worte von Marx hält, daß zwischen <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen und <strong>de</strong>r kommunistischen Gesellschaft die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
revolutionären Umwandlung <strong>de</strong>r einen in die an<strong>de</strong>re liegt, <strong>de</strong>r „auch eine<br />
politische Übergangsperio<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ren Staat nichts an<strong>de</strong>res sein kann als die<br />
revolutionäre Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats“, entspricht. 2 Will man aber - mit<br />
Lenin - annehmen, daß diese Übergangsperio<strong>de</strong> so lange währen wer<strong>de</strong>,<br />
bis jene „höhere Phase <strong>de</strong>r kommunistischen Gesellschaft" erreicht ist, in<br />
<strong>de</strong>r „die knechten<strong>de</strong> Unterordnung <strong>de</strong>r Individuen unter die Teilung <strong>de</strong>r<br />
Arbeit, damit auch <strong>de</strong>r Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit<br />
geschwun<strong>de</strong>n ist“, in <strong>de</strong>r „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, son<strong>de</strong>rn<br />
selbst das erste Lebensbedürfnis gewor<strong>de</strong>n“ ist, dann gelangt man freilich<br />
zu ganz an<strong>de</strong>ren Ergebnissen zur Beurteilung <strong>de</strong>r Stellung, die <strong>de</strong>r<br />
Marxismus <strong>de</strong>r Demokratie gegenüber einnimmt. 3 Denn dann ist<br />
zumin<strong>de</strong>st für Jahrhun<strong>de</strong>rte im sozialistischen Gemeinwesen von<br />
Demokratie nicht die Re<strong>de</strong>.<br />
Der Marxismus hat trotz einzelner Bemerkungen über die geschichtlichen<br />
Leistungen <strong>de</strong>s Liberalismus kein Verständnis für die<br />
Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>s Liberalismus zukommt. Er weiß mit<br />
<strong>de</strong>n liberalen For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>s Gewissens und <strong>de</strong>r<br />
Meinungsäußerung, <strong>de</strong>r grundsätzlichen Anerkennung je<strong>de</strong>r Opposition<br />
und <strong>de</strong>r Gleichberechtigung aller Parteien nichts anzufangen. Er nimmt<br />
überall dort, wo er nicht herrscht, alle liberalen Grundrechte im weitesten<br />
Ausmaß für sich in Anspruch, weil er nur durch sie die Bewegungsfreiheit<br />
gewinnt, die er für seine Werbearbeit dringend benötigt. Doch er kann sie<br />
nie in ihrem Wesen verstehen, und er wird sich nie dazu bequemen, sie<br />
seinen Gegnern einzuräumen, wenn er selbst herrscht. Darin gleicht er<br />
vollkommen <strong>de</strong>n Kirchen und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Mächten, die sich auf das<br />
Gewaltprinzip stützen; auch<br />
1 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, 7. Aufl., Stuttgart<br />
1910, S. 302.<br />
2 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen Programms, a. a. O., S. 23.<br />
3 Vgl. ebendort S.17; dazu Lenin, Staat und Revolution, Berlin 1918, S. 89.
65<br />
die scheuen sich nicht, mit Hilfe <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratischen Freiheiten um die<br />
Herrschaft zu kämpfen, verweigern sie aber, wo sie selbst herrschen, ihren<br />
Gegnern. So enthüllt sich alles Demokratische am Sozialismus als Trug.<br />
„Die Partei <strong>de</strong>r Kommunisten“, sagt Bucharin, for<strong>de</strong>rt keinerlei Freiheiten<br />
(<strong>de</strong>r Presse, <strong>de</strong>s Wortes, <strong>de</strong>r Verbän<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Versammlungen usw.) für die<br />
bürgerlichen Volksfein<strong>de</strong>. Im Gegenteil“. Und mit unerhörtem Zynismus<br />
rühmt er sich <strong>de</strong>ssen, daß die Kommunisten früher, als sie noch nicht am<br />
Ru<strong>de</strong>r saßen, für die Freiheit <strong>de</strong>r Meinungsäußerung nur <strong>de</strong>shalb<br />
eingetreten seien, weil es „lächerlich“ gewesen wäre, von <strong>de</strong>n Kapitalisten<br />
die Freiheit <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung in an<strong>de</strong>rer Weise zu for<strong>de</strong>rn als in<strong>de</strong>m<br />
man Freiheit überhaupt for<strong>de</strong>rte. 1<br />
Der Liberalismus for<strong>de</strong>rt immer und überall Demokratie. Er will nicht<br />
darauf warten, bis das Volk „reif“, für die Demokratie gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die<br />
Funktion, die die Demokratie in <strong>de</strong>r Gesellschaft zu erfüllen hat, dul<strong>de</strong>t<br />
keinen Aufschub. Demokratie muß sein, weil es ohne sie keine friedliche<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Staatlichkeit geben kann. Nicht darum will er<br />
Demokratie, weil er eine Politik <strong>de</strong>s Kompromisses vertritt o<strong>de</strong>r in<br />
Weltanschauungsfragen <strong>de</strong>m Relativismus huldigt. 2 Auch <strong>de</strong>r<br />
Liberalismus beansprucht für seine Lehre absolute Gültigkeit. Doch er<br />
glaubt zu wissen, daß Macht immer nur auf <strong>de</strong>r Herrschaft über die<br />
Geister beruht, und daß um diese nie an<strong>de</strong>rs gerungen wer<strong>de</strong>n kann als mit<br />
geistigen Mitteln. Der Liberalismus tritt auch dort für Demokratie ein, wo<br />
er daraus für <strong>de</strong>n Augenblick o<strong>de</strong>r auch für längere Zeit Nachteile zu<br />
befürchten hat, weil er meint, daß man gegen <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>r Mehrheit<br />
sich doch nicht behaupten könne, und daß die Vorteile, die aus einer<br />
künstlich und gegen die Stimmung <strong>de</strong>s Volkes aufrechterhaltenen<br />
Herrschaft <strong>de</strong>s liberalen Prinzips erwachsen könnten, gegenüber <strong>de</strong>n<br />
Nachteilen, die aus <strong>de</strong>r durch die Vergewaltigung <strong>de</strong>s Volkswillens zu<br />
befürchten<strong>de</strong>n Störung <strong>de</strong>s ruhigen Ganges <strong>de</strong>r staatlichen Entwicklung<br />
entstehen müssen, verschwin<strong>de</strong>nd gering seien.<br />
Wäre es möglich gewesen, das Doppelspiel mit <strong>de</strong>m Schlagworte<br />
Demokratie länger fortzusetzen, die Sozial<strong>de</strong>mokratie hätte es sicher<br />
getan. Daß die bolschewikische Revolution sie gezwungen hat, die<br />
1 Vgl. Bucharin, Das Programm <strong>de</strong>r Kommunisten (Bolschewiki), Zürich 1918, S. 24<br />
ff.<br />
2 Wie dies Kelsen („Vom Wesen und Wert <strong>de</strong>r Demokratie“ im „Archiv für<br />
Sozialwissenschaft“, 47. Bd., S. 84) meint. Vgl. auch Menzel, Demokratie und<br />
Weltanschauung (Zeitschrift für öffentliches Recht, II. Bd., S. 701 ff.),
66<br />
Maske vorzeitig abzuwerfen und <strong>de</strong>n Gewaltcharakter ihrer Lehren und<br />
ihrer Politik zu enthüllen, ist ein geschichtlicher Zufall.<br />
§ 5. Jenseits <strong>de</strong>r Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats liegt das Paradies <strong>de</strong>r<br />
„höheren Phase <strong>de</strong>r kommunistischen Gesellschaft“, wo „mit <strong>de</strong>r<br />
allseitigen Entwicklung <strong>de</strong>r Individuen auch die Produktivkräfte<br />
gewachsen sind und alle Springquellen <strong>de</strong>s genossenschaftlichen<br />
Reichtums voller fließen“ 1 In diesem Lan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verheißung „gibt es<br />
nichts mehr zu reprimieren, das eine beson<strong>de</strong>re Repressionsgewalt, einen<br />
Staat nötig machte. . . . An Stelle <strong>de</strong>r Regierung über Personen tritt die<br />
Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“. 2 Es<br />
ist die Zeit angebrochen, in <strong>de</strong>r „ein in neuen freien<br />
Gesellschaftszustän<strong>de</strong>n herangewachsenes Geschlecht imstan<strong>de</strong> sein wird,<br />
<strong>de</strong>n ganzen Staatsplun<strong>de</strong>r von sich abzutun“. 3 Die Arbeiterklasse hat<br />
„lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse“<br />
durchgemacht, durch welche „die Menschen wie die Umstän<strong>de</strong> gänzlich<br />
umgewan<strong>de</strong>lt“ wur<strong>de</strong>n. 4 So kann die Gesellschaft ohne Zwangsordnung<br />
bestehen wie einst im Zeitalter <strong>de</strong>r Gentilverfassung. Von dieser weiß<br />
Engels sehr viel Schönes und Gutes zu berichten. 5 Nur scha<strong>de</strong>, daß man<br />
das alles schon schöner und besser bei Vergil, Ovid und Tacitus gelesen<br />
hat:<br />
Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo,<br />
sponte sua, sine lege fi<strong>de</strong>m rectumque colebat.<br />
poena metusque aberant, nee verba minantia fixo<br />
aere legebantur. 6<br />
So fehlt <strong>de</strong>n Marxisten je<strong>de</strong> Veranlassung, sich mit <strong>de</strong>n Problemen <strong>de</strong>r<br />
politischen Verfassung <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens zu<br />
beschäftigen. Sie sehen gar nicht, daß es hier Probleme gibt, die sich nicht<br />
einfach damit abtun lassen, daß man über sie schweigt. Auch in <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaftsordnung wird die Notwendigkeit, in Gemein-<br />
1 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen Programms, a. a. O., S. 17.<br />
2 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 302.<br />
3 Vgl. Engels, Vorwort zu Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Ausgabe <strong>de</strong>r<br />
Politischen Aktions-Bibliothek, Berlin 1919), S. 16.<br />
4 Vgl. Marx, Der Bürgerkrieg, a. a. O., S. 54.<br />
5 Vgl. Engels, Der Ursprung <strong>de</strong>r Familie, <strong>de</strong>s Privateigentums und <strong>de</strong>s Staates, 20.<br />
Aufl., Stuttgart 1921, S. 163 ff.<br />
6 Vgl. Ovid, Metam., I, 89 ff.; ferner Vergil, Aeneis, VII, 203 f.; Tacitus Annal., III, 26;<br />
dazu Poeh1mann, a. a. O., II. Bd., S. 583 f.
67<br />
schaft zu han<strong>de</strong>ln, die Frage auftauchen lassen, wie gemeinschaftlich<br />
gehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n soll. Dann wird man darüber zu entschei<strong>de</strong>n haben, wie<br />
das, was man mit einer metaphorischen Re<strong>de</strong>nsart <strong>de</strong>n Willen <strong>de</strong>r<br />
Gesamtheit o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Volkswillen zu nennen pflegt, zu bil<strong>de</strong>n ist. Wenn<br />
man auch ganz davon absehen will, daß es keine Verwaltung von Sachen<br />
gibt, die nicht Verwaltung von Menschen, d. h. die Bestimmung <strong>de</strong>s einen<br />
menschlichen Willens durch <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren ist, und keine Leitung von<br />
Produktionsprozessen, die nicht Regierung über Personen, d. h.<br />
Motivation <strong>de</strong>s einen menschlichen Willens durch <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren wäre, 1 so<br />
muß man doch fragen, wer die Sachen verwalten und die<br />
Produktionsprozesse leiten wird und welche Grundsätze dabei befolgt<br />
wer<strong>de</strong>n sollen. So haben wir wie<strong>de</strong>r alle politischen Probleme <strong>de</strong>r<br />
Organisation <strong>de</strong>s rechtlich geregelten Zusammenlebens vor uns.<br />
Wo wir in <strong>de</strong>r Geschichte Versuche fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m sozialistischen<br />
Gesellschaftsi<strong>de</strong>al nahezukommen, han<strong>de</strong>lt es sich immer um Autokratien<br />
mit schärfster Ausprägung <strong>de</strong>s obrigkeitlich-autoritären Charakters. Im<br />
Reiche <strong>de</strong>r Pharaonen und in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Inkas und im Jesuitenstaat von<br />
Paraguay war nichts von Demokratie, von Selbstbestimmung durch die<br />
Volksmehrheit, zu merken. Nicht min<strong>de</strong>r weit entfernt von <strong>de</strong>r<br />
Demokratie sind die Utopien <strong>de</strong>r älteren Sozialisten jeglicher Richtung.<br />
We<strong>de</strong>r Plato noch St. Simon waren Demokraten. Blickt man auf die<br />
Geschichte und auf die Literaturgeschichte <strong>de</strong>r sozialistischen Theorien,<br />
dann kann man nichts fin<strong>de</strong>n, das für einen inneren Zusammenhang <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaftsordnung und <strong>de</strong>r politischen Demokratie<br />
geltend gemacht wer<strong>de</strong>n könnte.<br />
Sehen wir genauer zu, dann fin<strong>de</strong>n wir, daß auch das erst in weiter<br />
Ferne zu verwirklichen<strong>de</strong> I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r höheren Phase <strong>de</strong>r kommunistischen<br />
Gesellschaft, wie es die Marxisten im Auge haben, durchaus<br />
un<strong>de</strong>mokratisch ist. Auch in ihm soll es nach Absicht <strong>de</strong>r Sozialisten<br />
ewigen ungestörten Frie<strong>de</strong>n - das Ziel aller <strong>de</strong>mokratischen Einrichtungen<br />
- geben; doch dieser Frie<strong>de</strong>nszustand wird auf an<strong>de</strong>rem Wege erreicht als<br />
auf <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>n die Demokraten gehen. Er wird nicht darauf beruhen, daß<br />
<strong>de</strong>r Wechsel <strong>de</strong>r Herrscher und <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n Politik sich in friedlicher<br />
Weise vollzieht, son<strong>de</strong>rn darauf, daß die Herrschaft verewigt wird, und<br />
daß we<strong>de</strong>r die Herrscher noch die herrschen<strong>de</strong> Politik gewechselt wer<strong>de</strong>n.<br />
Auch das ist Frie<strong>de</strong>n, doch nicht <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s lebendigen<br />
Fortschreitens, <strong>de</strong>n<br />
1 Vgl. Bourguin, Die sozialistischen Systeme und die wirtschaftliche Entwicklung,<br />
übers. v. Katzenstein, Tübingen 1906, S. 70 f.; Kelsen, Sozialismus und Staat (Archiv für<br />
Geschichte <strong>de</strong>s Sozialismus und <strong>de</strong>r Arbeiterbewegung, IX. Jahrgang), S. 54 f
68<br />
<strong>de</strong>r Liberalismus anstrebt, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Kirchhofs. Es ist nicht <strong>de</strong>r<br />
Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Pazifisten, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Pazifikatoren, <strong>de</strong>r Gewaltmenschen,<br />
die dadurch Frie<strong>de</strong>n herstellen wollen, daß sie sich alles<br />
unterwerfen. Es ist <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r Absolutismus herstellt, in<strong>de</strong>m er<br />
die absolute Herrschaft aufrichtet, und <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> so lang dauert, als diese<br />
absolute Herrschaft aufrecht erhalten wer<strong>de</strong>n kann. Der Liberalismus hat<br />
das Vergebliche solcher Frie<strong>de</strong>nsstiftung erkannt. Der Frie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n er<br />
anstrebt, ist gegen Gefahren, die von <strong>de</strong>m nie erlöschen<strong>de</strong>n<br />
Verän<strong>de</strong>rungsstreben her drohen, gefeit.<br />
IV.<br />
Gesellschaftsordnung und Familienverfassung.<br />
§ 1. Mit <strong>de</strong>m sozialistischen Gedanken <strong>de</strong>r Vergesellschaftung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel gehen seit altersher Vorschläge zur Umgestaltung <strong>de</strong>r<br />
Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern Hand in Hand. Mit <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum soll auch die Ehe verschwin<strong>de</strong>n und einem <strong>de</strong>m Wesen<br />
<strong>de</strong>r Sexualität besser entsprechen<strong>de</strong>n Verhältnisse Platz machen. Mit <strong>de</strong>r<br />
Befreiung <strong>de</strong>s Menschen vom Joche <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Arbeit, die <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus in Aussicht stellt, soll auch die Befreiung <strong>de</strong>r Liebe von allem<br />
Wirtschaftlichen, das sie bisher geschän<strong>de</strong>t habe, erfolgen. Der<br />
Sozialismus verheißt nicht nur Wohlstand, ja Reichtum für alle, son<strong>de</strong>rn<br />
auch Liebesglück für alle. Ein gutes Stück seiner Volkstümlichkeit<br />
verdankt er gera<strong>de</strong> diesem Teile seines Programms. Es ist bezeichnend,<br />
daß kein zweites <strong>de</strong>utsches sozialistisches Buch mehr gelesen wur<strong>de</strong> und<br />
mehr für <strong>de</strong>n Sozialismus geworben hat als Bebels „Die Frau und <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus“, das vor allem <strong>de</strong>r Verkündigung <strong>de</strong>r freien Liebe gewidmet<br />
ist.<br />
Daß die Ordnung <strong>de</strong>r Sexualverhältnisse, in <strong>de</strong>r wir leben, von vielen<br />
als unbefriedigend empfun<strong>de</strong>n wird, kann nicht als beson<strong>de</strong>rs merkwürdig<br />
bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Diese Ordnung ist auf einer weitgehen<strong>de</strong>n Ablenkung<br />
<strong>de</strong>r alles Menschliche beherrschen<strong>de</strong>n Sexualität von sexuellen Zielen und<br />
Hinlenkung auf neue Ziele, die <strong>de</strong>r Menschheit im Laufe <strong>de</strong>r<br />
Kulturentwicklung erwachsen sind, aufgebaut. Um sie aufzurichten,<br />
mußten große Opfer gebracht wer<strong>de</strong>n, und neue wer<strong>de</strong>n täglich gebracht.<br />
Je<strong>de</strong>r Einzelne macht in seinem Leben <strong>de</strong>n Prozeß durch, durch <strong>de</strong>n die<br />
Sexualität von <strong>de</strong>r diffusen Gestalt, die sie beim Kin<strong>de</strong> trägt, in ihre<br />
endgültige Gestaltung
69<br />
übergeführt wird. Je<strong>de</strong>r Einzelne muß dazu in seinem Innern die<br />
seelischen Mächte aufbauen, die <strong>de</strong>m Sexualtrieb als Hemmnisse in <strong>de</strong>n<br />
Weg treten und gleich wie Dämme seine Richtung beengen sollen. Dabei<br />
wird ein Teil <strong>de</strong>r Energie, mit <strong>de</strong>r die Natur <strong>de</strong>n Geschlechtstrieb<br />
ausgestattet hat, von <strong>de</strong>r sexuellen Verwendung abgeleitet und an<strong>de</strong>ren<br />
Zwecken zugeführt. Nicht je<strong>de</strong>m glückt es, aus <strong>de</strong>n Kämpfen und Nöten<br />
dieser Wandlung heil hervorzugehen. Mancher lei<strong>de</strong>t Schiffbruch, wird<br />
zum Neurotiker o<strong>de</strong>r gar zum Geisteskranken. Doch auch wer gesund<br />
bleibt und ein brauchbares Mitglied <strong>de</strong>r Gesellschaft wird, trägt Narben<br />
davon, die ein unglücklicher Zufall aufzureißen vermag. 1 Und wird ihm<br />
auch die Sexualität zur Quelle höchsten Glücks, so wird sie ihm auch<br />
wie<strong>de</strong>r zur Quelle <strong>de</strong>s Leids, und zuletzt ist es ihr schließliches<br />
Schwin<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Altern<strong>de</strong> zuerst erkennt, daß auch er <strong>de</strong>r<br />
Vergänglichkeit <strong>de</strong>s Irdischen unterworfen ist. So ist es die Sexualität, die<br />
<strong>de</strong>n Menschen durch Gewähren und Versagen immer wie<strong>de</strong>r zu narren<br />
scheint, die ihn beglückt und ihn wie<strong>de</strong>r ins Elend stoßt und ihn nie zur<br />
Ruhe kommen läßt. Um die Sexualität drehen sich die bewußten Wünsche<br />
<strong>de</strong>s Wachen<strong>de</strong>n und die unbewußten <strong>de</strong>s Träumen<strong>de</strong>n. Sie durfte auch in<br />
<strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r Gesellschaftsreformer nicht vergessen wer<strong>de</strong>n.<br />
Das konnte um so weniger <strong>de</strong>r Fall sein, als viele von ihnen Neurotiker<br />
waren, die unter <strong>de</strong>n Folgen einer unglücklichen Entwicklung <strong>de</strong>s<br />
Sexualtriebes zu lei<strong>de</strong>n hatten. Fourier z. B. litt an einer schweren<br />
Psychose; aus je<strong>de</strong>r Zelle seiner Schriften spricht die kranke Seele eines<br />
Mannes, <strong>de</strong>ssen Geschlechtsleben in größter Unordnung ist, und es ist nur<br />
zu bedauern, daß es bisher noch nicht unternommen wur<strong>de</strong>, seine<br />
Lebensgeschichte mit <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n zu untersuchen, die die<br />
Psychoanalyse an die Hand gibt. Daß seine Bücher, die vom tollsten<br />
Aberwitz durchtränkt sind, weite Verbreitung und höchste Anerkennung<br />
fin<strong>de</strong>n konnten, haben sie aber gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong> zu verdanken, daß<br />
sie mit krankhafter Phantasie in breiter Behaglichkeit die Liebensgenüsse<br />
schil<strong>de</strong>rn, die <strong>de</strong>r Menschheit im Phalanstère-Paradiese harren.<br />
Wie <strong>de</strong>r Utopismus alle seine Zukunftsi<strong>de</strong>ale als Wie<strong>de</strong>rherstellung<br />
eines gol<strong>de</strong>nen Zeitalters, das die Menschheit durch eigene Schuld<br />
verloren hat, darstellt, so gibt er vor, auch im Geschlechtsleben nichts<br />
an<strong>de</strong>res als die Rückkehr zum Urstan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r volles<br />
1 Vgl. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 2. Aufl., Leipzig und Wien 1910,<br />
S. 38 ff.
70<br />
Glück gebracht habe, zu for<strong>de</strong>rn. Schon die Dichter <strong>de</strong>r Antike preisen die<br />
alten herrlichen Zeiten <strong>de</strong>r freien Liebe, wie sie auch das Lob <strong>de</strong>r<br />
saturnischen Zeiten <strong>de</strong>r Eigentumslosigkeit ertönen lassen. 1 Der<br />
Marxismus folgt auch hierin <strong>de</strong>m Beispiel <strong>de</strong>s älteren Utopismus. Wie er<br />
die Abschaffung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums durch <strong>de</strong>n Hinweis auf seinen<br />
geschichtlichen Ursprung und die Abschaffung <strong>de</strong>s Staates damit zu<br />
begrün<strong>de</strong>n sucht, daß <strong>de</strong>r Staat „nicht von Ewigkeit her“ ist und daß es<br />
Gesellschaften gegeben habe, die „von Staat und Staatsgewalt keine<br />
Ahnung“ gehabt hätten, 2 so sucht er auch die Ehe damit zu bekämpfen,<br />
daß er ihren geschichtlichen Ursprung zu erweisen sucht. Dem Marxisten<br />
ist die geschichtliche Forschung nichts als ein Mittel <strong>de</strong>r politischen<br />
Agitation. Sie soll ihm Waffen zum Angriffe auf die verdammenswerte<br />
bürgerliche Gesellschaftsordnung liefern. Nicht das ist ihm in erster Reihe<br />
vorzuwerfen, daß er ohne sich auf eine eingehen<strong>de</strong> Überprüfung <strong>de</strong>s<br />
geschichtlichen Stoffes einzulassen leichtfertigerweise unhaltbare<br />
Theorien aufbaut; viel schlimmer noch ist es, daß er eine Wertung <strong>de</strong>r<br />
Geschichtsepochen in die sich als wissenschaftlich geben<strong>de</strong> Darstellung<br />
einschmuggelt. Es gab einst eine gol<strong>de</strong>ne Zeit, auf die folgte eine<br />
schlechtere, aber noch immerhin erträgliche, bis schließlich <strong>de</strong>r<br />
Kapitalismus kam und mit ihm alles nur er<strong>de</strong>nkliche Übel. So erscheint<br />
die kapitalistische Gesellschaftsordnung von vornherein als verdammt;<br />
man kann ihr nur ein einziges Verdienst zusprechen, daß sie nämlich<br />
gera<strong>de</strong> durch das Übermaß ihrer Abscheulichkeit die Welt für das<br />
erlösen<strong>de</strong> Heil <strong>de</strong>s Sozialismus reif macht.<br />
§ 2. Die neuere ethnographische und urgeschichtliche Forschung hat<br />
reiches Material zur Beurteilung <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Sexualbeziehungen<br />
gesammelt, und die junge Wissenschaft <strong>de</strong>r Psychoanalyse hat <strong>de</strong>n Grund<br />
zu einer wissenschaftlichen Theorie <strong>de</strong>s Geschlechtslebens gelegt. Die<br />
Soziologie hat es bisher allerdings noch nicht verstan<strong>de</strong>n, sich <strong>de</strong>n<br />
Reichtum an I<strong>de</strong>en und Material, <strong>de</strong>r ihr von diesen Disziplinen<br />
zugeflossen ist, zunutze zu machen. Sie hat es noch nicht vermocht, die<br />
Probleme neu zu stellen, um sie <strong>de</strong>n Fragen anzupassen, die sie heute in<br />
erster Linie zu beschäftigen hätten. Das, was sie noch über Exogamie und<br />
Endogamie, über Promiskuität und gar erst über Matriarchat und<br />
Patriarchat vorzubringen weiß, entspricht nicht mehr <strong>de</strong>n An-<br />
1 Vgl. Poehlmann, a. a. O., II. Bd., S. 576.<br />
2 Vgl. Engels, Der Ursprung <strong>de</strong>r Familie, <strong>de</strong>s Privateigentums und <strong>de</strong>s Staates, a. a. O.,<br />
S. 182.
71<br />
for<strong>de</strong>rungen, die man nun zu stellen berechtigt wäre. Die soziologische<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>r Urgeschichte <strong>de</strong>r Ehe und <strong>de</strong>r Familie ist so mangelhaft,<br />
daß man sie für die Deutung <strong>de</strong>r Probleme, die uns hier beschäftigen,<br />
nicht heranziehen darf. Einigermaßen sicheren Bo<strong>de</strong>n hat die Soziologie<br />
erst dort unter <strong>de</strong>n Füßen, wo es sich um die Beurteilung <strong>de</strong>r Verhältnisse<br />
in <strong>de</strong>r geschichtlichen Zeit han<strong>de</strong>lt.<br />
Der Charakter, <strong>de</strong>n die Familienbeziehungen unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s<br />
Gewaltprinzips tragen, ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r unumschränkten Herrschaft <strong>de</strong>s<br />
Mannes. Das schon in <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r sexuellen Beziehungen gelegene<br />
Moment, das das Männchen zum aggressiven Teil macht, wird hier auf<br />
die Spitze getrieben; <strong>de</strong>r Mann ergreift vom Weibe Besitz und gestaltet<br />
das Haben <strong>de</strong>s Sexualobjekts ganz nach <strong>de</strong>rselben Weise, in <strong>de</strong>r er die<br />
an<strong>de</strong>ren Güter <strong>de</strong>r Außenwelt hat. Das Weib wird damit völlig zur Sache.<br />
Es wird geraubt o<strong>de</strong>r gekauft, es wird ersessen, es wird verschenkt,<br />
verkauft, letztwillig vermacht, kurz, es ist im Hause wie eine Sklavin. Im<br />
Leben ist <strong>de</strong>r Mann ihr Richter; stirbt er, dann wird sie ihm mit an<strong>de</strong>rer<br />
Habe ins Grab nachgesen<strong>de</strong>t. 1 Das ist <strong>de</strong>r Rechtszustand, <strong>de</strong>n uns in<br />
nahezu vollkommener Übereinstimmung die älteren Rechtsquellen aller<br />
Völker zeigen. Die Historiker versuchen gewöhnlich, beson<strong>de</strong>rs wenn es<br />
sich um die Geschichte <strong>de</strong>s eigenen Volkes han<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>n peinlichen<br />
Eindruck, <strong>de</strong>n die Darstellung dieser Verhältnisse beim mo<strong>de</strong>rnen<br />
Menschen hinterläßt, dadurch abzuschwächen, daß sie darauf hinweisen,<br />
daß das Leben mil<strong>de</strong>r gewesen sei als <strong>de</strong>r Buchstabe <strong>de</strong>s Gesetzes, und<br />
daß die Härte <strong>de</strong>s Rechts die Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Ehegatten nicht<br />
getrübt habe; im übrigen trachten sie mit einigen Bemerkungen über die<br />
alte Sittenstrenge und über die Reinheit <strong>de</strong>s Familienlebens von <strong>de</strong>m<br />
Gegenstand, <strong>de</strong>r sich schlecht in ihr System zu fügen scheint,<br />
loszukommen. 2 Doch diese Rechtfertigungsversuche, zu <strong>de</strong>nen sie ihr<br />
nationaler Standpunkt und ihre Vorliebe für die Vergangenheit verleiten,<br />
sind wenig glücklich gewählt. Die Auffassung, die die alten Gesetze und<br />
Rechtsbücher vom Charakter <strong>de</strong>s Verhältnisses zwischen Mann und Weib<br />
haben, ist nicht das Ergebnis einer theoretischen Spekulation weltentrückter<br />
Phantasten; sie ist aus <strong>de</strong>m Leben geschöpft und gibt<br />
1 Vgl. Westermarck, Geschichte <strong>de</strong>r menschlichen Ehe, aus <strong>de</strong>m Englischen übers. von<br />
Katscher und Grazer, 2. Aufl., Berlin 1902, S. 122; Weinhold, Die <strong>de</strong>utschen Frauen in<br />
<strong>de</strong>m Mittelalter, 3. Aufl., Wien 1897, II. Bd., S. 9 ff.<br />
2 Vgl. z. B. Weinhold, a. a. O., II. Bd., S. 7 f.
72<br />
genau das wie<strong>de</strong>r, was die Männer und auch die Frauen von Ehe und<br />
Geschlechtsverkehr hielten. Daß einer Römerin, die in <strong>de</strong>r manus <strong>de</strong>s<br />
Ehegatten o<strong>de</strong>r unter Geschlechtsvormundschaft stand, o<strong>de</strong>r einer<br />
Germanin, die zeitlebens <strong>de</strong>r Munt unterworfen blieb, dieses Verhältnis<br />
durchaus natürlich und billig erschien, daß sie sich dagegen nicht<br />
innerlich aufbäumten und keinen Versuch unternahmen, das Joch<br />
abzuschütteln, ist kein Beweis dafür, daß zwischen <strong>de</strong>m Gesetze und<br />
seiner Handhabung eine breite Kluft bestand; es zeigt nur, daß die<br />
Einrichtung auch <strong>de</strong>m Empfin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Frauen entsprach. Und das kann uns<br />
nicht wun<strong>de</strong>rn. Die herrschen<strong>de</strong>n Rechts- und Moralauffassungen einer<br />
Zeit ergreifen nicht nur jene, <strong>de</strong>nen sie zum Vorteil zu gereiehen scheinen,<br />
son<strong>de</strong>rn auch jene, die durch sie zu lei<strong>de</strong>n scheinen; ihre Herrschaft<br />
kommt eben darin zum Ausdruck, daß sie auch von <strong>de</strong>nen anerkannt<br />
wer<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen sie Opfer heischen. Die Frau ist unter <strong>de</strong>r Herrschaft<br />
<strong>de</strong>s Gewaltsystems Dienerin <strong>de</strong>s Mannes; auch sie erblickt darin ihre Bestimmung.<br />
Sie teilt die Auffassung, <strong>de</strong>r das Neue Testament <strong>de</strong>n<br />
bündigsten Ausdruck verliehen hat: Der Mann ist nicht geschaffen um <strong>de</strong>s<br />
Weibes willen, son<strong>de</strong>rn das Weib um <strong>de</strong>s Mannes willen. 1<br />
Das Gewaltprinzip kennt überhaupt nur Männer. Sie allein sind Träger<br />
<strong>de</strong>r Gewalt und daher auch sie allein Träger von Rechten und Ansprüchen.<br />
Das Weib ist nichts als Sexualobjekt. Es gibt nur Weiber, die über sich<br />
einen Herrn haben, sei es <strong>de</strong>n Vater o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Vormund, sei es <strong>de</strong>n Gatten,<br />
sei es <strong>de</strong>n Dienstherrn. Selbst die Dirnen sind nicht frei; sie sind <strong>de</strong>ssen,<br />
<strong>de</strong>m das Frauenhaus gehört. Mit ihm, nicht mit <strong>de</strong>n Freu<strong>de</strong>nmädchen<br />
kontrahiert <strong>de</strong>r Gast. Die Vagantin aber ist Freiwild, die je<strong>de</strong>r nach<br />
Belieben gebrauchen darf. Das Recht, sich <strong>de</strong>n Mann zu wählen, steht<br />
<strong>de</strong>m Weibe nicht zu; sie wird <strong>de</strong>m Gatten gegeben und von ihm genommen.<br />
Daß sie ihn liebt, ist ihre Pflicht, vielleicht auch ihr Verdienst;<br />
es erhöht die Freu<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Manne aus <strong>de</strong>r Ehe kommen, doch es ist<br />
gleichgültig für <strong>de</strong>n Eheabschluß. Man fragt das Mädchen nicht danach.<br />
Der Mann hat das Recht, sie zu verstoßen o<strong>de</strong>r sich von ihr schei<strong>de</strong>n zu<br />
lassen; sie selbst hat dieses Recht nicht.<br />
So siegt im Zeitalter <strong>de</strong>s Gewaltprinzips <strong>de</strong>r Herrenstandpunkt <strong>de</strong>s<br />
Mannes ganz über alle älteren Ansätze zur Entwicklung geschlechtlicher<br />
Gleichberechtigung. Die Sage bewahrt noch einige Spuren größerer<br />
Sexualfreiheit <strong>de</strong>s Weibes - z. B. die Gestalt <strong>de</strong>r<br />
1 Vgl. 1. Cor., 11, 9.
73<br />
Brunhil<strong>de</strong> - doch sie wer<strong>de</strong>n nicht mehr verstan<strong>de</strong>n. Das Übergewicht <strong>de</strong>s<br />
Mannes ist so ungeheuer, daß es wi<strong>de</strong>r die Natur <strong>de</strong>s Geschlechtsverkehrs<br />
ist, und daß <strong>de</strong>r Mann selbst aus rein sexuellen Grün<strong>de</strong>n daran gehen muß,<br />
es im eigenen Interesse abzuschwächen.<br />
Denn es ist wi<strong>de</strong>r die Natur, daß <strong>de</strong>r Mann das Weib nimmt wie eine<br />
willenlose Sache. Der Geschlechtsakt ist ein wechselseitiges Geben und<br />
Nehmen, und bloß dul<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Verhalten <strong>de</strong>s Weibes min<strong>de</strong>rt auch <strong>de</strong>s<br />
Mannes Lust am Verkehr. Der Mann muß <strong>de</strong>s Weibes Entgegenkommen<br />
erwecken, um seine eigene Befriedigung zu erlangen. Der Sieger, <strong>de</strong>r die<br />
Sklavin in sein Ehebett geschleppt hat, <strong>de</strong>r Käufer, <strong>de</strong>r die Tochter ihrem<br />
Vater abgehan<strong>de</strong>lt hat, müssen um das werben, was ihnen die<br />
Vergewaltigung <strong>de</strong>s wi<strong>de</strong>rstreben<strong>de</strong>n Weibes nicht gewähren kann. Der<br />
Mann, <strong>de</strong>r nach außen hin als unumschränkter Gebieter seines Weibes<br />
erscheint, ist im Hause nicht so mächtig, als er glaubt; er muß einen Teil<br />
seiner Herrschaft an das Weib abtreten, mag er dies auch vor <strong>de</strong>r Welt<br />
ängstlich verbergen.<br />
Dazu kommt noch ein Zweites. Je mehr <strong>de</strong>r Einzelne gera<strong>de</strong> durch das<br />
Gewaltprinzip, das alle Weiber eigen macht und damit <strong>de</strong>n<br />
Geschlechtsverkehr erschwert, genötigt wird, im Alltag seinen natürlichen<br />
Trieben Zwang anzutun und moralische Hemmungen <strong>de</strong>r Sexualtriebes<br />
aufzubauen, <strong>de</strong>sto mehr wird <strong>de</strong>r Geschlechtsakt zu einer<br />
außeror<strong>de</strong>ntlichen psychischen Anstrengung, die nur unter Zuhilfenahme<br />
beson<strong>de</strong>rer Antriebe gelingt. Der Geschlechtsakt erfor<strong>de</strong>rt jetzt eine<br />
beson<strong>de</strong>re seelische Einstellung auf das Sexualobjekt; das ist die Liebe,<br />
die <strong>de</strong>m Urmenschen und <strong>de</strong>m Gewaltmenschen, die wahllos je<strong>de</strong><br />
Gelegenheit benützen, unbekannt ist. Das charakteristische Merkmal <strong>de</strong>r<br />
Liebe, die Überschätzung <strong>de</strong>s Sexualobjekts, ist mit <strong>de</strong>r verachteten<br />
Stellung, die <strong>de</strong>m Weibe unter <strong>de</strong>m Gewaltprinzip zufällt, nicht vereinbar.<br />
Das Gewaltprinzip macht das Weib zur nie<strong>de</strong>ren Magd, die Liebe aber<br />
will sie als Königin sehen.<br />
Aus diesem Gegensatze entsteht <strong>de</strong>r erste große Konflikt im<br />
Verhältnisse <strong>de</strong>r Geschlechter, <strong>de</strong>n wir im vollen Lichte <strong>de</strong>r Geschichte zu<br />
erkennen vermögen. Ehe und Liebe treten sich entgegen. Die<br />
Erscheinungsformen dieses Gegensatzes sind recht verschie<strong>de</strong>n, sein<br />
Wesen bleibt überall gleich. Die Liebe hat ihren Einzug in das Fühlen und<br />
Denken <strong>de</strong>r Männer und Frauen gehalten, sie wird immer mehr und mehr<br />
zum Mittelpunkte <strong>de</strong>s Seelenlebens, sie gibt <strong>de</strong>m Dasein Sinn und Reiz;<br />
aber diese Liebe hat mit <strong>de</strong>r
74<br />
Ehe und mit <strong>de</strong>m Verhältnisse <strong>de</strong>r Ehegatten zunächst noch nichts zu tun.<br />
Das muß zu schweren Konflikten führen, die wir aus <strong>de</strong>r epischen und<br />
lyrischen Poesie <strong>de</strong>s ritterlichen Zeitalters kennen lernen. Sie sind uns<br />
vertraut, weil sie in unvergänglichen Kunstwerken verewigt sind, und weil<br />
die Kunst <strong>de</strong>r Epigonen und jene Kunst, die ihre Vorwürfe aus primitiven<br />
Verhältnissen <strong>de</strong>r Gegenwart nimmt, sie noch immer behan<strong>de</strong>ln. Doch ihr<br />
Wesen können wir Mo<strong>de</strong>rnen nicht mehr fassen. Wir können es nicht<br />
begreifen, was <strong>de</strong>r alle Teile befriedigen<strong>de</strong>n Lösung <strong>de</strong>r Konflikte<br />
entgegensteht, warum die Lieben<strong>de</strong>n getrennt und an Ungeliebte<br />
gebun<strong>de</strong>n bleiben sollen. Wo Liebe Gegenliebe fin<strong>de</strong>t, wo Mann und<br />
Weib nichts an<strong>de</strong>res begehren, als sich in wechselweiser Liebe auf ewig<br />
zugetan bleiben zu dürfen, ist nach unseren Anschauungen alles in<br />
schönster Ordnung. Jene Gattung Poesie, die von nichts an<strong>de</strong>rem han<strong>de</strong>lt<br />
als von diesem, kann unter <strong>de</strong>n Verhältnissen, in <strong>de</strong>nen wir leben, zu<br />
keinem an<strong>de</strong>ren Ausgang gelangen als zu <strong>de</strong>m, daß Hans und Grete sich<br />
schließlich kriegen; das mag die Leser <strong>de</strong>r Familienblattromane<br />
entzücken, tragische Konflikte können daraus nicht erwachsen.<br />
Wären wir ohne Kenntnis von <strong>de</strong>m Inhalte jener überlieferten<br />
Literatur, und wür<strong>de</strong>n wir es versuchen, lediglich auf die Nachrichten, die<br />
uns aus an<strong>de</strong>ren Quellen über die damaligen Beziehungen <strong>de</strong>r<br />
Geschlechter zufließen, uns ein Bild von <strong>de</strong>n seelischen Konflikten <strong>de</strong>r<br />
ritterlichen Galanterie zu machen, so wür<strong>de</strong>n wir wohl darauf geraten, sie<br />
in <strong>de</strong>r zwiespältigen Stellung zu fin<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Manne zukommt, <strong>de</strong>r<br />
zwischen zwei Frauen steht, zwischen <strong>de</strong>r Ehefrau, an die seiner Kin<strong>de</strong>r<br />
und seines Hauses Geschick gebun<strong>de</strong>n ist, und <strong>de</strong>r Dame, <strong>de</strong>r sein Herz<br />
gehört, o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r traurigen Lage <strong>de</strong>r Frau, die ihr Ehegatte, ganz <strong>de</strong>m<br />
Dienste einer an<strong>de</strong>ren zugewen<strong>de</strong>t, vernachlässigt. Nichts aber liegt <strong>de</strong>m<br />
Empfin<strong>de</strong>n einer von <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>s Gewaltprinzips beherrschten Zeit<br />
ferner als das. Der Grieche, <strong>de</strong>r seine Zeit zwischen Hetären und<br />
Lustknaben teilte, empfand das Verhältnis zu seiner Gattin keineswegs als<br />
seelische Belastung, und diese selbst erblickte in <strong>de</strong>r Liebe, die <strong>de</strong>r<br />
Buhlerin <strong>galt</strong>, keine Beeinträchtigung ihrer eigenen Rechte. We<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Troubadour, <strong>de</strong>r sich ganz <strong>de</strong>r Dame seines Herzens widmete, noch sein<br />
Eheweib, das zu Hause geduldig harrte, litten unter <strong>de</strong>m Zwiespalt <strong>de</strong>r<br />
Liebe und <strong>de</strong>r Ehe. Sowohl Ulrich von Liechtenstein als auch seine brave<br />
Hausfrau fan<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>m ritterlichen Minnedienst alles in Ordnung. Der<br />
Konflikt <strong>de</strong>s ritterlichen Liebes-
75<br />
lebens kam von ganz wo an<strong>de</strong>rs her. Die Minne <strong>de</strong>s Weibes verletzte,<br />
wenn sie bis zum Gewähren <strong>de</strong>s Letzten fortschritt, die Rechte <strong>de</strong>s<br />
Ehegatten. Mochte er selbst noch so eifrig darauf ausgehen, an<strong>de</strong>rer<br />
Frauen Gunst zu gewinnen, daß an<strong>de</strong>re in sein Eigentumsrecht eingreifen<br />
und seine Frau besitzen sollten, wollte er nicht dul<strong>de</strong>n. Das ist ein<br />
Konflikt, <strong>de</strong>r ganz aus <strong>de</strong>m Denken <strong>de</strong>s Gewaltprinzips entspringt; nicht<br />
daß die Liebe <strong>de</strong>r Gattin nicht ihm gilt, son<strong>de</strong>rn daß ihr Leib, <strong>de</strong>r sein<br />
eigen ist, einem an<strong>de</strong>ren gehören soll, kränkt <strong>de</strong>n Gatten. Wo die Liebe<br />
<strong>de</strong>s Mannes nicht die Gattinnen an<strong>de</strong>rer, son<strong>de</strong>rn die außerhalb <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft stehen<strong>de</strong>n Dirnen, Sklavinnen und Lustknaben zum<br />
Gegenstan<strong>de</strong> hatte, wie vielfach in <strong>de</strong>r Antike und im Orient, konnte daher<br />
ein Konflikt überhaupt nicht entstehen. Die Liebe entzün<strong>de</strong>t nur von Seite<br />
<strong>de</strong>r männlichen Eifersucht her <strong>de</strong>n Konflikt. Nur <strong>de</strong>r Mann, als <strong>de</strong>r<br />
Eigentümer seines Weibes, kann <strong>de</strong>n Anspruch erheben, seine Frau ganz<br />
zu besitzen; <strong>de</strong>r Gattin steht das gleiche Recht <strong>de</strong>m Manne gegenüber<br />
nicht zu. In <strong>de</strong>r wesentlich verschie<strong>de</strong>nen Beurteilung, die <strong>de</strong>r Ehebruch<br />
<strong>de</strong>s Mannes und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Frau noch fin<strong>de</strong>t, und in <strong>de</strong>r ganz an<strong>de</strong>ren Weise,<br />
in <strong>de</strong>r Mann und Frau <strong>de</strong>n Ehebruch <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Teiles zu tragen pflegen,<br />
erkennen wir noch heute die Nachwirkung jener im übrigen uns schon<br />
fremd gewor<strong>de</strong>nen Auffassung.<br />
Das Wesen <strong>de</strong>r Gewaltherrschaft liegt auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>s<br />
Geschlechtsverkehres darin, daß es <strong>de</strong>r Frau das Recht <strong>de</strong>r Liebeswahl<br />
nicht zugesteht. Die Frau ist im Liebesleben nur Objekt, nicht Subjekt,<br />
und <strong>de</strong>m entspricht es, daß auch die Rechtsordnung sie mehr als eine<br />
Sache <strong>de</strong>nn als einen Menschen behan<strong>de</strong>lt. Daher kennt die Gesellschaft<br />
<strong>de</strong>s Gewaltprinzips das freie Weib, das an keinen Herrn gebun<strong>de</strong>n ist,<br />
nicht. Das Leben <strong>de</strong>s Weibes beginnt mit <strong>de</strong>m Augenblick, da sie<br />
vermählt wird. Sie wird vermählt, sie vermählt sich nicht selbst: filiam in<br />
matrinionium dare, sagt <strong>de</strong>r Römer. Die Tochter ist im Hause geborgen,<br />
sie bleibt bei <strong>de</strong>n Geschwistern o<strong>de</strong>r als Dienstmagd ihr Leben lang im<br />
Hause, wenn sie nicht heiratet. Sonst gibt es nur Priesterinnen und Dirnen;<br />
spät erst taucht die alte Jungfer als selbständige Person auf, ob ihres<br />
Alleinseins grausam verspottet und verhöhnt. Im geselligen Leben<br />
erscheint nur die verheiratete Frau. 1 In die Salons <strong>de</strong>r<br />
1 Vgl. Burckhardt, Die Kultur <strong>de</strong>r Renaissance in Italien, 10. Aufl., Leipzig 1908, II.<br />
Bd., S. 119.
76<br />
vornehmen Gesellschaft hält das unverheiratete Weib erst spät seinen<br />
Einzug, charakteristischerweise als Hoffräulein <strong>de</strong>r Fürstinnen und unter<br />
<strong>de</strong>ren beson<strong>de</strong>rem Schutze.<br />
Dem Liebesleben ist unter solchen Umstän<strong>de</strong>n eine ge<strong>de</strong>ihliche<br />
Entwicklung versagt. Vom häuslichen Her<strong>de</strong> verbannt sucht es allerlei<br />
Schlupfwinkel auf, in <strong>de</strong>nen es krause Formen annimmt. Die Libertinage<br />
fängt zu wuchern an, Perversionen <strong>de</strong>r natürlichen Triebe wer<strong>de</strong>n immer<br />
häufiger. In <strong>de</strong>m freien Geschlechtsverkehr, <strong>de</strong>r neben <strong>de</strong>m ehelichen in<br />
immer steigen<strong>de</strong>r Ungebun<strong>de</strong>nheit blüht, entwickeln sich alle<br />
Voraussetzungen, die <strong>de</strong>r Ausbreitung <strong>de</strong>r venerischen Krankheiten<br />
günstig sind. Es ist strittig, ob die Lustseuche seit altersher in Europa<br />
heimisch war o<strong>de</strong>r ob sie erst nach <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung Amerikas<br />
eingeschleppt wur<strong>de</strong>. Je<strong>de</strong>nfalls steht fest, daß sie zu Beginn <strong>de</strong>s 16.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts epi<strong>de</strong>mieartig um sich zu greifen beginnt. In <strong>de</strong>m Elend, das<br />
sie mit sich bringt, versinkt das Liebesspiel <strong>de</strong>r ritterlichen Romantik.<br />
§ 3. Über die Einwirkung <strong>de</strong>s „Wirtschaftlichen“ auf die<br />
Sexualverhältnisse gibt es nur eine Meinung: daß sie sehr ungünstig<br />
gewesen sei. Die ursprüngliche natürliche Reinheit <strong>de</strong>s Geschlechtsverkehres<br />
sei durch das Hineinspielen wirtschaftlicher Erwägungen<br />
getrübt wor<strong>de</strong>n. Auf keinem Gebiete <strong>de</strong>s menschlichen Lebens sei <strong>de</strong>r<br />
Einfluß <strong>de</strong>s Kulturfortschrittes und vor allem <strong>de</strong>r Reichtumsvermehrung<br />
ein ver<strong>de</strong>rblicherer gewesen als gera<strong>de</strong> auf diesem. In reinster Liebe<br />
hätten sich die Menschen <strong>de</strong>r Urzeit gepaart, schlicht und natürlich seien<br />
Ehe und Familienleben im vorkapitalistischen Zeitalter gewesen. Erst <strong>de</strong>r<br />
Kapitalismus habe Geldheiraten und Vernunftehen auf <strong>de</strong>r einen Seite,<br />
Prostitution und geschlechtliche Ausschweifungen auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />
gebracht. Die neuere geschichtliche und ethnographische Forschung hat<br />
diese Auffassung als völlig verkehrt erwiesen und neue Vorstellungen<br />
über das Geschlechtsleben <strong>de</strong>r Vorzeit und <strong>de</strong>r primitiven Völker gebil<strong>de</strong>t;<br />
die mo<strong>de</strong>rne Literatur hat gezeigt, wie wenig die Zustän<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>m entsprechen, was man sich noch vor Kurzem unter <strong>de</strong>m Schlagworte<br />
von <strong>de</strong>r ländlichen Sitteneinfalt dachte. Doch das alte Vorurteil war viel<br />
zu fest gefügt, als daß es dadurch ernstlich hätte erschüttert wer<strong>de</strong>n<br />
können. Überdies hat die sozialistische Literatur die alte Legen<strong>de</strong> mit<br />
neuem Pathos und <strong>de</strong>r ihr eigentümlichen Eindringlichkeit volkstümlich<br />
zu machen gesucht. So gibt es <strong>de</strong>nn kaum jemand, <strong>de</strong>r nicht <strong>de</strong>r Meinung<br />
wäre, daß die mo<strong>de</strong>rne Auffassung <strong>de</strong>r Ehe als eines Vertrags <strong>de</strong>m Wesen<br />
<strong>de</strong>r Geschlechtsverbindung
77<br />
abträglich sei, und daß <strong>de</strong>r Kapitalismus die Reinheit <strong>de</strong>s Familienlebens<br />
zerstört habe.<br />
Für die wissenschaftliche Betrachtung <strong>de</strong>s Verhältnisses von Ehe und<br />
Wirtschaft hält es schwer, zu dieser weniger von Einsicht als von braver<br />
Gesinnung zeugen<strong>de</strong>n Behandlung <strong>de</strong>r Probleme überhaupt eine Stellung<br />
zu gewinnen. Was gut, e<strong>de</strong>l, sittlich und tugendsam sein mag, kann sie<br />
selbst nicht beurteilen; hier muß sie das Feld an<strong>de</strong>ren überlassen. Doch sie<br />
wird nicht umhin können, die landläufige Auffassung sogleich in einem<br />
wichtigen Punkte zu berichtigen. Das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Geschlechtsbeziehung, das<br />
unsere Zeit vor Augen hat, ist durchaus ein an<strong>de</strong>res als das, das die<br />
Vorzeit hatte, und es hat nie eine Zeit gegeben, das seiner Erreichung<br />
näher gewesen wäre als unsere. Die Sexualverhältnisse <strong>de</strong>r gepriesenen<br />
guten alten Zeit erscheinen, an diesem unserem I<strong>de</strong>al gemessen, durchaus<br />
unbefriedigend. Dieses I<strong>de</strong>al muß mithin im Laufe eben <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
entstan<strong>de</strong>n sein, die die landläufige Theorie verdammt und dafür<br />
verantwortlich macht, daß es von unseren Zustän<strong>de</strong>n nicht vollkommen<br />
erreicht wird. Wir sehen somit gleich, daß die herrschen<strong>de</strong> Lehre <strong>de</strong>n Verhältnissen<br />
nicht entsprechen kann, daß sie die Dinge offenbar auf <strong>de</strong>n<br />
Kopf stellt und für die Erkenntnis <strong>de</strong>r Probleme ohne je<strong>de</strong>n Wert ist.<br />
Unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Gewaltprinzips gibt es überall Vielweiberei.<br />
Je<strong>de</strong>r Mann hat soviel Weiber, als er verteidigen kann. Weiber sind ein<br />
Besitz, von <strong>de</strong>m es immer besser ist, mehr zu haben als wenig. Wie man<br />
darnach strebt, mehr Sklaven und Kühe zu besitzen, so strebt man auch<br />
darnach, mehr Weiber zu besitzen. Die sittliche Einstellung <strong>de</strong>s Mannes<br />
zu seinen Weibern ist auch keine an<strong>de</strong>re als die zu seinen Sklaven und zu<br />
seinen Kühen. Er for<strong>de</strong>rt vom Weibe Treue, er ist <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r über<br />
seine Arbeit und über seinen Leib verfügen darf, doch er selbst fühlt sich<br />
in keiner Weise an das Weib gebun<strong>de</strong>n. Männertreue bedingt Einweiberei.<br />
1 Wo es über <strong>de</strong>m Gatten noch einen mächtigeren Herrn gibt, da<br />
hat vor allem auch dieser das Recht, über die Weiber seiner Untertanen zu<br />
verfügen. 2 Das vielberufene Recht <strong>de</strong>r ersten Nacht war ein Nachklang<br />
dieser Zustän<strong>de</strong>, die in <strong>de</strong>m Verkehr<br />
1 Vgl. Weinhold, Die <strong>de</strong>utschen Frauen in <strong>de</strong>m Mittelalter (1. Aufl.), Wien 1851, S.<br />
292 ff.<br />
2 Vgl. Westermarck, a. a. O., S. 74 ff.; Weinhold, a. a. O., I. Bd., S. 273 (3. Aufl).
78<br />
zwischen Schwiegervater und Schwiegertochter in <strong>de</strong>r Großfamilie einen<br />
letzten Ausläufer fan<strong>de</strong>n.<br />
Die Vielweiberei ist nicht durch Sittenreformer aufgehoben wor<strong>de</strong>n.<br />
Nicht die Religion ist zuerst gegen sie aufgetreten; das Christentum setzte<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte lang <strong>de</strong>r Vielweiberei <strong>de</strong>r Barbarenkönige keine Schranken;<br />
noch Karl <strong>de</strong>r Große hielt sich viele Kebsweiber. 1 Die Polygamie war,<br />
ihrem Wesen nach, nie eine Einrichtung gewesen, von <strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>r arme<br />
Mann Gebrauch machen konnte; sie war stets auf die Reichen und<br />
Vornehmen beschränkt gewesen. 2 Bei diesen mußte sie aber in <strong>de</strong>m Maße<br />
größere Schwierigkeiten erregen, als die Frauen als Erbinnen und<br />
Besitzerinnen in die Ehe traten, mit reicherer Mitgift ausgestattet und mit<br />
größeren Rechten zur Verfügung über die Mitgift bedacht wur<strong>de</strong>n. Die<br />
Frau aus reichem Haus, die <strong>de</strong>m Manne Reichtum in die Ehe bringt, und<br />
ihre Verwandten haben allmählich die Monogamie erzwungen; sie ist<br />
gera<strong>de</strong>wegs die Folge <strong>de</strong>s Eindringens <strong>de</strong>r kapitalistischen Denkungs- und<br />
Rechnungsart in die Familie. Zum vermögensrechtliehen Schutze <strong>de</strong>r Frau<br />
und ihrer Kin<strong>de</strong>r wird die scharfe Grenze zwischen legitimer und<br />
illegitimer Verbindung und Nachkommenschaft gezogen, wird das<br />
Verhältnis <strong>de</strong>r Gatten als wechselseitiger Vertrag anerkannt. 3<br />
In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Vertragsgedanken seinen Einzug in das Eherecht hält, bricht<br />
er die Herrschaft <strong>de</strong>s Mannes und macht das Weib zur gleichberechtigten<br />
Genossin. Aus einem einseitigen Gewaltverhältnis wird die Ehe zu einem<br />
wechselseitigen Vertrag, aus einer rechtlosen Magd wird das Weib zur<br />
Ehegattin, die vom Manne alles das for<strong>de</strong>rn darf, was er von ihr zu<br />
verlangen berechtigt ist. Schritt für Schritt erkämpft sie sich im Hause die<br />
Stellung, die sie heute einnimmt, und die von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mannes nur durch<br />
die Rücksichtnahme auf die an<strong>de</strong>rs geartete Tätigkeit im Erwerbsleben<br />
verschie<strong>de</strong>n ist. Was sonst an Vorrechten <strong>de</strong>s Mannes übrig geblieben ist,<br />
hat wenig Be<strong>de</strong>utung; es sind Ehrenvorrechte wie das, daß die Frau <strong>de</strong>n<br />
Namen <strong>de</strong>s Mannes führt.<br />
Diese Entwicklung <strong>de</strong>r Ehe hat <strong>de</strong>n Weg über das eheliche Güterrecht<br />
genommen. Die Stellung <strong>de</strong>r Frau in <strong>de</strong>r Ehe hob sich<br />
1 Vgl. Schrö<strong>de</strong>r, Lehrbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Rechtsgeschichte, 3. Aufl., Leipzig 1898, S.<br />
70, 110; Weinhold, a. a. O., II. Bd., S. 121 f.<br />
2 Vgl. Tacitus, Germania c. 17.<br />
3 Vgl. Marianne Weber, Ehefrau und Mutter in <strong>de</strong>r Rechtsentwicklung, Tübingen 1907,<br />
S. 53 ff., 217 ff.
79<br />
in <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m die Zurückdrängung <strong>de</strong>s Gewaltprinzips und das<br />
Vordringen <strong>de</strong>s Vertragsgedankens auf <strong>de</strong>n übrigen Gebieten <strong>de</strong>s<br />
Vermögensrechts die Umgestaltung <strong>de</strong>r vermögensrechtlichen<br />
Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Ehegatten nach sich ziehen mußte. Die<br />
Rechtsfähigkeit <strong>de</strong>r Frau in bezug auf das von ihr in die Ehe Eingebrachte<br />
und das in <strong>de</strong>r Ehe Erworbene und die Umwandlung <strong>de</strong>s vom Manne ihr<br />
üblicherweise Geleisteten in klagbare Pflichtleistungen hat sie zuerst aus<br />
<strong>de</strong>r Gewalt <strong>de</strong>s Mannes befreit.<br />
So ist die Ehe, die wir kennen, ganz ein Ergebnis <strong>de</strong>s Eindringens <strong>de</strong>s<br />
Vertragsgedankens in diesen Bezirk <strong>de</strong>s menschlichen Lebens. Alle<br />
I<strong>de</strong>alvorstellungen, die wir von <strong>de</strong>r Ehe hegen, sind ganz aus dieser<br />
Auffassung heraus erwachsen. Daß die Ehe einen Mann und ein Weib<br />
verbin<strong>de</strong>t, daß sie nur aus freiem Willen bei<strong>de</strong>r Teile entstehen könne und<br />
<strong>de</strong>n Gatten die Pflicht wechselseitiger Treue auferlege, daß die Verletzung<br />
<strong>de</strong>r ehelichen Pflichten nicht an<strong>de</strong>rs beim Manne zu beurteilen sei als<br />
beim Weibe, daß die Rechte von Mann und Frau in je<strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Beziehung die gleichen seien, das alles sind For<strong>de</strong>rungen, die sich nur aus<br />
dieser Einstellung zum Problem <strong>de</strong>r Geschlechtsgemeinschaft ergeben.<br />
Kein Volk kann sich <strong>de</strong>ssen rühmen, daß schon seine entfernten<br />
Vorfahren so über die Ehe gedacht hätten, wie wir heute über sie <strong>de</strong>nken.<br />
Ob die Sittenstrenge einst größer gewesen sei als heute, entzieht sich <strong>de</strong>r<br />
Beurteilung durch die Wissenschaft. Nur das haben wir festzustellen, daß<br />
unsere Anschauungen von <strong>de</strong>m, was die Ehe sein soll, an<strong>de</strong>re sind als jene<br />
<strong>de</strong>r vergangenen Geschlechter, und daß ihr I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Ehe in unseren<br />
Augen in höchstem Maße als unsittlich erscheint.<br />
Wenn die Lobredner <strong>de</strong>r alten guten Zucht gegen die Einrichtung <strong>de</strong>r<br />
Ehescheidung und Ehetrennung eifern, so haben sie mit <strong>de</strong>r Behauptung,<br />
daß es früher nichts <strong>de</strong>rartiges gegeben habe, wohl recht. Das Recht, die<br />
Frau zu verstoßen, das <strong>de</strong>m Manne einst zustand, hat mit <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen<br />
Eheauflösungsrecht nichts gemein. Nichts zeigt besser <strong>de</strong>n ungeheueren<br />
Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Anschauungen als ein Vergleich dieser bei<strong>de</strong>n Einrichtungen.<br />
Und wenn im Kampfe gegen die Ehetrennung die Kirche an <strong>de</strong>r Spitze<br />
marschiert, so ist es gut, daran zu erinnern, daß die Herausarbeitung <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Ehei<strong>de</strong>als <strong>de</strong>r Monogamie gleichberechtigter Gatten, zu <strong>de</strong>ssen<br />
Verteidigung sie einschreiten will, nicht das Ergebnis <strong>de</strong>r kirchlichen,<br />
son<strong>de</strong>rn das <strong>de</strong>r kapitalistischen Entwicklung ist.<br />
§ 4. In <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Vertragsehe, die aus <strong>de</strong>m freien Willen
80<br />
<strong>de</strong>s Mannes und <strong>de</strong>s Weibes hervorgeht, sind Ehe und Liebe vereint. Die<br />
Ehe erscheint nur dann als sittlich gerechtfertigt, wenn sie aus Liebe<br />
geschlossen wird; lieben sich die Brautleute nicht, dann wird dies als<br />
anstößig empfun<strong>de</strong>n. Die auf Entfernung geschlossenen fürstlichen<br />
Heiraten, bei <strong>de</strong>nen noch, wie überhaupt im Denken und Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r<br />
regieren<strong>de</strong>n Häuser, die Anschauungen <strong>de</strong>s Gewaltzeitalters zum<br />
Ausdruck kommen, muten uns fremd an; daß man das Bedürfnis<br />
empfin<strong>de</strong>t, sie <strong>de</strong>r Öffentlichkeit gegenüber als „Liebesheiraten“<br />
hinzustellen, zeigt, daß man selbst in Fürstenhäusern sich <strong>de</strong>m<br />
bürgerlichen Ehei<strong>de</strong>al nicht hat entziehen können.<br />
Die Konflikte <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Ehelebens entspringen zunächst daraus,<br />
daß die Liebesglut ihrem Wesen nach nicht von unbegrenzter Dauer sein<br />
kann, daß aber die Ehe auf Lebenszeit geschlossen wird. „Die<br />
Lei<strong>de</strong>nschaft flieht, die Liebe muß bleiben“ sagt Schiller, <strong>de</strong>r Schil<strong>de</strong>rer<br />
<strong>de</strong>s bürgerlichen Ehelebens. Bei <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r mit Kin<strong>de</strong>rn gesegneten<br />
Ehen vollzieht sich das Schwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gattenliebe langsam und<br />
unmerklich, an ihre Stelle tritt eine freundschaftliche Zuneigung, die lange<br />
Zeit hindurch noch immer wie<strong>de</strong>r durch ein kurzes Aufflackern <strong>de</strong>r alten<br />
Liebe unterbrochen wird; das Zusammenleben wird zur Gewohnheit, und<br />
in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn, mit <strong>de</strong>ren Entwicklung die Eltern die eigene Jugend noch<br />
einmal miterleben, fin<strong>de</strong>n sie Trost in <strong>de</strong>m notwendigen Verzicht, zu <strong>de</strong>m<br />
das allmähliche Schwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r eigenen Kräfte je<strong>de</strong>n Einzelnen mit <strong>de</strong>m<br />
Fortschreiten <strong>de</strong>s Alters nötigt. Es gibt gar viele Wege, auf <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
Mensch dazu gelangt, sich mit <strong>de</strong>r Vergänglichkeit seines Er<strong>de</strong>nwallens<br />
abzufin<strong>de</strong>n. Dem Gläubigen gibt die Religion Trost und Stärkung, in<strong>de</strong>m<br />
sie sein Einzeldasein in <strong>de</strong>n unendlichen Strom <strong>de</strong>s ewigen Lebens<br />
verweht, ihm eine feste Stellung im unvergänglichen Plan <strong>de</strong>s<br />
Weltenschöpfers und Weltenerhalters zuweist und ihn so über Zeit und<br />
Raum, Altern und Sterben hoch hinaushebt in göttliche Gefil<strong>de</strong>. An<strong>de</strong>re<br />
wie<strong>de</strong>r holen sich Trost aus <strong>de</strong>r Philosophie. Sie verzichten auf alle<br />
Hilfsannahmen, die <strong>de</strong>r Erfahrung wi<strong>de</strong>rsprechen, und verschmähen <strong>de</strong>n<br />
billigen Trost, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Aufrichtung eines willkürlichen Gebäu<strong>de</strong>s von<br />
Vorstellungen liegt, durch das man sich eine an<strong>de</strong>re Weltordnung<br />
vorzuspiegeln sucht als die, die wir um uns herum zu erkennen genötigt<br />
sind. Die große Menge sucht freilich einen dritten Weg. Dumpf und<br />
stumpf gehen sie im Alltäglichen unter, <strong>de</strong>nken nicht an <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n<br />
Tag, wer<strong>de</strong>n zu Sklaven <strong>de</strong>r Gewohnheit und <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaften.<br />
Zwischen all diesen aber steht eine vierte Gruppe, die nicht
81<br />
weiß, wie und wo <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n zu fin<strong>de</strong>n. Glauben können sie nicht mehr,<br />
weil sie vom Baume <strong>de</strong>r Erkenntnis genossen haben; in Stumpfheit<br />
unterzugehen vermögen sie nicht weil ihre Natur sich dagegen wehrt. Für<br />
das philosophische Sich-in-die-Verhältnisse-schicken aber sind sie zu<br />
unruhig und zu wenig ausgeglichen. Sie wollen das Glück um je<strong>de</strong>n Preis<br />
erringen und festhalten. Mit Aufbietung aller Kräfte rütteln sie an <strong>de</strong>n<br />
Stäben <strong>de</strong>r Gitter, die <strong>de</strong>n Trieben im Wege stehen. Sie wollen sich nicht<br />
beschei<strong>de</strong>n. Sie wollen das Unmögliche: sie suchen das Glück nicht im<br />
Streben, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Erfüllung, nicht im Kämpfen, son<strong>de</strong>rn im Sieg.<br />
Diese Naturen sind es, die die Ehe nicht mehr ertragen können, wenn<br />
das wil<strong>de</strong> Feuer <strong>de</strong>r ersten Liebe allmählich zu erlöschen beginnt. Da sie<br />
an die Liebe selbst die höchsten Anfor<strong>de</strong>rungen stellen und sich in <strong>de</strong>r<br />
Überschätzung <strong>de</strong>s Sexualobjekts nicht genug zu tun wissen, müssen sie,<br />
schon aus physiologischen Grün<strong>de</strong>n, schneller als die, die in bei<strong>de</strong>m<br />
maßvoller gewesen waren, in <strong>de</strong>r engeren Gemeinschaft <strong>de</strong>s<br />
Zusammenlebens Enttäuschungen erfahren, die dann leicht zu einem<br />
Umschlagen <strong>de</strong>r ursprünglichen Gefühle in ihr Gegenteil führen können.<br />
Die Liebe verkehrt sich in Haß, das Zusammenleben wird zur Qual. Wer<br />
sich nicht zu beschei<strong>de</strong>n weiß, wer nicht die Illusionen, mit <strong>de</strong>nen er in<br />
die Liebesehe eingetreten ist, herabzustimmen gewillt ist, wer es nicht<br />
lernt, <strong>de</strong>n Teil seines Liebesbedürfnisses, <strong>de</strong>n die Ehe nicht mehr<br />
befriedigen kann, sublimiert auf die Kin<strong>de</strong>r zu übertragen, ist für die Ehe<br />
nicht geschaffen. Er wird von <strong>de</strong>r Ehe weg zu neuen Liebeszielen streben,<br />
um in <strong>de</strong>n neuen Beziehungen immer wie<strong>de</strong>r die alte Erfahrung zu<br />
machen.<br />
Das alles hat mit <strong>de</strong>n sozialen Voraussetzungen <strong>de</strong>r Ehe gar nichts zu<br />
schaffen. Die Ehen, die unglücklich wer<strong>de</strong>n, gehen nicht daran zugrun<strong>de</strong>,<br />
daß die Gatten in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung leben, und daß<br />
es Son<strong>de</strong>reigentum an Produktionsmitteln gibt. Der Keim <strong>de</strong>r Krankheit,<br />
an <strong>de</strong>r sie lei<strong>de</strong>n, kommt nicht von außen, son<strong>de</strong>rn von innen, aus <strong>de</strong>n<br />
Anlagen <strong>de</strong>r Gatten. Daß diese Konflikte in <strong>de</strong>r vorkapitalistischen<br />
Gesellschaft gefehlt haben, ist nicht etwa darauf zurückzuführen, daß dort<br />
in <strong>de</strong>r Ehe das erfüllt war, was diesen kranken Ehen fehlt, vielmehr<br />
darauf, daß dort Liebe und Ehe geson<strong>de</strong>rt waren, und daß man von <strong>de</strong>r<br />
Ehe nicht verlangte, daß sie ewig ungetrübtes Liebesglück gewähre. Erst<br />
die folgerichtige Durchführung <strong>de</strong>s Vertrags- und Konsensgedankens läßt<br />
die Ehegatten von <strong>de</strong>r Ehe verlangen, daß sie ihre
82<br />
Liebessehnsucht befriedige. Damit wird an die Ehe eine For<strong>de</strong>rung<br />
gestellt, <strong>de</strong>r sie unmöglich entsprechen kann. Das Glück <strong>de</strong>r Liebe liegt<br />
im Kampfe um die Gunst <strong>de</strong>s geliebten Wesens und in <strong>de</strong>r Erfüllung <strong>de</strong>s<br />
Wunsches, sich mit ihm zu vereinen. Ob das Glück <strong>de</strong>r Liebe, <strong>de</strong>r die<br />
physiologische Befriedigung versagt blieb, dauern kann, mag<br />
dahingestellt bleiben. Sicher aber ist, daß die Liebe, die bis ans letzte Ziel<br />
gelangt ist, sich schneller o<strong>de</strong>r langsamer abkühlt, und daß es ein<br />
vergebliches Bemühen wäre, das flüchtige Glück <strong>de</strong>r Schäferstun<strong>de</strong>n zu<br />
verewigen. Daß auch die Ehe nicht imstan<strong>de</strong> ist, das Er<strong>de</strong>ndasein in eine<br />
unendliche Reihe von wonnigen Tagen herrlichsten Liebesgenusses<br />
umzugestalten, ist we<strong>de</strong>r an ihr gelegen noch an <strong>de</strong>n Verhältnissen <strong>de</strong>r<br />
sozialen Umwelt.<br />
Die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingten Konflikte <strong>de</strong>s<br />
Ehelebens sind von untergeordneter Be<strong>de</strong>utung. Daß Ehen auch um <strong>de</strong>r<br />
Mitgift <strong>de</strong>r Frau o<strong>de</strong>r um <strong>de</strong>s Reichtums <strong>de</strong>s Mannes willen ohne Liebe<br />
geschlossen wer<strong>de</strong>n, und daß manche Ehe aus wirtschaftlichen Grün<strong>de</strong>n<br />
unglücklich wird, ist nicht so wichtig, wie nach <strong>de</strong>r Häufigkeit <strong>de</strong>r<br />
literarischen Behandlung dieses Problems anzunehmen wäre. Aus diesen<br />
Konflikten fin<strong>de</strong>t sich leicht ein Ausweg, wenn man ihn nur suchen will.<br />
Als soziales Institut ist die Ehe eine Einglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Einzelnen in die<br />
gesellschaftliche Ordnung, durch die ihm ein bestimmter Wirkungskreis<br />
mit seinen Aufgaben und Anfor<strong>de</strong>rungen zugewiesen wird. Den Zwang<br />
solcher Einfügung in <strong>de</strong>n Lebensstand <strong>de</strong>r Masse können außeror<strong>de</strong>ntliche<br />
Naturen, die mit ihren Fähigkeiten über <strong>de</strong>n Durchschnitt weit<br />
emporragen, nicht ertragen. Wer <strong>de</strong>n Beruf in sich fühlt, Unerhörtes zu<br />
ersinnen und auszuführen, und bereit ist, eher sein Leben zu lassen als<br />
seiner Sendung untreu zu wer<strong>de</strong>n, ist weit entfernt davon, um eines<br />
Weibes o<strong>de</strong>r um ihrer Kin<strong>de</strong>r willen davon abzustehen. Im Leben <strong>de</strong>s<br />
Genies, mag es noch so sehr liebesfähig sein, nimmt das Weib und was<br />
mit ihm zusammenhängt, nur einen beschränkten Raum ein. Wir sehen<br />
dabei ganz ab von jenen Großen, bei <strong>de</strong>nen das Geschlechtliche sich überhaupt<br />
ganz in an<strong>de</strong>res Streben sublimiert hatte, wie z. B. bei Kant, und<br />
von jenen, <strong>de</strong>ren Feuergeist in unersättlichem Jagen auch nach Liebe sich<br />
mit <strong>de</strong>n unausbleiblichen Enttäuschungen <strong>de</strong>s Ehelebens nicht abzufin<strong>de</strong>n<br />
vermochte und ruhelos von einer Liebschaft zur an<strong>de</strong>ren drängte. Auch<br />
<strong>de</strong>r geniale Mensch, <strong>de</strong>ssen Eheleben einen scheinbar normalen Verlauf<br />
zu nehmen beginnt, <strong>de</strong>ssen Einstellung zum Geschlechtsleben sich von<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Leute nicht unterschei<strong>de</strong>t,
83<br />
kann auf die Dauer sich innerlich durch die Ehe nicht für gebun<strong>de</strong>n<br />
erachten, ohne sein eigenes Selbst zu vergewaltigen. Das Genie läßt sich<br />
in <strong>de</strong>r Ausführung seiner Absichten durch keinerlei Rücksichtnahme auf<br />
die Bequemlichkeit <strong>de</strong>r Mitmenschen - und stün<strong>de</strong>n sie ihm auch<br />
beson<strong>de</strong>rs nahe - abhalten. Ihm wer<strong>de</strong>n daher die Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ehe zu<br />
unerträglichen Fesseln, die es abzustreifen o<strong>de</strong>r doch so weit zu lockern<br />
versucht, daß es frei auszuschreiten vermag. Die Ehe ist ein Wan<strong>de</strong>rn zu<br />
zweien in Reih und Glied <strong>de</strong>r großen Marschkolonne <strong>de</strong>r Menge; wer<br />
seine eigenen Wege wan<strong>de</strong>ln will, muß sich von ihr lösen. Nur selten wird<br />
ihm das Glück zuteil, eine Frau zu fin<strong>de</strong>n, die gewillt und befähigt ist, ihn<br />
auf seinen einsamen Pfa<strong>de</strong>n zu begleiten.<br />
Das alles hatte man schon lange erkannt, und es war so sehr zum<br />
Gemeingut <strong>de</strong>r Menge gewor<strong>de</strong>n, daß je<strong>de</strong>r sich darauf zu berufen für<br />
berechtigt hielt, <strong>de</strong>r seine Frau betrog. Doch Genies sind selten, und eine<br />
gesellschaftliche Einrichtung wird dadurch allein, daß einzelne<br />
Ausnahmemenschen sich ihr nicht anzupassen verstehen, noch nicht<br />
unmöglich. Von dieser Seite drohte <strong>de</strong>r Ehe keine Gefahr. Weit<br />
be<strong>de</strong>nklicher schienen jedoch die Angriffe zu wer<strong>de</strong>n, die von <strong>de</strong>r<br />
Frauenbewegung <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts gegen die Ehe gemacht wur<strong>de</strong>n.<br />
Sie zwinge, so hieß es da, die Frau, ihre Persönlichkeit zum Opfer zu<br />
bringen. Nur <strong>de</strong>m Manne gewähre sie Raum zur Entfaltung seiner Kräfte,<br />
<strong>de</strong>r Frau aber versage sie alle Freiheit. Das liege in <strong>de</strong>m Charakter <strong>de</strong>r<br />
Ehe, die Mann und Weib zusammenspannt, und damit die schwächere<br />
Frau zur Dienerin <strong>de</strong>s Mannes erniedrige. Keine Reform könne daran<br />
etwas än<strong>de</strong>rn; Abhilfe könne nur durch die Beseitigung <strong>de</strong>r ganzen<br />
Einrichtung geschaffen wer<strong>de</strong>n. Nicht nur um sich geschlechtlich<br />
ausleben zu können, son<strong>de</strong>rn schon um <strong>de</strong>r Entwicklung ihres<br />
Menschentums willens müsse die Frau die Erlösung von diesem Joche<br />
anstreben. An die Stelle <strong>de</strong>r Ehe müßten lose Verhältnisse treten, die<br />
je<strong>de</strong>m Teile volle Freiheit gewähren.<br />
Der radikale Flügel <strong>de</strong>r Frauenbewegung, <strong>de</strong>r diesen Standpunkt<br />
festhält, übersieht, daß es nicht die Einrichtung <strong>de</strong>r bürgerlichen Ehe ist,<br />
die <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Persönlichkeit im weiblichen Menschen<br />
Hin<strong>de</strong>rnisse in <strong>de</strong>n Weg legt. Was das Weib in <strong>de</strong>r Entfaltung seiner<br />
Kräfte und Fähigkeiten hemmt, ist nicht die Bindung an Mann, Kin<strong>de</strong>r<br />
und Haushalt, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Umstand, daß die Sexualfunktion <strong>de</strong>n<br />
weiblichen Körper in weit stärkerem Maße ergreift als <strong>de</strong>n männlichen.<br />
Schwangerschaft und Stillen <strong>de</strong>r Säuglinge be-
84<br />
anspruchen die besten Jahre <strong>de</strong>r Frau, die Jahre, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Mann seine<br />
Kräfte zu größten Leistungen sammeln kann. Man mag die ungleiche<br />
Verteilung <strong>de</strong>r Lasten <strong>de</strong>s Fortpflanzungsdienstes als eine Unbilligkeit <strong>de</strong>r<br />
Natur bezeichnen, man mag <strong>de</strong>r Ansicht sein, daß es <strong>de</strong>r Frau unwürdig<br />
sei, Kin<strong>de</strong>rgebärerin und Amme abzugeben, doch man kann damit an <strong>de</strong>n<br />
natürlichen Tatsachen nichts än<strong>de</strong>rn. Die Frau hat vielleicht die Wahl,<br />
entwe<strong>de</strong>r auf das tiefste weibliche Glück, das <strong>de</strong>r Mutterschaft, o<strong>de</strong>r auf<br />
die männergleiche Entfaltung ihrer Persönlichkeit in Taten und Kämpfen<br />
zu verzichten; es mag schon bezweifelt wer<strong>de</strong>n, ob ihr überhaupt solche<br />
Wahl gelassen ist o<strong>de</strong>r ob nicht ihrem Wesen durch die Unterdrückung<br />
<strong>de</strong>r Mutterschaft ein Scha<strong>de</strong>n zugefügt wird, <strong>de</strong>r auch auf alle an<strong>de</strong>ren<br />
Lebensfunktionen zurückwirkt. Doch wenn sie Mutter wird, dann wird sie<br />
mit und ohne Ehe daran gehin<strong>de</strong>rt, so frei und unabhängig durchs Leben<br />
zu gehen wie <strong>de</strong>r Mann. Außeror<strong>de</strong>ntlichen Frauen mag es gegeben sein,<br />
trotz <strong>de</strong>r Mutterschaft auf manchem Gebiete Tüchtiges zu leisten; daß die<br />
größten Leistungen, daß die Genialität <strong>de</strong>m weiblichen Geschlechte<br />
versagt geblieben ist, ist auf seine Beanspruchung durch die Sexualität<br />
zurückzuführen.<br />
Soweit die Frauenbewegung sich darauf beschränkt, die Rechtsstellung<br />
<strong>de</strong>s Weibes <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mannes anzugleichen und <strong>de</strong>r Frau die rechtliche und<br />
wirtschaftliche Möglichkeit zu bieten, sich so auszubil<strong>de</strong>n und zu<br />
betätigen, wie es ihren Neigungen, Wünschen und ökonomischen<br />
Verhältnissen entspricht, ist sie nichts weiter als ein Zweig <strong>de</strong>r großen<br />
liberalen Bewegung, die <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r friedlichen freien Entwicklung<br />
vertritt. Soweit sie, darüber hinausgehend, Einrichtungen <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Lebens in <strong>de</strong>r Meinung bekämpft, damit naturgegebene<br />
Schranken <strong>de</strong>s menschlichen Daseins aus <strong>de</strong>m Wege räumen zu können,<br />
ist sie ein Geisteskind <strong>de</strong>s Sozialismus; auch <strong>de</strong>ssen Beson<strong>de</strong>rheit ist es,<br />
die Wurzel naturgegebener, <strong>de</strong>r menschlichen Einwirkung entrückter<br />
Umstän<strong>de</strong> in gesellschaftlichen Einrichtungen zu suchen und durch <strong>de</strong>ren<br />
Reform die Natur reformieren zu wollen.<br />
§ 5. Die radikale Lösung, die die Sozialisten für die sexuellen<br />
Probleme vorschlagen, ist die freie Liebe. Die sozialistische Gesellschaft<br />
beseitigt die sexualökonomische Abhängigkeit <strong>de</strong>r Frau, die darin besteht,<br />
daß die Frau auf das Einkommen <strong>de</strong>s Mannes angewiesen ist. Mann und<br />
Frau erhalten die gleichen wirtschaftlichen Rechte und, soweit nicht die<br />
Rücksichtnahme auf die Mutterschaft eine Son<strong>de</strong>rstellung <strong>de</strong>r Frau<br />
bedingt, auch die gleichen
85<br />
Pflichten. Unterhalt und Erziehung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n aus öffentlichen<br />
Mitteln bestritten; sie sind überhaupt Sache <strong>de</strong>r Gesellschaft, nicht mehr<br />
die <strong>de</strong>r Eltern. Die Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern sind somit<br />
aller ökonomischen und gesellschaftlichen Beeinflussung entzogen. Die<br />
Paarung hört auf, die einfachste Gestalt sozialer Verbindung, Ehe und<br />
Familie, zu begrün<strong>de</strong>n; die Familie verschwin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>r Gesellschaft stehen<br />
nur noch einzelne Individuen gegenüber. Damit wird die Liebeswahl<br />
vollkommen frei. Mann und Weib vereinigen und trennen sich, wie es<br />
gera<strong>de</strong> ihren Wünschen entspricht. Der Sozialismus schaffe da nichts<br />
neues, son<strong>de</strong>rn stelle „nur auf höherer Kulturstufe und unter neuen<br />
gesellschaftlichen Formen her, was auf primitiverer Kulturstufe und ehe<br />
das Privateigentum die Gesellschaft beherrschte, allgemeine Geltung<br />
hatte“ 1<br />
Das ist ein Programm, das sich nicht einfach mit <strong>de</strong>n bald<br />
salbungsvollen, bald giftspritzen<strong>de</strong>n Ausführungen <strong>de</strong>r Theologen und<br />
an<strong>de</strong>rer Moralprediger bekämpfen läßt. Die Auffassung <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r<br />
Schriftsteller, die sich mit <strong>de</strong>n Problemen <strong>de</strong>s Geschlechtsverkehrs<br />
beschäftigt haben, ist von <strong>de</strong>n klösterlich-asketischen I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r<br />
Moraltheologen beherrscht. Der Geschlechtstrieb gilt als das schlechthin<br />
Böse, Sinnlichkeit ist Sün<strong>de</strong>, Wollust ein Geschenk <strong>de</strong>s Teufels; schon das<br />
Denken an solche Dinge erscheint als unsittlich. Ob man diese absolute<br />
Verdammung <strong>de</strong>s Geschlechtstriebes teilen will, ist durchaus von <strong>de</strong>n<br />
Neigungen und Wertungen <strong>de</strong>s einzelnen abhängig. Das Bemühen <strong>de</strong>r<br />
Ethiker, für o<strong>de</strong>r gegen sie vom wissenschaftlichen Standpunkte<br />
einzutreten. ist vergebens geleistete Arbeit; man verkennt die Grenzen, die<br />
<strong>de</strong>r wissenschaftlichen Erkenntnis gezogen sind, wenn man ihr <strong>de</strong>n Beruf<br />
zuspricht, Werturteile zu fällen und das Han<strong>de</strong>ln nicht nur durch Klärung<br />
<strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>r Mittel, son<strong>de</strong>rn auch durch Einordnung <strong>de</strong>r Ziele in<br />
eine Stufenfolge zu beeinflussen. Wohl aber wäre es <strong>de</strong>r<br />
wissenschaftlichen Bearbeitung <strong>de</strong>r ethischen Probleme obgelegen, zu<br />
zeigen, daß wer einmal dazu gelangt ist, <strong>de</strong>n Sexualtrieb als an sich böse<br />
zu verwerfen, keinen Weg frei läßt, <strong>de</strong>r unter bestimmten<br />
Voraussetzungen doch noch zur sittlichen Billigung o<strong>de</strong>r auch nur zur<br />
Duldung <strong>de</strong>s Geschlechtsaktes führen kann. Die übliche Wendung, die die<br />
Sinneslast im Geschlechtsverkehr verdammt, <strong>de</strong>nnoch aber die<br />
pflichtgemäße Erfüllung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>bitum<br />
1 Vgl. Bebel, Die Frau und <strong>de</strong>r Sozialismus, 16. Aufl., Stuttgart 1892, S. 343.
86<br />
coniugale zum Zwecke <strong>de</strong>r Erzielung von Nachkommenschaft als sittliche<br />
Handlung erklärt, ist ein Erzeugnis ärmlicher Sophistik. Auch die<br />
Eheleute fin<strong>de</strong>n sich in Sinnlichkeit; aus pflichtgemäßer Rücksichtnahme<br />
auf <strong>de</strong>n Bedarf <strong>de</strong>s Staates an Rekruten und Steuerzahlern ist noch nie ein<br />
Kind gezeugt und empfangen wor<strong>de</strong>n. Eine Ethik, die <strong>de</strong>n<br />
Fortpflanzungsakt zu einer Handlung, <strong>de</strong>ren man sich zu schämen hat, zu<br />
stempeln wußte, müßte folgerichtig bedingungslos vollkommene<br />
Enthaltsamkeit verlangen. Wer das Leben nicht erlöschen lassen will, darf<br />
<strong>de</strong>n Quell, aus <strong>de</strong>m es sich erneuert, nicht einen Pfuhl <strong>de</strong>s Lasters nennen.<br />
Nichts hat die Moral <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft mehr vergiftet als diese<br />
Ethik, die, in<strong>de</strong>m sie we<strong>de</strong>r folgerichtig verwirft noch folgerichtig billigt,<br />
die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt und die Sün<strong>de</strong> mit einem<br />
prickeln<strong>de</strong>n Reiz umklei<strong>de</strong>t. Ihr ist es vor allem zuzuschreiben, daß <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rne Mensch in <strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>r geschlechtlichen Sittlichkeit haltlos<br />
schwankt und die großen Probleme <strong>de</strong>s Verhältnisses <strong>de</strong>r Geschlechter<br />
nicht einmal richtig zu sehen verstellt.<br />
Mann und Weib, davon wur<strong>de</strong> schon gesprochen, suchen in <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rnen Liebesheirat einem flüchtigen Glück, das keine Macht <strong>de</strong>r Welt<br />
halten kann, Dauer zu verleihen. Die Enttäuschung kann nicht ausbleiben,<br />
und haben die Gatten erst einmal erkannt, daß ihr Hoffen und Sehnen ein<br />
eitler Traum war, weil Glück nur als Geschenk <strong>de</strong>s Augenblicks <strong>de</strong>m<br />
Kämpfen<strong>de</strong>n und Streben<strong>de</strong>n zuteil wird und im ruhigen ungetrübten<br />
Besitz nie gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann, dann ist die Krise <strong>de</strong>r Ehe gekommen,<br />
aus <strong>de</strong>r nicht alle <strong>de</strong>n Weg herausfin<strong>de</strong>n. Manche Ehe geht da in die<br />
Brüche; die Gatten trennen sich, um neuen Illusionen in an<strong>de</strong>ren<br />
Verhältnissen nachzujagen, o<strong>de</strong>r bleiben zwar beisammen, um sich in<br />
lebenslangem Kampfe zu zermartern. Die an<strong>de</strong>ren lernen sich beschei<strong>de</strong>n<br />
und erkennen, daß es auf Er<strong>de</strong>n kein ewiges Glück gibt. Sie übertragen die<br />
Kraft, die in ihrem Sexualleben nicht aufgezehrt wird, auf die Liebe zu<br />
<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn; in <strong>de</strong>r Sorge um <strong>de</strong>ren Wohl wer<strong>de</strong>n sie alt und verzichten.<br />
Im Leben <strong>de</strong>s Mannes kommt <strong>de</strong>m Geschlechtlichen eine geringere<br />
Be<strong>de</strong>utung zu als in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Weibes. Für ihn tritt mit <strong>de</strong>r Befriedigung<br />
eine Entspannung ein, er wird durch sie frei und leicht. Das Weib aber<br />
wird abhängig von <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Mutterschaft, die sie nun zu tragen hat.<br />
Sein Schicksal ist durch das Geschlechtliche ganz umschrieben; im Leben<br />
<strong>de</strong>s Mannes ist es nur
87<br />
Zwischenfall. Der Mann bleibt, mag er noch so glühend und von ganzem<br />
Herzen lieben, mag er auch für das Weib das Schwerste auf sich nehmen,<br />
doch immer über <strong>de</strong>m Sexuellen stehen. Von <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r in ihm ganz<br />
aufgeht und in ihm untergeht, wen<strong>de</strong>n sich zuletzt auch die Frauen voll<br />
Verachtung ab. Das Weib aber erschöpft sich als Geliebte und als Mutter<br />
im Dienste <strong>de</strong>s Geschlechtstriebes. Für <strong>de</strong>n Mann ist es oft schwer, in <strong>de</strong>n<br />
Kämpfen und Mühen, in die ihn das Berufsleben stellt, die innere Freiheit<br />
zu bewahren, um seine Individualität zu entfalten; sein Liebesleben ist<br />
ihm hier weit weniger im Wege. Für die Individualität <strong>de</strong>s Weibes aber<br />
liegt die Gefahr im Sexuellen.<br />
Der Kampf <strong>de</strong>r Frau um die Persönlichkeit, das ist <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>r<br />
Frauenfrage. Es ist keine Angelegenheit, die bloß die Frauen angeht; sie<br />
ist für die Männer nicht weniger wichtig als für die Frauen. Denn <strong>de</strong>n<br />
Weg zu <strong>de</strong>n Höhen individueller Kultur können die Geschlechter nur<br />
vereint zurücklegen. Der Mann, <strong>de</strong>n das Weib immer wie<strong>de</strong>r in die<br />
nie<strong>de</strong>ren Sphären innerer Unfreiheit herabzieht, kann sich auf die Dauer<br />
nicht frei entwickeln. Dem Weibe Freiheit <strong>de</strong>s Innenlebens zu bewahren,<br />
das ist die wahre Frauenfrage; sie ist ein Stück <strong>de</strong>s Kulturproblems <strong>de</strong>r<br />
Menschheit.<br />
Der Orient ist daran zugrun<strong>de</strong> gegangen, daß er es nicht vermocht hat,<br />
sie zu lösen. Das Weib ist ihm Gefäß für <strong>de</strong>s Mannes Lust, Gebärerin und<br />
Amme. Je<strong>de</strong>r Aufschwung, <strong>de</strong>n die Persönlichkeitskultur im Morgenlan<strong>de</strong><br />
zu nehmen begann, ist frühzeitig dadurch gehemmt wor<strong>de</strong>n, daß das<br />
Weibliche <strong>de</strong>n Mann immer wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Dunstkreis <strong>de</strong>s<br />
Frauengemaches heruntergezogen hat. Nichts trennt heute Ost und West<br />
stärker als die Stellung <strong>de</strong>s Weibes und die Stellung zum Weibe. Die<br />
Lebensweisheit <strong>de</strong>r Orientalen hat die letzten Fragen <strong>de</strong>s Daseins<br />
vielleicht tiefer erfaßt als alle Philosophie Europas; daß sie mit <strong>de</strong>m<br />
Sexuellen nicht fertig zu wer<strong>de</strong>n vermochten, hat das Schicksal ihrer<br />
Kulturen besiegelt.<br />
Zwischen Morgenland und Abendland in <strong>de</strong>r Mitte erwuchs die<br />
eigenartige Kultur <strong>de</strong>r alten Hellenen. Doch auch <strong>de</strong>r Antike glückte es<br />
nicht, die Frau auf die Höhe zu heben, auf die sie <strong>de</strong>n Mann gestellt hat.<br />
Die griechische Kultur schloß das Eheweib aus. Die Gattin blieb im<br />
Frauengemach von <strong>de</strong>r Welt geschie<strong>de</strong>n, sie war für <strong>de</strong>n Mann nichts<br />
an<strong>de</strong>res als die Mutter seiner Erben und die Beschließerin seines Hauses.<br />
Seine Liebe <strong>galt</strong> allein <strong>de</strong>r Hetäre; doch auch hier unbefriedigt, wen<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r<br />
Hellene sich schließlich <strong>de</strong>r gleichgeschlechtlichen Liebe zu. Die<br />
Knabenliebe
88<br />
sieht Plato durch die geistige Gemeinschaft <strong>de</strong>r Lieben<strong>de</strong>n und durch die<br />
freudige Hingabe an die Schönheit <strong>de</strong>r Seele und <strong>de</strong>s Körpers verklärt, die<br />
Liebe zum Weibe ist ihm nur grobsinnliche Befriedigung <strong>de</strong>r Lust.<br />
Für <strong>de</strong>n Abendlän<strong>de</strong>r ist das Weib Gefährtin, für <strong>de</strong>n Orientalen<br />
Beischläferin. Die Europäerin hat die Stellung, die ihr heute zukommt,<br />
nicht von allem Anfang an besessen; sie hat sie erst allmählich im Laufe<br />
<strong>de</strong>r Entwicklung vom Gewaltprinzip zum Vertragsprinzip errungen. Diese<br />
Entwicklung hat ihr rechtlich volle Gleichberechtigung gebracht. Vor <strong>de</strong>m<br />
Gesetze sind Mann und Weib heute gleich. Die kleinen Unterschie<strong>de</strong>, die<br />
im Privatrechte noch bestehen, sind ohne praktische Be<strong>de</strong>utung. Ob z. B.<br />
das Gesetz die Ehefrau verpflichtet, <strong>de</strong>m Manne Folge zu leisten, ist<br />
ziemlich gleichgültig; so lange die Ehe bestehen bleibt, wird sich <strong>de</strong>r eine<br />
Teil <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren fügen müssen, und ob dabei Mann o<strong>de</strong>r Weib die<br />
stärkeren sind, wird gewiß nicht durch Paragraphen eines Gesetzbuches<br />
entschie<strong>de</strong>n. Daß die Frauen in <strong>de</strong>r Betätigung politischer Rechte vielfach<br />
behin<strong>de</strong>rt sind, das ihnen Stimmrecht und Ämterfähigkeit versagt wer<strong>de</strong>n,<br />
mag wohl als Kränkung ihrer persönlichen Ehre erachtet wer<strong>de</strong>n, hat aber<br />
kaum darüber hinaus Be<strong>de</strong>utung. Denn die politischen Machtverhältnisse<br />
eines Lan<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n durch die Verleihung <strong>de</strong>s Wahlrechtes an die Frauen<br />
im großen und ganzen nicht stark verschoben wer<strong>de</strong>n; die Frauen jener<br />
Partei, die durch die zu erwarten<strong>de</strong>n - freilich nicht allzu be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n -<br />
Verän<strong>de</strong>rungen lei<strong>de</strong>n müssen, müßten sachliche Interessen eher zu<br />
Gegnern <strong>de</strong>nn zu Anhängern <strong>de</strong>s Frauenstimmrechtes machen. Die<br />
Fähigkeit, öffentliche Ämter zu beklei<strong>de</strong>n, wird <strong>de</strong>n Frauen weniger durch<br />
die gesetzlichen Schranken, die ihren Rechten gezogen sind, als durch die<br />
Eigenheiten ihres Geschlechtscharakters genommen. Man kann, ohne <strong>de</strong>n<br />
Kampf <strong>de</strong>r Feministen um die Ausgestaltung <strong>de</strong>r bürgerlichen Rechte <strong>de</strong>r<br />
Frau damit zu unterschätzen, ruhig die Behauptung wagen, daß durch die<br />
Reste <strong>de</strong>r rechtlichen Zurücksetzung <strong>de</strong>r Frau, die die Gesetzgebung <strong>de</strong>r<br />
Kulturstaaten noch kennt, we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Frauen noch <strong>de</strong>r Gesamtheit ein<br />
wesentlicher Scha<strong>de</strong>n zugefügt wird.<br />
Das Mißverständnis, <strong>de</strong>m das Prinzip <strong>de</strong>r Gleichheit vor <strong>de</strong>m Gesetze<br />
in allgemein gesellschaftlicher Beziehung ausgesetzt war, ist auch auf<br />
<strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>ren Gebiete <strong>de</strong>r Beziehungen zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern<br />
nicht ausgeblieben. Gera<strong>de</strong> so wie die pseudo-<strong>de</strong>mokratische Bewegung<br />
durch Dekrete die natürlichen und die gesell-
89<br />
schaftlich bedingten Ungleichheiten auszumerzen bestrebt ist, wie sie<br />
Starke und Schwache, Begabte und Unbegabte, Gesun<strong>de</strong> und Kranke<br />
gleich machen will, so will <strong>de</strong>r radikale Flügel <strong>de</strong>r Frauenbewegung<br />
Männer und Weiber gleich machen. 1 Wenn sie auch nicht darauf ausgehen<br />
können, die physische Last <strong>de</strong>r Mutterschaft zur Hälfte <strong>de</strong>m Manne<br />
aufzubür<strong>de</strong>n, so wollen sie Ehe und Familienleben auslöschen, um <strong>de</strong>m<br />
Weibe zumin<strong>de</strong>st alle jene Freiheit zu geben, die mit <strong>de</strong>r Mutterschaft<br />
noch verträglich scheint. Das Weib soll sich, ohne durch Rücksichten auf<br />
Gatten und Kin<strong>de</strong>r beschwert zu sein, frei bewegen und betätigen, sich<br />
selbst und <strong>de</strong>r Entwicklung seiner Persönlichkeit leben können.<br />
Doch die Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Geschlechtscharaktere und <strong>de</strong>s<br />
Geschlechtsschicksals läßt sich ebensowenig weg<strong>de</strong>kretieren wie die<br />
sonstige Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Menschen. Dem Weibe fehlt, um <strong>de</strong>m<br />
Manne in Wirken und Tun gleichzukommen, weit mehr, als Gesetze zu<br />
geben vermögen. Und nicht die Ehe macht das Weib innerlich unfrei;<br />
son<strong>de</strong>rn das, daß sein Geschlechtscharakter <strong>de</strong>r Hingabe an einen Mann<br />
bedarf, und daß die Liebe zum Manne und zu <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn seine besten<br />
Kräfte verzehrt. Kein menschliches Gesetz hin<strong>de</strong>rt die Frau, die ihr Glück<br />
in <strong>de</strong>r Hingabe an eine Sache zu fin<strong>de</strong>n glaubt, auf Liebe und Ehe zu<br />
verzichten. Denen aber, die darauf nicht verzichten können, bleibt nicht<br />
genug Kraft überschüssig, um das Leben gleich <strong>de</strong>m Manne frei zu<br />
meistern. Nicht Ehe und Familie fesseln das Weib, son<strong>de</strong>rn die Stärke, mit<br />
<strong>de</strong>r das Sexuelle ihre ganze Persönlichkeit erfaßt. Wenn man die Ehe<br />
„abschaffen“ wollte, so wür<strong>de</strong> man die Frau nicht freier und nicht<br />
glücklicher machen, man wür<strong>de</strong> ihr nur das nehmen, was <strong>de</strong>n eigentlichen<br />
Inhalt ihres Lebens ausmacht, ohne ihr dafür etwas an<strong>de</strong>res bieten zu<br />
können.<br />
Der Kampf <strong>de</strong>s Weibes um die Behauptung seiner Persönlichkeit in <strong>de</strong>r<br />
Ehe ist ein Stück <strong>de</strong>s Ringens um Persönlichkeit, das für die<br />
rationalistische Gesellschaft <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln aufgebauten Wirtschaftsverfassung charakteristisch<br />
ist. Es ist kein Son<strong>de</strong>rinteresse <strong>de</strong>r Weiblichkeit, wie <strong>de</strong>nn nichts törichter<br />
ist als die schroffe Gegenüberstellung von Männerinteressen und<br />
Fraueninteressen, wie sie von <strong>de</strong>n extremen Frauenrechtlerinnen versucht<br />
wird. Die ganze Menschheit müßte<br />
1 Zu untersuchen, wie weit die radikalen For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Feminismus von Männern<br />
und Weibern, <strong>de</strong>ren Geschlechtscharakter nicht rein ausgebil<strong>de</strong>t ist, geschaffen wur<strong>de</strong>n,<br />
wür<strong>de</strong> über <strong>de</strong>n Rahmen, <strong>de</strong>r diesen Ausführungen gesteckt ist, hinausgehen.
90<br />
lei<strong>de</strong>n, wenn es <strong>de</strong>n Frauen nicht gelingen sollte, ihr Ich so zu entwickeln,<br />
daß sie sich als ebenbürtige freie Gefährtinnen und Genossinnen mit <strong>de</strong>m<br />
Manne vereinigen können.<br />
Man nimmt <strong>de</strong>m Weib ein Stück seines Lebens, wenn man ihm die<br />
Kin<strong>de</strong>r fortnimmt, um sie in staatlichen Anstalten aufwachsen zu lassen,<br />
und man nimmt <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn die wichtigste Schule <strong>de</strong>s Lebens, wenn man<br />
sie aus <strong>de</strong>m Schoße <strong>de</strong>r Familie reißt. Erst jüngst hat die Lehre Freuds,<br />
<strong>de</strong>s genialen Erforschers <strong>de</strong>r menschlichen Seele, gezeigt, wie tief die<br />
Eindrücke sind, die das Elternhaus auf das Kind ausübt. Von <strong>de</strong>n Eltern<br />
lernt das Kind lieben und empfängt damit von ihnen die Kräfte, die es<br />
befähigen, zum gesun<strong>de</strong>n Menschen heranzuwachsen. Konvikte züchten<br />
nur Homosexualität und Neurose. Es ist kein Zufall, daß <strong>de</strong>r Vorschlag,<br />
Männer und Frauen in radikaler Weise gleich zu behan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>n<br />
Geschlechtsverkehr von Staats wegen zu regeln, die Neugeborenen sofort<br />
nach <strong>de</strong>r Geburt in öffentliche Pflegeanstalten zu bringen und dafür Sorge<br />
zu tragen, daß Kin<strong>de</strong>r und Eltern sich völlig unbekannt bleiben, von Plato<br />
herrührt, <strong>de</strong>m die Beziehungen <strong>de</strong>r Geschlechter als nichts an<strong>de</strong>res <strong>de</strong>nn<br />
als Befriedigung einer körperlichen Notdurft erschienen.<br />
Die Entwicklung, die vom Gewaltprinzip zum Vertragsprinzip geführt<br />
hat, hat die Beziehungen <strong>de</strong>r Geschlechter auf die freie Liebeswahl<br />
gestellt. Das Weib darf sich je<strong>de</strong>m verweigern, es kann vom Manne, <strong>de</strong>m<br />
es sich hingibt, Treue und Beharrlichkeit for<strong>de</strong>rn. Damit erst wur<strong>de</strong> die<br />
Grundlage für die Entwicklung <strong>de</strong>r weiblichen Individualität gelegt.<br />
In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Sozialismus in bewußter Verkennung <strong>de</strong>s Vertragsgedankens<br />
wie<strong>de</strong>r zum Gewaltprinzip, wenn auch bei gleichmäßiger Verteilung <strong>de</strong>r<br />
Beute, zurückkehrt, muß er auch im Geschlechtsleben schließlich dazu<br />
gelangen, Promiskuität zu for<strong>de</strong>rn.<br />
§ 6. Das Kommunistische Manifest erklärt, daß die „bürgerliehe<br />
Familie“ ihre „Ergänzung“ in <strong>de</strong>r öffentlichen Prostitution fin<strong>de</strong>; „mit<br />
<strong>de</strong>m Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Kapitals“ wer<strong>de</strong> auch die Prostitution<br />
verschwin<strong>de</strong>n. 1 In Bebels Buch über die Frau ist ein Abschnitt<br />
überschrieben: „Die Prostitution eine notwendige soziale Institution <strong>de</strong>r<br />
bürgerlichen Welt“. Darin wird ausgeführt, die Prostitution sei für die<br />
bürgerliche Gesellschaft ebenso notwendig wie<br />
1 Vgl. Marx und Engels, Das Kommunistische Manifest, 7. <strong>de</strong>utsche Ausgabe, Berlin<br />
1906, S. 35.
91<br />
„Polizei, stehen<strong>de</strong>s Heer, Kirche, Unternehmerschaft usw.“. 1 Seither hat<br />
sich die Anschauung, die Prostitution sei ein Produkt <strong>de</strong>s Kapitalismus,<br />
außeror<strong>de</strong>ntlich stark verbreitet; und da auch noch alle Sittenprediger über<br />
<strong>de</strong>n Verfall <strong>de</strong>r guten alten Sitten klagen und <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Kultur <strong>de</strong>n<br />
Vorwurf machen, sie hätte die Ausschweifung geschaffen, ist je<strong>de</strong>rmann<br />
überzeugt, daß alle sexuellen Mißstän<strong>de</strong> eine Verfallserscheinung<br />
darstellen, die unserer Zeit eigentümlich ist.<br />
Es genügt <strong>de</strong>m entgegenzuhalten, daß die Prostitution eine uralte<br />
Einrichtung ist, die kaum je bei einem Volke gefehlt hat. 2 Sie ist ein Rest<br />
alter Sitten, nicht eine Verfallserscheinung höherer Kultur. Das, was ihr<br />
heute am wirksamsten entgegentritt, die For<strong>de</strong>rung nach Enthaltsamkeit<br />
<strong>de</strong>s Mannes außerhalb <strong>de</strong>r Ehe, ist ganz und gar ein I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Zeit. Das Zeitalter <strong>de</strong>s Gewaltprinzips hatte nur von <strong>de</strong>r<br />
Braut, nicht auch vom Bräutigam geschlechtliche Reinheit gefor<strong>de</strong>rt. Alle<br />
jene Umstän<strong>de</strong>, die heute die Prostitution begünstigen, haben mit <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum und mit <strong>de</strong>m Kapitalismus nichts zu tun. Der<br />
Militarismus, <strong>de</strong>r junge Männer länger als sie es wünschen von <strong>de</strong>r Ehe<br />
fernhält, ist nichts weniger als ein Produkt <strong>de</strong>s friedlieben<strong>de</strong>n<br />
Liberalismus. Daß Staatsbeamte und ähnliche Funktionäre nur reich<br />
heiraten können, weil sie sonst nicht „stan<strong>de</strong>sgemäß“ leben könnten, ist -<br />
wie alles Ständische - ein Überbleibsel vorkapitalistischen Denkens. Der<br />
Kapitalismus kennt <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>sgemäßen<br />
nicht; in ihm lebt je<strong>de</strong>r nach seinem Einkommen.<br />
Es gibt Frauen, die sich aus Männersucht prostituieren, und es gibt<br />
solche, die es aus ökonomischen Beweggrün<strong>de</strong>n tun. Bei vielen wird<br />
bei<strong>de</strong>s zusammenwirken. Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß die<br />
ökonomische Versuchung in einer Gesellschaft, in <strong>de</strong>r es keine<br />
Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s Einkommens gibt, entwe<strong>de</strong>r ganz wegfallen<br />
o<strong>de</strong>r auf ein Min<strong>de</strong>stmaß herabgesetzt wer<strong>de</strong>n könnte. Überlegungen<br />
darüber anzustellen, ob in einer Gesellschaft ohne<br />
Einkommensverschie<strong>de</strong>nheit nicht neue soziale Quellen <strong>de</strong>r Prostitution<br />
entstehen könnten, wäre müßig. Es könnte sein, daß gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Umstand,<br />
daß eine Frau dort die an<strong>de</strong>re durch nichts an<strong>de</strong>res übertreffen könnte als<br />
durch die Begehrtheit <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r ihr seine Liebe schenkt, <strong>de</strong>r<br />
Prostitution Vorschub leisten wür<strong>de</strong>. Je<strong>de</strong>nfalls geht es nicht an, ohne<br />
weiteres anzunehmen, daß die geschlechtliche<br />
1 Vgl. Bebel, a. a. O., S. 141 ff.<br />
2 Vgl. Marianne Weber, a. a. O., S. 6 f.
92<br />
Sittlichkeit einer sozialistischen Gesellschaft befriedigen<strong>de</strong>r sein könnte<br />
als die <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaft.<br />
Auf keinem Gebiet soziologischer Erkenntnis wird man mehr<br />
umlernen müssen als auf <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Beziehungen zwischen Sexualleben und<br />
Eigentumsordnung. Die Behandlung, die <strong>de</strong>m Probleme heute zuteil wird,<br />
ist von Vorurteilen jeglicher Art durchsetzt. Es wird notwendig sein, mit<br />
an<strong>de</strong>ren Augen zu sehen als mit <strong>de</strong>nen solcher, die von einem verlorenen<br />
Paradiese träumen, die Zukunft im rosigen Lichte sehen und alles das, was<br />
um sie her lebt, verdammen.
II. Teil.<br />
Die Wirtschaft <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens.<br />
I. Abschnitt.<br />
Das isolierte sozialistische Gemeinwesen.<br />
I.<br />
Das Wesen <strong>de</strong>r Wirtschaft.<br />
§ 1. Die theoretische Nationalökonomie hat ihren Ausgang genommen<br />
von Betrachtungen über die Geldpreise <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Güter und <strong>de</strong>r<br />
Dienstleistungen. Ihr ältester Kern sind münztheoretische<br />
Untersuchungen, die sich dann zu Forschungen über die<br />
Preisverschiebungen erweitern. Das Geld und die Geldpreise und alles,<br />
was mit <strong>de</strong>r Geldrechnung im Zusammenhange steht, bil<strong>de</strong>n die<br />
Probleme, an die die Wissenschaft zuerst herantritt. Die Ansätze zu<br />
ökonomischen Untersuchungen, die in Arbeiten über Haushaltung und<br />
über Einrichtung <strong>de</strong>r Produktion - beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r landwirtschaftlichen -<br />
enthalten waren, sind in <strong>de</strong>r Richtung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Erkenntnis<br />
nicht weiter entwickelt wor<strong>de</strong>n; sie wur<strong>de</strong>n nur für die Technologie und<br />
manche Naturwissenschaft zum Ausgangspunkt. Das war kein Zufall. Der<br />
menschliche Geist konnte nicht an<strong>de</strong>rs als auf <strong>de</strong>m Wege über die<br />
Rationalisierung, die in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Geldgebrauche beruhen<strong>de</strong>n<br />
Wirtschaftsrechnung steckt, dazu gelangen, die Gesetzmäßigkeit seines<br />
Han<strong>de</strong>lns zu erfassen und ihr nachzuspüren.<br />
Die ältere Nationalökonomie hat die Frage was Wirtschaft und<br />
Wirtschaften eigentlich sei, noch nicht aufgeworfen. Sie hatte mit <strong>de</strong>n<br />
großen Aufgaben, die ihr die Einzelprobleme selbst stellten, vollauf zu<br />
tun; methodologische Untersuchungen lagen ihr fern. Erst spät begann<br />
man damit, sich über die Wege und über die letzten
94<br />
Ziele <strong>de</strong>r Nationalökonomie und über ihre Einordnung in das System <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaft Rechenschaft zu geben. Da gelangte man schon beim<br />
Problem <strong>de</strong>r Objektbestimmung an eine Klippe, die man nicht zu<br />
umfahren wußte. Alle theoretischen Untersuchungen - sowohl die <strong>de</strong>r<br />
Klassiker als auch die <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Schule - gehen von <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftlichkeit aus; man mußte aber bald erkennen, daß von hier aus<br />
eine scharfe Abgrenzung <strong>de</strong>s Erkenntnisobjekts, das ihnen zugrun<strong>de</strong> liegt,<br />
nicht zu gewinnen sei, da das Prinzip <strong>de</strong>r Wirtschaftlichkeit ein<br />
allgemeines Prinzip <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns ist, nicht ein spezifisches<br />
Prinzip <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns, das <strong>de</strong>n Gegenstand <strong>de</strong>r nationalökonomischen<br />
Forschung bil<strong>de</strong>t. 1 Alles vernünftige und daher einer Erkenntnis<br />
zugängliche Han<strong>de</strong>ln ist von ihm geleitet; um das spezifisch<br />
„Wirtschaftliche“ im Sinne <strong>de</strong>s überlieferten Umkreises <strong>de</strong>r gegebenen<br />
nationalökonomischen Probleme von <strong>de</strong>m „Außenwirtschaftlichen“<br />
abzugrenzen, schien es schlechterdings unbrauchbar. 2<br />
An<strong>de</strong>rerseits war es auch nicht möglich, das rationale Han<strong>de</strong>ln nach<br />
<strong>de</strong>m nächsten Ziel, <strong>de</strong>m es zugekehrt ist, zu son<strong>de</strong>rn, und als Gegenstand<br />
<strong>de</strong>r nationalökonomischen Betrachtung nur jenes anzusehen, das auf die<br />
Versorgung <strong>de</strong>r Menschen mit Gütern <strong>de</strong>r Außenwelt bedacht ist. Dieser<br />
Auffassung mußte schon <strong>de</strong>r Umstand entgegengehalten wer<strong>de</strong>n, daß die<br />
Versorgung mit Sachgütern in letzter Linie nicht nur <strong>de</strong>r Erreichung<br />
solcher Ziele, die man als wirtschaftliche zu bezeichnen pflegt, dient, daß<br />
sie vielmehr auch die Erreichung an<strong>de</strong>rer Ziele vermitteln kann. Wenn<br />
man die Motive <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns in dieser Weise zu unterschei<strong>de</strong>n<br />
sucht, gelangt man zu einem Dualismus <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns - auf <strong>de</strong>r einen Seite<br />
das aus wirtschaftlichen Beweggrün<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite das aus<br />
nichtwirtschaftlichen Beweggrün<strong>de</strong>n -, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r notwendigen Einheit<br />
<strong>de</strong>s Wollens und <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns in unlösbaren Wi<strong>de</strong>rspruch tritt. Eine<br />
Theorie <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns muß dieses Han<strong>de</strong>ln als einheitliches zu<br />
begreifen wissen.<br />
An <strong>de</strong>r Außerachtlassung dieser For<strong>de</strong>rung krankt auch <strong>de</strong>r jüngste<br />
Versuch, eine Begriffsbestimmung <strong>de</strong>r Wirtschaft zu geben.<br />
1 Nur <strong>de</strong>r empirisch-realistischen Richtung <strong>de</strong>r historisch-sozialpolitischen Schule<br />
blieb es in ihrer heillosen Verwirrung aller Begriffe vorbehalten, das wirtschaftliche<br />
Prinzip als ein Spezifikum <strong>de</strong>r geldwirtschaftlichen Produktion zu erklären. Vgl. z. B.<br />
Lexis, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Berlin und Leipzig 1910, S. 5.<br />
2 Vgl. Amonn, Objekt und Grundbegriffe <strong>de</strong>r theoretischen Nationalökonomie, Wien<br />
und Leipzig 1911, S. 169.
95<br />
Für Spann zerfällt die Gesellschaft in Gebiete, die <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>r Werte<br />
angehören, Wert- o<strong>de</strong>r Zwecksysteme, und in Gebiete, die <strong>de</strong>m Bereich<br />
<strong>de</strong>r Mittel angehören. Werte sind Endzwecke, die zu ihrer Rechtfertigung<br />
eines Höheren nicht bedürfen, son<strong>de</strong>rn diese Rechtfertigung schon in sich<br />
selbst haben, wie das Heilige, Wahre, Gute, Schöne, Edle. Die Mittel sind<br />
die Verwirklicher <strong>de</strong>r Werte, Vorstufe o<strong>de</strong>r Vorzweck auf <strong>de</strong>m Wege zum<br />
Werte. „In <strong>de</strong>r strengsten Abgrenzung, in <strong>de</strong>r unbedingten<br />
Auseinan<strong>de</strong>rhaltung <strong>de</strong>r Mittel von <strong>de</strong>n Zielen liegt das wichtigste<br />
Geheimnis <strong>de</strong>s Begriffes <strong>de</strong>r Wirtschaft beschlossen.“ Wirtschaft „ist ein<br />
Inbegriff von Mitteln für Ziele“. 2 Der Mangel dieser Begriffsbestimmung,<br />
die das Wesen <strong>de</strong>r Wirtschaft im übrigen unzweifelhaft richtig erfaßt, liegt<br />
in <strong>de</strong>r Annahme einer Mehrheit von Endzwecken. Wenn <strong>de</strong>r Endzwecke<br />
mehrere sind, dann ist einheitliches Han<strong>de</strong>ln nicht <strong>de</strong>nkbar. Nimmt man<br />
aber, wie es auch Spann tut, an, daß die Werte in einer „Stufenfolge“ nach<br />
„Höher“ und „Niedriger“ geordnet erscheinen, dann sind sie eben nicht<br />
mehr Endzwecke. In<strong>de</strong>m sie in die Rangordnung eintreten, wer<strong>de</strong>n sie<br />
nach einem für sie alle maßgeben<strong>de</strong>n Gesichtspunkt gewertet. Dieser<br />
Gesichtspunkt aber kann kein an<strong>de</strong>rer sein als ein letzter Zweck, <strong>de</strong>m sie<br />
alle als Mittel dienen. Die Endzwecke, von <strong>de</strong>nen Spann spricht, sind<br />
daher in Wahrheit samt und son<strong>de</strong>rs nur Zwischenzwecke, und sie sind<br />
dies nicht, wie Spann meint, nur mitunter, nämlich dann, wenn sie als<br />
Mittel in <strong>de</strong>n Dienst an<strong>de</strong>rer Endzwecke treten, son<strong>de</strong>rn immer, da sie,<br />
auch als Endzwecke im Sinne Spanns, stets in <strong>de</strong>r Rangordnung stehen<br />
und das allein schon ihre Mittelhaftigkeit ausmacht. Der wahre Endzweck<br />
muß einzig und unteilbar sein; er ist in <strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>s Wollens und <strong>de</strong>s<br />
Han<strong>de</strong>lns das Absolute im Gegensatz zu <strong>de</strong>n Mitteln, die immer nur<br />
relativ sind, weil sie auf ihn bezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
Zwei Umstän<strong>de</strong> haben Spann dies verkennen lassen. Zunächst<br />
übersieht er, daß zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Sphären, in <strong>de</strong>nen seine<br />
verschie<strong>de</strong>nen Endzwecke das „für sich Wertvolle“ darstellen, keinerlei<br />
Verbindung besteht, solange man daran festhält, daß sie Eigenwert haben.<br />
Es mag dahingestellt bleiben, ob es überhaupt zulässig ist, von<br />
„Eigenwert“ und „Wert für sich“ zu sprechen. Der mo<strong>de</strong>rne<br />
Subjektivismus kennt nur einen <strong>de</strong>n Dingen vom Menschen verliehenen<br />
Wert; sie sind nicht wertvoll, man gibt ihnen Wert. Wenn man ein Ding<br />
als Zweck setzt, so kann dies immer nur als Setzung<br />
2 Vgl. Spann, Fundament <strong>de</strong>r Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl., Jena 1921, S. 20 ff.
96<br />
eines Zwischenzweckes gelten; letzter, höchster und alleiniger Zweck ist<br />
immer nur <strong>de</strong>r Mensch, nie etwas außerhalb <strong>de</strong>s Menschen Befindliches.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Grenzen, die <strong>de</strong>r Wertsetzung auf diese Weise gezogen<br />
wer<strong>de</strong>n, mag man <strong>de</strong>r Kürze und Einfachheit wegen einen<br />
Zwischenzweck als Endzweck bezeichnen. Doch man muß sich stets<br />
<strong>de</strong>ssen bewußt bleiben, was dieser Sprachgebrauch be<strong>de</strong>utet. Sobald man<br />
jedoch das enge Gebiet verläßt, auf <strong>de</strong>m ein Zwischenzweck <strong>de</strong>r<br />
Bequemlichkeit <strong>de</strong>s Ausdrucks halber als Endzweck angesehen wur<strong>de</strong>,<br />
darf man nicht vergessen, sich seiner Mittelhaftigkeit bewußt zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Wahre ist in <strong>de</strong>r Logik Endzweck, das Heilige in <strong>de</strong>r Religion. Logik<br />
und Religion stehen aber als Systeme <strong>de</strong>r Erkenntnis o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Normen -<br />
und nur im Systeme gilt dieser Endzweck - außerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft.<br />
Wenn aber das Wahre und das Heilige aus <strong>de</strong>m System ins Leben und in<br />
die Gesellschaft treten und damit einan<strong>de</strong>r entgegentreten, wenn es gilt,<br />
zwischen bei<strong>de</strong>n zu wählen, dann hören sie auf, Endzweck zu sein und<br />
wer<strong>de</strong>n Mittel. Wenn Spann als die Gebiete <strong>de</strong>r Gesellschaft, die ihrem<br />
Wesen nach das Wertvolle, die Zwecke, zum Inhalt haben, beispielsweise<br />
Wissenschaft, Kunst, Religion, Sittlichkeit, Recht, Staat bezeichnet, da<br />
das Logische, das Schöne, das Heilige, das Gute, das Rechte schon an und<br />
für sich Werte seien, und ihnen die Wirtschaft als das einzige Gebiet, <strong>de</strong>m<br />
Wert in jenem Sinn <strong>de</strong>s Selbstbestan<strong>de</strong>s fehlt, gegenüberstellt, dann<br />
übersieht er, daß von seinen Werten zu seinem Begriff <strong>de</strong>r Wirtschaft<br />
überhaupt keine Brücke führt. Es hätte ihm nicht entgehen sollen, daß<br />
auch seine Eigenwerte untereinan<strong>de</strong>r und mit <strong>de</strong>n von ihm nur als Mittel<br />
anerkannten Zwischenzwecken <strong>de</strong>r Wirtschaft in eine Rangordnung<br />
treten, die sie zu Mitteln im Dienste eines letzten Endzweckes erniedrigt.<br />
Der zweite Umstand, <strong>de</strong>r Spann in die Irre führt, ist seine<br />
grundsätzliche Ablehnung <strong>de</strong>s Eudämonismus und <strong>de</strong>s Utilitarismus.<br />
Jener letzte Endzweck, <strong>de</strong>m gegenüber alle an<strong>de</strong>ren Zwecke nur Mittel<br />
sind, kann kein an<strong>de</strong>rer sein als <strong>de</strong>r Mensch selbst, als sein Wohlbefin<strong>de</strong>n,<br />
seine Last. Wenn man in <strong>de</strong>n Mißverständnissen über <strong>de</strong>n Eudämonismus,<br />
an <strong>de</strong>nen die Ethik <strong>de</strong>s Pflichtgedankens festhält, befangen ist, kann man<br />
allerdings zu diesem Schlusse nicht gelangen. Dann verschließt man sich<br />
<strong>de</strong>n Zugang zur Erkenntnis <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns. Die Theorie <strong>de</strong>s<br />
Han<strong>de</strong>lns kann immer nur eudämonistisch und utilitaristisch sein.<br />
§ 2. Das vernünftige und daher allein vernunftgemäß zu begreifen<strong>de</strong><br />
Han<strong>de</strong>ln kennt nur ein Ziel: die höchste Lust <strong>de</strong>s han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n
97<br />
Individuums. Es will Lust erzeugen, Unlust vertreiben. Wer gegen diese<br />
Auffassung mit <strong>de</strong>n Schlagwörtern, die im Kampfe gegen Eudämonismus<br />
und Utilitarismus üblich sind, losziehen will, <strong>de</strong>r sei auf die Schriften<br />
verwiesen, in <strong>de</strong>nen Mill 1 und Feuerbach 2 die Mißverständnisse, die über<br />
<strong>de</strong>n Inhalt dieser Lehre verbreitet sind, auf<strong>de</strong>cken und <strong>de</strong>n<br />
unwi<strong>de</strong>rleglichen Nachweis erbringen, daß vernünftiges menschliches<br />
Han<strong>de</strong>ln an<strong>de</strong>rs als so motiviert nicht einmal <strong>de</strong>nkbar ist. Es wäre scha<strong>de</strong>,<br />
daran auch nur ein weiteres Wort zu verschwen<strong>de</strong>n. Wer noch immer<br />
nicht weiß, was die Ethik unter Lust und Unlust, unter Glückseligkeit und<br />
unter Nutzen verstehen will, wer noch immer <strong>de</strong>m „gemeinen“<br />
Hedonismus die „hehre“ Pflichtethik gegenüberstellen will, <strong>de</strong>r wird sich<br />
nicht überzeugen lassen, weil er nicht überzeugt wer<strong>de</strong>n will.<br />
Der Mensch han<strong>de</strong>lt überhaupt nur, weil er nicht voll befriedigt ist.<br />
Stün<strong>de</strong> er stets im Vollgenusse höchsten Glücks, dann wäre er wunschlos,<br />
willenlos, tatenlos. Im Schlaraffenland wird nicht gehan<strong>de</strong>lt. Nur <strong>de</strong>r<br />
Mangel, das Unbefriedigtsein, löst das Han<strong>de</strong>ln aus. Han<strong>de</strong>ln ist<br />
zielstrebiges Wirken nach außen. Sein letztes Ziel ist immer Beseitigung<br />
eines als mißlich erkannten Zustan<strong>de</strong>s, Behebung eines Mangels,<br />
Befriedigung, Steigerung <strong>de</strong>s Glücksgefühls. Stün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
Menschen alle äußeren Hilfsquellen in so reichem Maße zur Verfügung,<br />
daß er durch sein Han<strong>de</strong>ln volle und höchste Befriedigung zu erlangen<br />
imstan<strong>de</strong> wäre, dann könnte er mit ihnen achtlos umgehen. Nur sein<br />
persönliches Wirken, <strong>de</strong>n Einsatz seiner eigenen Kräfte und seiner<br />
dahinfließen<strong>de</strong>n Lebenszeit, hätte er, weil in einem gegenüber <strong>de</strong>r Fülle<br />
<strong>de</strong>r Bedürfnisse nur begrenzten Maße verfügbar, so zu verwen<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r<br />
größtmögliche Erfolg erzielt wird; nur mit <strong>de</strong>r Arbeit und mit <strong>de</strong>r Zeit,<br />
nicht auch mit <strong>de</strong>n Sachgütern wür<strong>de</strong> er dann wirtschaften. Da aber auch<br />
die Sachgüter im Verhältnis zum Bedarf knapp sind, wer<strong>de</strong>n auch sie in<br />
<strong>de</strong>r Weise verwen<strong>de</strong>t, daß zunächst die dringen<strong>de</strong>ren Bedürfnisse vor <strong>de</strong>n<br />
min<strong>de</strong>r dringen<strong>de</strong>n befriedigt wer<strong>de</strong>n, und daß für je<strong>de</strong>n Erfolg die<br />
geringste Menge davon aufgebraucht wird.<br />
Das Gebiet <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns und das <strong>de</strong>r Wirtschaft fallen<br />
zusammen; alles rationale Han<strong>de</strong>ln ist Wirtschaften, alles<br />
1 Vgl. J. St. Mill, Das Nützlichkeitsprinzip, Übers. v. Wahrmund (Gesammelte Werke,<br />
Deutsche Ausgabe von Th. Gomperz, I. Bd., Leipzig 1869, S. 126-200).<br />
2 Vgl. Ludwig Feuerbach, Der Eudämonismus (Sämtliche Werke, herg. v. Bolin und<br />
Jodl, X. Bd., Stuttgart 1911, S. 230-298).
98<br />
Wirtschaften ist rationales Han<strong>de</strong>ln. Das theoretische Denken hingegen ist<br />
kein Wirtschaften. Was gedacht wird, um ein Begreifen und Verstehen <strong>de</strong>r<br />
Welt zu ermöglichen, trägt seinen Wert zwar nicht in sich - die mo<strong>de</strong>rne<br />
Wissenschaft kennt keinen valor intrinsecus mehr - doch in <strong>de</strong>r<br />
Befriedigung, die <strong>de</strong>r Denker und die unter seiner Führung dasselbe<br />
wie<strong>de</strong>r durch<strong>de</strong>nken, darob unmittelbar empfin<strong>de</strong>n. Im Denken selbst ist<br />
Ökonomie kein Erfor<strong>de</strong>rnis, so wenig sie es im Schönen o<strong>de</strong>r im<br />
Schmackhaften ist. Ob etwas besser o<strong>de</strong>r weniger gut schmeckt, ist ganz<br />
unabhängig davon, ob es ökonomisch ist o<strong>de</strong>r nicht; die Lustempfindung<br />
wird dadurch nicht beeinflußt. Erst wenn das Schmackhafte aus <strong>de</strong>m<br />
Gebiet <strong>de</strong>r theoretischen Erkenntnis in das <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns tritt, wenn es gilt,<br />
sich Schmackhaftes zu verschaffen, dann wird es von <strong>de</strong>r Ökonomie<br />
erfaßt, und es wird wichtig, einerseits für die Beschaffung dieses<br />
Genusses nichts aufzuwen<strong>de</strong>n, was dringen<strong>de</strong>ren Bedürfnissen entzogen<br />
wer<strong>de</strong>n müßte, und an<strong>de</strong>rerseits das <strong>de</strong>r Beschaffung <strong>de</strong>s Schmackhaften<br />
in Anbetracht seiner Be<strong>de</strong>utung Gewidmete so auszunützen, daß dabei<br />
nichts verloren geht, da sonst die Deckung an<strong>de</strong>rer, wenn auch<br />
min<strong>de</strong>rwichtiger Bedürfnisse verschlechtert wür<strong>de</strong>. Mit <strong>de</strong>m Denken steht<br />
es nicht an<strong>de</strong>rs. Das Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r logischen Richtigkeit und Wahrheit<br />
ist von aller Ökonomie unabhängig. Die Lustempfindung, die es auslöst,<br />
löst es durch seine Richtigkeit und Wahrheit, nicht durch<br />
Wirtschaftlichkeit in <strong>de</strong>r Verwendung <strong>de</strong>r Mittel aus. Daß eine Definition<br />
nicht mehr enthalten soll, als notwendig ist, ist kein Erfor<strong>de</strong>rnis <strong>de</strong>r<br />
Ökonomie, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r logischen Richtigkeit; wür<strong>de</strong> sie mehr enthalten,<br />
dann wäre sie falsch, wür<strong>de</strong> daher nicht Lust, son<strong>de</strong>rn Unlust erregen. Die<br />
For<strong>de</strong>rung ein<strong>de</strong>utiger Bestimmtheit <strong>de</strong>r Begriffe ist nicht ökonomischer,<br />
son<strong>de</strong>rn spezifisch logischer Natur. Auch dort, wo das Denken aufhört<br />
theoretisch zu sein und ein Vorbe<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns wird, ist nicht<br />
Ökonomie <strong>de</strong>s Gedachten son<strong>de</strong>rn Ökonomie <strong>de</strong>r vorbedachten Handlung<br />
das Erfor<strong>de</strong>rnis. Das aber ist wohl etwas an<strong>de</strong>res. 1<br />
1<br />
Diese kurzen Bemerkungen wollen <strong>de</strong>r Behandlung, die das Problem <strong>de</strong>r<br />
Denkökonomie durch die mo<strong>de</strong>rne Philosophie erfahren hat, nichts hinzufügen o<strong>de</strong>r<br />
entgegensetzen. Sie stehen nur hier, um zu verhin<strong>de</strong>rn, daß das Mißverständnis entstehe,<br />
wer alles rationale Han<strong>de</strong>ln als Wirtschaften ansieht, müßte auch <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Denkens ökonomische Natur zusprechen. Zu diesem Mißverständnis könnte man leicht<br />
durch die Ausführungen verleitet wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen Spann (a. a. O., S. 56 ff.) die<br />
Vorstellung <strong>de</strong>r Denkökonomie zurückweist.
99<br />
Alles rationale Han<strong>de</strong>ln ist zunächst individual. Nur das Individuum<br />
<strong>de</strong>nkt, nur das Individuum ist vernünftig. Und nur das Individuum<br />
han<strong>de</strong>lt. Wie aus <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Individuen die Gesellschaft entsteht,<br />
wird später zu, zeigen sein.<br />
§ 3. Alles menschliche Han<strong>de</strong>ln erscheint, sofern es rational ist, als ein<br />
Vertauschen eines Zustan<strong>de</strong>s mit einem an<strong>de</strong>ren. Die zur Verfügung<br />
stehen<strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns - die wirtschaftlichen Güter und die<br />
eigene Arbeit und Zeit - wer<strong>de</strong>n in die Verwendung gebracht, die <strong>de</strong>n<br />
höchsten unter <strong>de</strong>n gegebenen Verhältnissen erreichbaren Grad von<br />
Wohlfahrt verbürgt. Auf die Befriedigung weniger dringen<strong>de</strong>r Bedürfnisse<br />
wird verzichtet, um dringen<strong>de</strong>re zu befriedigen. Das ist das Um und Auf<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft. Sie ist die Durchführung von Tauschoperationen. 1 2<br />
Je<strong>de</strong>rmann, <strong>de</strong>r, im wirtschaftlichen Leben han<strong>de</strong>lnd, zwischen <strong>de</strong>r<br />
Befriedigung zweier Bedürfnisse wählt, von <strong>de</strong>nen nur das eine befriedigt<br />
wer<strong>de</strong>n kann, setzt Werturteile. Die Werturteile erfassen zunächst und<br />
unmittelbar nur die Bedürfnisbefriedigung selbst; von dieser gehen sie auf<br />
die Güter erster Ordnung und dann weiter auf die Güter höherer<br />
Güterordnungen zurück. In <strong>de</strong>r Regel ist <strong>de</strong>r seiner Sinne mächtige<br />
Mensch ohne weiteres in <strong>de</strong>r Lage, die Güter erster Ordnung zu bewerten.<br />
Unter einfachen Verhältnissen gelingt es ihm auch ohne Mühe, sich über<br />
die Be<strong>de</strong>utung, die die Güter höherer Ordnung für ihn haben, ein Urteil zu<br />
bil<strong>de</strong>n. Wo aber die Lage <strong>de</strong>r Dinge etwas verwickelter wird und die Zusammenhänge<br />
schwieriger zu durchblicken sind, müssen feinere Erwägungen<br />
angestellt wer<strong>de</strong>n, um die Bewertung von Produktionsmitteln<br />
richtig - natürlich nur im Sinne <strong>de</strong>s werten<strong>de</strong>n Subjektes und nicht in<br />
einem objektiven, irgendwie allgemein gültigen Sinne gesprochen -<br />
durchzuführen. Es mag <strong>de</strong>m isoliert wirtschaften<strong>de</strong>n Landwirt nicht<br />
schwer fallen, eine Entscheidung zwischen <strong>de</strong>r Erweiterung <strong>de</strong>r<br />
Viehhaltung und <strong>de</strong>r Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Jagdtätigkeit zu treffen. Die<br />
einzuschlagen<strong>de</strong>n Produktionswege sind hier noch verhältnismäßig kurz,<br />
und <strong>de</strong>r Aufwand, <strong>de</strong>n sie erfor<strong>de</strong>rn, und <strong>de</strong>r Ertrag, <strong>de</strong>n sie in Aussicht<br />
stellen, können leicht überblickt wer<strong>de</strong>n. Aber ganz an<strong>de</strong>rs ist es, wenn<br />
man etwa zwischen <strong>de</strong>r Nutzbar-<br />
1<br />
Vgl. Schumpeter, Das Wesen und <strong>de</strong>r Hauptinhalt <strong>de</strong>r theoretischen<br />
Nationalökonomie, Leipzig 1908, S. 50, 80.<br />
2<br />
In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Ausführungen sind Teile meines Aufsatzes: Die<br />
Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen (Archiv für Sozialwissenschaft, 47.<br />
Bd., S. 86-121) wie<strong>de</strong>rgegeben.
100<br />
machung eines Wasserlaufs für die Erzeugung von elektrischer Kraft und<br />
<strong>de</strong>r Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s Kohlenbergbaues und <strong>de</strong>r Schaffung von Anlagen<br />
zur besseren Ausnützung <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Kohlen stecken<strong>de</strong>n Energie wählen<br />
soll. Hier sind <strong>de</strong>r Produktionsumwege sehr viele, und je<strong>de</strong>r einzelne von<br />
ihnen ist so lange, hier sind die Bedingungen für <strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>r<br />
einzuleiten<strong>de</strong>n Unternehmungen so vielfältig, daß man es keinesfalls mit<br />
bloß vagen Schätzungen bewen<strong>de</strong>n lassen kann, und es genauer<br />
Berechnungen bedarf, um sich über die Wirtschaftlichkeit <strong>de</strong>s Vorgehens<br />
ein Urteil zu bil<strong>de</strong>n.<br />
Rechnen kann man nur mit Einheiten. Eine Einheit <strong>de</strong>s subjektiven<br />
Gebrauchswertes <strong>de</strong>r Güter kann es aber nicht geben. Der Grenznutzen<br />
stellt keine Werteinheit dar, da <strong>de</strong>r Wert zweier Einheiten aus einem<br />
gegebenen Vorrat nicht doppelt so groß ist als <strong>de</strong>r einer Einheit, son<strong>de</strong>rn<br />
notwendig größer sein muß. Das Werturteil mißt nicht, es stuft ab, es<br />
skaliert. 1 Auch <strong>de</strong>r isolierte Wirt einer verkehrslosen Wirtschaft kann<br />
daher, wenn er dort, wo das Werturteil nicht unmittelbar evi<strong>de</strong>nt<br />
aufscheint, eine Entscheidung treffen soll und sein Urteil auf einer mehr<br />
o<strong>de</strong>r weniger genauen Rechnung aufbauen muß, nicht mit <strong>de</strong>m<br />
subjektiven Gebrauchswert allein operieren; er muß<br />
Substitutionsbeziehungen zwischen <strong>de</strong>n Gütern konstruieren, an <strong>de</strong>ren<br />
Hand er dann rechnen kann. Es wird ihm dabei in <strong>de</strong>r Regel nicht<br />
gelingen, alles auf eine Einheit zurückzuführen. Doch er wird, sobald es<br />
ihm nur überhaupt glückt, alle in die Rechnung einzubeziehen<strong>de</strong>n<br />
Elemente auf solche wirtschaftliche Güter zurückzuführen, die von einem<br />
unmittelbar evi<strong>de</strong>nten Werturteil erfaßt wer<strong>de</strong>n können, also auf die Güter<br />
erster Ordnung und auf das Arbeitsleid, für seine Rechnung damit das<br />
Auslangen fin<strong>de</strong>n. Daß das nur in recht einfachen Verhältnissen möglich<br />
ist, leuchtet wohl ein. Für verwickeltere und längere Produktionsverfahren<br />
wür<strong>de</strong> es keineswegs ausreichen.<br />
In <strong>de</strong>r Verkehrswirtschaft tritt <strong>de</strong>r objektive Tauschwert <strong>de</strong>r Güter als<br />
Einheit <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung in Erscheinung. Das bringt dreifachen<br />
Vorteil. Einmal ermöglicht es, die Rechnung auf <strong>de</strong>r Wertung aller am<br />
Verkehr teilnehmen<strong>de</strong>n Wirte aufzubauen. Der subjektive Gebrauchswert<br />
<strong>de</strong>s einzelnen ist als rein individuelle Erscheinung mit <strong>de</strong>m subjektiven<br />
Gebrauchswert an<strong>de</strong>rer Menschen unmittelbar nicht vergleichbar. Er wird<br />
es erst im Tauschwert, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Zusammenspiel <strong>de</strong>r subjektiven<br />
Wertschätzungen aller<br />
1 Vgl. Onbel, Zur Lehre von <strong>de</strong>n Bedürfnissen, Innsbruck 1907, S. 198 ff.
101<br />
am Tauschverkehr teilnehmen<strong>de</strong>n Wirte entsteht. Dann aber bringt die<br />
Rechnung nach Tauschwert eine Kontrolle über die zweckmäßige<br />
Verwendung <strong>de</strong>r Güter. Wer einen komplizierten Produktionsprozeß<br />
kalkulieren will, merkt es gleich, ob er wirtschaftlicher als die an<strong>de</strong>ren<br />
arbeitet o<strong>de</strong>r nicht; kann er im Hinblick auf die auf <strong>de</strong>m Markte<br />
herrschen<strong>de</strong>n Austauschverhältnisse die Produktion nicht rentabel<br />
durchführen, so liegt darin <strong>de</strong>r Hinweis darauf, daß an<strong>de</strong>re die fraglichen<br />
Güter höherer Ordnung besser zu verwerten verstehen. Endlich aber<br />
ermöglicht die Rechnung nach Tauschwert die Zurückführung <strong>de</strong>r Werte<br />
auf eine Einheit. Dafür kann, da die Güter untereinan<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r<br />
Austauschrelation <strong>de</strong>s Marktes substituierbar sind, je<strong>de</strong>s beliebige Gut<br />
gewählt wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Geldwirtschaft wird das Geld gewählt.<br />
Die Geldrechnung hat ihre Grenzen. Das Geld ist kein Maßstab <strong>de</strong>s<br />
Wertes, auch kein Maßstab <strong>de</strong>s Preises. Der Wert wird ja nicht in Geld<br />
gemessen. Auch die Preise wer<strong>de</strong>n nicht in Geld gemessen, sie bestehen<br />
in Geld. Das Geld ist als wirtschaftliches Gut nicht „wertstabil“, wie man<br />
bei seiner Verwendung als standard of <strong>de</strong>ferred payments naiv<br />
anzunehmen pflegt. Das zwischen <strong>de</strong>n Gütern und <strong>de</strong>m Gel<strong>de</strong> bestehen<strong>de</strong><br />
Austauschverhältnis ist beständigen, wenn auch in <strong>de</strong>r Regel nicht allzu<br />
heftigen Schwankungen, die nicht nur von seiten <strong>de</strong>r übrigen<br />
wirtschaftlichen Güter, son<strong>de</strong>rn auch von seiten <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s herrühren,<br />
unterworfen. Das stört freilich die Wertrechnung am allerwenigsten, die ja<br />
im Hinblick auf die nie rasten<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r übrigen<br />
wirtschaftlichen Bedingungen nur kurze Zeiträume ins Auge zu fassen<br />
pflegt, Zeiträume, in <strong>de</strong>nen wenigstens das „gute“ Geld in <strong>de</strong>r Regel nur<br />
kleineren Schwankungen <strong>de</strong>r Austauschverhältnisse von seiner Seite her<br />
zu unterliegen pflegt. Die Unzulänglichkeit <strong>de</strong>r Geldrechnung <strong>de</strong>s Wertes<br />
stammt zum Hauptteil nicht daher, daß in einem allgemein gebräuchlichen<br />
Tauschmittel, im Geld, gerechnet wird, son<strong>de</strong>rn daher, daß es überhaupt<br />
<strong>de</strong>r Tauschwert ist, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Rechnung zugrun<strong>de</strong> gelegt wird, und nicht <strong>de</strong>r<br />
subjektive Gebrauchswert. So können in die Rechnung alle jene<br />
wertbestimmen<strong>de</strong>n Momente nicht eingehen, die außerhalb <strong>de</strong>s<br />
Tauschverkehres stehen. Wer die Rentabilität <strong>de</strong>s Ausbaues einer<br />
Wasserkraft berechnet, kann in diese Rechnung die Schönheit <strong>de</strong>s<br />
Wasserfalles, die unter <strong>de</strong>r Anlage lei<strong>de</strong>n müßte, nicht einsetzen, es wäre<br />
<strong>de</strong>nn, daß er etwa <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>nverkehrs u. dgl., was im<br />
Verkehr seinen Tauschwert hat, berücksichtigt. Und doch liegt hier ein<br />
Umstand vor, <strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r
102<br />
Frage, ob <strong>de</strong>r Bau ausgeführt wer<strong>de</strong>n soll o<strong>de</strong>r nicht, mit in Erwägung<br />
gestellt wird. Man pflegt diese Momente als „außerwirtschaftliche“ zu<br />
bezeichnen. Das wollen wir vorläufig gelten lassen. Über Terminologien<br />
soll nicht gestritten wer<strong>de</strong>n. Aber unrationell darf man die Erwägungen,<br />
die dazu führen, auch sie zu berücksichtigen, nicht bezeichnen. Die<br />
Schönheit einer Gegend o<strong>de</strong>r eines Gebäu<strong>de</strong>s, die Gesundheit von<br />
Menschen, die Ehre einzelner o<strong>de</strong>r ganzer Völker, sind, wenn sie von <strong>de</strong>n<br />
Menschen als be<strong>de</strong>utungsvoll erkannt wer<strong>de</strong>n, auch dann, wenn sie nicht<br />
im Verkehr substituierbar erscheinen und daher in kein Tauschverhältnis<br />
eingehen, ebenso Motive <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns wie die im<br />
gewöhnlichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes wirtschaftlichen. Daß die Geldrechnung<br />
sie nicht erfassen kann, ist in ihrem Wesen gelegen, kann aber die<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Geldrechnung für unser wirtschaftliches Tun und Lassen<br />
nicht herabmin<strong>de</strong>rn. Denn alle jene i<strong>de</strong>ellen Güter sind Güter erster<br />
Ordnung, sie können von unserem Werturteil unmittelbar erfaßt wer<strong>de</strong>n,<br />
und es macht daher keine Schwierigkeiten, sie zu berücksichtigen, auch<br />
wenn sie außerhalb <strong>de</strong>r Geldrechnung bleiben müssen. Daß die<br />
Geldrechnung sie nicht berücksichtigt, macht ihre Beachtung im Leben<br />
nicht schwieriger. Wenn wir genau wissen, wie teuer uns die Schönheit,<br />
die Gesundheit, die Ehre, <strong>de</strong>r Stolz zu stehen kommen, kann uns nichts<br />
hin<strong>de</strong>rn, sie entsprechend zu berücksichtigen. Es mag einem zartfühlen<strong>de</strong>n<br />
Gemüt peinlich scheinen, i<strong>de</strong>elle Güter gegen materielle abwägen zu<br />
müssen. Aber daran ist nicht die Geldrechnung schuld, das liegt im Wesen<br />
<strong>de</strong>r Dinge. Auch wo unmittelbar ohne Wert- und Geldrechnung<br />
Werturteile gesetzt wer<strong>de</strong>n, kann man die Wahl zwischen materieller und<br />
i<strong>de</strong>eller Befriedigung nicht umgehen. Auch <strong>de</strong>r isolierte Wirt, auch die<br />
sozialistische Gesellschaft müssen zwischen „i<strong>de</strong>ellen“ und „materiellen“<br />
Gütern wählen. Edle Naturen wer<strong>de</strong>n es nie peinlich empfin<strong>de</strong>n, wenn sie<br />
zwischen Ehre und etwa Nahrung zu wählen haben. Sie wer<strong>de</strong>n wissen,<br />
wie sie in solchen Fällen zu han<strong>de</strong>ln haben. Wenn man Ehre auch nicht<br />
essen kann, so kann man doch auf Essen um <strong>de</strong>r Ehre willen verzichten.<br />
Nur die, die <strong>de</strong>r Qual solcher Wahl enthoben sein wollen, weil sie sich<br />
nicht entschließen könnten, um i<strong>de</strong>eller Vorteile willen auf materielle<br />
Genüsse zu verzichten, sehen schon in <strong>de</strong>r Wahl an sich eine Profanation.<br />
Die Geldrechnung hat nur in <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung Sinn. Hier<br />
wen<strong>de</strong>t man sie an, um die Verfügung über wirtschaftliche Güter <strong>de</strong>n<br />
Regeln <strong>de</strong>r Wirtschaftlichkeit anzupassen. Die wirt-
103<br />
schaftlichen Güter treten dabei in sie nur in jenen Mengen ein, die gegen<br />
Geld ausgetauscht wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Erweiterung <strong>de</strong>s Anwendungsgebietes <strong>de</strong>r<br />
Geldrechnung führt zu Mißgriffen. Die Geldrechnung versagt, wenn man<br />
sie in geschichtlichen Untersuchungen über die Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
wirtschaftlichen Verhältnisse als Maßstab <strong>de</strong>r Güterwerte zu verwen<strong>de</strong>n<br />
sucht, sie versagt, wenn man an ihrer Hand Volksvermögen und<br />
Volkseinkommen zu schätzen sucht, wenn man mit ihr <strong>de</strong>n Wert von<br />
Gütern berechnen will, die außerhalb <strong>de</strong>s Tauschverkehrs stehen, wie<br />
etwa, wenn man die Menschenverluste durch Auswan<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r durch<br />
Krieg in Geld zu berechnen strebt. 1 Das sind dilettantische Spielereien,<br />
mögen sie auch mitunter von sehr einsichtigen Nationalökonomen<br />
betrieben wer<strong>de</strong>n.<br />
Doch innerhalb dieser Grenzen, die sie im praktischen Leben nie<br />
überschreitet, leistet die Geldrechnung all das, was wir von <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsrechnung verlangen müssen. Sie gibt uns einen Wegweiser<br />
durch die erdrücken<strong>de</strong> Fälle <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Möglichkeiten. Sie<br />
gestattet uns, das Werturteil, das sich in unmittelbarer Evi<strong>de</strong>nz nur an die<br />
genußreifen Güter und bestenfalls noch an die Produktivgüter <strong>de</strong>r<br />
niedrigsten Güterordnungen knüpft, auf alle Güter höherer Ordnung<br />
auszu<strong>de</strong>hnen. Sie macht <strong>de</strong>n Wert rechenbar und gibt uns damit erst die<br />
Grundlagen für alles Wirtschaften mit Gütern höherer Ordnung. Hätten<br />
wir sie nicht, dann wäre alles Produzieren mit weit ausholen<strong>de</strong>n<br />
Prozessen, dann wären alle längeren kapitalistischen Produktionsumwege<br />
ein Tappen im Dunkeln.<br />
Zwei Bedingungen sind es, die die Wertrechnung in Geld ermöglichen.<br />
Zunächst müssen nicht nur die Güter erster Ordnung, son<strong>de</strong>rn auch die<br />
Güter höherer Ordnung, soweit sie von ihr erfaßt wer<strong>de</strong>n sollen, im<br />
Tauschverkehr stehen. Stün<strong>de</strong>n sie nicht im Tauschverkehr, dann wür<strong>de</strong><br />
es nicht zur Bildung von Austauschverhältnissen kommen. Es ist wahr,<br />
auch die Erwägungen, die <strong>de</strong>r isolierte Wirt anstellen muß, wenn er<br />
innerhalb seines Hauses durch Produktion Arbeit und Mehl gegen Brot<br />
eintauschen will, sind von jenen, die er anstellt, wenn er auf <strong>de</strong>m Markte<br />
Brot gegen Klei<strong>de</strong>r eintauschen will, nicht verschie<strong>de</strong>n, und man ist daher<br />
im Recht, wenn man je<strong>de</strong>s wirtschaftliche Han<strong>de</strong>ln, also auch das<br />
Produzieren <strong>de</strong>s isolierten Wirtes als Tausch bezeichnet. Doch <strong>de</strong>r Geist<br />
eines Menschen allein - und sei es auch <strong>de</strong>r genialste - ist zu schwach, um<br />
die Wichtigkeit eines je<strong>de</strong>n einzelnen von unendlich vielen<br />
1 Vgl. Wieser, Über <strong>de</strong>n Ursprung und die Hauptgesetze <strong>de</strong>s wirtschaftschaftlichen<br />
Wertes, Wien 1884, S. 185 ff.
104<br />
Gütern höherer Ordnung zu erfassen. Kein einzelner kann die unendliche<br />
Fülle verschie<strong>de</strong>ner Produktionsmöglichkeiten <strong>de</strong>rmaßen beherrschen, daß<br />
er imstan<strong>de</strong> wäre, ohne Hilfsrechnung unmittelbar evi<strong>de</strong>nte Werturteile zu<br />
setzen. Die Verteilung <strong>de</strong>r Verfügungsgewalt über die wirtschaftlichen<br />
Güter <strong>de</strong>r arbeitsteilig wirtschaften<strong>de</strong>n Sozialwirtschaft auf viele<br />
Individuen bewirkt eine Art geistiger Arbeitsteilung, ohne die<br />
Produktionsrechnung und Wirtschaft nicht möglich wären.<br />
Die zweite Bedingung ist die, daß ein allgemein gebräuchliches<br />
Tauschmittel, ein Geld, in Verwendung steht, das auch im Austausch <strong>de</strong>r<br />
Produktivgüter seine Vermittlerrolle spielt. Wäre dies nicht <strong>de</strong>r Fall, dann<br />
wäre es nicht möglich, alle Austauschverhältnisse auf einen einheitlichen<br />
Nenner zurückzuführen.<br />
Nur unter einfachen Verhältnissen vermag die Wirtschaft ohne<br />
Geldrechnung auszukommen. In <strong>de</strong>r Enge <strong>de</strong>r geschlossenen Hauswirtschaft,<br />
wo <strong>de</strong>r Familienvater das ganze wirtschaftliche Getriebe zu<br />
überblicken vermag, kann man die Be<strong>de</strong>utung von Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s<br />
Erzeugungsverfahrens auch ohne die Stütze, die sie <strong>de</strong>m Geist gewährt,<br />
mehr o<strong>de</strong>r weniger genau abschätzen. Der Produktionsprozeß wickelt sich<br />
hier unter verhältnismäßig geringer Anwendung von Kapital ab. Er<br />
schlägt wenig kapitalistische Produktionsumwege ein; was erzeugt wird,<br />
sind in <strong>de</strong>r Regel Genußgüter o<strong>de</strong>r doch <strong>de</strong>n Genußgütern nicht allzu<br />
fernstehen<strong>de</strong> Güter höherer Ordnung. Die Arbeitsteilung ist noch in <strong>de</strong>n<br />
ersten Anfängen; ein Arbeiter bewältigt die Arbeit eines ganzen<br />
Produktionsverfahrens von seinem Anfang bis zur Vollendung <strong>de</strong>s<br />
genußreifen Gutes. Das alles ist in <strong>de</strong>r entwickelten gesellschaftlichen<br />
Produktion an<strong>de</strong>rs. Es geht nicht an, in <strong>de</strong>n Erfahrungen einer längst<br />
überwun<strong>de</strong>nen Zeit einfacher Produktion ein Argument für die<br />
Möglichkeit zu suchen, im Wirtschaften ohne Geldrechnung<br />
auszukommen.<br />
Denn in <strong>de</strong>n einfachen Verhältnissen <strong>de</strong>r geschlossenen Hauswirtschaft<br />
kann man <strong>de</strong>n ganzen Weg vom Beginn <strong>de</strong>s Produktionsprozesses bis zu<br />
seiner Vollendung übersehen und immer beurteilen, ob das eine o<strong>de</strong>r das<br />
an<strong>de</strong>re Verfahren mehr genußreife Güter gibt. Das ist in <strong>de</strong>n<br />
unvergleichlich verwickelteren Verhältnissen unserer Wirtschaft nicht<br />
mehr möglich. Es wird auch für die sozialistische Gesellschaft ohne<br />
weiteres klar sein, daß 1000 Liter Wein besser sind als 800 Liter, und sie<br />
kann ohne weiteres die Entscheidung treffen, ob ihr 1000 Liter Wein<br />
lieber sind als 500 Liter Öl o<strong>de</strong>r nicht. Um dies festzustellen, bedarf es<br />
keiner Rechnung; hier ent-
105<br />
schei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Wirtschaftssubjekte. Aber wenn einmal<br />
diese Entscheidung gefällt ist, dann beginnt erst die eigentliche Aufgabe<br />
<strong>de</strong>r rationellen Wirtschaftsführung: die Mittel in ökonomischer Weise in<br />
<strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r Zwecke zu stellen. Das kann nur mit Hilfe <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsrechnung geschehen. Der menschliche Geist kann sich in <strong>de</strong>r<br />
verwirren<strong>de</strong>n Fülle <strong>de</strong>r Zwischenprodukte und <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmöglichkeiten nicht zurecht fin<strong>de</strong>n, wenn ihm diese Stütze<br />
fehlt. Er stün<strong>de</strong> allen Verfahrens- und Standortsfragen ratlos gegenüber. 1<br />
Es ist eine Illusion, wenn man glaubt, man könnte die Geldrechnung in<br />
<strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft durch die Naturalrechnung ersetzen. Die<br />
Naturalrechnung kann in <strong>de</strong>r verkehrslosen Wirtschaft immer nur die<br />
genußreifen Güter erfassen; sie versagt vollkommen bei allen Gütern<br />
höherer Ordnung. Sobald man die freie Geldpreisbildung <strong>de</strong>r Güter<br />
höherer Ordnung aufgibt, hat man rationelle Produktion überhaupt<br />
unmöglich gemacht. Je<strong>de</strong>r Schritt, <strong>de</strong>r uns vom Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln und vom Geldgebrauch wegführt, fährt uns auch von<br />
<strong>de</strong>r rationellen Wirtschaft weg.<br />
Man konnte dies übersehen, weil all das, was wir vom Sozialismus<br />
bereits um uns herum verwirklicht sehen, nur sozialistische Oasen in <strong>de</strong>r<br />
bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> doch immerhin noch freien Wirtschaft mit<br />
Geldverkehr sind. In <strong>de</strong>m einen Sinne kann <strong>de</strong>r im übrigen unhaltbaren<br />
und nur aus agitatorischen Grün<strong>de</strong>n vertretenen Behauptung <strong>de</strong>r<br />
Sozialisten, daß Verstaatlichung und Verstadtlichung von<br />
Unternehmungen noch kein Stück Sozialismus darstellen, zugestimmt<br />
wer<strong>de</strong>n, daß nämlich diese Betriebe in ihrer Geschäftsführung durch <strong>de</strong>n<br />
sie umgeben<strong>de</strong>n Wirtschaftsorganismus <strong>de</strong>s freien Verkehrs soweit<br />
gestützt wer<strong>de</strong>n, daß die wesentliche Eigentümlichkeit sozialistischer<br />
Wirtschaft bei ihnen gar nicht zutage treten konnte. In Staats- und<br />
Gemein<strong>de</strong>betrieben wer<strong>de</strong>n technische Verbesserungen durchgeführt, weil<br />
man ihre Wirkung in gleichartigen privaten Unternehmungen <strong>de</strong>s In- und<br />
Auslan<strong>de</strong>s beobachten kann. Man kann in diesen Betrieben die Vorteile<br />
von Umgestaltungen feststellen, weil sie rings umgeben sind von einer auf<br />
<strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln und auf <strong>de</strong>m Geldverkehr<br />
beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaft, so daß sie zu rechnen und Bücher zu führen<br />
vermögen, was sozialistische Betriebe in einer rein sozialistischen<br />
Umgebung nicht könnten.<br />
1 Vgl. Gottl-Ottlilienfeld, Wirtschaft und Technik (Grundriß <strong>de</strong>r Sozialökonomik, II.<br />
Abteilung, Tübingen 1914), S. 216.
106<br />
Ohne Wirtschaftsrechnung keine Wirtschaft. Im sozialistischen<br />
Gemeinwesen kann es, da die Durchführung <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung<br />
unmöglich ist, überhaupt keine Wirtschaft in unserem Sinne geben. Im<br />
Kleinen und in nebensächlichen Einzeldingen mag auch weiterhin rational<br />
gehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Doch im allgemeinen könnte von rationeller Erzeugung<br />
nicht mehr gesprochen wer<strong>de</strong>n. Es gäbe kein Mittel, zu erkennen, was<br />
rationell ist, und so könnte die Erzeugung nicht bewußt auf<br />
Wirtschaftlichkeit eingestellt wer<strong>de</strong>n. Was das auch ganz abgesehen von<br />
<strong>de</strong>n Folgen für die Versorgung <strong>de</strong>r Menschen mit Gütern be<strong>de</strong>utet, ist<br />
klar. Die Rationalität <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns wird von <strong>de</strong>m Gebiet, auf <strong>de</strong>m ihre<br />
eigentliche Domäne liegt, verdrängt. Wird es dann überhaupt noch<br />
Rationalität <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns, ja überhaupt noch Rationalität und Logik im<br />
Denken geben können? Geschichtlich ist <strong>de</strong>r menschliche Rationalismus<br />
aus <strong>de</strong>r Wirtschaft erwachsen. Wird er sich überhaupt noch halten können,<br />
wenn er voll hier verdrängt sein wird?<br />
Eine Zeitlang mag immerhin die Erinnerung an die im Laufe <strong>de</strong>r<br />
Jahrtausen<strong>de</strong> freier Wirtschaft gesammelten Erfahrungen <strong>de</strong>n vollen<br />
Verfall <strong>de</strong>r Wirtschaftskunst aufzuhalten imstan<strong>de</strong> sein. Die alten<br />
Verfahrensarten wer<strong>de</strong>n beibehalten wer<strong>de</strong>n, nicht weil sie rationell,<br />
son<strong>de</strong>rn weil sie durch die Überlieferung geheiligt erscheinen. Sie wer<strong>de</strong>n<br />
mittlerweile unrationell gewor<strong>de</strong>n sein, weil sie <strong>de</strong>n neuen Verhältnissen<br />
nicht mehr entsprechen. Sie wer<strong>de</strong>n durch die allgemeine Rückbildung<br />
<strong>de</strong>s wirtschaftlichen Denkens Verän<strong>de</strong>rungen erfahren, die sie<br />
unwirtschaftlich machen wer<strong>de</strong>n. Die Versorgung wird nicht mehr<br />
anarchisch vor sich gehen, das ist wahr. Über allen <strong>de</strong>r Bedarfs<strong>de</strong>ckung<br />
dienlichen Handlungen wird <strong>de</strong>r Befehl einer obersten Behör<strong>de</strong> walten.<br />
Doch anstelle <strong>de</strong>r Wirtschaft <strong>de</strong>r anarchischen Produktionsweise wird das<br />
sinnlose Gebaren eines vernunftlosen Apparates getreten sein. Die Rä<strong>de</strong>r<br />
wer<strong>de</strong>n sich drehen, doch sie wer<strong>de</strong>n leer laufen.<br />
Man vergegenwärtige sich die Lage <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens.<br />
Da gibt es Hun<strong>de</strong>rte und Tausen<strong>de</strong> von Werkstätten, in <strong>de</strong>nen gearbeitet<br />
wird. Die wenigsten von ihnen erzeugen gebrauchsfertige Waren; in <strong>de</strong>r<br />
Mehrzahl wer<strong>de</strong>n Produktionsmittel und Halbfabrikate erzeugt. Alle diese<br />
Betriebe stehen untereinan<strong>de</strong>r in Verbindung. Sie durchwan<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Reihe<br />
nach je<strong>de</strong>s wirtschaftliche Gut, bis es genußreif wird. In <strong>de</strong>m rastlosen<br />
Getriebe dieses Prozesses fehlt aber <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung je<strong>de</strong><br />
Möglichkeit, sich zurecht zu fin<strong>de</strong>n. Sie kann nicht feststellen, ob das<br />
Werkstück auf <strong>de</strong>m
107<br />
Wege, <strong>de</strong>n es zu durchlaufen hat, nicht überflüssigerweise aufgehalten<br />
wird, ob an seine Vollendung nicht Arbeit und Material verschwen<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n. Welche Möglichkeit hätte sie, zu erfahren, ob diese o<strong>de</strong>r jene<br />
Erzeugungsart die vorteilhaftere ist? Sie kann bestenfalls die Güte und<br />
Menge <strong>de</strong>s genußreifen En<strong>de</strong>rgebnisses <strong>de</strong>r Erzeugung vergleichen, aber<br />
sie wird nur in <strong>de</strong>n seltensten Fällen in <strong>de</strong>r Lage sein, <strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>r<br />
Erzeugung gemachten Aufwand zu vergleichen. Sie weiß genau, welchen<br />
Zielen ihre Wirtschaftsführung zustreben soll o<strong>de</strong>r glaubt es zu wissen,<br />
und sie soll darnach han<strong>de</strong>ln, d. h. sie soll die angestrebten Ziele mit <strong>de</strong>m<br />
geringsten Aufwand erreichen. Um <strong>de</strong>n billigsten Weg zu fin<strong>de</strong>n, muß sie<br />
rechnen. Diese Rechnung kann natürlich nur eine Wertrechnung sein; es<br />
ist ohne weiteres klar und braucht keiner näheren Begründung, daß sie<br />
nicht „technisch" sein, nicht auf <strong>de</strong>m objektiven Gebrauchswert<br />
(Nutzwert) <strong>de</strong>r Güter und Dienstleistungen aufgebaut wer<strong>de</strong>n kann.<br />
In <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n<br />
Wirtschaftsordnung wird die Wertrechnung von allen selbständigen<br />
Glie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Gesellschaft geführt. Je<strong>de</strong>rmann ist an ihrem<br />
Zustan<strong>de</strong>kommen in zweifacher Weise beteiligt, einmal als Verbraucher,<br />
das an<strong>de</strong>re Mal als Erzeuger. Als Verbraucher setzt er die Rangordnung<br />
<strong>de</strong>r gebrauchs- und verbrauchsreifen Güter fest; als Erzeuger zieht er die<br />
Güter höherer Ordnung in jene Verwendung, in <strong>de</strong>r sie <strong>de</strong>n höchsten<br />
Ertrag abzuwerfen versprechen. Damit erhalten auch alle Güter höherer<br />
Ordnung die ihnen nach <strong>de</strong>m augenblicklichen Stand <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Bedürfnisse zukommen<strong>de</strong> Rangordnung. Durch das Zusammenspiel <strong>de</strong>r<br />
bei<strong>de</strong>n Wertungsprozesse wird dafür Sorge getragen, daß das<br />
wirtschaftliche Prinzip überall, im Verbrauch sowohl als in <strong>de</strong>r<br />
Erzeugung, zur Herrschaft gelangt. Es bil<strong>de</strong>t sich jenes genau abgestufte<br />
System <strong>de</strong>r Preise heraus, das je<strong>de</strong>rmann in je<strong>de</strong>m Augenblick gestattet,<br />
seinen eigenen Bedarf mit <strong>de</strong>m Kalkül <strong>de</strong>r Wirtschaftlichkeit in Einklang<br />
zu bringen.<br />
Das alles fehlt notwendigerweise im sozialistischen Gemeinwesen. Die<br />
Wirtschaftsleitung mag genau wissen, was für Güter sie am dringendsten<br />
benötigt. Aber damit hat sie erst <strong>de</strong>n einen Teil <strong>de</strong>s für die<br />
Wirtschaftsrechnung Erfor<strong>de</strong>rlichen gefun<strong>de</strong>n. Den an<strong>de</strong>ren Teil, die<br />
Bewertung <strong>de</strong>r Produktionsmittel, muß sie entbehren. Den Wert, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Gesamtheit <strong>de</strong>r Produktionsmittel zukommt, vermag sie festzustellen; <strong>de</strong>r<br />
ist selbstverständlich gleich <strong>de</strong>m Wert, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesamtheit <strong>de</strong>r durch ihn<br />
befriedigten Bedürf-
108<br />
nisse zukommt. Sie vermag auch zu berechnen, wie groß <strong>de</strong>r Wert eines<br />
einzelnen Produktionsmittels ist, wenn sie die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Ausfalles an<br />
Bedürfnisbefriedigung berechnet, <strong>de</strong>r durch seinen Wegfall entsteht. Doch<br />
sie kann ihn nicht auf einen einheitlichen Preisausdruck zurückführen, wie<br />
dies die freie Wirtschaft, in <strong>de</strong>r alle Preise auf einen gemeinsamen<br />
Ausdruck in Geld zurückgeführt wer<strong>de</strong>n können, vermag.<br />
In <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft, die zwar nicht notwendigerweise das<br />
Geld vollständig beseitigen muß, wohl aber <strong>de</strong>n Ausdruck <strong>de</strong>r Preise <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel (einschließlich <strong>de</strong>r Arbeit) in Geld unmöglich macht,<br />
kann das Geld in <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung keine Rolle spielen. 1<br />
Man <strong>de</strong>nke an <strong>de</strong>n Bau einer neuen Eisenbahnstrecke. Soll man sie<br />
überbaupt bauen, und wenn ja, welche von mehreren <strong>de</strong>nkbaren Strecken<br />
soll gebaut wer<strong>de</strong>n? In <strong>de</strong>r freien Verkehrs- und Geldwirtschaft vermag<br />
man die Rechnung in Geld aufzustellen. Die neue Strecke wird bestimmte<br />
Gütersendungen verbilligen und man vermag nun zu berechnen, ob diese<br />
Verbilligung so groß ist, daß sie die Ausgaben, die <strong>de</strong>r Bau und <strong>de</strong>r<br />
Betrieb <strong>de</strong>r neuen Linie erfor<strong>de</strong>rn, übersteigt. Das kann nur in Geld<br />
berechnet wer<strong>de</strong>n. Durch die Gegenüberstellung von verschie<strong>de</strong>nartigen<br />
Naturalausgaben und Naturalersparungen vermag man hier nicht zum<br />
Ziele zu kommen. Wenn man keine Möglichkeit hat, Arbeitsstun<strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>n qualifizierter Arbeit, Eisen, Kohle, Baumaterial je<strong>de</strong>r Art,<br />
Maschinen und an<strong>de</strong>re Dinge, die Bau und Betrieb von Eisenbahnen<br />
erfor<strong>de</strong>rn, auf einen gemeinsamen Ausdruck zu bringen, dann kann man<br />
die Rechnung nicht durchführen. Die wirtschaftliche Trassierung ist nur<br />
möglich, wenn man alle in Betracht kommen<strong>de</strong>n Güter auf Geld<br />
zurückzuführen vermag. Gewiß, die Geldrechnung hat ihre<br />
Unvollkommenheiten und ihre schweren Mängel, aber wir haben eben<br />
nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen; für die praktischen Zwecke <strong>de</strong>s<br />
Lebens reicht die Geldrechnung eines gesun<strong>de</strong>n Geldwesens immerhin<br />
aus. Verzichten wir auf sie, dann wird je<strong>de</strong>r Wirtschaftskalkul schlechthin<br />
unmöglich.<br />
1 Das hat auch Neurath (Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft, München<br />
1919, S. 216 f.) erkannt. Er stellt die Behauptung auf, daß je<strong>de</strong> vollständige<br />
Verwaltungswirtschaft, letzten En<strong>de</strong>s Naturalwirtschaft ist. „Sozialisieren heißt daher die<br />
Naturalwirtschaft för<strong>de</strong>rn.“ Neurath übersieht nur die unüberwindbaren Schwierigkeiten,<br />
die <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen erwachsen müssen.
109<br />
Die sozialistische Gemeinschaft wird sich freilich zu helfen wissen. Sie<br />
wird ein Machtwort sprechen und sich für o<strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>n geplanten Bau<br />
entschei<strong>de</strong>n. Doch diese Entscheidung wird bestenfalls auf Grund vager<br />
Schätzungen erfolgen; niemals wird sie auf <strong>de</strong>r Grundlage eines genauen<br />
Wertkalkuls aufgebaut sein.<br />
Die statische Wirtschaft vermag ohne Wirtschaftsrechnung<br />
auszukommen. Hier wie<strong>de</strong>rholt sich im Wirtschaftlichen ja nur immer<br />
wie<strong>de</strong>r dasselbe. Wenn wir annehmen, daß die erste Einrichtung <strong>de</strong>r<br />
statischen sozialistischen Wirtschaft auf Grund <strong>de</strong>r letzten Ergebnisse <strong>de</strong>r<br />
freien Wirtschaft erfolgt, dann könnten wir uns ja allenfalls eine<br />
wirtschaftliche rationell geleitete sozialistische Produktion vorstellen.<br />
Doch das ist eben nur in Gedanken möglich. Ganz abgesehen davon, daß<br />
es statische Wirtschaft im Leben nie geben kann, da sich die Daten<br />
immerfort verän<strong>de</strong>rn, so daß die Statik <strong>de</strong>s Wirtschaftens nur eine - wenn<br />
auch für unser Denken und für die Ausbildung unserer Erkenntnis vom<br />
Wirtschaftlichen notwendige - gedankliche Annahme ist, <strong>de</strong>r im Leben<br />
kein Zustand entspricht, müssen wir doch annehmen, daß <strong>de</strong>r Übergang<br />
zum Sozialismus schon infolge <strong>de</strong>r Ausgleichung <strong>de</strong>r<br />
Einkommensunterschie<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r durch sie bedingten Verschiebungen im<br />
Verbrauch und mithin auch in <strong>de</strong>r Erzeugung alle Daten <strong>de</strong>rart verän<strong>de</strong>rt,<br />
daß die Anknüpfung an <strong>de</strong>n letzten Zustand <strong>de</strong>r freien Wirtschaft<br />
unmöglich ist. Dann aber haben wir eine sozialistische<br />
Wirtschaftsordnung vor uns, die im Ozean <strong>de</strong>r möglichen und <strong>de</strong>nkbaren<br />
Wirtschaftskombinationen ohne die Bussole <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung<br />
umherfährt.<br />
Je<strong>de</strong> wirtschaftliche Verän<strong>de</strong>rung wird so im sozialistischen<br />
Gemeinwesen zu einem Unternehmen, <strong>de</strong>ssen Erfolg we<strong>de</strong>r im vorhinein<br />
abgeschätzt noch auch später rückschauend festgestellt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Alles tappt hier im Dunkeln. Sozialismus ist Aufhebung <strong>de</strong>r Rationalität<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft.<br />
§ 4. Die Ausdrücke „Kapitalismus“ und „kapitalistische Produktionsweise“<br />
sind Schlagwörter <strong>de</strong>s politischen Kampfes. Sie sind von<br />
sozialistischen Schriftstellern geprägt wor<strong>de</strong>n, nicht um die Erkenntnis zu<br />
för<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn um zu kritisieren, anzuklagen und zu verurteilen. Man<br />
braucht sie heute nur zu nennen, um sogleich die Vorstellung<br />
blutsaugerischer Ausbeutung armer Lohnsklaven durch erbarmungslose<br />
Reiche aufsteigen zu lassen; man erwähnt sie kaum je an<strong>de</strong>rs als in<br />
Verbindung mit <strong>de</strong>m Gedanken eines sittlichen Ta<strong>de</strong>ls <strong>de</strong>r Verhältnisse,<br />
die sie bezeichnen sollen. Begrifflich sind sie so unklar und viel<strong>de</strong>utig,
110<br />
daß sie überhaupt keinen Erkenntniswert besitzen. Die sie gebrauchen,<br />
stimmen nur darin überein, daß sie sie zur Kennzeichnung <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsweise <strong>de</strong>r neuesten Zeit verwen<strong>de</strong>n. Worin aber die<br />
charakteristischen Merkmale dieser Prodnktionsweise zu suchen seien,<br />
wird durchaus verschie<strong>de</strong>n beurteilt. So haben die Wörter „Kapitalismus“<br />
und „kapitalistisch“ nur ver<strong>de</strong>rblich gewirkt; <strong>de</strong>r Vorschlag, sie überhaupt<br />
aus <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Nationalökonomie auszumerzen und ganz <strong>de</strong>n<br />
Matadoren <strong>de</strong>r volkstümlichen Haßliteratur zu überlassen, verdient daher<br />
ernste Beachtung. 1<br />
Wenn wir <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>n Versuch machen wollen, sie zu verwen<strong>de</strong>n, so<br />
wollen wir dabei von <strong>de</strong>m Begriffe <strong>de</strong>r Kapitalrechnung ausgehen. Da es<br />
sich nur um eine Analyse <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Vorgänge han<strong>de</strong>lt und nicht<br />
um eine solche <strong>de</strong>r Begriffe <strong>de</strong>r theoretischen Nationalökonomie, die <strong>de</strong>n<br />
Ausdruck Kapital vielfach in einem erweiterten, beson<strong>de</strong>ren Aufgaben<br />
angepaßten Sinne gebraucht, müssen wir zunächst darnach fragen, welche<br />
Auffassung das Leben, d. h. das wirtschaftliche Han<strong>de</strong>ln mit <strong>de</strong>m Worte<br />
Kapital verbin<strong>de</strong>t. Der Ausdruck Kapital fin<strong>de</strong>t sich da nur in <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung.<br />
Er faßt das in Geld bestehen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r in Geld gerechnete<br />
Stammvermögen einer Erwerbswirtschaft zusammen. 2 Der Zweck dieser<br />
Zusammenfassung ist <strong>de</strong>r, festzustellen, wie sich <strong>de</strong>r Wert dieses<br />
Vermögens im Verlaufe <strong>de</strong>r Geschäftsoperationen verän<strong>de</strong>rt hat. Der<br />
Begriff <strong>de</strong>s Kapitals kommt von <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung her; seine<br />
Heimat ist die Buchführung, dieses vornehmste Mittel <strong>de</strong>r ausgebil<strong>de</strong>ten<br />
Rationalisierung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns. Die Geldwertrechnung ist ein wesentliches<br />
Element <strong>de</strong>s Kapitalbegriffes. 3<br />
Gebraucht man <strong>de</strong>n Ausdruck Kapitalismus zur Bezeichnung einer<br />
Wirtschaftsweise, in <strong>de</strong>r die wirtschaftlichen Handlungen nach <strong>de</strong>n<br />
Ergebnissen <strong>de</strong>r Kapitalrechnung ausgerichtet wer<strong>de</strong>n, so gewinnt er eine<br />
beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung für die Charakteristik <strong>de</strong>s wirtschaftlichen<br />
Han<strong>de</strong>lns. Dann ist es durchaus nicht schief, von „Kapitalismus“ und von<br />
„kapitalistischer Produktionsweise“ zu sprechen; auch Ausdrücke wie<br />
„kapitalistischer Geist“ und „antikapitalistische Gesinnung“ gewinnen<br />
dann einen fest umschriebenen Inhalt. In diesem Sinne kann man <strong>de</strong>m<br />
üblichen Sprachgebrauch folgen, <strong>de</strong>r „Sozialismus“ und „Kapitalismus“<br />
1 Vgl. Passow, „Kapitalismus“, eine begrifflich-terminologische Studie, Jena 1918, S.<br />
1 ff.<br />
2 Vgl. Karl Menger, Zur Theorie <strong>de</strong>s Kapitals (S. A. aus <strong>de</strong>n Jahrbüchern f.<br />
Nationalökonomie und Statistik, XVII. Bd.) S. 41.<br />
3 Vgl. Passow, a. a. O., S. 51 ff.
111<br />
einan<strong>de</strong>r gegenüberstellt. Der Ausdruck „Kapitalismus“ eignet sich besser<br />
als Gegenstück zum Ausdruck „Sozialismus“ <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r oft dafür gebrauchte<br />
Ausdruck „lndividualismus“. Wer Individualismus und<br />
Sozialismus zur Kennzeichnung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gesellschaftsformen verwen<strong>de</strong>t,<br />
geht in <strong>de</strong>r Regel von <strong>de</strong>r stillschweigen<strong>de</strong>n Annahme aus, daß<br />
zwischen <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r einzelnen Individuen und <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft ein Gegensatz bestehe, und daß Sozialismus jene<br />
Gesellschaftsordnung sei, in <strong>de</strong>r das Gemeinwohl zum Ziel gesetzt wer<strong>de</strong>,<br />
wogegen <strong>de</strong>r Individualismus <strong>de</strong>n Son<strong>de</strong>rinteressen <strong>de</strong>r einzelnen diene.<br />
Da in dieser Auffassung einer <strong>de</strong>r größten soziologischen Irrtümer steckt,<br />
muß man eine Ausdrucksweise, die sie heimlich einschmuggeln könnte,<br />
sorgfältig zu vermei<strong>de</strong>n trachten.<br />
Passow meint, daß in <strong>de</strong>n meisten Fällen, in <strong>de</strong>nen man mit <strong>de</strong>m Worte<br />
„Kapitalismus“ überhaupt einen Begriff verbin<strong>de</strong>t, das Wesen <strong>de</strong>r Sache<br />
in <strong>de</strong>r Entwicklung und Ausbreitung großer Unternehmungen liege. 1 Das<br />
mag zutreffen, wenn auch darauf hinzuweisen ist, daß mit dieser<br />
Auffassung nicht ganz in Übereinstimmung zu bringen ist, daß man auch<br />
von Großkapital und von Großkapitalisten und dann wie<strong>de</strong>r von<br />
Kleinkapitalisten spricht. Be<strong>de</strong>nkt man jedoch, daß die Ausbildung <strong>de</strong>s<br />
rationellen Großbetriebs und <strong>de</strong>r Großunternehmung nur durch die<br />
Kapitalrechnung ermöglicht wur<strong>de</strong>, so kann dies gegen die von uns<br />
vorgeschlagene Verwendung <strong>de</strong>r Ausdrücke „Kapitalismus“ und<br />
„kapitalistisch“ nicht sprechen.<br />
§ 5. Die in <strong>de</strong>r Nationalökonomie übliche Scheidung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns in<br />
das Gebiet <strong>de</strong>s „Wirtschaftlichen“ o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s „Reinwirtschaftlichen“ und in<br />
das <strong>de</strong>s „Außerwirtschaftlichen“ ist ebenso unzulänglich wie die<br />
Son<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r stofflichen und <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alen Güter. Denn das Wollen und<br />
Han<strong>de</strong>ln ist einheitlich; das Zwecksystem ist notwendigerweise ungeteilt<br />
und umfaßt nicht nur jene Wünsche, Begehrungen und Bestrebungen, die<br />
durch Einwirkung auf die dingliche Außenwelt, durch äußeres Han<strong>de</strong>ln<br />
und Unterlassen erreicht wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong> so auch alles das, was<br />
man als Befriedigung i<strong>de</strong>eller Bedürfnisse zu bezeichnen pflegt. Auch die<br />
„i<strong>de</strong>ellen“ Güter müssen in die einheitliche Wertskala eingehen, da das<br />
Individuum im Leben gezwungen ist, zwischen ihnen und <strong>de</strong>n<br />
„materiellen“ Gütern zu wählen. Wer zwischen „Ehre“ und „Essen“,<br />
zwischen „Treue“ und "Vorteil", zwischen "Liebe" und "Geld" die<br />
Entscheidung zu treffen hat, stellt bei<strong>de</strong>s in eine Reihe.<br />
1 Ebendort S. 132 f.
112<br />
Das „Wirtschaftliche“ ist somit kein abgegrenzter Bezirk <strong>de</strong>s<br />
menschlichen Han<strong>de</strong>lns, <strong>de</strong>n man von <strong>de</strong>m übrigen Han<strong>de</strong>ln scharf<br />
trennen kann. Wirtschaft ist rationales Han<strong>de</strong>ln, und ihr Gebiet reicht so<br />
weit, als rational gehan<strong>de</strong>lt wird, weil Allbefriedigung nicht möglich ist.<br />
Sie ist zunächst Wertung <strong>de</strong>r Ziele und wird dann zur Wertung <strong>de</strong>r Mittel,<br />
die zu diesen Zielen führen. Alles Wirtschaften ist somit durchaus von <strong>de</strong>r<br />
Zielsetzung abhängig; die Ziele beherrschen die Wirtschaft, von ihnen<br />
empfängt sie erst ihren Sinn.<br />
Da das Wirtschaftliche alles menschliche Han<strong>de</strong>ln umspannt, muß man<br />
große Behutsamkeit walten lassen, wenn man innerhalb seines Gebietes<br />
das „reinwirtschaftliche“ vom übrigen Han<strong>de</strong>ln son<strong>de</strong>rn will. Diese<br />
Son<strong>de</strong>rung, die für viele Aufgaben <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Betrachtung<br />
unentbehrlich ist, hebt ein bestimmtes Ziel heraus und stellt es <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren Zielen gegenüber. Dieses so herausgehobene Ziel - es bleibt<br />
zunächst dahingestellt, ob es ein letztes Ziel o<strong>de</strong>r selbst nur ein Mittel zu<br />
an<strong>de</strong>ren Zielen ist - ist die Erreichung eines möglichst hohen in Geld<br />
errechenbaren Ertrages, wobei unter Geld, streng im Sinne <strong>de</strong>r<br />
nationalökonomischen Theorie, das o<strong>de</strong>r die zur Zeit allgemein<br />
gebräuchlichen Tauschmittel zu verstehen sind. Eine feste Abgrenzung<br />
dieses Gebietes <strong>de</strong>s „reinwirtschaftlichen" von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gebieten <strong>de</strong>s<br />
Han<strong>de</strong>lns kann daher nicht vollzogen wer<strong>de</strong>n. Es hat ja auch für <strong>de</strong>n<br />
Einzelnen, je nach seiner Einstellung zum Leben und Han<strong>de</strong>ln, einen verschie<strong>de</strong>nen<br />
Umfang. Es ist ein an<strong>de</strong>res für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Ehre, Treue und<br />
Überzeugung nicht feil sind, <strong>de</strong>r diese Dinge nicht in die Geldrechnung<br />
eingehen läßt, und ein an<strong>de</strong>res für <strong>de</strong>n Verräter, <strong>de</strong>r seine Freun<strong>de</strong> um<br />
Geld o<strong>de</strong>r Gel<strong>de</strong>swert verläßt, für Dirnen, die ihre Liebe verkaufen, für<br />
<strong>de</strong>n Richter, <strong>de</strong>r sich bestechen läßt. Die Ausscheidung <strong>de</strong>s<br />
„reinwirtschaftlichen“ aus <strong>de</strong>m größeren Gebiet <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns,<br />
ist we<strong>de</strong>r durch die Art <strong>de</strong>s Zieles, noch durch die Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Mittel<br />
gerechtfertigt. Was es vom übrigen rationalen Han<strong>de</strong>ln son<strong>de</strong>rt, ist nur die<br />
Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s Vorgehens auf diesem Teilgebiet <strong>de</strong>s rationalen<br />
Han<strong>de</strong>lns. Daß hier zahlenmäßig gerechnet wer<strong>de</strong>n kann, das allein<br />
schei<strong>de</strong>t es von allem übrigen Han<strong>de</strong>ln.<br />
Das, was man das „Reinwirtschaftliche“ nennt, ist nichts an<strong>de</strong>res als<br />
das Gebiet <strong>de</strong>r Geldrechnung. Daß sich aus <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>s<br />
menschlichen Han<strong>de</strong>lns ein Stück ausson<strong>de</strong>rn läßt, auf <strong>de</strong>m man die
113<br />
einzelnen Mittel untereinan<strong>de</strong>r mit aller Genauigkeit, die das Rechnen an<br />
die Hand gibt, bis ins Kleinste zu vergleichen vermag, be<strong>de</strong>utet so viel für<br />
unser Denken und Han<strong>de</strong>ln, daß wir leicht dazu neigen, diesem Stück eine<br />
vorzügliche Geltung einzuräumen. Man übersieht darüber leicht, daß die<br />
Son<strong>de</strong>rstellung dieses „Reinwirtschaftlichen“ nur eine <strong>de</strong>nktechnische und<br />
handlungstechnische ist, und daß es ein <strong>de</strong>m Wesen nach von <strong>de</strong>m ganzen<br />
einheitlichen System <strong>de</strong>r Ziele und Mittel nicht geschie<strong>de</strong>nes Gebiet<br />
darstellt. Das Mißlingen aller Versuche, das „Wirtschaftliche“ als<br />
Son<strong>de</strong>rgebiet <strong>de</strong>s rationalen Han<strong>de</strong>lns und im „Wirtschaftlichen“ wie<strong>de</strong>r<br />
das „Reinwirtschaftliche" als ein scharf abgegrenztes engeres Gebiet<br />
auszuschei<strong>de</strong>n, ist nicht auf die Unzulänglichkeit <strong>de</strong>r geistigen Mittel, die<br />
daran gewen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, zurückzuführen. Es ist kein Zweifel, daß zur<br />
Lösung dieses schwierigen Problems <strong>de</strong>r größte Scharfsinn aufgeboten<br />
wur<strong>de</strong>. Wenn es doch nicht gelöst wer<strong>de</strong>n konnte, dann beweist dies<br />
<strong>de</strong>utlich, daß es sich um eine Fragestellung han<strong>de</strong>lt, auf die eine<br />
befriedigen<strong>de</strong> Antwort überhaupt nicht gegeben wer<strong>de</strong>n kann. Das Gebiet<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft fällt mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s rationalen menschlichen Han<strong>de</strong>lns<br />
schlechthin zusammen, und das Gebiet <strong>de</strong>s „Reinwirtschaftlichen“ ist<br />
nichts an<strong>de</strong>res als das Gebiet, auf <strong>de</strong>m Geldrechnung durchführbar<br />
erscheint.<br />
Streng genommen kennt je<strong>de</strong>r einzelne Mensch nur ein Ziel: Die<br />
höchste Glückseligkeit zu erlangen, die unter <strong>de</strong>n gegebenen Umstän<strong>de</strong>n<br />
erlangbar ist. Der Eudämonismus mag von <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alistischen Ethik noch<br />
so sehr angefochten wer<strong>de</strong>n; je<strong>de</strong> soziologische und nationalökonomische<br />
Betrachtung muß ihn, auch wenn sie es mitunter energisch in Abre<strong>de</strong><br />
stellt, als selbstverständlich voraussetzen. Das fatale Mißverständnis, das<br />
<strong>de</strong>n Bekämpfern <strong>de</strong>r eudämonistischen Ethik wi<strong>de</strong>rfährt, wenn sie die<br />
Begriffe Lust und Unlust und Glückseligkeit grob materialistisch fassen,<br />
ist so ziemlich das einzige Argument, das sie gegen die arg angefein<strong>de</strong>te<br />
Lehre vorzubringen wissen. Hat man aber einmal erkannt, daß es ein<br />
Kampf gegen Windmühlen ist, wenn man darauf hinweist, daß <strong>de</strong>s<br />
Menschen Han<strong>de</strong>ln nicht nur auf die Erlangung sinnlicher Genüsse<br />
gerichtet sei, hat man einmal erfaßt, was alles in <strong>de</strong>n Begriffen Lust und<br />
Unlust und Glückseligkeit enthalten ist, dann tritt die Nichtigkeit aller<br />
nicht eudämonistischer Versuche, menschliches Han<strong>de</strong>ln vernunftgemäß<br />
zu <strong>de</strong>uten, klar zutage.<br />
Glückseligkeit ist subjektiv zu verstehen. Das hat die neuere<br />
Sozialphilosophie so scharf gegenüber an<strong>de</strong>ren älteren Auffassungen
114<br />
hervorgehoben, daß man darob anfängt, zu vergessen, daß schon die<br />
äußeren physiologischen Bedingungen <strong>de</strong>r Menschennatur und die durch<br />
die gesellschaftliche Entwicklung geschaffene Gemeinsamkeit <strong>de</strong>r<br />
Anschauungen und Empfindungen eine weitgehen<strong>de</strong> Gleichartigkeit <strong>de</strong>r<br />
subjektiven Meinungen über Glückseligkeit und noch mehr über die<br />
Mittel zu ihrer Erlangung erzeugt haben. Gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r Tatsache dieser<br />
Gleichartigkeit beruht ja das gesellschaftliche Zusammenleben. Weil ihre<br />
Wege gleich laufen, können sich die Menschen zu gemeinsamem Han<strong>de</strong>ln<br />
vereinigen. Daß es überdies auch noch Wege zum Glück gibt, die nur ein<br />
Teil wan<strong>de</strong>lt, spielt gegenüber <strong>de</strong>m Umstand, daß die große Masse <strong>de</strong>r<br />
Wege, und zwar gera<strong>de</strong> die wichtigsten, die gleichen sind, nur eine untergeordnete<br />
Rolle.<br />
Die übliche Trennung von wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen<br />
Motiven <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns ist schon aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> unzulänglich, als<br />
einerseits das letzte Ziel je<strong>de</strong>s Wirtschaftens außerhalb <strong>de</strong>r Wirtschaft<br />
liegt und an<strong>de</strong>rerseits je<strong>de</strong>s rationale Han<strong>de</strong>ln ein Wirtschaften ist.<br />
Nichts<strong>de</strong>stoweniger hat es seinen guten Sinn, wenn man das<br />
reinwirtschaftliche Han<strong>de</strong>ln, also jenes, das <strong>de</strong>r Geldrechnung zugänglich<br />
ist, von <strong>de</strong>m übrigen Han<strong>de</strong>ln trennt. Da, wie wir schon gesehen haben,<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Geldrechnung nur solche Zwischenziele bleiben, <strong>de</strong>ren<br />
Be<strong>de</strong>utung und Einschätzung auf Grund unmittelbar evi<strong>de</strong>nter Urteile<br />
erfolgen kann, ist es, sobald man <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>s „Reinwirtschaftlichen“<br />
verläßt, notwendig, die Abschätzung von Nutzen und Kosten auf Grund<br />
solcher Urteile zu fällen. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit ist es, die<br />
zur Trennung <strong>de</strong>s reinwirtschaftlichen vom außerwirtschaftlichen, zum<br />
Beispiel politisch beeinflußten Han<strong>de</strong>ln Anlaß gibt.<br />
Wenn man aus irgendwelchen Grün<strong>de</strong>n Krieg führen will, so kann man<br />
dies nicht von vornherein als unrationell bezeichnen, auch wenn das Ziel<br />
dieses Krieges so außerhalb <strong>de</strong>sjenigen, was man das Wirtschaftliche zu<br />
nennen pflegt, liegen mag, wie es etwa bei einem Glaubenskrieg <strong>de</strong>r Fall<br />
ist. Wenn man in voller Erkenntnis <strong>de</strong>r Opfer, die ein solcher Krieg<br />
erfor<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>nnoch entschlossen ist, ihn zu führen, weil man das<br />
angestrebte Ziel höher bewertet als die Kosten, die er auferlegt, und weil<br />
man <strong>de</strong>n Krieg als das tauglichste Mittel zur Erreichung dieses Zieles<br />
ansieht, dann ist Kriegführen nicht als unrationelles Han<strong>de</strong>ln zu<br />
betrachten. Es mag dahingestellt bleiben ob diese Voraussetzung wirklich<br />
zutrifft und ob sie überhaupt zutreffen kann. Das gera<strong>de</strong> ist aber zu prüfen,<br />
wenn über
115<br />
die Rationalität <strong>de</strong>r Kriegführung die Entscheidung gefällt wer<strong>de</strong>n soll.<br />
Die Unterscheidung <strong>de</strong>s reinwirtschaftlichen Han<strong>de</strong>lns vom an<strong>de</strong>ren<br />
rationalen Han<strong>de</strong>ln hat eben <strong>de</strong>n Zweck, auf diese Klarheit <strong>de</strong>s Denkens<br />
zu dringen.<br />
Es genügt, darauf hinzuweisen, wie man <strong>de</strong>n Krieg vom „wirtschaftlichen“<br />
Standpunkt als gutes Geschäft zu empfehlen gesucht hat<br />
o<strong>de</strong>r wie man Schutzzollpolitik aus „wirtschaftlichen“ Motiven zu<br />
verteidigen unternommen hat, um zu zeigen, daß man gegen diesen<br />
Grundsatz immer wie<strong>de</strong>r verstößt. Es hätte die politischen Erörterungen<br />
<strong>de</strong>r letzten Jahrzehnte außeror<strong>de</strong>ntlich erleichtert, wenn man stets auf die<br />
Unterscheidung von „reinwirtschaftlichen“ und „nichtwirtschaftlichen“<br />
Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns geachtet hätte.<br />
II.<br />
Der Charakter <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise.<br />
§ 1. In <strong>de</strong>r sozialistischen Gemeinschaft sind alle Produktionsmittel<br />
Eigentum <strong>de</strong>s Gemeinwesens. Das Gemeinwesen allein kann über sie<br />
verfügen und ihre Verwendung in <strong>de</strong>r Produktion bestimmen. Das<br />
Gemeinwesen produziert, das Ergebnis <strong>de</strong>r Produktion fällt ihm zu und<br />
von seiner Verfügung hängt es ab, wie die Produkte zu nutzen sind.<br />
Die mo<strong>de</strong>rnen Sozialisten, vor allem die <strong>de</strong>r marxistischen Schule,<br />
pflegen das sozialistische Gemeinwesen als die „Gesellschaft“ zu<br />
bezeichnen und <strong>de</strong>mgemäß die Überführung <strong>de</strong>r Produktionsmittel in die<br />
ausschließliche Verfügungsgewalt <strong>de</strong>s Gemeinwesens<br />
„Vergesellschaftung“ <strong>de</strong>r Produktionsmittel zu nennen. Gegen diese<br />
Ausdrucksweise wäre an sich nichts einzuwen<strong>de</strong>n, hätte man sie nicht<br />
eigens zu <strong>de</strong>m Zwecke ersonnen, um über einen <strong>de</strong>r wichtigsten Punkte<br />
<strong>de</strong>s Sozialismus eine Unklarheit zu schaffen, <strong>de</strong>ren die sozialistische<br />
Propaganda nicht entraten zu können glaubt.<br />
Das Wort „Gesellschaft“ hat in unserer Sprache drei Be<strong>de</strong>utungen. Es<br />
bezeichnet einmal abstrakt <strong>de</strong>n Inbegriff <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Wechselbeziehungen, dann konkret eine Vereinigung von Individuen<br />
selbst. Zwischen diese bei<strong>de</strong>n begrifflich scharf geson<strong>de</strong>rten Be<strong>de</strong>utungen<br />
schiebt sich im täglichen Sprachgebrauch eine dritte ein: die abstrakte<br />
Gesellschaft wird als „die menschliche Gesellschaft“, als „bürgerliche<br />
Gesellschaft“ u. dgl. personifiziert gedacht. Marx gebraucht <strong>de</strong>n Ausdruck<br />
in allen diesen Be-
116<br />
<strong>de</strong>utungen. Das ist sein gutes Recht, solange er sie begrifflich trennt. Er<br />
macht aber gera<strong>de</strong> das Gegenteil. Er vertauscht sie mit dialektischer<br />
Taschenspielergewandtheit, wo ihm dies gera<strong>de</strong> paßt. Spricht er vom<br />
„gesellschaftlichen Charakter“ <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion, dann<br />
meint er <strong>de</strong>n abstrakten Begriff <strong>de</strong>r Gesellschaft; spricht er von <strong>de</strong>r<br />
„Gesellschaft“, die unter <strong>de</strong>n Krisen lei<strong>de</strong>t, dann meint er die<br />
personifizierte Gemeinschaft <strong>de</strong>r Menschen. Spricht er aber von <strong>de</strong>r<br />
„Gesellschaft“, die die Expropriateure expropriiert und die<br />
Produktionsmittel „vergesellschaftet“ so meint er eine konkrete Gestalt<br />
gesellschaftlicher Vereinigung. Und alle diese Be<strong>de</strong>utungen wer<strong>de</strong>n<br />
immer wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Beweisketten so vertauscht, wie es das Beweisthema<br />
gera<strong>de</strong> erfor<strong>de</strong>rt, um Unbeweisbares scheinbar zu beweisen. Diese mit<br />
klugem Vorbedacht gewählte und festgehaltene Re<strong>de</strong>weise verfolgt<br />
zugleich <strong>de</strong>n Zweck, <strong>de</strong>n Ausdruck „Staat“ o<strong>de</strong>r einen gleichbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n<br />
zu vermei<strong>de</strong>n. Denn dieses Wort hatte bei <strong>de</strong>n Freiheitsmännern und<br />
Demokraten, auf <strong>de</strong>ren Gefolgschaft <strong>de</strong>r Marxismus in seinen Anfängen<br />
nicht verzichten wollte, einen bösen Klang. Ein Programm, das <strong>de</strong>n Staat<br />
zum alleinigen Träger und Leiter <strong>de</strong>r gesamten Produktion machen will,<br />
hatte keine Aussieht, in diesen Kreisen beliebt zu wer<strong>de</strong>n. Und darum<br />
mußte und muß <strong>de</strong>r Marxismus nach einer Phraseologie suchen, die <strong>de</strong>n<br />
Kern seines Programms verhüllt. Damit gelingt es ihm, <strong>de</strong>n tiefen,<br />
unüberbrückbaren Gegensatz, <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>r Demokratie und <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus klafft, zu verschleiern. Es zeugt nicht gera<strong>de</strong> von großer<br />
Denkkraft <strong>de</strong>r Menschen, die in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Weltkrieg unmittelbar<br />
vorangegangenen Jahrzehnten gelebt haben, daß sie diese Sophismen<br />
nicht durchschaut haben.<br />
Die mo<strong>de</strong>rne Staatslehre versteht unter „Staat“ einen Herrschaftsverband,<br />
einen „Zwangsapparat“, <strong>de</strong>r nicht durch seinen Zweck,<br />
son<strong>de</strong>rn durch seine Form charakterisiert wird. Der Marxismus hat <strong>de</strong>n<br />
Begriff „Staat“ willkürlich so eingeschränkt, daß <strong>de</strong>r sozialistische Staat<br />
in ihm nicht eingeschlossen war. „Staat“ sollen nur jene Staaten und<br />
Staatsformen genannt wer<strong>de</strong>n, die das Mißfallen <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Schriftsteller erregten. Für <strong>de</strong>n von ihnen angestrebten Zukunftsstaat<br />
wur<strong>de</strong> diese als schimpflich und herabsetzend angesehene<br />
Ausdrucksweise mit Entrüstung zurückgewiesen. Er wird als Gesellschaft<br />
bezeichnet. So konnte es geschehen, daß die marxistische<br />
Sozial<strong>de</strong>mokratie auf <strong>de</strong>r einen Seite vom „Zerbrechen" <strong>de</strong>r<br />
Staatsmaschine, vom „Absterben“ <strong>de</strong>s Staates phantasieren konnte,<br />
während sie auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite alle staatsfeindlichen,
117<br />
anarchistischen Bestrebungen auf das schärfste bekämpfte und eine Politik<br />
verfolgte, die gera<strong>de</strong>wegs zur Staatsallmacht hinführt. 1<br />
Auf <strong>de</strong>n Namen, <strong>de</strong>n man <strong>de</strong>m Zwangsapparat <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens beilegt, kommt es am allerwenigsten an. Nennt man ihn<br />
Staat, dann folgt man <strong>de</strong>m außerhalb <strong>de</strong>r ganz unkritischen marxistischen<br />
Literatur üblichen Sprachgebrauch und bedient sich eines Ausdruckes, <strong>de</strong>r<br />
allgemein verständlich ist und bei je<strong>de</strong>rmann die Vorstellung erweckt, die<br />
man zu erwecken beabsichtigt. Man kann in einer nationalökonomischen<br />
Untersuchung ohne Scha<strong>de</strong>n diesen Ausdruck, bei <strong>de</strong>m für sehr Viele<br />
Gefühle <strong>de</strong>r Zu- o<strong>de</strong>r Abneigung mitschwingen, auch vermei<strong>de</strong>n und statt<br />
<strong>de</strong>ssen vom Gemeinwesen sprechen. Ob man aber diesen o<strong>de</strong>r jenen<br />
Ausdruck wählt, ist lediglich eine Frage <strong>de</strong>r Schreibart; sachlich ist es<br />
vollkommen gleichgültig.<br />
Be<strong>de</strong>utungsvoller ist das Problem <strong>de</strong>r Organisation dieses sozialistischen<br />
Staates o<strong>de</strong>r Gemeinwesens. Es ist ein feiner Brauch <strong>de</strong>r<br />
englischen Sprache, dort, wo von <strong>de</strong>n Äußerungen <strong>de</strong>s Staatswillens die<br />
Re<strong>de</strong> ist, nicht Staat son<strong>de</strong>rn Regierung zu sagen. Nichts ist besser<br />
geeignet, <strong>de</strong>n Staatsmystizismus <strong>de</strong>s etatistischen Denkens zu vermei<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Marxismus auch in diesem Punkte bis zum äußersten treibt. Die<br />
Marxisten sprechen harmlos von Willensäußerungen <strong>de</strong>r Gesellschaft,<br />
ohne sich irgendwelche Gedanken darüber zu bil<strong>de</strong>n, wie diese<br />
„Gesellschaft“ wollend und han<strong>de</strong>lnd aufzutreten vermöchte.<br />
Das Gemeinwesen kann nicht an<strong>de</strong>rs han<strong>de</strong>ln als durch Organe die es<br />
bestellt hat. Für das sozialistische Gemeinwesen - das folgt aus <strong>de</strong>m<br />
Begriff - ist die Einheit <strong>de</strong>s Organs notwendig. Es kann im sozialistischen<br />
Gemeinwesen nur ein Organ geben das alle wirtschaftlichen und sonstigen<br />
staatlichen Funktionen vereinigt. Dieses Organ kann selbstverständlich<br />
instanzenmäßig geglie<strong>de</strong>rt sein. Es können untergeordnete Stellen<br />
bestehen, <strong>de</strong>nen bestimmte Aufgaben übertragen wer<strong>de</strong>n. Doch<br />
notwendigerweise muß die Einheit <strong>de</strong>r Willensbildung, ohne die das<br />
Wesentliche <strong>de</strong>r Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel und <strong>de</strong>r<br />
Produktion nicht zum Ausdruck gelangen könnte, dazu führen, daß über<br />
allen mit <strong>de</strong>r Wahrnehmung einzelner Geschäfte betrauten Stellen eine<br />
Stelle steht, in <strong>de</strong>r alle Macht zusammenfließt, so daß sie alle Gegensätze<br />
in <strong>de</strong>r Willensbildung<br />
1 Vgl. die dogmenkritische Untersuchung von Kelsen, Staat und Gesellschaft, a. a. O.,<br />
S. 6 ff.
118<br />
ausgleichen und für die Einheitlichkeit <strong>de</strong>r Leitung und Durchführung<br />
Sorge tragen kann.<br />
Wie dieses Organ gebil<strong>de</strong>t wird, und wie in ihm und durch es <strong>de</strong>r<br />
Gesamtwille zum Ausdruck gelangt, ist für die Untersuchung <strong>de</strong>r<br />
Probleme <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft von untergeordneter Be<strong>de</strong>utung.<br />
Es ist gleichgültig, ob dieses Organ ein absoluter Fürst, o<strong>de</strong>r die in<br />
mittelbarer o<strong>de</strong>r unmittelbarer Demokratie organisierte Gesamtheit aller<br />
Volksgenossen ist. Es ist gleichgültig, wie dieses Organ seinen Willen<br />
faßt und wie es ihn durchführt. Für unsere Untersuchung müssen wir es<br />
als vollkommen <strong>de</strong>nken und brauchen uns daher auf die Frage, wie solche<br />
Vollkommenheit erreicht wer<strong>de</strong>n könnte, ob sie überhaupt erreichbar ist,<br />
und ob die Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus nicht schon daran scheitern<br />
müßte, daß sie nicht erreicht wer<strong>de</strong>n kann, gar nicht einzulassen.<br />
Das sozialistische Gemeinwesen müssen wir uns räumlich grenzenlos<br />
vorstellen. Es umfaßt die gesamte Er<strong>de</strong> und die ganze die Er<strong>de</strong><br />
bewohnen<strong>de</strong> Menschheit. Denken wir es räumlich begrenzt, so daß es nur<br />
einen Teil <strong>de</strong>r Erdoberfläche und <strong>de</strong>r darauf wohnen<strong>de</strong>n Menschen<br />
umfaßt, so müssen wir annehmen, daß mit <strong>de</strong>n außerhalb dieser Grenze<br />
liegen<strong>de</strong>n Gebieten und <strong>de</strong>n darauf wohnen<strong>de</strong>n Menschen überhaupt keine<br />
wie immer geartete wirtschaftliche Beziehungen bestehen. Wir sprechen<br />
daher vom geschlossenen sozialistischen Gemeinwesen.<br />
Die Möglichkeit <strong>de</strong>s Nebeneinan<strong>de</strong>rbestehens mehrerer sozialistischer<br />
Gemeinwesen wird im nächsten Abschnitt zu besprechen sein.<br />
§ 2. Die Theorie <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung zeigt, daß im sozialistischen<br />
Gemeinwesen Wirtschaftsrechnung nicht möglich ist.<br />
In je<strong>de</strong>m größeren Unternehmen sind die einzelnen Betriebe o<strong>de</strong>r<br />
Betriebsabteilungen in <strong>de</strong>r Verrechnung bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong><br />
selbständig. Sie verrechnen gegenseitig Materialien und Arbeit, und es ist<br />
je<strong>de</strong>rzeit möglich, für je<strong>de</strong> einzelne Gruppe eine beson<strong>de</strong>re Bilanz<br />
aufzustellen, und die wirtschaftlichen Ergebnisse ihrer Tätigkeit<br />
rechnerisch zu erfassen. Man vermag auf diese Weise festzustellen, mit<br />
welchem Erfolg je<strong>de</strong> einzelne Abteilung gearbeitet hat, und darnach<br />
Entschlüsse über die Umgestaltung, Einschränkung o<strong>de</strong>r Erweiterung<br />
bestehen<strong>de</strong>r Gruppen und über die Einrichtung neuer zu fassen. Gewisse<br />
Fehler sind bei solchen Berechnungen freilich unvermeidlich. Sie rühren<br />
zum Teil von <strong>de</strong>n Schwierigkeiten her, die sich bei <strong>de</strong>r Aufteilung <strong>de</strong>r<br />
Generalunkosten ergeben. An<strong>de</strong>re Fehler wie<strong>de</strong>r entstehen aus <strong>de</strong>r<br />
Notwendigkeit,
119<br />
in mancher Hinsicht mit nicht genau ermittelbaren Daten zu rechnen, z. B.<br />
wenn man bei Ermittlung <strong>de</strong>r Rentabilität eines Verfahrens die<br />
Amortisation <strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>ten Maschinen unter Annahme einer<br />
bestimmten Dauer ihrer Verwendungsfähigkeit berechnet. Doch alle<br />
<strong>de</strong>rartige Fehler können innerhalb gewisser enger Grenzen gehalten<br />
wer<strong>de</strong>n, so daß sie das Gesamtergebnis <strong>de</strong>r Rechnung nicht stören. Was<br />
an Ungewißheit übrig bleibt, kommt auf Rechnung <strong>de</strong>r Ungewißheit<br />
zukünftiger Verhältnisse, die im dynamischen Zustand <strong>de</strong>r<br />
Volkswirtschaft notwendig gegeben ist.<br />
Es scheint nun nahezuliegen, in analoger Weise es auch im<br />
sozialistischen Gemeinwesen mit selbständiger Verrechnung <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Produktionsgruppen zu versuchen. Doch das ist ganz und gar<br />
unmöglich, <strong>de</strong>nn jene selbständige Verrechnung <strong>de</strong>r einzelnen Zweige<br />
eines und <strong>de</strong>sselben Unternehmens beruht ausschließlich darauf, daß im<br />
Marktverkehr für alle Arten von verwen<strong>de</strong>ten Gütern und Arbeitern<br />
Marktpreise gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, die zur Grundlage <strong>de</strong>r Rechnung genommen<br />
wer<strong>de</strong>n können. Wo <strong>de</strong>r freie Marktverkehr fehlt, gibt es keine<br />
Preisbildung; ohne Preisbildung gibt es keine Wirtschaftsrechnung.<br />
Man könnte etwa daran <strong>de</strong>nken, zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Betriebsgruppen<br />
<strong>de</strong>n Austausch zuzulassen, um auf diesem Wege zur<br />
Bildung von Austauschverhältnissen (Preisen) zu gelangen und so eine<br />
Grundlage für die Wirtschaftsrechnung auch im sozialistischen<br />
Gemeinwesen zu schaffen. Man konstruiert im Rahmen <strong>de</strong>r einheitlichen<br />
Wirtschaft, die kein Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln kennt, die<br />
einzelnen Arbeitsgruppen geson<strong>de</strong>rt als Verfügungsberechtigte, die sich<br />
zwar nach <strong>de</strong>n Weisungen <strong>de</strong>r obersten Wirtschaftsleitung zu benehmen<br />
haben, sich jedoch gegenseitig Sachgüter und Arbeitsleistungen nur gegen<br />
Entgelt, das in einem allgemeinen Tauschmittel zu leisten wäre,<br />
überweisen. So ungefähr stellt man sich wohl die Einrichtung <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Betriebes <strong>de</strong>r Produktion vor, wenn man heute von<br />
Vollsozialisierung u. dgl. spricht. Aber wie<strong>de</strong>r kommt man dabei um <strong>de</strong>n<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Punkt nicht herum. Austauschverhältnisse <strong>de</strong>r<br />
Produktivgüter können sich nur auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln bil<strong>de</strong>n. Wenn die „Kohlengemeinschaft“ an die<br />
„Eisengemeinschaft“ Kohle liefert, kann sich kein Preis bil<strong>de</strong>n, es wäre<br />
<strong>de</strong>nn, die bei<strong>de</strong>n Gemeinschaften seien Eigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />
ihrer Betriebe. Das wäre aber kein Sozialismus, son<strong>de</strong>rn Syndikalismus.
120<br />
Für <strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeitswerttheorie stehen<strong>de</strong>n sozialistischen<br />
Theoretiker steht die Sache freilich recht einfach. „Sobald die<br />
Gesellschaft sich in <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Produktionsmittel setzt und sie in<br />
unmittelbarer Vergesellschaftung zur Produktion verwen<strong>de</strong>t, wird die<br />
Arbeit eines je<strong>de</strong>n, wie verschie<strong>de</strong>n auch ihr spezifisch nützlicher<br />
Charakter sei, von vornherein und direkt gesellschaftliche Arbeit. Die in<br />
einem Produkt stecken<strong>de</strong> Menge gesellschaftlicher Arbeit braucht dann<br />
nicht erst auf einem Umweg festgestellt zu wer<strong>de</strong>n; die tägliche Erfahrung<br />
zeigt direkt an, wieviel davon im Durchschnitt nötig ist. Die Gesellschaft<br />
kann einfach berechnen, wieviel Arbeitsstun<strong>de</strong>n in einer Dampfmaschine,<br />
einem Hektoliter Weizen <strong>de</strong>r letzten Ernte, in hun<strong>de</strong>rt Quadratmeter Tuch<br />
von bestimmter Qualität stecken . . . Allerdings wird auch dann die<br />
Gesellschaft wissen müssen, wieviel Arbeit je<strong>de</strong>r Gebrauchsgegenstand zu<br />
seiner Herstellung bedarf. Sie wird <strong>de</strong>n Produktionsplan einzurichten<br />
haben nach <strong>de</strong>n Produktionsmitteln, wozu beson<strong>de</strong>rs auch die<br />
Arbeitskräfte gehören. Die Nutzeffekte <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen<br />
Gebrauchsgegenstän<strong>de</strong>, abgewogen untereinan<strong>de</strong>r und gegenüber <strong>de</strong>n zu<br />
ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen, wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Plan schließlich<br />
bestimmen. Die Leute machen alles sehr einfach ab, ohne<br />
Dazwischenkunft <strong>de</strong>s vielberühmten ‚Werts‘“. 1<br />
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die kritischen Einwän<strong>de</strong> gegen die<br />
Arbeitswerttheorie noch einmal vorzubringen. Sie können uns in diesem<br />
Zusammenhang nur insoweit interessieren, als sie für die Beurteilung <strong>de</strong>r<br />
Verwendbarkeit <strong>de</strong>r Arbeit für die Wertrechnung eines sozialistischen<br />
Gemeinwesens von Belang sind.<br />
Die Arbeitsrechnung berücksichtigt <strong>de</strong>m ersten Anschein nach auch<br />
die natürlichen, außerhalb <strong>de</strong>s Menschen gelegenen Bedingungen <strong>de</strong>r<br />
Produktion. Im Begriff <strong>de</strong>r gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit wird<br />
schon das Gesetz vom abnehmen<strong>de</strong>n Ertrag soweit berücksichtigt, als es<br />
wegen <strong>de</strong>r Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r natürlichen Produktionsbedingungen<br />
wirksam wird. Steigt die Nachfrage nach einer Ware und müssen daher<br />
schlechtere natürliche Produktionsbedingungen zur Ausbeutung<br />
herangezogen wer<strong>de</strong>n, dann steigt auch die zur Erzeugung einer Einheit<br />
durchschnittlich benötigte gesellschaftliche Arbeitszeit. Gelingt es,<br />
günstigere natürliche Produktionsbedingungen ausfindig zu machen, dann<br />
sinkt das gesellschaft-<br />
1 Vgl. Engels, Herrn Eugen Bührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 335 f.
121<br />
lich benötigte Arbeitsquantum. 1 Diese Berücksichtigung <strong>de</strong>r natürlichen<br />
Bedingungen <strong>de</strong>r Produktion reicht aber nur genau so weit, als sie sich in<br />
Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r gesellschaftlich notwendigen Arbeitsmenge äußert.<br />
Darüber hinaus versagt die Arbeitsrechnung. Sie läßt <strong>de</strong>n Verbrauch an<br />
sachlichen Produktionsfaktoren ganz außer acht. Die zur Erzeugung <strong>de</strong>r<br />
bei<strong>de</strong>n Waren P und Q erfor<strong>de</strong>rliche gesellschaftlich notwendige<br />
Arbeitszeit betrage je 10 Stun<strong>de</strong>n. Zur Erzeugung sowohl einer Einheit<br />
von P als auch einer Einheit von Q sei außer <strong>de</strong>r Arbeit auch das Material<br />
a, von <strong>de</strong>m eine Einheit in einer Stun<strong>de</strong> gesellschaftlich notwendiger Arbeit<br />
erzeugt wird, zu verwen<strong>de</strong>n, und zwar benötigt man zur Erzeugung<br />
von P zwei Einheiten von a und überdies 8 Arbeitsstun<strong>de</strong>n, für die<br />
Erzeugung von Q eine Einheit von a und überdies 9 Arbeitsstun<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsrechnung erscheinen P und Q als Äquivalente, in <strong>de</strong>r<br />
Wertrechnung müßte P höher bewertet wer<strong>de</strong>n als Q. Jene ist falsch, diese<br />
allein entspricht <strong>de</strong>m Wesen und <strong>de</strong>m Zweck <strong>de</strong>r Rechnung. Es ist wahr,<br />
daß dieses Mehr, um das die Wertrechnung P höher stellt als Q, dieses<br />
materielle Substrat „ohne Zutun <strong>de</strong>s Menschen von Natur aus vorhan<strong>de</strong>n<br />
ist“. 2 Doch wenn es nur in einer solchen Menge vorhan<strong>de</strong>n ist, daß es ein<br />
Gegenstand <strong>de</strong>r Bewirtschaftung wird, muß es auch in irgen<strong>de</strong>iner Form<br />
in die Wertrechnung eingehen.<br />
Der zweite Mangel <strong>de</strong>r Arbeitsrechnung ist die Nichtberücksichtigung<br />
<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Qualität <strong>de</strong>r Arbeit. Für Marx ist alle menschliche<br />
Arbeit ökonomisch von gleicher Art, weil sie immer „produktive<br />
Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.“ ist.<br />
„Komplizierte Arbeit gilt nur als potenzierte o<strong>de</strong>r viel mehr multiplizierte<br />
einfache Arbeit, so daß ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich<br />
einem größeren Quantum einfacher Arbeit. Daß diese Reduktion<br />
beständig vor sich geht, zeigt die Erfahrung. Eine Ware mag das Produkt<br />
<strong>de</strong>r kompliziertesten Arbeit sein, ihr Wert setzt sie <strong>de</strong>m Produkt einfacher<br />
Arbeit gleich und stellt daher selbst nur ein bestimmtes Quantum<br />
einfacher Arbeit dar“. 3 Böhm-Bawerk hat nicht unrecht, wenn er diese<br />
Argumentation „ein theoretisches Kunststück von verblüffen<strong>de</strong>r Naivität“<br />
nennt. 4 Man kann es für die Beurteilung von Marxens<br />
1 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., I. Bd., S. 5 ff.<br />
2 Ebendort S. 9.<br />
3 Ebendort S. 10 f.<br />
4 Vgl. Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 3. Aufl., I. Abt., Innsbruck 1914, S.<br />
531.
122<br />
Behauptung füglich dahingestellt sein lassen, ob es möglich ist, ein<br />
einheitliches physiologisches Maß aller menschlichen Arbeit - <strong>de</strong>r<br />
physischen sowohl als auch <strong>de</strong>r sogenannten geistigen - zu fin<strong>de</strong>n. Denn<br />
fest steht, daß unter <strong>de</strong>n Menschen selbst Verschie<strong>de</strong>nheiten <strong>de</strong>r Fähigkeit<br />
und Geschicklichkeit bestehen, die es mit sich bringen, daß die<br />
Arbeitsprodukte und Arbeitsleistungen verschie<strong>de</strong>ne Qualität haben. Das,<br />
was für die Entscheidung <strong>de</strong>r Frage, ob die Arbeitsrechnung als<br />
Wirtschaftsrechnung verwendbar ist, <strong>de</strong>n Ausschlag geben muß, ist, ob es<br />
möglich ist, verschie<strong>de</strong>nartige Arbeit ohne das Zwischenglied <strong>de</strong>r<br />
Bewertung ihrer Produkte durch die wirtschaften<strong>de</strong>n Subjekte auf einen<br />
einheitlichen Nenner zu bringen. Der Beweis, <strong>de</strong>n Marx hierfür zu<br />
erbringen sucht, ist mißlungen. Die Erfahrung zeigt wohl, daß die Waren<br />
ohne Rücksicht darauf, ob sie Produkte einfacher o<strong>de</strong>r komplizierter<br />
Arbeit sind, in Austauschverhältnisse gesetzt wer<strong>de</strong>n. Doch dies wäre nur<br />
dann ein Beweis dafür, daß bestimmte Mengen einfacher Arbeit<br />
unmittelbar bestimmten Mengen komplizierter Arbeit gleichgesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n, wenn es ausgemacht wäre, daß die Arbeit die Quelle <strong>de</strong>s<br />
Tauschwertes ist. Das ist aber nicht nur nicht ausgemacht, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong><br />
das, was Marx mit jenen Ausführungen erst beweisen will.<br />
Daß im Tauschverkehre sich im Lohnsatz ein Substitutionsverhältnis<br />
zwischen einfacher und komplizierter Arbeit herausgebil<strong>de</strong>t hat - worauf<br />
Marx in jener Stelle nicht anspielt - ist ebensowenig ein Beweis für diese<br />
Gleichartigkeit. Diese Gleichsetzung ist ein Ergebnis <strong>de</strong>s Marktverkehrs,<br />
nicht seine Voraussetzung. Die Arbeitsrechnung müßte für die<br />
Substitution <strong>de</strong>r komplizierten Arbeit durch einfache Arbeit ein<br />
willkürliches Verhältnis festsetzen, was ihre Verwendbarkeit für die<br />
Wirtschaftsführung ausschließt.<br />
Man hat lange gemeint, die Arbeitswerttheorie sei für <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
notwendig, um die For<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>r Vergesellschaftung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel ethisch zu begrün<strong>de</strong>n. Wir wissen heute, daß dies ein<br />
Irrtum ist. Wenn auch die Mehrzahl ihrer sozialistischen Anhänger sie in<br />
dieser Weise verwen<strong>de</strong>t hat, und wenn selbst auch Marx sich, wiewohl er<br />
grundsätzlich einen an<strong>de</strong>ren Standpunkt einnahm, von diesem Mißgriff<br />
nicht freizuhalten vermochte, so ist doch klar, daß einerseits das politische<br />
Verlangen nach Einführung <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise we<strong>de</strong>r<br />
einer Unterstützung durch die Arbeitswerttheorie bedarf, noch auch eine<br />
Unterstützung von dieser Lehre erhalten kann, und daß an<strong>de</strong>rerseits auch<br />
diejenigen,
123<br />
die eine an<strong>de</strong>re Anschauung über das Wesen und <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s<br />
wirtschaftlichen Wertes vertreten, <strong>de</strong>r Gesinnung nach Sozialisten sein<br />
können. Doch in einem an<strong>de</strong>ren Sinn, als man es gewöhnlich meint, ist die<br />
Arbeitswerttheorie eine innere Notwendigkeit für die, die die<br />
sozialistische Produktionsweise befürworten. Sozialistische Produktion im<br />
großen könnte rationell nur durchführbar erscheinen, wenn es eine<br />
objektiv erkennbare Wertgröße geben wür<strong>de</strong>, die die Wirtschaftsrechnung<br />
auch in <strong>de</strong>r verkehr- und geldlosen Wirtschaft ermöglichen wür<strong>de</strong>. Als<br />
solche aber könnte wohl nur die Arbeit in Betracht kommen. 1<br />
§ 3. Seit die jüngsten Ereignisse in Rußland, Ungarn, Deutschland und<br />
Österreich marxistischen Parteien zur Macht verholfen und damit die<br />
vollständige Durchführung <strong>de</strong>s sozialistischen Vergesellschaftungsprogramms<br />
in unmittelbare Nähe gerückt haben, haben auch<br />
die marxistischen Schriftsteller angefangen, sich mit <strong>de</strong>n Problemen <strong>de</strong>r<br />
Einrichtung <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens näher zu befassen. Aber<br />
auch jetzt weichen sie <strong>de</strong>n Kernfragen noch immer behutsam aus, es <strong>de</strong>n<br />
verachteten „Utopisten“ überlassend, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie<br />
selbst ziehen es vor, sich auf das zu beschränken, was zunächst zu tun ist;<br />
sie bringen immer nur Programme über <strong>de</strong>n Weg zum Sozialismus, nicht<br />
über <strong>de</strong>n Sozialismus selbst. Nur das eine können wir aus allen diesen<br />
Schriften ersehen, daß ihnen das große Problem <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung<br />
im sozialistischen Staat in keiner Weise zum Bewußtsein gekommen ist.<br />
1 A. W. Cohn (Kann das Geld abgeschafft wer<strong>de</strong>n? Jena 1920, S. 128) hat meinen<br />
obenstehen<strong>de</strong>n, zuerst im Archiv für Sozialwissenschaft (a. a. O.) veröffentlichten<br />
Ausführungen entgegengehalten, daß Schäffle das Problem <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Wirtschaftsrechnung durch seine „Sozialtaxe“ bereits gelöst habe. Doch Schäffle gelangt -<br />
ganz abgesehen davon, daß er das Problem <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung in seiner Beson<strong>de</strong>rheit<br />
nicht erkannt hat und sich eigentlich nur mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Auffindung eines Maßstabes für eine<br />
gerechte Verteilung <strong>de</strong>r gebrauchsfertigen Güter befaßt - in seinen unklaren und<br />
wi<strong>de</strong>rspruchsvollen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zu <strong>de</strong>m Schlusse, es gebe ein „sozialistisches<br />
Wertmaß“ und zwar bestün<strong>de</strong> es „in einem aliquoten Teil <strong>de</strong>r wirklich geleisteten Gesamtmasse<br />
gesellschaftlicher (sozialisierter) Arbeitszeit, bzw. ihres Ertrages“. (Vgl. Schäffle,<br />
Bau und Leben <strong>de</strong>s sozialen Körpers, 3. Bd., Tübingen 1878, S. 474). Dem Einwand, daß<br />
„die Liquidation <strong>de</strong>r Produkte gegen die Berufsarbeiten wegen mangeln<strong>de</strong>r<br />
Berücksichtigung <strong>de</strong>s Gebrauchswertes unmöglich wür<strong>de</strong>“ hält er entgegen, nur in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Volkswirtschaft sei die Arbeit nicht allgemeines Wertmaß. „Bei<br />
kollektivistischer Produktion dagegen wäre gesellschaftliche Arbeit eine erfaßbare<br />
Realität, ihre Verwendung als Wertmaß allein natürlich.“ (Ebendort S. 476.) Schäffle ist<br />
mithin weit entfernt davon, die ganze Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Problems auch nur zu erkennen.
124<br />
Als letzter und entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Schritt zur Durchführung <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Vergesellschaftungsprogramms erscheint Otto Bauer die<br />
Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Banken. Sind alle Banken vergesellschaftet und zu<br />
einer einzigen Zentralbank verschmolzen, dann wird ihr Verwaltungsrat<br />
„zur obersten wirtschaftlichen Behör<strong>de</strong>, zum höchsten leiten<strong>de</strong>n Organ<br />
<strong>de</strong>r ganzen Volkswirtschaft. Erst durch die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r<br />
Banken gewinnt die Gesellschaft die Macht, ihre Arbeit planmäßig zu<br />
leiten, planmäßig auf die einzelnen Zweige <strong>de</strong>r Produktion zu verteilen,<br />
planmäßig <strong>de</strong>m Bedarf <strong>de</strong>s Volkes anzupassen“. 1 Von <strong>de</strong>r Geldordnung,<br />
die im sozialistischen Gemeinwesen nach Durchführung <strong>de</strong>r<br />
Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Banken herrschen soll, ist bei Bauer nicht die<br />
Re<strong>de</strong>. Gleich an<strong>de</strong>ren Marxisten sucht er zu zeigen, wie einfach und<br />
selbstverständlich sich die künftige sozialistische Gesellschaftsordnung<br />
aus <strong>de</strong>n Verhältnissen <strong>de</strong>s entwickelten Kapitalismus heraus entfaltet. „Es<br />
genügt, die Macht, die heute die Aktionäre <strong>de</strong>r Banken durch die von<br />
ihnen gewählten Verwaltungsräte ausüben, <strong>de</strong>n Vertretern <strong>de</strong>r<br />
Volksgesamtheit zu übertragen“ 2 um die Banken zu sozialisieren und<br />
damit <strong>de</strong>n Schlußstein zum Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Sozialismus zu setzen. Bauer<br />
läßt seine Leser dabei völlig im Unklaren darüber, daß das Wesen <strong>de</strong>r<br />
Banken sich durch die Vergesellschaftung und Verschmelzung zu einer<br />
einzigen Zentralbank vollständig verän<strong>de</strong>rt. Sind einmal alle Banken in<br />
einer einzigen Bank aufgegangen, dann ist ihr Wesen ganz umgestaltet,<br />
sie sind dann in <strong>de</strong>r Lage, ohne je<strong>de</strong> Beschränkung Umlaufsmittel<br />
auszugeben. Damit wird die Geldordnung, wie wir sie heute haben, von<br />
selbst beseitigt. 3 Wenn aber überdies in einem auch schon sonst völlig<br />
sozialistischen Gemeinwesen die einzige Zentralbank vergesellschaftet<br />
wird, dann wird <strong>de</strong>r Marktverkehr beseitigt und je<strong>de</strong>r Tauschverkehr<br />
aufgehoben. Dann hört die Bank auf, Bank zu sein, ihre spezifischen<br />
Funktionen erlöschen, weil für sie in einer solchen Gesellschaft überhaupt<br />
kein Platz mehr ist. Es mag sein, daß <strong>de</strong>r Name Bank beibehalten wird,<br />
daß die oberste Wirtschaftsleitung <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens<br />
Bankdirektion genannt wird, und daß sie ihren Sitz in einem Gebäu<strong>de</strong><br />
aufschlägt, das früher von einer Bank eingenommen wur<strong>de</strong>. Aber eine<br />
Bank ist sie dann nicht mehr, sie erfüllt keine jener Funktionen, die die<br />
1 Vgl. Bauer, Der Weg zum Sozialismus, Wien 1919, S. 26 ff.<br />
2 Ebendort S. 25.<br />
3 Vgl. meine „Theorie <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Umlaufsmittel“, München und Leipzig<br />
1912, S. 474 ff.
125<br />
Banken in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln und<br />
<strong>de</strong>m Gebrauch eines allgemeinen Tauschvermittlers, <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s,<br />
beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsordnung erfüllen. Sie erteilt keine Kredite mehr,<br />
weil es im sozialistischen Gemeinwesen begrifflich keine Kredite geben<br />
kann. Bauer selbst sagt nicht, was eine Bank sei, aber er leitet in seiner<br />
Schrift das Kapitel über die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Banken mit <strong>de</strong>n<br />
Sätzen ein: „Alle verfügbaren Kapitalien . . . fließen bei <strong>de</strong>n Banken<br />
zusammen“. 1 Müßte er sich nicht als Marxist die Frage vorlegen, was<br />
<strong>de</strong>nn die Tätigkeit <strong>de</strong>r Banken nach Aufhebung <strong>de</strong>s Kapitalverhältnisses<br />
sein wird?<br />
Ähnlicher Unklarheit machen sich auch alle an<strong>de</strong>ren Schriftsteller<br />
schuldig, die sich mit <strong>de</strong>n Problemen <strong>de</strong>r Einrichtung <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens befassen. Sie sehen nicht, daß durch Ausschaltung <strong>de</strong>s<br />
Austausches und <strong>de</strong>r Preisbildung <strong>de</strong>s Marktes die Grundlagen <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsrechnung beseitigt wer<strong>de</strong>n, und daß man an ihre Stelle etwas<br />
an<strong>de</strong>res setzen müßte, wenn nicht alle Wirtschaft aufgehoben wer<strong>de</strong>n und<br />
ein völliges Chaos eintreten soll. Man glaubt, daß die sozialistischen<br />
Institutionen sich ohne weiteres aus <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r privatkapitalistischen<br />
Wirtschaft herausbil<strong>de</strong>n könnten. Das trifft in keinem Fall zu. Gera<strong>de</strong>zu<br />
grotesk aber wird dies, wenn man von Banken, einer Bankleitung u. dgl.<br />
im sozialistischen Gemeinwesen spricht.<br />
Der Hinweis auf die Verhältnisse, die sich in Rußland unter <strong>de</strong>r<br />
Herrschaft <strong>de</strong>r Sowjets herausgebil<strong>de</strong>t haben, besagt gar nichts. Was wir<br />
dort sehen, ist nichts an<strong>de</strong>res als das Bild <strong>de</strong>r Vernichtung einer<br />
bestehen<strong>de</strong>n Ordnung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion, an <strong>de</strong>ren Stelle<br />
die geschlossene bäuerliche Hauswirtschaft tritt. Alle auf <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruhen<strong>de</strong>n Produktionszweige befin<strong>de</strong>n<br />
sich in voller Auflösung. Was unter <strong>de</strong>r Herrschaft von Lenin und Trotzki<br />
vorgeht, ist nichts als Zerstörung und Vernichtung. Das sozialistische<br />
Gemeinwesen <strong>de</strong>r russischen Räteherrschaft hat das Problem <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsrechnung gar nicht berührt und hatte auch keine Veranlassung,<br />
es zu berühren. Denn dort, wo in Sowjetrußland trotz aller Verbote <strong>de</strong>r<br />
Regierung noch überhaupt für <strong>de</strong>n Markt produziert wird, wird auch in<br />
Geld gerechnet, weil dort auch noch Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln besteht und Waren gegen Geld verkauft wer<strong>de</strong>n. Auch<br />
die Regierung kann sich <strong>de</strong>m nicht entziehen, ja sie bestätigt dadurch, daß<br />
sie selbst<br />
1 Vgl. Bauer, a. a. O., S. 24.
126<br />
die Menge <strong>de</strong>s umlaufen<strong>de</strong>n Gel<strong>de</strong>s vermehrt, die Notwendigkeit, die<br />
Geldordnung wenigstens für die Zeit <strong>de</strong>s Überganges festzuhalten.<br />
Daß das Wesen <strong>de</strong>s Problems, um das es sich han<strong>de</strong>lt, im Sowjetstaat<br />
noch nicht sichtbar zutage getreten ist, zeigen am besten die Darlegungen<br />
Lenins. In <strong>de</strong>n Ausführungen <strong>de</strong>s Diktators kehrt <strong>de</strong>r Gedanke immer<br />
wie<strong>de</strong>r, daß die nächste und dringendste Aufgabe <strong>de</strong>s russischen<br />
Kommunismus „die Organisation <strong>de</strong>r Rechnungslegung und <strong>de</strong>r Kontrolle<br />
in <strong>de</strong>n Betrieben, in <strong>de</strong>nen bereits die Kapitalisten expropriiert sind, und<br />
in allen übrigen Wirtschaftsbetrieben“ sei. 1 Doch Lenin ist weit davon<br />
entfernt, zu erkennen, daß es sich hier um ein ganz neues Problem<br />
han<strong>de</strong>lt, das man nicht mit <strong>de</strong>n geistigen Mitteln <strong>de</strong>r „bürgerlichen“<br />
Kultur zu lösen vermag. Er <strong>de</strong>nkt über die Aufgaben <strong>de</strong>s nächsten Tages<br />
nicht hinaus. Er sieht um sich herum noch immer <strong>de</strong>n Geldverkehr und<br />
merkt nicht, daß mit <strong>de</strong>m Fortschreiten <strong>de</strong>r Sozialisierung auch das Geld<br />
seine Stellung als allgemein gebräuchliches Tauschmittel soweit verlieren<br />
muß, als das Son<strong>de</strong>reigentum und mit ihm <strong>de</strong>r Tausch verschwin<strong>de</strong>t. Die<br />
„bürgerliche“ Buchführung, die in Geld rechnet, will Lenin im<br />
Sowjetbetriebe wie<strong>de</strong>r einführen, das ist <strong>de</strong>r Sinn seiner Ausführungen.<br />
Darum will er ja auch die „bürgerlichen Fachleute“ wie<strong>de</strong>r in Gna<strong>de</strong>n<br />
aufnehmen. 2 Im übrigen bemerkt Lenin ebensowenig wie Bauer, daß im<br />
sozialistischen Gemeinwesen die Funktion <strong>de</strong>r Banken in ihrem<br />
gegenwärtigen Sinn nicht <strong>de</strong>nkbar ist. E will „die Verstaatlichung <strong>de</strong>r<br />
Banken“ weiter fortsetzen und „zur Verwandlung <strong>de</strong>r Banken in<br />
Knotenpunkte <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Buchhaltung unter <strong>de</strong>m Sozialismus“<br />
schreiten. 3<br />
Überhaupt sind die Vorstellungen Lenins von <strong>de</strong>r Wirtschaft <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus, <strong>de</strong>r er sein Volk zuzuführen bestrebt war, recht unklar. „Der<br />
sozialistische Staat“, meint er, „kann nur entstehen als ein Netz von<br />
produktiv konsumieren<strong>de</strong>n Kommunen, die gewissenhaft ihre Produktion<br />
und ihren Konsum buchen, mit <strong>de</strong>r Arbeit ökonomisch umgehen, die<br />
Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit unentwegt steigern und damit die Möglichkeit<br />
erzielen, <strong>de</strong>n Arbeitstag bis auf sieben, bis auf sechs Stun<strong>de</strong>n und auf noch<br />
weniger herabzusetzen“. 4 "Je<strong>de</strong> Fabrik, je<strong>de</strong>s Dorf erscheint als eine<br />
produktiv konsumieren<strong>de</strong><br />
1 Vgl. Lenin, Die nächsten Aufgaben <strong>de</strong>r Sowjetmacht, Berlin 1918, S. 12 f., 22 ff.<br />
2 Ebendort S. 15.<br />
3 Ebendort S. 21 und 26; vgl. auch Bucharin, a. a. O., S. 27 ff.<br />
4 Vgl. Lenin, a. a. O., S. 24 f.
127<br />
Kommune, die das Recht und die Verpflichtung hat, auf ihre Art die<br />
allgemeinen Sowjetgesetzbestimmungen anzuwen<strong>de</strong>n (,auf ihre Art‘ nicht<br />
im Sinne ihrer Verletzung, son<strong>de</strong>rn im Sinne <strong>de</strong>r Verschie<strong>de</strong>nheit ihrer<br />
Durchführungsformen im Leben) und auf ihre Art das Problem <strong>de</strong>r<br />
Berechnung <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r Erzeugnisse zu<br />
lösen“. 1 „Die Musterkommunen müssen und wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n<br />
zurückgebliebenen Kommunen als Erzieher, Lehrer und Antreiber<br />
dienen.“ Man wird die Erfolge <strong>de</strong>r Musterkommunen in allen Einzelheiten<br />
bekannt machen, damit das gute Beispiel wirke. Die Kommunen, die gute<br />
„Geschäftsergebnisse <strong>de</strong>r Wirtschaft“ aufweisen, wer<strong>de</strong> man durch<br />
Verkürzung einer bestimmten Zeit <strong>de</strong>s Arbeitstages, Erhöhung <strong>de</strong>s<br />
Verdienstes, durch Überlassung einer größeren Quantität an kulturellen<br />
und ästhetischen Gütern und Werten usw. „unverzüglich belohnen“. 2<br />
Man ersieht daraus, daß Lenins I<strong>de</strong>al ein Gesellschaftszustand ist, in<br />
<strong>de</strong>m die Produktionsmittel Eigentum <strong>de</strong>s ganzen Gemeinwesens, nicht das<br />
Eigentum einzelner Bezirke und Gemein<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r gar <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>de</strong>s<br />
Betriebes sind. Sein I<strong>de</strong>al ist sozialistisch, nicht syndikalistisch. Das<br />
braucht bei einem Marxisten, wie es Lenin ist, nicht erst beson<strong>de</strong>rs<br />
hervorgehoben zu wer<strong>de</strong>n. Auffällig ist es nicht beim Theoretiker Lenin,<br />
son<strong>de</strong>rn beim Staatsmann Lenin, <strong>de</strong>m Führer <strong>de</strong>r syndikalistischen und<br />
kleinbäuerlichen russischen Revolution. Doch wir haben es augenblicklich<br />
nur mit <strong>de</strong>m Schriftsteller zu tun und können sein I<strong>de</strong>al für sich<br />
betrachten, ohne uns durch das Bild <strong>de</strong>r Wirklichkeit stören zu lassen.<br />
Je<strong>de</strong>r einzelne agrarische o<strong>de</strong>r industrielle Großbetrieb bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>mnach ein<br />
Glied <strong>de</strong>r großen Arbeitsgemeinschaft. Die darin Tätigen besitzen das<br />
Recht <strong>de</strong>r Selbstverwaltung; sie haben einen weitgehen<strong>de</strong>n Einfluß bei <strong>de</strong>r<br />
Einrichtung <strong>de</strong>r Produktion und dann wie<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r ihnen<br />
zum Konsum zugewiesenen Güter. Doch die Arbeitsmittel sind Eigentum<br />
<strong>de</strong>r ganzen Gesellschaft, und daher fällt auch das Produkt <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
zu, damit sie über seine Verteilung verfüge. Wie nun, muß man jetzt<br />
fragen, wird in <strong>de</strong>m so organisierten sozialistischen Gemeinwesen in <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaft gerechnet wer<strong>de</strong>n? Darauf gibt Lenin nur eine ganz<br />
unzulängliche Antwort, in<strong>de</strong>m er auf die Statistik verweist. Man müsse<br />
die Statistik „in die Masse tragen, sie volkstümlich machen, damit die<br />
Werktätigen allmählich selbst lernen wür<strong>de</strong>n, zu verstehen und zusehen,<br />
1 Ebendort S. 32.<br />
2 Ebendort S. 33.
128<br />
wie und wieviel man arbeiten muß, wie und wieviel man sich erholen<br />
kann“ - damit <strong>de</strong>r Vergleich <strong>de</strong>r Geschäftsergebnisse <strong>de</strong>r Wirtschaft von<br />
einzelnen Kommunen zum Gegenstand <strong>de</strong>s allgemeinen Interesses und<br />
<strong>de</strong>r Erlernung wür<strong>de</strong>n. 1 Man kann aus diesen kargen An<strong>de</strong>utungen nicht<br />
entnehmen, was sich Lenin hier unter Statistik vorstellt, ob er an<br />
Geldrechnung o<strong>de</strong>r Naturalrechnung <strong>de</strong>nkt. In je<strong>de</strong>m Fall müssen wir auf<br />
das verweisen, was oben über die Unmöglichkeit, in einem sozialistischen<br />
Gemeinwesen Geldpreise <strong>de</strong>r Produktionsgüter zu erkennen, und über die<br />
Schwierigkeiten, die <strong>de</strong>r Naturalrechnung entgegenstehen, gesagt wur<strong>de</strong>. 2<br />
Für die Wirtschaftsrechnung wäre die Statistik nur dann verwendbar,<br />
wenn sie über die Naturalrechnung, <strong>de</strong>ren Unverwendbarkeit für diese<br />
Zwecke wir nachgewiesen haben, hinausführen könnte. Das ist natürlich<br />
dort, wo kein Austauschverhältnis <strong>de</strong>r Güter im Verkehr gebil<strong>de</strong>t wird,<br />
nicht möglich.<br />
§ 4. Die Wirtschaft <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens steht unter<br />
<strong>de</strong>nselben äußeren Bedingungen, die die auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong> Wirtschaftsverfassung und je<strong>de</strong> <strong>de</strong>nkbare<br />
menschliche Wirtschaftsverfassung beherrschen. Auch für sie gilt das<br />
wirtschaftliche Prinzip in <strong>de</strong>r gleichen Weise, in <strong>de</strong>r es für je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re<br />
Wirtschaft, weil für alle Wirtschaft, gilt. Auch sie kennt eine<br />
Rangordnung <strong>de</strong>r Ziele und muß danach streben, die wichtigeren vor <strong>de</strong>n<br />
min<strong>de</strong>rwichtigen zu erreichen. Darin allein liegt das Wesen alles<br />
Wirtschaftens.<br />
Es ist selbstverständlich, daß das sozialistische Gemeinwesen in <strong>de</strong>r<br />
Produktion nicht nur Arbeit, son<strong>de</strong>rn auch sachliche Produktionsmittel<br />
verwen<strong>de</strong>n wird. Die sachlichen produzierten Produktionsmittel wer<strong>de</strong>n<br />
einer weit verbreiteten Übung zufolge als Kapital bezeichnet.<br />
Kapitalistische Produktion ist dann die, die kluge Umwege einschlägt, im<br />
Gegensatz zur kapitallosen, die gera<strong>de</strong>aus mit <strong>de</strong>r nackten Faust auf das<br />
Ziel zugeht. 3 Hält man an diesem Sprachgebrauch fest, so muß man sagen,<br />
daß auch das sozialistische Gemeinwesen mit Kapital arbeiten und daher<br />
kapitalistisch produzieren wird. Das Kapital als Inbegriff <strong>de</strong>r Zwischenprodukte,<br />
die auf <strong>de</strong>n einzelnen Etappen <strong>de</strong>r Produktionsumwege<br />
1 Ebendort S. 33.<br />
2 Auch Neurath (vgl. a. a. O., S. 212 f.) legt <strong>de</strong>r Statistik große Be<strong>de</strong>utung für die<br />
Aufstellung <strong>de</strong>s sozialistischen Wirtschaftsplanes bei.<br />
3 Vgl. Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, II. Bd., 3. Aufl., Innsbruck 1912, S. 21.
129<br />
zur Entstehung kommen, wird durch <strong>de</strong>n Sozialismus zunächst 1 nicht<br />
abgeschafft, son<strong>de</strong>rn nur aus <strong>de</strong>r Verfügungsgewalt einzelner in die <strong>de</strong>r<br />
Gesamtheit übergeführt.<br />
Will man aber, wie wir es oben getan haben, unter kapitalistischer<br />
Produktionsweise jene Wirtschaftsweise verstehen, in <strong>de</strong>r in Geld<br />
gerechnet wird, so daß man die einer Produktion gewidmete Gütermenge,<br />
nach ihrem Geldwert gerechnet, als Kapital zusammenfassen kann und<br />
<strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>s Wirtschaftens an <strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Kapitals<br />
festzustellen sucht, so ist es klar, daß die sozialistische Produktionsweise<br />
nicht als kapitalistisch bezeichnet wer<strong>de</strong>n kann. In einem an<strong>de</strong>ren Sinn als<br />
es <strong>de</strong>r Marxismus tut, können wir dann zwischen sozialistischer und<br />
kapitalistischer Produktionsweise, zwischen Sozialismus und<br />
Kapitalismus unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Als charakteristisches Merkmal <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsweise<br />
erscheint <strong>de</strong>n Sozialisten die Tatsache, daß <strong>de</strong>r Produzent arbeitet, um<br />
einen Gewinn zu erzielen. Die kapitalistische Produktion sei<br />
Profitwirtschaft, die sozialistische wer<strong>de</strong> Bedarfs<strong>de</strong>ckungswirtschaft sein.<br />
Daran ist so viel richtig, daß je<strong>de</strong> kapitalistische Produktion auf Gewinn<br />
gerichtet ist. Doch Gewinn, d. h. einen Wertüberschuß <strong>de</strong>s Erfolges<br />
gegenüber <strong>de</strong>n Kosten, zu erzielen, muß auch die Absicht <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Gemeinwesens sein. Wenn die Wirtschaft rationell<br />
betrieben wird, d. h. wenn sie die dringen<strong>de</strong>ren vor <strong>de</strong>n weniger<br />
dringen<strong>de</strong>n Bedürfnissen befriedigt, dann hat sie schon Gewinne erzielt.<br />
Denn dann sind die Kosten, d. i. <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r wichtigsten unter <strong>de</strong>n nicht<br />
mehr ge<strong>de</strong>ckten Bedürfnissen, kleiner als <strong>de</strong>r erzielte Erfolg. In <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaft kann Gewinn nur erzielt wer<strong>de</strong>n, wenn man<br />
durch die Produktion einem verhältnismäßig dringen<strong>de</strong>n Bedarf<br />
entgegenkommt. Wer produziert, ohne auf das Verhältnis von Vorrat und<br />
Bedarf Rücksicht zu nehmen, erzielt nicht jenes Ergebnis, das er anstrebt.<br />
Die Ausrichtung <strong>de</strong>r Produktion nach <strong>de</strong>m Gewinn be<strong>de</strong>utet nichts<br />
an<strong>de</strong>res als ihre Einstellung auf <strong>de</strong>n Bedarf <strong>de</strong>r Volkswirtschaft; in diesem<br />
Sinne steht sie in einem Gegensatz zur Produktion für <strong>de</strong>n eigenen Bedarf<br />
<strong>de</strong>r<br />
130<br />
1 Die Einschränkung, die in <strong>de</strong>r Beifügung <strong>de</strong>s Wörtchens „zunächst“ liegt, soll nicht<br />
besagen, daß <strong>de</strong>r Sozialismus später, etwa nach Erreichung „einer höheren Phase <strong>de</strong>r<br />
kommunistischen Gesellschaft“ seiner Absicht nach zur Abschaffung <strong>de</strong>s - in diesem<br />
Sinne verstan<strong>de</strong>nen - Kapitals schreiten wird. Nie kann vom Sozialismus die Rückkehr<br />
zum von <strong>de</strong>r Hand in <strong>de</strong>n Mund leben geplant wer<strong>de</strong>n. Vielmehr soll nur schon hier darauf<br />
hingewiesen wer<strong>de</strong>n, daß sozialistische Produktion kraft ihrer inneren Notwendigkeit zur<br />
schrittweisen Aufzehrung <strong>de</strong>r Kapitalgüter führen muß.
verkehrslosen Wirtschaft. Doch auch diese strebt nach Gewinn in <strong>de</strong>r<br />
oben umschriebenen Be<strong>de</strong>utung dieses Ausdruckes. Zwischen Erzeugung<br />
für Gewinn und Erzeugung für Bedarf besteht <strong>de</strong>mnach kein Gegensatz. 1<br />
Die Gegenüberstellung <strong>de</strong>r Profitwirtschaft und <strong>de</strong>r Bedarfs<strong>de</strong>ckungswirtschaft<br />
steht in engster Verbindung mit <strong>de</strong>r üblichen<br />
Gegenüberstellung von Produktivität und Rentabilität. Ein Wirtschaftsakt<br />
wird rentabel genannt, wenn er in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft einen<br />
Überschuß <strong>de</strong>s Ertrages über die Kosten abwirft; ein Wirtschaftsakt wird<br />
produktiv genannt, wenn er auch in einer als Einheit gedachten<br />
Volkswirtschaft, also in einem sozialistischen Gemeinwesen, als ein<br />
solcher erkannt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Ertrag die aufgewen<strong>de</strong>ten<br />
Kosten übersteigt. Produktivität und Rentabilität <strong>de</strong>cken sich in manchen<br />
Fällen nicht. Es gibt Wirtschaftsakte, die rentabel aber nicht produktiv,<br />
und umgekehrt solche, die produktiv aber nicht rentabel sind. Für die<br />
naive Voreingenommenheit zugunsten <strong>de</strong>s Sozialismus, in <strong>de</strong>r die<br />
Mehrzahl <strong>de</strong>r Volkswirte befangen ist, liegt schon in dieser Feststellung<br />
ein hinreichen<strong>de</strong>r Grund, um die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu<br />
verdammen. Das, was die sozialistische Gesellschaft tun wür<strong>de</strong>, erscheint<br />
ihnen schlechthin als das Gute und Vernünftige; daß in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaftsordnung an<strong>de</strong>res geschehen kann, wird als<br />
ein Mißstand angesehen, <strong>de</strong>n man nicht dul<strong>de</strong>n dürfe. Die Prüfung <strong>de</strong>r<br />
Fälle, in <strong>de</strong>nen Rentabilität und Produktivität auseinan<strong>de</strong>rgehen, wird<br />
zeigen, daß dieses Urteil durchaus subjektiv ist, und daß <strong>de</strong>r Schein <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaftlichkeit, mit <strong>de</strong>m es beklei<strong>de</strong>t wird, ein erborgter ist. 2<br />
In <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Fälle, in <strong>de</strong>nen man einen Gegensatz von<br />
Rentabilität und Produktivität anzunehmen pflegt, ist er überhaupt nicht<br />
vorhan<strong>de</strong>n. Das gilt zum Beispiel von <strong>de</strong>n Spekulationsgewinnen. Die<br />
Spekulation erfüllt in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft eine Aufgabe, die in<br />
je<strong>de</strong>r wie immer gestalteten menschlichen Wirtschaft erfüllt wer<strong>de</strong>n muß:<br />
sie sorgt für die zeitliche und örtliche Anpassung von Angebot und<br />
Nachfrage. Die Quelle <strong>de</strong>r Spekulationsgewinne ist eine Werterhöhung,<br />
die von <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Form <strong>de</strong>r Wirtschaftsverfassung unabhängig ist.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Spekulant Produkte, die auf <strong>de</strong>m Markte in verhältnismäßig<br />
großer Menge<br />
1 Vgl. Poh1e, Kapitalismus und Sozialismus, 3. Aufl., Leipzig 1921, S. 18 ff.<br />
2 Vgl. über <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>s Monopols weiter unten S. 382 f. und über <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>s<br />
„unwirtschaftlichen“ Verbrauchs weiter unten S. 498 ff.
131<br />
vorhan<strong>de</strong>n sind, zu billigem Preise aufkauft und sie teuerer verkauft, wenn<br />
die Nachfrage wie<strong>de</strong>r gestiegen ist, so ist das, um was er aus <strong>de</strong>m<br />
Geschäfte bereichert wur<strong>de</strong>, auch vom volkswirtschaftlichen Standpunkt<br />
ein Wertzuwachs. Daß dieser viel benei<strong>de</strong>te und viel angefein<strong>de</strong>te Gewinn<br />
in einem sozialistischen Gemeinwesen nicht einzelnen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m<br />
Gemeinwesen zufallen wür<strong>de</strong>, ist nicht zu bestreiten. Doch das ist für die<br />
Frage, die uns hier interessiert, nicht von Be<strong>de</strong>utung. Für uns ist allein das<br />
von Wichtigkeit, daß <strong>de</strong>r behauptete Gegensatz zwischen Rentabilität und<br />
Produktivität hier nicht besteht. Der Spekulationshan<strong>de</strong>l erfüllt eine<br />
volkswirtschaftliche Aufgabe, die man sich aus <strong>de</strong>r Wirtschaft nicht fort<strong>de</strong>nken<br />
kann. Schaltet man ihn aus, wie es in <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gemeinschaft geschehen soll, dann muß seine Funktion von an<strong>de</strong>ren<br />
Organen übernommen wer<strong>de</strong>n, dann muß das Gemeinwesen selbst zum<br />
Spekulanten wer<strong>de</strong>n. Ohne Spekulation gibt es kein über <strong>de</strong>n Augenblick<br />
hinausgreifen<strong>de</strong>s Wirtschaften.<br />
Mitunter gelangt man zur Feststellung eines Gegensatzes von<br />
Produktivität und Rentabilität dadurch, daß man einzelne Teilhandlungen<br />
herausgreift und für sich betrachtet. Man bezeichnet etwa aus <strong>de</strong>r<br />
beson<strong>de</strong>ren Gestaltung <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaftsordnung<br />
entspringen<strong>de</strong> Aufwendungen wie Absatzspesen, Werbekosten u. dgl. als<br />
unproduktiv. Das ist nicht zulässig. Man muß <strong>de</strong>n Ertrag <strong>de</strong>r gesamten<br />
Produktion vergleichen, nicht die einzelnen Teile. Man darf die<br />
Aufwendungen nicht betrachten, ohne ihnen <strong>de</strong>n Erfolg, <strong>de</strong>n sie<br />
vermitteln, gegenüberzustellen. 1<br />
§ 5. Das Prunkstück in <strong>de</strong>n Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen über Produktivität<br />
und Rentabilität bil<strong>de</strong>n die Untersuchungen <strong>de</strong>s Verhältnisses zwischen<br />
Rohertrag und Reinertrag. Je<strong>de</strong>r einzelne Wirt arbeitet in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaft auf die Erzielung <strong>de</strong>s höchsten erreichbaren<br />
Reinertrages hin. Nun wird behauptet, daß vom volkswirtschaftlichen<br />
Standpunkt nicht die Erzielung <strong>de</strong>s höchsten Reinertrages, son<strong>de</strong>rn die <strong>de</strong>s<br />
höchsten Rohertrages das Ziel <strong>de</strong>s Wirtschaftens zu bil<strong>de</strong>n hätte.<br />
Der Trugschluß, <strong>de</strong>r in dieser Behauptung steckt, entstammt <strong>de</strong>m<br />
primitiven naturalwirtschaftlichen Denken und ist, entsprechend <strong>de</strong>r<br />
großen Verbreitung, die dieses auch noch gegenwärtig fin<strong>de</strong>t, sehr beliebt.<br />
Man kann ihn alle Tage hören, wenn z. B. einem Produktionszweig zugute<br />
gehalten wird, daß er viele Arbeiter beschäftigt,<br />
1 Vgl. weiter unten S. 151.
132<br />
o<strong>de</strong>r wenn gegen eine Verbesserung <strong>de</strong>r Produktion geltend gemacht wird,<br />
daß durch sie Leute ums Brot kommen könnten.<br />
Wollte man folgerichtig <strong>de</strong>nken, dann müßte man das Rohertragsprinzip<br />
nicht nur für <strong>de</strong>n Aufwand an Arbeit, son<strong>de</strong>rn auch für <strong>de</strong>n<br />
an sachlichen Produktionsmitteln gelten lassen. Der Unternehmer bricht<br />
die Produktion bei <strong>de</strong>m Punkte ab, bei <strong>de</strong>m sie aufhört, Reinertrag zu<br />
liefern. Nehmen wir an, die Fortsetzung <strong>de</strong>r Produktion über diesen Punkt<br />
hinaus erfor<strong>de</strong>re nur Sachaufwand, jedoch keinen weiteren<br />
Arbeitsaufwand. Ist die Gesellschaft daran interessiert, daß <strong>de</strong>r<br />
Unternehmer die Produktion weiter führt, um einen höheren Rohertrag zu<br />
erzielen? Wür<strong>de</strong> sie selbst, wenn sie die Leitung <strong>de</strong>r Produktion in<br />
Hän<strong>de</strong>n hätte, dies tun? Bei<strong>de</strong> Fragen müssen entschie<strong>de</strong>n verneint<br />
wer<strong>de</strong>n. Daß <strong>de</strong>r weitere Sachaufwand nicht lohnt, zeigt, daß für diese<br />
Produktionsmittel in <strong>de</strong>r Volkswirtschaft eine bessere, das ist dringen<strong>de</strong>re<br />
Verwendungsmöglichkeit besteht. Wür<strong>de</strong> man sie trotz<strong>de</strong>m in die<br />
unrentable Produktion stecken, so müßten sie an einer Stelle, wo sie<br />
dringen<strong>de</strong>r benötigt wer<strong>de</strong>n, fehlen. Das ist in <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaft nicht an<strong>de</strong>rs als in <strong>de</strong>r sozialistischen. Auch die sozialistische<br />
<strong>Gemeinwirtschaft</strong> wird, vorausgesetzt, daß sie rationell vorgeht, nicht<br />
einige Produktionstätigkeiten ins Endlose fortsetzen und an<strong>de</strong>re<br />
vernachlässigen; auch sie wird je<strong>de</strong> Produktion dort abbrechen, wo die<br />
Fortsetzung <strong>de</strong>n Aufwand nicht mehr lohnt, das ist dort, wo ihre<br />
Fortsetzung die Nichtbefriedigung eines dringen<strong>de</strong>ren Bedarfes be<strong>de</strong>uten<br />
wür<strong>de</strong>.<br />
Was von <strong>de</strong>r Vergrößerung <strong>de</strong>s Aufwan<strong>de</strong>s an sachlichen Produktionsmitteln<br />
gilt, gilt aber ganz in <strong>de</strong>r gleichen Weise auch von <strong>de</strong>r<br />
Vergrößerung <strong>de</strong>s Aufwan<strong>de</strong>s an Arbeit. Auch die Arbeit, die einer<br />
Produktion gewidmet wird, in <strong>de</strong>r sie nur <strong>de</strong>n Rohertrag steigert, während<br />
<strong>de</strong>r Reinertrag zurückgeht, wird einer an<strong>de</strong>ren Verwendung entzogen, in<br />
<strong>de</strong>r sie wertvollere Dienste leisten könnte. Auch hier wäre <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r<br />
Nichtberücksichtigung <strong>de</strong>s Reinertragsprinzipes nur <strong>de</strong>r, daß wichtigere<br />
Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, während min<strong>de</strong>rwichtige befriedigt<br />
wer<strong>de</strong>n. Das, und nichts an<strong>de</strong>res, wird im Mechanismus <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaft durch das Sinken <strong>de</strong>s Reinertrages zum<br />
Ausdruck gebracht. In <strong>de</strong>r sozialistischen <strong>Gemeinwirtschaft</strong> ist es<br />
Aufgabe <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung, darüber zu wachen, daß <strong>de</strong>rartige<br />
Verschwendung - unwirtschaftliche Verwendung - <strong>de</strong>r Arbeit unterbleibt.<br />
Von einem Gegensatz zwischen
133<br />
Rentabilität und Produktivität kann also hier nicht die Re<strong>de</strong> sein. Auch<br />
vom sozialwirtschaftlichen Gesichtspunkte betrachtet muß die Erzielung<br />
<strong>de</strong>s größtmöglichen Reinertrages, nicht die <strong>de</strong>s größtmöglichen<br />
Rohertrages, Ziel <strong>de</strong>r Wirtschaft bleiben.<br />
Ungeachtet <strong>de</strong>r Klarheit dieses Sachverhalts pflegt man bald im<br />
allgemeinen, bald nur für <strong>de</strong>n Arbeitsaufwand, bald wie<strong>de</strong>r für das Gebiet<br />
<strong>de</strong>r landwirtschaftlichen Produktion an<strong>de</strong>rs zu urteilen. Daß die<br />
kapitalistische Wirtschaftsordnung durchaus auf die Erzielung höchsten<br />
Reinertrages bedacht ist, wird abfällig kritisiert und staatliche Intervention<br />
zur Abhilfe eines angeblichen Mißstan<strong>de</strong>s angerufen. Ricardo hat<br />
gegenüber <strong>de</strong>n Ausführungen von Adam Smith, <strong>de</strong>r die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Produktionszweige je nach <strong>de</strong>r größeren o<strong>de</strong>r geringeren Menge von<br />
Arbeit, die sie in Bewegung setzen, als mehr o<strong>de</strong>r weniger produktiv<br />
bezeichnet 1 , nachgewiesen, daß <strong>de</strong>r Wohlstand eines Volkes nur durch<br />
Vergrößerung <strong>de</strong>s Reinertrages, nicht aber durch Vergrößerung <strong>de</strong>s<br />
Rohertrages steigt 2 . Ob dieser Ausführungen ist er heftig angegriffen<br />
wor<strong>de</strong>n. Schon J. B. Say hat sie mißverstan<strong>de</strong>n und Ricardo vorgeworfen,<br />
daß er die Wohlfahrt so vieler Menschenleben für nichts achtet. 3<br />
Sismondi, <strong>de</strong>r es liebt, nationalökonomischen Darlegungen sentimentale<br />
Deklamationen entgegenzusetzen, glaubt das Problem durch einen Witz<br />
lösen zu können; er meint, ein König, <strong>de</strong>r durch Drehung einer Kurbel<br />
Reinertrag erzeugen könnte, wür<strong>de</strong> nach Ricardo die Nation überflüssig<br />
machen. 4 Bernhardi schließt sich <strong>de</strong>m Standpunkt Sismondis an. 5<br />
Proudhon endlich formuliert scharf <strong>de</strong>n Gegensatz zwischen <strong>de</strong>m sozialwirtschaftlichen<br />
und <strong>de</strong>m privatwirtschaftlichen Interesse: obgleich die<br />
Gesellschaft nach <strong>de</strong>m höchsten Rohertrag streben müsse, sei das Ziel <strong>de</strong>s<br />
Unternehmers höchster Reinertrag. 6 Marx vermei<strong>de</strong>t es, sich<br />
1 Vgl. A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Book<br />
II., Chap. V (Ausgabe Basil 1791, II. Bd., S. 138 ff.).<br />
2 Vgl. Ricardo, Principles of Political Economy and Taxation, Chap. XXVI (Works,<br />
ed. MacCulloch, Sec. Ed., London 1852, S. 210 ff.).<br />
3 Vgl. Say in seinen Zusätzen zu <strong>de</strong>r von Constancio veranstalteten französischen<br />
Ausgabe <strong>de</strong>s Ricardoschen Werkes, II. Bd., Paris 1819, S. 222 ff.<br />
4 Vgl. Sismondi, Nouveaux Principes d’Économie Politique, Paris 1819, II. Bd., S. 331<br />
Anm.<br />
5 Vgl. Bernhardi, Versuch einer Kritik <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, die für großes und kleines<br />
Grun<strong>de</strong>igentum angeführt wer<strong>de</strong>n, Petersburg 1849, S. 867 ff.; vgl. dazu Cronbach, Das<br />
landwirtschaftliche Betriebsproblem in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Nationalökonomie bis zur Mitte <strong>de</strong>s<br />
19. Jahrhun<strong>de</strong>rts, Wien 1907, S. 292 ff.<br />
6 „La societé recherche le plus grand produit brut, par conséquent la plus gran<strong>de</strong><br />
population possible, parce que pour elle produit brut et produit net sont i<strong>de</strong>ntiques. Le<br />
monopole, au contraire, vise constamment au plus grand produit net, dût-il ne l’obtenir
134<br />
offen zu diesem Satz zu bekennen. Er füllt jedoch zwei Kapitel <strong>de</strong>s ersten<br />
Buches <strong>de</strong>s „Kapital“ mit sentimentalen Ausführungen, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
Übergang von intensiver zu extensiver Bo<strong>de</strong>nbewirtschaftung nach einem<br />
Wort <strong>de</strong>s Thomas Morus als ein System, wo „Schafe die Menschen<br />
auffressen“, in <strong>de</strong>n grellsten Farben dargestellt wird. Dabei wird das durch<br />
die politische Machtstellung <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls ermöglichte „Bauernlegen" und<br />
„Einhegen“, also gewaltsame Enteignungen, die die europäische<br />
Agrargeschichte <strong>de</strong>r ersten Jahrhun<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Neuzeit kennzeichnen, in<br />
einem fort mit <strong>de</strong>m von <strong>de</strong>n Grundbesitzern vorgenommenen Wechsel <strong>de</strong>r<br />
Bewirtschaftungsmetho<strong>de</strong>n durcheinan<strong>de</strong>r geworfen. 1 Deklamationen über<br />
dieses Thema gehören seither zum eisernen Bestand <strong>de</strong>r<br />
sozial<strong>de</strong>mokratischen Agitationsschriften und -Re<strong>de</strong>n.<br />
Ein <strong>de</strong>utscher landwirtschaftlicher Schriftsteller, Freiherr von <strong>de</strong>r<br />
Goltz, hat versucht, die Erzielung <strong>de</strong>s höchsten erreichbaren Rohertrages<br />
nicht nur als volkswirtschaftlich produktiv, son<strong>de</strong>rn auch als<br />
privatwirtschaftlich rentabel hinzustellen. Er meint, ein hoher Rohertrag<br />
bil<strong>de</strong> allerdings die Voraussetzung für einen hohen Reinertrag und<br />
insofern seien die Interessen <strong>de</strong>r einzelnen Landwirte, die zunächst<br />
Erzielung hoher Reinerträge verlangen, und die <strong>de</strong>s Staates, die Erzielung<br />
hoher Roherträge verlangen, gleichlaufend. 2 Einen Beweis hat er dafür<br />
freilich nicht zu erbringen vermocht. Folgerichtiger als diese<br />
Bemühungen, über <strong>de</strong>n scheinbaren Wi<strong>de</strong>rspruch zwischen<br />
volkswirtschaftlichem und privatwirtschaftlichem Interesse damit<br />
hinwegzukommen, daß man vor <strong>de</strong>n Tatsachen <strong>de</strong>r<br />
qu’au prix <strong>de</strong> l’extermination da genre humain.“ (Proudhon, Systême <strong>de</strong>s contradictions<br />
économiques ou philosophie <strong>de</strong> la misère, Paris 1846, I. Bd., S. 270). „Monopole“<br />
be<strong>de</strong>utet in <strong>de</strong>r Sprache Proudhons so viel wie Son<strong>de</strong>reigentum. (Vgl. ebendort I. Bd., S.<br />
236; ferner Landry, L’utilité sociale <strong>de</strong> la propriété individuelle, Paris 1901, S. 76.)<br />
1 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., I. Bd., S. 613-726; die Ausführungen über die<br />
„Kompensationstheorie bezüglich <strong>de</strong>r durch die Maschinerie verdrängten Arbeiter“<br />
(ebendort, S. 403-412) sind <strong>de</strong>r Grenznutzentheorie gegenüber gegenstandslos.<br />
2 Vgl. Goltz, Agrarwesen und Agrarpolitik. 2. Aufl., Jena 1904, S. 53; vgl. dazu Waltz,<br />
Vom Reinertrag in <strong>de</strong>r Landwirtschaft, Stuttgart und Berlin 1904, S. 27 ff. - Goltz<br />
wi<strong>de</strong>rspricht sich in seinen Ausführungen, <strong>de</strong>nn er fügt <strong>de</strong>r oben erwähnten Behauptung<br />
unmittelbar die Sätze an: „In<strong>de</strong>ssen ist die Quote, welche vom Rohertrage nach Abzug <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftskosten als Reinertrag übrig bleibt, eine sehr verschie<strong>de</strong>ne. Durchschnittlich ist<br />
sie größer bei extensivem als bei intensivem Betrieb.“
135<br />
landwirtschaftlichen Betriebsrechnung die Augen verschließt, ist die<br />
Stellung, die die Anhänger <strong>de</strong>r romantischen Schule <strong>de</strong>r Wirtschaftspolitik<br />
und dann die <strong>de</strong>utschen Etatisten eingenommen haben: Der Landwirt habe<br />
eine amtliche Stellung inne und in dieser die Pflicht, das zu bauen, was<br />
<strong>de</strong>m öffentlichen Interesse entspricht. Da dieses möglichst große<br />
Roherträge verlange, müsse auch <strong>de</strong>r Landwirt, <strong>de</strong>r sich nicht von<br />
„Händlergeist, Händlerauffassung und Han<strong>de</strong>lsinteressen“ beeinflussen<br />
lassen dürfe, ungeachtet <strong>de</strong>r ihm daraus etwa entstehen<strong>de</strong>n Nachteile sich<br />
die Erzielung <strong>de</strong>r höchsten Roherträge zur Aufgabe machen. 1 Alle diese<br />
Schriftsteller nehmen es als selbstverständlich an, daß die Gesellschaft an<br />
hohen Roherträgen interessiert sei. Sie geben sich gar nicht erst beson<strong>de</strong>re<br />
Mühe, dies zu erweisen. Wo sie es versuchen, bringen sie nichts als<br />
Hinweise auf machtpolitische und nationalpolitische Gesichtspunkte: Der<br />
Staat habe ein Interesse an einer starken landwirtschaftlichen<br />
Bevölkerung, da die landwirtschaftliche Bevölkerung konservativ sei; die<br />
Landwirtschaft stelle am meisten Soldaten; es müsse für die Ernährung<br />
<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s in Kriegszeiten vorgesorgt wer<strong>de</strong>n u. dgl. m.<br />
Dagegen meint Landry das Rohertragsprinzip nationalökonomisch<br />
beweisen zu können. Er will das Streben nach Erzielung <strong>de</strong>s höchsten<br />
Reinertrages nur soweit als vom volkswirtschaftlichen Standpunkt<br />
vorteilhaft ansehen, als die nicht mehr rentieren<strong>de</strong>n Kosten durch<br />
Sachgüteraufwand entstehen. Wo aber die Verwendung von Arbeit in<br />
Frage kommt, sei es an<strong>de</strong>rs. Denn, volkswirtschaftlich betrachtet, koste<br />
die Verwendung von Arbeitskraft nichts; <strong>de</strong>r gesellschaftliche Reichtum<br />
wer<strong>de</strong> durch sie nicht vermin<strong>de</strong>rt. Lohnersparnis, die zu einer<br />
Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Rohertrages führe, sei schädlich. 2 Landry gelangt zu<br />
diesem Schluß durch die Annahme, daß die Arbeitskräfte, die freigesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n, an<strong>de</strong>rweitig keine Verwendung fin<strong>de</strong>n könnten. Das ist durchaus<br />
unrichtig. Der Bedarf <strong>de</strong>r Gesellschaft an Arbeitern ist niemals gesättigt,<br />
solange nicht die Arbeit ein freies Gut gewor<strong>de</strong>n ist. Die freigesetzten<br />
Arbeiter fin<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rweitig Verwendung, wo sie vom<br />
volkswirtschaftlichen Standpunkte dringen<strong>de</strong>re Arbeit zu versehen haben.<br />
Hätte Landry recht, dann wären alle arbeitsparen<strong>de</strong>n Maschinen, die je<br />
eingeführt wur<strong>de</strong>n, besser nie in Dienst gestellt wor<strong>de</strong>n; das Verhalten<br />
jener Arbeiter, die alle technischen Neuerungen,<br />
1 Vgl. Waltz, a. a. O., S. 19 ff., über Adam Müller, Bülow-Cummerow und Philipp v.<br />
Arnim, und, S. 30 ff., über Rudolf Meyer und Adolf Wagner.<br />
2 Vgl. Landry, a. a. O., S. 81.
136<br />
die mit Arbeitersparnis verbun<strong>de</strong>n sind, bekämpfen und neue Maschinen<br />
dieser Art zerstören, wäre gerechtfertigt. Es ist nicht abzusehen, warum<br />
zwischen <strong>de</strong>r Verwendung von Sachgütern und <strong>de</strong>r Verwendung von<br />
Arbeitskraft ein Unterschied bestehen sollte. Daß die Verwendung von<br />
Sachgütern für die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Produktion im Hinblick auf <strong>de</strong>n<br />
Preisstand dieser sachlichen Produktionsmittel und auf <strong>de</strong>n Preisstand <strong>de</strong>r<br />
zu erzielen<strong>de</strong>n Produkte nicht rentiert, ist die Folge <strong>de</strong>s Umstan<strong>de</strong>s, daß<br />
sie in einer an<strong>de</strong>ren Produktion zur Deckung wichtigerer Bedürfnisse<br />
benötigt wer<strong>de</strong>n. Ganz das Gleiche gilt aber auch von <strong>de</strong>n Arbeitskräften.<br />
Die Arbeiter, die für die unrentable Erhöhung <strong>de</strong>s Rohertrages verwen<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n einer an<strong>de</strong>ren Produktion, in <strong>de</strong>r sie dringen<strong>de</strong>r benötigt<br />
wer<strong>de</strong>n, entzogen. Daß ihr Lohn höher ist, als daß die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r<br />
Produktion zur Erhöhung <strong>de</strong>s Rohertrages noch rentierte, ist eben die<br />
Folge <strong>de</strong>s Umstan<strong>de</strong>s, daß die Grenzproduktivität <strong>de</strong>r Arbeit in <strong>de</strong>r<br />
Volkswirtschaft noch höher ist als in <strong>de</strong>m fraglichen Produktionszweig,<br />
falls man ihn über die durch das Reinertragsprinzip gezogene Grenze<br />
aus<strong>de</strong>hnt. Hier ist nirgends ein Gegensatz zwischen volkswirtschaftlichem<br />
und privatwirtschaftlichem Standpunkt zu ent<strong>de</strong>cken. Auch eine<br />
sozialistische Wirtschaft wird nicht an<strong>de</strong>rs han<strong>de</strong>ln als die einzelnen Wirte<br />
in <strong>de</strong>r kapitalistischen.<br />
Nun wer<strong>de</strong>n freilich auch noch nichtwirtschaftliche Gesichtspunkte ins<br />
Treffen geführt, um zu zeigen, daß das Festhalten am Reinertragsprinzip<br />
schädlich sei. Sie gehören alle <strong>de</strong>m nationalpolitisch-militaristischen<br />
Gedankensystem an; es sind die bekannten Argumente, die zugunsten<br />
je<strong>de</strong>r Schutzzollpolitik vorgebracht wer<strong>de</strong>n. Eine Nation müsse volkreich<br />
sein, weil davon ihre politische und militärische Weltgeltung abhänge; sie<br />
müsse nach wirtschaftlicher Autarkie streben, zumin<strong>de</strong>st die Lebensmittel<br />
im Inlan<strong>de</strong> erzeugen u. dgl. Auf diese Argumente muß dann auch Landry<br />
zurückgreifen, um seine These besser zu stützen. 1 Ein Eingehen auf sie<br />
erübrigt sich in einer Theorie <strong>de</strong>s geschlossenen sozialistischen Gemeinwesens.<br />
Auch das sozialistische Gemeinwesen muß <strong>de</strong>n Reinertrag, nicht <strong>de</strong>n<br />
Rohertrag zur Richtschnur <strong>de</strong>r Wirtschaft nehmen. Auch das sozialistische<br />
Gemeinwesen wird Äcker in Wei<strong>de</strong>n verwan<strong>de</strong>ln, wenn es an<strong>de</strong>rwärts<br />
ertragsfähigeres Land unter <strong>de</strong>n Pflug zu<br />
1 Vgl. ebendort, S. 109, 127 f.
137<br />
nehmen vermag. Trotz Thomas Morus wer<strong>de</strong>n auch in Utopien „Schafe<br />
die Menschen auffressen“; die Leiter <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens<br />
wer<strong>de</strong>n nicht an<strong>de</strong>rs han<strong>de</strong>ln als die Herzogin von Sutherland, „diese<br />
ökonomisch geschulte Person“, wie sie Marx höhnisch nennt 1 , gehan<strong>de</strong>lt<br />
hat. Das Reinertragprinzip gilt für je<strong>de</strong> Produktion. Auch die<br />
Landwirtschaft bil<strong>de</strong>t keine Ausnahme. Es bleibt bei <strong>de</strong>m Satz Thaers, daß<br />
das Ziel <strong>de</strong>s Landwirtes ein hoher Reinertrag sein muß „selbst in Hinsicht<br />
auf das allgemeine Beste“. 2<br />
III.<br />
Die Verteilung <strong>de</strong>s Einkommens.<br />
§ 1. Die Behandlung <strong>de</strong>s Einkommenproblems wür<strong>de</strong> eigentlich an das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Darlegungen gehören, die das Leben <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens untersuchen. Zuerst muß produziert wer<strong>de</strong>n, dann erst<br />
kann man an die Verteilung schreiten. Logisch wäre es <strong>de</strong>mnach, vor <strong>de</strong>r<br />
Behandlung <strong>de</strong>s Verteilungsproblems die Frage <strong>de</strong>r Produktion zu<br />
erörtern. Doch im Sozialismus steht das Verteilungsproblem so sehr im<br />
Vor<strong>de</strong>rgrund, daß es angezeigt erscheint, es möglichst nahe <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r<br />
Ausführungen zu behan<strong>de</strong>ln. Im Grun<strong>de</strong> genommen ist <strong>de</strong>r Sozialismus<br />
nichts an<strong>de</strong>res als eine Theorie einer „gerechten“ Verteilung und die<br />
sozialistische Bewegung nichts an<strong>de</strong>res als das Bestreben, dieses I<strong>de</strong>al zu<br />
verwirklichen. Alle sozialistischen Pläne gehen daher vom<br />
Verteilungsproblem aus und mün<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r in das Verteilungsproblem<br />
ein. Für <strong>de</strong>n Sozialismus ist das Verteilungsproblem schlechthin das<br />
Problem <strong>de</strong>r Wirtschaft. Das Verteilungsproblem ist auch eine<br />
Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s Sozialismus. Es besteht nur in <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Wirtschaftsordnung. Man pflegt zwar auch in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsordnung von Verteilung zu<br />
sprechen, und die theoretische Nationalökonomie behan<strong>de</strong>lt die Probleme<br />
<strong>de</strong>r Einkommensbildung und <strong>de</strong>r Preisbildung <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren<br />
unter <strong>de</strong>m Namen Verteilung. Diese Bezeichnung ist herkömmlich und<br />
hat sich so sehr eingebürgert, daß an ihre Ersetzung durch einen an<strong>de</strong>ren<br />
Ausdruck nicht zu <strong>de</strong>nken ist. Sie ist nichts<strong>de</strong>stoweniger unzutreffend und<br />
<strong>de</strong>ckt nicht das Wesen <strong>de</strong>r Dinge, die sie benennen will. In <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaftsordnung entstehen die<br />
1 Vgl. Marx, a. a. O., I. Bd., S. 695.<br />
2 Zitiert bei Waltz, a. a. O., S. 29.
138<br />
Einkommen als Ergebnis von Marktvorgängen, die mit <strong>de</strong>r Produktion in<br />
untrennbarer Verbindung sind. Hier wird nicht zuerst produziert und dann<br />
verteilt. Wenn die Produkte genußreif <strong>de</strong>m Verbrauch und Gebrauch<br />
zugeführt wer<strong>de</strong>n, dann ist die Einkommensbildung, die sich auf <strong>de</strong>m<br />
Produktionsprozeß, aus <strong>de</strong>m sie hervorgehen, aufbaut, zum größeren Teil<br />
schon abgeschlossen. Arbeiter, Grundbesitzer und Kapitalisten und ein<br />
großer Teil <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Herstellung beteiligten Unternehmer haben ihre<br />
Anteile schon erhalten, bevor das Produkt konsumreif gewor<strong>de</strong>n ist.<br />
Durch die Preise, die für das Endprodukt auf <strong>de</strong>m Markt erzielt wer<strong>de</strong>n,<br />
wird nur das Einkommen, das ein Teil <strong>de</strong>r Unternehmer aus diesem<br />
Produktionsprozeß erhält, bestimmt. Die Be<strong>de</strong>utung, die diese Preise für<br />
das Einkommen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Schichten haben, ist schon<br />
vorweggenommen. Wie in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung die<br />
Zusammenfassung <strong>de</strong>r Einkommen <strong>de</strong>r einzelnen in <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>s<br />
Sozialeinkommens nur die Be<strong>de</strong>utung einer gedanklichen Konstruktion<br />
hat, so ist es auch mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r Verteilung, die hier nur figürlich<br />
gemeint sein kann. Daß man gera<strong>de</strong> diesen Ausdruck gewählt hat, statt<br />
zutreffen<strong>de</strong>r einfach nur von <strong>de</strong>r Einkommensbildung zu sprechen, ist<br />
<strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong> zuzuschreiben, daß die Begrün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r wissenschaftlichen<br />
Nationalökonomie, die Physiokraten und die englischen Klassiker, sich<br />
von <strong>de</strong>n etatistischen Anschauungen <strong>de</strong>s Merkantilismus nur allmählich<br />
freizumachen gewußt haben. Obwohl gera<strong>de</strong> die Erfassung <strong>de</strong>r<br />
Einkommensgestaltung als einer Resultante von Marktvorgängen eine<br />
ihrer Großtaten ist, haben sie - glücklicherweise ohne daß dies auf <strong>de</strong>n<br />
Inhalt ihrer Lehre irgendwelchen stören<strong>de</strong>n Einfluß gehabt hätte - die<br />
Gewohnheit angenommen, jene Kapitel <strong>de</strong>r Katallaktik, die von <strong>de</strong>n Einkommenszweigen<br />
han<strong>de</strong>ln, unter <strong>de</strong>m Titel „Verteilung“ zusammenzufassen.<br />
1 Nur im sozialistischen Gemeinwesen fin<strong>de</strong>t im wahren Sinne<br />
<strong>de</strong>s Wortes eine Verteilung eines Vorrates von Genußgütern statt. Wenn<br />
man sich bei Betrachtung <strong>de</strong>r Verhältnisse <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaftsordnung <strong>de</strong>s Ausdruckes Verteilung an<strong>de</strong>rs als bloß figürlich<br />
bedient, dann stellt man in Gedanken einen Vergleich zwischen <strong>de</strong>r<br />
Einkommensgestaltung in <strong>de</strong>r sozialistischen und <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaftsordnung an. Einer <strong>de</strong>n Eigentümlichkeiten<br />
1 Vgl. Cannan, A History of the Theories of Production and Distribution in English<br />
Political Economy from 1776 to 1848, Third Edition, London 1917, S. 183 ff. Vgl. weiter<br />
unten S. 318 f.
139<br />
<strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaftsordnung entspringen<strong>de</strong>n Untersuchung<br />
ihres Mechanismus muß die Vorstellung einer Einkommensverteilung<br />
fremd bleiben.<br />
§ 2. Nur die genußreifen Güter können, <strong>de</strong>r Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
entsprechend, überhaupt für die Verteilung in Betracht gezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
Die erzeugten Güter höherer Ordnung verbleiben zur weiteren Produktion<br />
im Eigentum <strong>de</strong>r Gemeinschaft; sie sind von <strong>de</strong>r Verteilung<br />
ausgeschlossen. Die Güter erster Ordnung gelangen hingegen<br />
ausnahmslos zur Verteilung; sie bil<strong>de</strong>n die Sozialdivi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>. Man pflegt<br />
gewöhnlich, da man sich von Vorstellungen, die nur <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaftsordnung angemessen sind, auch bei Betrachtung <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht ganz freizumachen versteht,<br />
davon zu sprechen, daß das Gemeinwesen einen Teil <strong>de</strong>r genußreifen<br />
Güter für die Zwecke <strong>de</strong>r gemeinschaftlichen Konsumtion zurückbehalten<br />
wird. Man <strong>de</strong>nkt dabei an jene Konsumtion, die man in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaftsordnung als <strong>de</strong>n öffentlichen Aufwand zu<br />
bezeichnen pflegt. Dieser öffentliche Aufwand besteht bei strenger<br />
Durchführung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
ausschließlich in <strong>de</strong>n Kosten, die mit <strong>de</strong>r Erhaltung jenes Apparates<br />
verbun<strong>de</strong>n sind, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n ungestörten Gang <strong>de</strong>r Dinge zu sichern hat. Dem<br />
Staate <strong>de</strong>s reinen Liberalismus obliegt als alleinige Aufgabe die Sicherung<br />
<strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums gegen alle Störungen von innen<br />
o<strong>de</strong>r außen. Er ist Sicherheitsproduzent o<strong>de</strong>r, wie Lasalle höhnend gesagt<br />
hat, Nachtwächterstaat. Im sozialistischen Gemeinwesen entspricht <strong>de</strong>m<br />
die Aufgabe, <strong>de</strong>n ungestörten Bestand <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaftsordnung<br />
und <strong>de</strong>n ruhigen Gang <strong>de</strong>r sozialistischen Produktion<br />
zu sichern. Ob man <strong>de</strong>n Zwangs- und Gewaltapparat, <strong>de</strong>r diesen Aufgaben<br />
dient, dann noch beson<strong>de</strong>rs als „Staat“ bezeichnen o<strong>de</strong>r ihn mit einem<br />
an<strong>de</strong>ren Wort benennen will, und ob man ihm rechtlich eine<br />
Son<strong>de</strong>rstellung inmitten <strong>de</strong>r übrigen Aufgaben, die <strong>de</strong>m sozialistischen<br />
Gemeinwesen obliegen, einräumen will o<strong>de</strong>r nicht, ist für uns ganz<br />
belanglos. Wir haben nur festzustellen, daß alle Auslagen, die für diesen<br />
Zweck gemacht wer<strong>de</strong>n, im sozialistischen Gemeinwesen als<br />
Generalunkosten <strong>de</strong>r Produktion erscheinen. Sie sind, soweit sie<br />
Arbeitsaufwand darstellen, bei <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r Sozialdivi<strong>de</strong>n<strong>de</strong> nicht<br />
an<strong>de</strong>rs zu berücksichtigen, als daß auch jene Genossen, die im Dienste<br />
dieser Aufgabe tätig waren, mitbedacht wer<strong>de</strong>n.<br />
Zum öffentlichen Aufwand zählen aber auch noch an<strong>de</strong>re Auslagen.
140<br />
Die meisten Staaten und Gemein<strong>de</strong>n stellen ihren Bürgern gewisse<br />
Genußnutzleistungen in natura zur Verfügung, mitunter ohne ein Entgelt<br />
dafür zu verlangen, mitunter gegen ein Entgelt, das nur einen Teil <strong>de</strong>r<br />
ihnen daraus erwachsen<strong>de</strong>n Kosten <strong>de</strong>ckt. In <strong>de</strong>r Regel han<strong>de</strong>lt es sich<br />
dabei um die einzelnen Nutzleistungen, die von Gebrauchsgütern<br />
abgegeben wer<strong>de</strong>n. So wer<strong>de</strong>n Lustgärten, Kunstsammlungen und<br />
Büchereien, Gotteshäuser je<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r sich ihrer bedienen will, zugänglich<br />
gemacht. In ähnlicher Weise stehen die Straßen und Wege je<strong>de</strong>rmann zur<br />
Verfügung. Aber auch die unmittelbare Verteilung von Verbrauchsgütern<br />
kommt vor, so wenn Kranken Heilmittel und Krankenkost o<strong>de</strong>r Schülern<br />
Lehrmittel gewährt wer<strong>de</strong>n; auch persönliche Dienste wer<strong>de</strong>n in ähnlicher<br />
Weise geleistet, zum Beispiel durch Erteilung öffentlichen Unterrichts<br />
o<strong>de</strong>r durch die Gewährung ärztlicher Behandlung. All das ist kein<br />
Sozialismus, keine Produktion auf Grundlage von Gemeineigentum an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln. Verteilung liegt hier wohl vor, aber das, was<br />
verteilt wer<strong>de</strong>n soll, wird erst durch Abgaben <strong>de</strong>r Bürger<br />
zusammengebracht. Nur so weit, als solche Verteilung Produkte<br />
staatlicher o<strong>de</strong>r kommunaler Produktion betrifft, kann man sie als ein<br />
Stück Sozialismus im Rahmen einer im übrigen liberalen Gesellschaftsordnung<br />
bezeichnen. Wie weit dieser Zweig <strong>de</strong>r Staats- und<br />
Gemein<strong>de</strong>tätigkeit durch Anschauungen, die <strong>de</strong>r sozialistischen Kritik <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaftsordnung Rechnung tragen, veranlaßt ist, und<br />
wie weit er durch die beson<strong>de</strong>re Natur gewisser, beson<strong>de</strong>rs ausdauern<strong>de</strong>r<br />
Verbrauchsgüter, die praktisch unbeschränkt viele Nutzleistungen<br />
abzugeben vermögen, angezeigt erscheint, brauchen wir hier nicht zu<br />
untersuchen. Für uns ist nur das eine wichtig, daß es sich bei diesem<br />
öffentlichen Aufwand auch im sonst kapitalistischen Gemeinwesen um<br />
eine richtige Verteilung han<strong>de</strong>lt.<br />
Auch das sozialistische Gemeinwesen wird nicht alle Güter erster<br />
Ordnung im physischen Sinne <strong>de</strong>s Wortes verteilen. Es wird nicht etwa<br />
von je<strong>de</strong>m neu erschienenen Buch je<strong>de</strong>m Genossen ein Exemplar<br />
ausfolgen, son<strong>de</strong>rn die Bücher in öffentlichen Lesehallen zur allgemeinen<br />
Benutzung aufstellen. Es wird ähnlich bei <strong>de</strong>r Errichtung von Schulen und<br />
bei <strong>de</strong>r Erteilung von Unterricht, bei <strong>de</strong>r Anlage von öffentlichen Gärten,<br />
von Spielplätzen, Versammlungshäusern u. dgl. vorgehen. Der Aufwand,<br />
<strong>de</strong>n alle diese Anstalten erfor<strong>de</strong>rn, ist kein Abzug von <strong>de</strong>r<br />
Sozialdivi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, vielmehr ein Teil von ihr.<br />
Nur die eine Eigentümlichkeit weist dieser Teil <strong>de</strong>r Sozialdivi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>
141<br />
auf, daß unbescha<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Grundsätze, die für die Verteilung <strong>de</strong>r<br />
Gebrauchsgüter und eines Teiles <strong>de</strong>r Verbrauchsgüter zur Anwendung<br />
gelangen, für ihn, <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Natur <strong>de</strong>r dabei zur Verteilung<br />
gelangen<strong>de</strong>n Nutzleistungen entsprechend, immer beson<strong>de</strong>re Grundsätze<br />
<strong>de</strong>r Verteilung bestehen bleiben können. Die Art und Weise, in <strong>de</strong>r man<br />
Kunstsammlungen und wissenschaftliche Büchereien <strong>de</strong>r Benutzung<br />
durch die Öffentlichkeit zugänglich macht, ist ganz unabhängig von <strong>de</strong>n<br />
Regeln, die man im übrigen für die Verteilung <strong>de</strong>r Güter erster Ordnung<br />
in Anwendung bringen will.<br />
§ 3. Das sozialistische Gemeinwesen ist dadurch charakterisiert, daß in<br />
ihm je<strong>de</strong> Verbindung zwischen <strong>de</strong>r Wirtschaft und <strong>de</strong>r Verteilung fehlt.<br />
Die Größe <strong>de</strong>r Anteile, die <strong>de</strong>m einzelnen Genossen zum Genuß<br />
zugewiesen wer<strong>de</strong>n, ist ganz unabhängig von <strong>de</strong>r Bewertung, die seine<br />
Arbeitsleistung als produktiver Beitrag zum Prozeß <strong>de</strong>r Güterversorgung<br />
im Haushalt <strong>de</strong>s Gemeinwesens erfährt. Es wäre schon aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong><br />
unmöglich, die Verteilung auf <strong>de</strong>r Wertzurechnung aufzubauen, weil es<br />
im Wesen <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise liegt, daß in ihr die<br />
Anteile <strong>de</strong>r einzelnen Produktionsfaktoren am Ertrag <strong>de</strong>r Produktion nicht<br />
ermittelt wer<strong>de</strong>n können, da sie je<strong>de</strong>r rechnerischen Überprüfung <strong>de</strong>s<br />
Verhältnisses zwischen Produktionsaufwand und Produktionsertrag<br />
unzugänglich ist. Es geht daher nicht an, auch nur ein Stück <strong>de</strong>r<br />
Verteilung auf die ökonomische Zurechnung <strong>de</strong>s Ertrages an die einzelnen<br />
Produktionsfaktoren aufzubauen, etwa vorweg <strong>de</strong>m Arbeiter <strong>de</strong>n vollen<br />
Ertrag seiner Arbeit zukommen zu lassen, <strong>de</strong>n er in <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Lohnes empfängt, und dann die<br />
Anteile, die <strong>de</strong>n sachlichen Produktionsfaktoren und <strong>de</strong>r<br />
Unternehmungstätigkeit zugerechnet wer<strong>de</strong>n, einer beson<strong>de</strong>ren Verteilung<br />
zu unterziehen. Den Sozialisten fehlt zwar die klare Erkenntnis dieser<br />
Zusammenhänge. Doch schimmert eine dunkle Ahnung davon in <strong>de</strong>r<br />
marxistischen Lehre durch, daß in <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung die Kategorien <strong>de</strong>s Lohns, <strong>de</strong>s Profits und <strong>de</strong>r Rente<br />
un<strong>de</strong>nkbar seien.<br />
Es sind vier verschie<strong>de</strong>ne Grundsätze für die sozialistische Verteilung<br />
<strong>de</strong>r Genußgüter an die einzelnen Genossen <strong>de</strong>nkbar: Die gleiche<br />
Verteilung nach Köpfen, die Verteilung nach Maßgabe <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />
Gemeinwesen geleisteten Dienste, die Verteilung nach <strong>de</strong>n Bedürfnissen<br />
und die Verteilung nach <strong>de</strong>r Würdigkeit. Diese Grundsätze können in<br />
verschie<strong>de</strong>ner Weise in Verbindung gebracht wer<strong>de</strong>n.<br />
Der Grundsatz <strong>de</strong>r gleichmäßigen Verteilung wird von <strong>de</strong>m uralten
142<br />
naturrechtlichen Postulat <strong>de</strong>r Gleichheit alles <strong>de</strong>ssen, was Menschenantlitz<br />
trägt, gestützt. Streng durchgeführt wür<strong>de</strong> er sich ganz wi<strong>de</strong>rsinnig<br />
erweisen. Er wür<strong>de</strong> keine Unterscheidung zwischen Erwachsenen und<br />
Kin<strong>de</strong>rn, zwischen Kranken und Gesun<strong>de</strong>n, zwischen Fleißigen und<br />
Faulen, zwischen Guten und Bösen zulassen. Man könnte an seine<br />
Durchführung nicht an<strong>de</strong>rs als mit einem gewissen Entgegenkommen an<br />
die drei an<strong>de</strong>ren erörterbaren Verteilungsgrundsätze <strong>de</strong>nken. Es wäre<br />
zumin<strong>de</strong>st notwendig, <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>r Verteilung nach <strong>de</strong>n<br />
Bedürfnissen dadurch Rechnung zu tragen, daß man <strong>de</strong>n Empfang nach<br />
Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, beson<strong>de</strong>ren Berufsnotwendigkeiten<br />
u. dgl. abstuft, <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>r Verteilung nach <strong>de</strong>n geleisteten<br />
Diensten in <strong>de</strong>r Weise mitzuberücksichtigen, daß man zwischen fleißigen<br />
und weniger fleißigen und zwischen besseren und schlechteren Arbeitern<br />
unterschei<strong>de</strong>t, und schließlich auch <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>r Verteilung nach <strong>de</strong>r<br />
Würdigkeit durch Belohnung o<strong>de</strong>r Strafe zur Geltung zu bringen. Doch<br />
in<strong>de</strong>m man sich in dieser Weise von <strong>de</strong>m Grundsatz <strong>de</strong>r gleichen<br />
Verteilung entfernt und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>nkbaren Verteilungsgrundsätzen<br />
annähert, wer<strong>de</strong>n die Schwierigkeiten, die <strong>de</strong>r sozialistischen Verteilung<br />
entgegenstehen, nicht behoben. Diese Schwierigkeiten sind überhaupt<br />
nicht zu überwin<strong>de</strong>n.<br />
Welcher Art sie bei <strong>de</strong>r Durchführung <strong>de</strong>s Grundsatzes <strong>de</strong>r Verteilung<br />
nach Maßgabe, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft geleisteten Dienste wären, ist schon<br />
gezeigt wor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung fließt je<strong>de</strong>m<br />
das Einkommen zu, das <strong>de</strong>m Werte <strong>de</strong>s von ihm im gesellschaftlichen<br />
Produktionsprozeß geleisteten Beitrages entspricht. Je<strong>de</strong>r Dienst wird<br />
nach seinem Wert entlohnt. Diese Ordnung will <strong>de</strong>r Sozialismus gera<strong>de</strong><br />
umstoßen und an ihre Stelle eine setzen, in <strong>de</strong>r das, was <strong>de</strong>n sachlichen<br />
Produktionsfaktoren und <strong>de</strong>r Unternehmungstätigkeit zugerechnet wird, in<br />
einer Weise verteilt wird, die keinem Eigentümer o<strong>de</strong>r Unternehmer eine<br />
von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Volksgenossen grundsätzlich verschie<strong>de</strong>ne Stellung<br />
einräumt. Damit aber wird die Verteilung vollkommen von <strong>de</strong>r<br />
ökonomischen Zurechnung losgelöst. Sie hat dann mit <strong>de</strong>r Bewertung <strong>de</strong>r<br />
Dienstleistungen, die <strong>de</strong>r einzelne <strong>de</strong>r Gesellschaft leistet, nichts mehr zu<br />
tun. Nur äußerlich kann sie mit <strong>de</strong>r Arbeitsleistung dadurch in<br />
Zusammenhang gebracht wer<strong>de</strong>n, daß man die Dienste <strong>de</strong>s einzelnen<br />
nach irgendwelchen äußeren Merkmalen zum Maßstab <strong>de</strong>r Verteilung<br />
macht. Das Nächstliegen<strong>de</strong> scheint zu sein, von <strong>de</strong>r Anzahl <strong>de</strong>r geleisteten<br />
Arbeitsstun<strong>de</strong>n auszugehen. Doch die Be<strong>de</strong>utung, die eine <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft geleistete Arbeit für die Güterversorgung hat,
143<br />
bemißt sich nicht nach <strong>de</strong>r Länge <strong>de</strong>r Arbeitszeit. Der Wert <strong>de</strong>r geleisteten<br />
Arbeit ist nicht nur verschie<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>r Verwendung, die man ihr im<br />
Wirtschaftsplan gegeben hat, so daß ganz dieselbe Leistung verschie<strong>de</strong>nen<br />
Ertrag abwirft, je nach<strong>de</strong>m man sie am richtigen Ort, d. h. dort, wo sie am<br />
dringendsten benötigt wird, eingesetzt hat, o<strong>de</strong>r ob man sie am falschen<br />
Platz verschwen<strong>de</strong>t; dafür kann in <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung schließlich nicht <strong>de</strong>r Arbeiter zur Verantwortung<br />
gezogen wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ihm die Arbeit zuweist. Sie ist auch<br />
verschie<strong>de</strong>n je nach <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r Arbeit und nach <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren<br />
Befähigung <strong>de</strong>s Arbeiters, sie ist verschie<strong>de</strong>n je nach seinem<br />
Kräftezustand und nach seinem größeren o<strong>de</strong>r geringeren Arbeitseifer. Es<br />
ist nicht schwer, ethische Momente für die gleiche Entlohnung <strong>de</strong>r<br />
tüchtigen und <strong>de</strong>r weniger tüchtigen Arbeiter geltend zu machen. Das<br />
Talent und das Genie sind Gaben Gottes, für die <strong>de</strong>r einzelne nichts kann,<br />
pflegt man zu sagen. Doch damit ist die Frage, ob es zweckmäßig o<strong>de</strong>r<br />
überhaupt nur durchführbar wäre, alle Arbeitsstun<strong>de</strong>n gleich zu entlohnen,<br />
nicht entschie<strong>de</strong>n.<br />
Der dritte Verteilungsgrundsatz ist <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>s<br />
einzelnen. Die Formel à chacun selon ses besoins ist ein altes Schlagwort<br />
<strong>de</strong>r naivsten Kommunisten. Man pflegt sie mitunter durch <strong>de</strong>n Hinweis<br />
auf die Gütergemeinschaft <strong>de</strong>r urchristlichen Gemein<strong>de</strong> zu begrün<strong>de</strong>n. 1<br />
An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>r meinen, die Möglichkeit ihrer Anwendung ergebe sich<br />
schon daraus, daß sie sich im Rahmen <strong>de</strong>r Familie als<br />
Verteilungsgrundsatz bewährt hat. Sie ließe sich gewiß verallgemeinern,<br />
wenn man die Gefühle <strong>de</strong>r Mutter, die lieber selbst hungert als daß sie ihre<br />
Kin<strong>de</strong>r hungern läßt, verallgemeinern könnte. Das übersehen die<br />
Anhänger dieser Verteilungsformel. Sie übersehen aber auch noch<br />
manches an<strong>de</strong>re. Sie übersehen, daß, solange überhaupt noch Wirtschaft<br />
notwendig ist, nur ein Teil unserer Bedürfnisse befriedigt wer<strong>de</strong>n kann, so<br />
daß immer ein Teil unbefriedigt bleiben muß. Der Verteilungsgrundsatz:<br />
je<strong>de</strong>m nach seinen Bedürfnissen bleibt nichtssagend, solange nicht zum<br />
Ausdruck gebracht wird, bis zu welchem Gra<strong>de</strong> je<strong>de</strong>r einzelne seine<br />
Bedürfnisse befriedigen darf. Die Formel ist illusorisch, da sich je<strong>de</strong>r zum<br />
Verzicht auf vollständige Befriedigung aller Bedürfnisse genötigt sieht. 2<br />
1 Vgl. Apostelgeschichte 2, 45.<br />
2 Vgl. die Kritik dieser Verteilungsformel bei Pecqueur, Théorie nouvelle d‘Économie<br />
sociale et politique, Paris 1842, S. 613 ff. Pecqueur zeigt sich Marx weit überlegen, <strong>de</strong>r<br />
sich unbe<strong>de</strong>nklich <strong>de</strong>r Illusion hingibt, es könnte „in einer höheren Phase <strong>de</strong>r<br />
kommunistischen Gesellschaft . . . <strong>de</strong>r enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten<br />
wer<strong>de</strong>n und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Je<strong>de</strong>r nach seinen Fähigkeiten,
144<br />
Daß sie nicht innerhalb enger Grenzen zur Anwendung gelangen kann,<br />
soll damit nicht bestritten wer<strong>de</strong>n. Kranken und Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n können<br />
Heilmittel, Pflege und Wartung, bessere Verpflegung und beson<strong>de</strong>re<br />
Behelfe ihren beson<strong>de</strong>ren Bedürfnissen gemäß zugewiesen wer<strong>de</strong>n, ohne<br />
daß durch diese Berücksichtigung von Ausnahmefällen eine allgemeine<br />
Regel für alle geschaffen wird.<br />
Ganz unmöglich ist es, die Würdigkeit <strong>de</strong>s einzelnen zum allgemeinen<br />
Grundsatz <strong>de</strong>r Verteilung zu erheben. Wer sollte über die Würdigkeit<br />
entschei<strong>de</strong>n? Die politischen Machthaber haben oft sehr merkwürdige<br />
Ansichten über Wert und Unwert ihrer Zeitgenossen gehabt. Und auch<br />
Volkesstimme ist nicht Gottesstimme. Wen wür<strong>de</strong> das Volk heute wohl<br />
als <strong>de</strong>n Besten unter <strong>de</strong>n Zeitgenossen erwählen? Es ist nicht<br />
ausgeschlossen, daß die Wahl auf einen Kinostar fällt, bei manchen<br />
Völkern vielleicht auf einen Preisboxer. Heute wür<strong>de</strong> das englische Volk<br />
vielleicht geneigt sein, Shakespeare als <strong>de</strong>n größten Englän<strong>de</strong>r zu<br />
bezeichnen; aber hätten es auch seine Zeitgenossen getan? Und wie<br />
wür<strong>de</strong>n sie einen zweiten Shakespeare werten, wenn er heute unter ihnen<br />
wan<strong>de</strong>lte? Sollen übrigens jene, <strong>de</strong>nen die Natur nicht die großen Gaben<br />
<strong>de</strong>s Genies o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Talents in <strong>de</strong>n Schoß gelegt hat, dafür gestraft<br />
wer<strong>de</strong>n? Die Berücksichtigung <strong>de</strong>r Würdigkeit <strong>de</strong>s einzelnen bei <strong>de</strong>r Verteilung<br />
<strong>de</strong>r Genußgüter wür<strong>de</strong> Tür und Tor <strong>de</strong>r Willkür öffnen und <strong>de</strong>n<br />
einzelnen schutzlos <strong>de</strong>r Vergewaltigung durch die Mehrheit preisgeben.<br />
Man wür<strong>de</strong> damit Zustän<strong>de</strong> schaffen, die das Leben unerträglich machen.<br />
Für die nationalökonomische Betrachtung <strong>de</strong>r Probleme <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Gemeinwesens ist es übrigens ziemlich gleichgültig,<br />
welche Grundsätze o<strong>de</strong>r welche Verbindung verschie<strong>de</strong>ner Grundsätze für<br />
die Verteilung gewählt wer<strong>de</strong>n. Welche Grundsätze auch immer zur<br />
Anwendung gelangen, die Sache wird stets so sein, daß je<strong>de</strong>r einzelne<br />
vom Gemeinwesen eine Zuweisung empfängt. Der Genosse erhält ein<br />
Bün<strong>de</strong>l von Anweisungen, die innerhalb einer bestimmten Zeit gegen eine<br />
bestimmte Menge verschie<strong>de</strong>ner Güter eingelöst wer<strong>de</strong>n. So kann er dann<br />
täglich mehrmals speisen, ständig Unterkunft fin<strong>de</strong>n, dann und wann<br />
Vergnügungen nachgehen, von Zeit zu Zeit ein neues Kleidungsstück<br />
empfangen. Ob die auf diese<br />
je<strong>de</strong>m nach seinen Bedürfnissen!“ Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />
Programms, a. a. O., S. 17.
145<br />
Weise vermittelte Befriedigung <strong>de</strong>r Bedürfnisse mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />
reichlich ausfällt, wird von <strong>de</strong>r Ergiebigkeit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit<br />
abhängen.<br />
§ 4. Es ist nicht notwendig, daß je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n ganzen Anteil, <strong>de</strong>r ihm<br />
zugewiesen wur<strong>de</strong>, auch selbst verzehrt. Er kann einiges davon<br />
ungenossen ver<strong>de</strong>rben lassen, verschenken o<strong>de</strong>r, sofern dies mit <strong>de</strong>r<br />
Beschaffenheit <strong>de</strong>s Gutes vereinbar ist, für späteren Bedarf aufheben. Er<br />
kann aber auch einiges vertauschen. Der Biertrinker wird auf die ihm<br />
zukommen<strong>de</strong>n alkoholfreien Getränke gerne verzichten, wenn er dafür<br />
mehr Bier erhalten kann; <strong>de</strong>r Abstinent wird bereit sein, auf seinen Teil an<br />
geistigen Getränken zu verzichten, wenn er dafür an<strong>de</strong>re Genüsse zu<br />
erwerben vermag. Der Kunstfreund wird auf <strong>de</strong>n Besuch <strong>de</strong>r<br />
Lichtspieltheater verzichten wollen, um öfter gute Musik hören zu<br />
können; <strong>de</strong>r Banause wird <strong>de</strong>n Wunsch haben, die Karten, die ihn zum<br />
Eintritt in die Stätten <strong>de</strong>r Kunst berechtigen, gegen Genüsse hinzugeben,<br />
für die er mehr Verständnis hat. Sie alle wer<strong>de</strong>n zum Tauschen bereit sein.<br />
Gegenstand <strong>de</strong>s Tauschverkehrs wer<strong>de</strong>n aber immer nur Genußgüter sein<br />
können. Die Produktivgüter sind res extra commercium.<br />
Der Tauschverkehr kann sich auch im engen Rahmen, <strong>de</strong>n ihm die<br />
sozialistische Gesellschaftsordnung zuweist, vermittelt abspielen. Es ist<br />
nicht notwendig, daß er sich immer in <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>s direkten Tausches<br />
abwickelt. Die gleichen Grün<strong>de</strong>, die auch sonst zur Herausbildung <strong>de</strong>s<br />
indirekten Tausches geführt haben, wer<strong>de</strong>n ihn auch in <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaft im Interesse <strong>de</strong>r Tauschen<strong>de</strong>n als vorteilhaft erscheinen<br />
lassen. Daraus folgt, daß die sozialistische Gesellschaft auch Raum bietet<br />
für die Verwendung eines allgemein gebräuchlichen Tauschmittels, <strong>de</strong>s<br />
Gel<strong>de</strong>s. Seine Rolle wird in <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft grundsätzlich<br />
dieselbe sein wie in <strong>de</strong>r freien Wirtschaft; in bei<strong>de</strong>n ist es <strong>de</strong>r allgemein<br />
gebräuchliche Tauschvermittler. Doch die Be<strong>de</strong>utung dieser Rolle ist in<br />
<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Gemeineigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n<br />
Gesellschaftsordnung eine an<strong>de</strong>re als in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n. Sie ist hier unvergleichlich geringer,<br />
weil <strong>de</strong>r Tausch in dieser Gesellschaft eine viel geringere Be<strong>de</strong>utung hat,<br />
weil er hier überhaupt nur Konsumgüter erfaßt. Da kein Produktivgut im<br />
Tauschverkehre umgesetzt wird, ist es unmöglich, Geldpreise <strong>de</strong>r<br />
Produktivgüter zu erkennen. Die Rolle, die das Geld in <strong>de</strong>r freien<br />
Wirtschaft auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r Produktionsrechnung spielt, kann es in<br />
<strong>de</strong>r sozialistischen Gemeinschaft
146<br />
nicht behalten. Die Wertrechnung in Geld wird hier unmöglich.<br />
Die Austauschverhältnisse, die sich im Verkehre zwischen <strong>de</strong>n<br />
Genossen herausbil<strong>de</strong>n, können von <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>r Produktion und<br />
Verteilung nicht unbeachtet gelassen wer<strong>de</strong>n. Sie muß diese Austauschverhältnisse<br />
zugrun<strong>de</strong> legen, wenn sie bei <strong>de</strong>r Zuweisung <strong>de</strong>r<br />
Anteile verschie<strong>de</strong>ne Güter wechselseitig vertretbar machen will. Wenn<br />
sich im Tauschverkehr das Verhältnis 1 Zigarre gleich 5 Zigaretten<br />
ausgebil<strong>de</strong>t hat, so könnte die Leitung nicht ohne weiteres erklären, 1<br />
Zigarre sei gleich 3 Zigaretten, um nach diesem Verhältnis <strong>de</strong>n einen nur<br />
Zigarren, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nur Zigaretten zuzuweisen. Wenn die<br />
Tabakanweisung nicht gleichmäßig für je<strong>de</strong>rmann zu einem Teil in<br />
Zigarren und zum an<strong>de</strong>ren in Zigaretten eingelöst wer<strong>de</strong>n soll, wenn,<br />
entwe<strong>de</strong>r weil sie es so wünschen o<strong>de</strong>r weil die Einlösungsstelle<br />
augenblicklich nicht an<strong>de</strong>rs kann, die einen nur Zigarren, die an<strong>de</strong>ren nur<br />
Zigaretten erhalten sollen, dann müßten dabei die Austauschverhältnisse<br />
<strong>de</strong>s Marktes berücksichtigt wer<strong>de</strong>n. Sonst wür<strong>de</strong>n dabei alle, die<br />
Zigaretten empfangen haben, <strong>de</strong>nen gegenüber, die Zigarren empfangen<br />
haben, benachteiligt wer<strong>de</strong>n. Denn <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r eine Zigarre empfangen hat,<br />
kann dafür 5 Zigaretten eintauschen, während ihm die Zigarre nur mit 3<br />
Zigaretten angerechnet wird.<br />
Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Austauschverhältnisse im Verkehre zwischen <strong>de</strong>n<br />
Genossen wer<strong>de</strong>n mithin die Wirtschaftsleitung zu entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>n Ansätzen für die Vertretbarkeit <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen<br />
Genußgüter veranlassen müssen. Je<strong>de</strong> solche Verän<strong>de</strong>rung zeigt an, daß<br />
das Verhältnis zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Bedürfnissen <strong>de</strong>r Genossen und<br />
ihrer Befriedigung sich verschoben hat, daß die einen Güter nun stärker<br />
begehrt wer<strong>de</strong>n als die an<strong>de</strong>ren. Die Wirtschaftsleitung wird wohl<br />
voraussichtlich bestrebt sein, dies auch in <strong>de</strong>r Produktion zu beachten. Sie<br />
wird danach streben, die Erzeugung <strong>de</strong>r stärker begehrten Artikel zu<br />
erweitern, die <strong>de</strong>r schwächer begehrten einzuschränken. Aber eines wird<br />
sie nicht tun können: sie wird es nicht <strong>de</strong>m einzelnen Genossen überlassen<br />
dürfen, seine Tabakkarte nach Belieben entwe<strong>de</strong>r in Zigarren o<strong>de</strong>r in<br />
Zigaretten einzulösen. Wür<strong>de</strong> sie <strong>de</strong>m Genossen das Recht geben, zu<br />
wählen, ob er Zigarren o<strong>de</strong>r Zigaretten beziehen will, dann könnte es<br />
geschehen, daß mehr Zigarren o<strong>de</strong>r mehr Zigaretten verlangt wer<strong>de</strong>n, als<br />
erzeugt wur<strong>de</strong>n, daß an<strong>de</strong>rerseits aber Zigaretten
147<br />
o<strong>de</strong>r Zigarren in <strong>de</strong>n Abgabestellen liegen bleiben, weil sie niemand<br />
abverlangt hat.<br />
Stellt man sich auf <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>r Arbeitswerttheorie, dann gibt es<br />
auch für dieses Problem eine einfache Lösung. Der Genosse empfängt für<br />
die geleistete Arbeitsstun<strong>de</strong> eine Marke, die ihn zur Empfangnahme eines<br />
Produktes einer Arbeitsstun<strong>de</strong> (gemin<strong>de</strong>rt um <strong>de</strong>n Abzug zur Bestreitung<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gesamten Gesellschaft obliegen<strong>de</strong>n Lasten, wie Unterhalt <strong>de</strong>r<br />
Erwerbsunfähigen, Kulturausgaben u. dgl.) berechtigt. Sieht man von<br />
diesem Abzug für die Deckung <strong>de</strong>s von <strong>de</strong>r Gemeinschaft zu tragen<strong>de</strong>n<br />
Aufwan<strong>de</strong>s ab, dann hätte je<strong>de</strong>r Arbeiter, <strong>de</strong>r eine Stun<strong>de</strong> gearbeitet hat,<br />
das Recht, Produkte, zu <strong>de</strong>ren Erzeugung eine Stun<strong>de</strong> Arbeit aufgewen<strong>de</strong>t<br />
wur<strong>de</strong>, zu empfangen. Die gebrauchs- o<strong>de</strong>r verbrauchsreifen Güter und<br />
Nutzleistungen können aus <strong>de</strong>r Vorratskammer von je<strong>de</strong>rmann, <strong>de</strong>r<br />
imstan<strong>de</strong> ist, für sie die für ihre Erzeugung aufgewen<strong>de</strong>te Arbeitszeit zu<br />
vergüten, herausgenommen und <strong>de</strong>m eigenen Verbrauch zugeführt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Eine <strong>de</strong>rartige Regelung <strong>de</strong>r Verteilung wäre jedoch undurchführbar,<br />
da die Arbeit keine einheitliche und gleichartige Größe darstellt. Zwischen<br />
<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Arbeitsleistungen besteht qualitativ ein Unterschied,<br />
<strong>de</strong>r mit Rücksicht auf die Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Gestaltung von Nachfrage<br />
und Angebot nach ihren Erzeugnissen zu verschie<strong>de</strong>ner Bewertung führt.<br />
Man kann das Angebot an Bil<strong>de</strong>rn caeteris paribus nicht vermehren, ohne<br />
daß die Qualität <strong>de</strong>s Erzeugnisses lei<strong>de</strong>t. Man kann <strong>de</strong>m Arbeiter, <strong>de</strong>r eine<br />
Stun<strong>de</strong> einfachster Arbeit geleistet hat, nicht das Recht geben, das Produkt<br />
einer Stun<strong>de</strong> höher qualifizierter Arbeit zu verzehren. Es ist im<br />
sozialistischen Gemeinwesen überhaupt unmöglich, zwischen <strong>de</strong>r<br />
Be<strong>de</strong>utung einer Arbeitsleistung für die Gesellschaft und ihrer Beteiligung<br />
am Ertrag <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Produktionsprozesses eine Verbindung<br />
herzustellen. Die Entlohnung <strong>de</strong>r Arbeit kann hier nur willkürlich sein;<br />
auf <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Zurechnung <strong>de</strong>s Ertrages wie in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m<br />
Privateigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n freien<br />
Verkehrswirtschaft kann man sie nicht aufbauen, da, wie wir gesehen<br />
haben, die Zurechnung im sozialistischen Gemeinwesen nicht möglich ist.<br />
Die ökonomischen Tatsachen ziehen <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>r Gesellschaft, die<br />
Entlohnung <strong>de</strong>s Arbeiters nach Belieben festzusetzen, eine feste Grenze:<br />
auf keinen Fall wird die Lohnsumme auf die Dauer das gesellschaftliche<br />
Einkommen übersteigen können. Innerhalb dieser Grenze aber kann die<br />
Wirtschaftsleitung
148<br />
frei schalten. Sie kann festsetzen, daß alle Arbeiten als gleichwertig<br />
erachtet wer<strong>de</strong>n, so daß für je<strong>de</strong> Arbeitsstun<strong>de</strong>, ohne Unterschied ihrer<br />
Qualität, dieselbe Vergütung geleistet wird; sie kann ebensogut eine<br />
Unterscheidung zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Arbeitsstun<strong>de</strong>n, je nach <strong>de</strong>r<br />
Qualität <strong>de</strong>r geleisteten Arbeit machen. Doch in bei<strong>de</strong>n Fällen müßte sie<br />
sich vorbehalten, über die Verteilung <strong>de</strong>r Arbeitsprodukte beson<strong>de</strong>rs zu<br />
verfügen. Daß <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r eine Arbeitsstun<strong>de</strong> geleistet hat, auch berechtigt<br />
sein sollte, das Produkt einer Arbeitsstun<strong>de</strong> zu konsumieren, könnte sie -<br />
auch wenn man von <strong>de</strong>r Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Qualität <strong>de</strong>r Arbeit und ihrer<br />
Erzeugnisse absehen und überdies annehmen wollte, daß es möglich sei,<br />
festzustellen, wieviel Arbeit in je<strong>de</strong>m Arbeitsprodukt steckt - nie<br />
verfügen. Denn in <strong>de</strong>n einzelnen wirtschaftlichen Gütern sind außer <strong>de</strong>r<br />
Arbeit auch Sachkosten enthalten. Ein Erzeugnis, für welches mehr<br />
Rohstoff verwen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, kann nicht einem an<strong>de</strong>ren gleichgesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n, für das weniger Rohstoff gebraucht wur<strong>de</strong>.<br />
§ 5. In <strong>de</strong>r sozialistischen Kritik <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
nehmen die Klagen über die hohen Kosten <strong>de</strong>ssen, was<br />
man, wenn auch nicht mit <strong>de</strong>n Worten, so doch im Sinne dieser Kritik,<br />
<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Verteilungsapparat nennen könnte, einen weiten<br />
Raum ein. Die Kosten aller staatlichen und politischen Einrichtungen<br />
einschließlich <strong>de</strong>s Aufwan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r für militärische Zwecke erfor<strong>de</strong>rt wird<br />
und <strong>de</strong>n die Kriege verursachen, wird von ihr hierher gerechnet. Dazu<br />
kommen dann die Spesen, die <strong>de</strong>r Gesellschaft durch <strong>de</strong>n freien<br />
Wettbewerb erwachsen. Alles, was die Reklame und die Tätigkeit <strong>de</strong>r im<br />
Konkurrenzkampf beschäftigten Personen, wie Agenten,<br />
Geschäftsreisen<strong>de</strong>n u. dgl. verschlingt, dann die Verschwendung, die<br />
darin liegt, daß die im Wettbewerb stehen<strong>de</strong>n Unternehmungen ihre<br />
Selbständigkeit bewahren, statt sich zu größeren Betrieben<br />
zusammenzuschließen o<strong>de</strong>r die Produktion durch Kartellierung zu<br />
spezialisieren und damit zu verbilligen, wird zu Lasten <strong>de</strong>s<br />
Verteilungsdienstes in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaftsordnung gebucht.<br />
Die sozialistische Gesellschaftsordnung wer<strong>de</strong>, meint man, ungeheuer viel<br />
ersparen, da sie dieser Verschwendung ein En<strong>de</strong> machen wird.<br />
Die Erwartung <strong>de</strong>r Sozialisten, daß das sozialistische Gemeinwesen<br />
jene Auslagen, die man als die im eigentlichen Sinne staatlichen<br />
bezeichnen kann, wer<strong>de</strong> ersparen können, folgt aus <strong>de</strong>r vielen Anarchisten<br />
und <strong>de</strong>n marxistischen Sozialisten eigentümlichen Lehre von <strong>de</strong>r<br />
Überflüssigkeit staatlichen Zwanges in einer nicht auf <strong>de</strong>m
149<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung.<br />
Wenn man meint, daß im sozialistischen Gemeinwesen „die<br />
Innehaltung <strong>de</strong>r einfachen Grundregeln für je<strong>de</strong>s menschliche<br />
Zusammenleben sehr bald infolge <strong>de</strong>r Notwendigkeit zur Gewohnheit<br />
wer<strong>de</strong>n wird“, dies aber doch nicht an<strong>de</strong>rs zu begrün<strong>de</strong>n vermag, als<br />
durch <strong>de</strong>n Hinweis darauf, daß „die Umgehung <strong>de</strong>r vom ganzen Volke<br />
getätigten Registrierung und Kontrolle zweifelsohne . . . ungeheuer<br />
schwierig“ sein wird und eine „rasche und ernste Bestrafung zur Folge<br />
haben“ wird (<strong>de</strong>nn „die bewaffneten Arbeiter“ wären nicht „sentimentale<br />
Intellektuelle“ und „lassen nicht mit sich spotten“) 1 , so spielt man mit<br />
Worten. Kontrolle, Waffen, Strafe, sind sie nicht „eine beson<strong>de</strong>re<br />
Repressionsgewalt“, also nach Engels eigenen Worten ein „Staat“? 2 Ob<br />
<strong>de</strong>r Zwang von bewaffneten Arbeitern - solange sie mit <strong>de</strong>r Waffe dienen,<br />
können sie nicht arbeiten - o<strong>de</strong>r von in Gendarmerieuniformen<br />
geklei<strong>de</strong>ten Arbeitersöhnen ausgeübt wird, wird für die Kosten, die seine<br />
Durchführung bereitet, keinen Unterschied machen.<br />
Der Staat ist aber nicht nur seinen Angehörigen gegenüber ein<br />
Zwangsapparat; er wen<strong>de</strong>t auch nach außen Zwang an. Nur ein die ganze<br />
Ökumene umspannen<strong>de</strong>r Staat wür<strong>de</strong> nach außen hin keinen Zwang<br />
anzuwen<strong>de</strong>n haben, doch lediglich aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong>, weil es für diesen<br />
Staat kein Ausland, keinen Staatsfrem<strong>de</strong>n und keinen frem<strong>de</strong>n Staat geben<br />
wür<strong>de</strong>. Der Liberalismus strebt in seiner grundsätzlichen Abneigung<br />
gegen alle Kriegführung eine staatsgleiche Organisation <strong>de</strong>r Welt an. Ist<br />
eine solche einmal durchgeführt, dann ist sie auch ohne Zwangsapparat<br />
nicht <strong>de</strong>nkbar. Sind alle Heere <strong>de</strong>r einzelnen Staaten dann abgeschafft, so<br />
kann zunächst doch ein Weltzwangsapparat, eine Weltgendarmerie zur<br />
Sicherung <strong>de</strong>s Weltfrie<strong>de</strong>ns, nicht entbehrt wer<strong>de</strong>n. Ob <strong>de</strong>r Sozialismus<br />
alle Gemeinwesen <strong>de</strong>r Welt zu einem einheitlichen zusammenschließen<br />
wird o<strong>de</strong>r ob er sie nebeneinan<strong>de</strong>r bestehen lassen wird, in je<strong>de</strong>m Fall<br />
wird auch er einen Zwangsapparat nicht entbehren können.<br />
Auch die Unterhaltung <strong>de</strong>s sozialistischen Zwangsapparates wird<br />
irgendwelche Kosten bereiten. Ob sie größer o<strong>de</strong>r kleiner sein wer<strong>de</strong>n als<br />
die Kosten <strong>de</strong>s Staatsapparates <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung,<br />
kann natürlich in keiner Weise untersucht wer<strong>de</strong>n.<br />
1 Vgl. Lenin, Staat und Revolution, a. a. O., S. 96.<br />
2 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 302.
150<br />
Hier genügt die Feststellung, daß die Sozialdivi<strong>de</strong>n<strong>de</strong> um <strong>de</strong>n Betrag<br />
dieser Kosten gemin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n wird.<br />
Da es in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung keine Verteilung im<br />
eigentlichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes gibt, fehlen hier auch Verteilungskosten.<br />
Das, was an Han<strong>de</strong>lsspesen und ähnlichen Kosten <strong>de</strong>s Güterverkehrs<br />
aufläuft, kann man nicht nur aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> nicht als Verteilungskosten<br />
bezeichnen, weil es nicht die Spesen einer beson<strong>de</strong>rs vor sich gehen<strong>de</strong>n<br />
Verteilung sind, son<strong>de</strong>rn auch aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> nicht, weil die Wirkung<br />
<strong>de</strong>r Dienste, die diesen Zwecken gewidmet sind, weit über das bloße<br />
Verteilen <strong>de</strong>r Güter hinausreicht. Der Wettbewerb erschöpft seine<br />
Wirksamkeit nicht in <strong>de</strong>r Verteilung; das ist nur ein kleiner Teil seiner<br />
Leistungen. Er dient zugleich <strong>de</strong>r Produktionsleitung, und zwar einer<br />
Produktionsleitung, die eine beson<strong>de</strong>rs hohe Produktivität <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Arbeit verbürgt. Es genügt daher nicht, <strong>de</strong>n Kosten, die<br />
dadurch hervorgerufen wer<strong>de</strong>n, allein die im sozialistischen Gemeinwesen<br />
durch <strong>de</strong>n Verteilungsapparat und die Wirtschaftsleitung erwachsen<strong>de</strong>n<br />
Kosten gegenüberzustellen. Wenn die sozialistische Produktionsweise die<br />
Produktivität herabsetzen sollte - davon wird noch zu sprechen sein -,<br />
dann kommt es gar nicht mehr darauf an, daß sie die Arbeit <strong>de</strong>r<br />
Handlungsreisen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Makler, <strong>de</strong>s Ankündigungswesens u. dgl. sparen<br />
wird.<br />
IV.<br />
Die <strong>Gemeinwirtschaft</strong> im Beharrungszustand.<br />
§ 1. Die Annahme eines wirtschaftlichen Beharrungszustan<strong>de</strong>s ist ein<br />
Hilfsmittel unseres Denkens, kein Versuch, die gegebene Wirklichkeit zu<br />
beschreiben. Wir können ohne diese Denkform nicht auskommen, wenn<br />
wir zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Gesetze <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Verän<strong>de</strong>rungen<br />
gelangen wollen. Um die Bewegung zu studieren, müssen wir uns<br />
zunächst einen Zustand <strong>de</strong>nken, in <strong>de</strong>m sie fehlt. Der statische Zustand ist<br />
jene Gleichgewichtslage, <strong>de</strong>r wir uns alle Objekte <strong>de</strong>s wirtschaftlichen<br />
Han<strong>de</strong>lns im Augenblicke zustrebend <strong>de</strong>nken, und die sie wirklich<br />
erreichen wür<strong>de</strong>n, wenn nicht früher <strong>de</strong>r Eintritt neuer Tatsachen einen<br />
an<strong>de</strong>ren Gleichgewichtszustand bedingen wür<strong>de</strong>. Im gedachten<br />
Gleichgewichtszustand sind alle Teilchen <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren in <strong>de</strong>r<br />
wirtschaftlichsten Verwendung; es ist kein Anlaß vorhan<strong>de</strong>n, irgendwelche<br />
Verän<strong>de</strong>rungen mit ihnen vorzunehmen.
151<br />
Wenn es auch unmöglich ist, sich eine leben<strong>de</strong>, d. i. verän<strong>de</strong>rliche,<br />
sozialistische Wirtschaft zu <strong>de</strong>nken, weil Wirtschaft ohne<br />
Wirtschaftsrechnung nicht <strong>de</strong>nkbar erscheint, so kann man sich doch eine<br />
sozialistische Wirtschaft im Beharrungszustand ganz gut vorstellen. Man<br />
darf nur nicht darnach fragen, wie <strong>de</strong>r Beharrungszustand erreicht wur<strong>de</strong>.<br />
Doch wenn wir davon absehen, bereitet es keine Schwierigkeiten, sich in<br />
die Statik eines sozialistischen Gemeinwesens hinein zu <strong>de</strong>nken. Alle<br />
sozialistischen Theorien und Utopien haben immer nur <strong>de</strong>n statischen<br />
Zustand vor Augen.<br />
§ 2. 1 Die sozialistischen Schriftsteller schil<strong>de</strong>rn das sozialistische<br />
Gemeinwesen als ein Schlaraffenland. Fouriers krankhaft erregte<br />
Phantasie geht darin am weitesten. In seinem Zukunftsreich wer<strong>de</strong>n die<br />
schädlichen Tiere verschwun<strong>de</strong>n sein und an ihrer Statt wer<strong>de</strong>n Tiere<br />
erstehen, die <strong>de</strong>n Menschen bei <strong>de</strong>r Arbeit unterstützen o<strong>de</strong>r sie ihm ganz<br />
abnehmen wer<strong>de</strong>n. Ein Anti-Biber wird <strong>de</strong>n Fischfang besorgen, ein<br />
Anti-Walfisch die Seeschiffe in <strong>de</strong>n Windstillen ziehen, ein<br />
Anti-Flußpferd die Flußschiffe schleppen. An Stelle <strong>de</strong>s Löwen wird es<br />
einen Anti-Löwen geben, ein Reittier von wun<strong>de</strong>rbarer Schnelligkeit, auf<br />
<strong>de</strong>ssen Rücken <strong>de</strong>r Reiter so weich sitzen wird wie in einem Fe<strong>de</strong>rwagen.<br />
„Es wird ein Vergnügen sein, diese Welt zu bewohnen, wenn man solche<br />
Diener haben wird“. 2 Godwin hält es immerhin für möglich, daß die<br />
Menschen nach Abschaffung <strong>de</strong>s Eigentums unsterblich wer<strong>de</strong>n. 3 Und<br />
Schriftsteller, die solches Zeug vorbrachten, wur<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r neu<br />
aufgelegt, in frem<strong>de</strong> Sprachen übertragen und eingehen<strong>de</strong>n<br />
dogmengeschichtlichen Studien unterzogen!<br />
Die späteren Sozialisten sind in <strong>de</strong>r Ausdrucksweise vorsichtiger,<br />
gehen aber im Wesen von ähnlichen Annahmen aus. Den marxistischen<br />
Theorien liegt stillschweigend die nebelhafte Vorstellung zugrun<strong>de</strong>, daß<br />
mit <strong>de</strong>n natürlichen Produktionsfaktoren nicht gewirtschaftet wer<strong>de</strong>n muß.<br />
Dieser Schluß muß sich mit zwingen<strong>de</strong>r Notwendigkeit aus einem System<br />
ergeben, das nur die Arbeit als Kostenelement gelten läßt, das Gesetz <strong>de</strong>s<br />
abnehmen<strong>de</strong>n Ertrages nicht aufgenommen hat, das Malthussche<br />
Bevölkerungsgesetz bestreitet<br />
1 Dieser und <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> Paragraph wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m Friedrich Wieser zu seinem<br />
siebzigsten Geburtstag gewidmeten Hefte <strong>de</strong>r Zeitschrift für Volkswirtschaft und<br />
Sozialpolitik (Neue Folge, I. Bd.) bereits abgedruckt.<br />
2 ,Vgl. Fourier, Oeuvres complètes, IV. Bd., 2. Aufl., Paris 1841, S. 254 f.<br />
3<br />
Vgl Godwin, Das Eigentum (von Bahrfeld besorgte Übersetzung <strong>de</strong>s das<br />
Eigentumsproblem behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Teiles von Political Justice), Leipzig 1904, S. 78 ff.
152<br />
und sich in unklaren Phantasien über die grenzenlose Steigerungsfähigkeit<br />
<strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit ergeht. 1 Es ist nicht notwendig, auf diese<br />
Dinge näher einzugehen. Es genügt wohl, festzustellen, daß auch <strong>de</strong>m<br />
sozialistischen Gemeinwesen die natürlichen Produktionsfaktoren nur in<br />
beschränktem Maße zur Verfügung stehen wer<strong>de</strong>n, so daß es mit ihnen<br />
wird wirtschaften müssen.<br />
Das zweite Element, mit <strong>de</strong>m gewirtschaftet wird, ist die Arbeit. Arbeit<br />
- wir sehen hier von ihrer Qualitätsverschie<strong>de</strong>nheit vollkommen ab - steht<br />
nur in beschränktem Maße zur Verfügung, weil <strong>de</strong>r einzelne Mensch nur<br />
ein gewisses Maß von Arbeit zu leisten vermag. Auch wenn die Arbeit ein<br />
reines Vergnügen wäre, müßte mit ihr gewirtschaftet wer<strong>de</strong>n, weil das<br />
menschliche Leben zeitlich begrenzt ist und die menschlichen Kräfte nicht<br />
unerschöpflich sind. Auch wer nur seinem Vergnügen lebt und mit <strong>de</strong>m<br />
Gel<strong>de</strong> nicht zu sparen braucht, müßte sich seine Zeit einteilen, d. h. unter<br />
verschie<strong>de</strong>nen Verwendungsmöglichkeiten die Auswahl treffen.<br />
Gewirtschaftet wird, weil gegenüber <strong>de</strong>r Grenzenlosigkeit <strong>de</strong>r<br />
Bedürfnisse die Summe <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Natur bereitgestellten Güter erster<br />
Ordnung nicht ausreicht, die Güter höherer Ordnung bei einem gegebenen<br />
Stand <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit nur mit steigen<strong>de</strong>m Arbeitsaufwand zur<br />
Bedürfnisbefriedigung herangezogen wer<strong>de</strong>n können und die Vermehrung<br />
<strong>de</strong>r Arbeitsmenge, ganz abgesehen davon, daß sie nur bis zu einem<br />
bestimmten Maße erfolgen kann, mit steigen<strong>de</strong>m Leid verbun<strong>de</strong>n ist.<br />
Fourier und seine Schule halten das Arbeitsleid für eine Folge<br />
verkehrter Gesellschaftseinrichtungen. Nur die sind schuld daran, daß in<br />
unserer Vorstellung die Worte „Arbeit“ und „Mühsal“ gleichbe<strong>de</strong>utend<br />
seien. Die Arbeit an sich sei nicht wi<strong>de</strong>rwärtig. Im Gegenteil, alle<br />
Menschen hätten das Bedürfnis, tätig zu sein;<br />
1 „Heute sind alle . . . Unternehmungen in erster Linie eine Frage <strong>de</strong>r Rentabilität, . . .<br />
Eine sozialistische Gesellschaft kennt keine an<strong>de</strong>re Frage als die nach genügen<strong>de</strong>n<br />
Arbeitskräften, und sind diese da, so wird das Werk . . . vollbracht.“ (Bebel, Die Frau und<br />
<strong>de</strong>r Sozialismus, a. a. O., S. 308.) „Überall sind es die sozialen Einrichtungen und <strong>de</strong>r<br />
damit zusammenhängen<strong>de</strong> Erzeugungs- und Verteilungsmodus <strong>de</strong>r Produkte, was Mangel<br />
und Elend erzeugt, und nicht die Zahl <strong>de</strong>r Menschen.“ (Ebendort S. 368.) „Wir lei<strong>de</strong>n . . .<br />
nicht an Mangel, son<strong>de</strong>rn an Überfluß an Nahrungsmitteln, wie wir Überfluß an<br />
Industrieprodukten haben.“ (Ebendort S. 368; ähnlich auch Engels, Herrn Eugen Dührings<br />
Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 305.) „Wir haben . . . nicht zu viel, son<strong>de</strong>rn eher<br />
zu wenig Menschen.“ (Ebendort S. 370.)
153<br />
die Untätigkeit löse unerträgliche Langeweile aus. Will man die Arbeit<br />
anziehend machen, dann müsse man sie in gesun<strong>de</strong>n reinlichen<br />
Werkstätten verrichten lassen, müsse durch gesellige Vereinigung <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter die Arbeitsfreudigkeit heben und zwischen <strong>de</strong>n Arbeitern einen<br />
fröhlichen Wetteifer entstehen lassen. Die Hauptursache <strong>de</strong>s<br />
Wi<strong>de</strong>rwillens, <strong>de</strong>n die Arbeit auslöst, sei aber ihre Kontinuität. Selbst<br />
Genüsse ermü<strong>de</strong>n ja bei allzu langer Dauer. Man müsse <strong>de</strong>n Arbeiter nach<br />
Belieben abwechselnd verschie<strong>de</strong>ne Arbeit verrichten lassen, dann wer<strong>de</strong><br />
die Arbeit eine Freu<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n und keinen Wi<strong>de</strong>rwillen mehr erregen. 1<br />
Es ist nicht schwer, <strong>de</strong>n Fehler aufzu<strong>de</strong>cken, <strong>de</strong>r in dieser bei <strong>de</strong>n<br />
Sozialisten aller Richtungen sehr beliebten Argumentation enthalten ist.<br />
Der Mensch spürt <strong>de</strong>n Drang sich zu betätigen. Auch wenn die<br />
Bedürfnisse ihn nicht zur Arbeit treiben wür<strong>de</strong>n, wür<strong>de</strong> er sich nicht<br />
immer im Grase wälzen und von <strong>de</strong>r Sonne bescheinen lassen. Auch junge<br />
Tiere und Kin<strong>de</strong>r, für <strong>de</strong>ren Nahrung die Eltern sorgen, regen ihre Glie<strong>de</strong>r,<br />
tanzen, springen und laufen, um die Kräfte, die noch keine Arbeit in<br />
Anspruch nimmt, spielend zu gebrauchen. Sich zu regen, ist körperliches<br />
und seelisches Bedürfnis. So bereitet im allgemeinen auch die zielstrebige<br />
Arbeit Genuß. Doch nur bis zu einem gewissen Punkte, über <strong>de</strong>n hinaus<br />
sie nur Mühsal wird. In <strong>de</strong>r nachstehen<strong>de</strong>n Zeichnung schei<strong>de</strong>t die Linie<br />
ox, auf die wir <strong>de</strong>n Arbeitsertrag auftragen, das Arbeitsleid und <strong>de</strong>n<br />
Genuß, <strong>de</strong>n die Betätigung <strong>de</strong>r Kraft gewährt, und <strong>de</strong>n wir unmittelbaren<br />
Arbeitsgenuß nennen wollen. Die Kurve a b c p stellt Arbeitsleid und<br />
Arbeitsgenuß im Verhältnis zum Arbeitsertrag dar. Wenn die<br />
1 Vgl. Consi<strong>de</strong>rant, Exposition abrégée du Système Phalanstérien <strong>de</strong> Fourier, 4. Tirage<br />
<strong>de</strong> la 3. Edition, Paris 1846, S. 29 ff.
154<br />
Arbeit einsetzt, wird sie als Leid empfun<strong>de</strong>n. Sind die ersten<br />
Schwierigkeiten überwun<strong>de</strong>n und haben sich Körper und Geist besser an<br />
sie angepaßt, dann sinkt das Arbeitsleid. Bei b ist we<strong>de</strong>r Arbeitsleid noch<br />
unmittelbarer Arbeitsgenuß vorhan<strong>de</strong>n. Zwischen b und c wird<br />
unmittelbarer Arbeitsgenuß empfun<strong>de</strong>n. Über c hinaus beginnt wie<strong>de</strong>r das<br />
Arbeitsleid. Bei an<strong>de</strong>rer Arbeit kann die Kurve an<strong>de</strong>rs verlaufen, etwa so,<br />
wie o c 1 p 1 o<strong>de</strong>r so wie o p 2 . Das hängt von <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Arbeit und von<br />
<strong>de</strong>r Persönlichkeit <strong>de</strong>s Arbeiters ab. Es ist an<strong>de</strong>rs beim Kanalräumen und<br />
beim Rosselenken, es ist an<strong>de</strong>rs beim stumpfen und beim feurigen<br />
Menschen. 1<br />
Warum wird die Arbeit fortgesetzt, wenn das Leid, das ihre<br />
Fortsetzung verursacht, <strong>de</strong>n unmittelbaren Arbeitsgenuß überwiegt? Weil<br />
eben noch etwas an<strong>de</strong>res außer <strong>de</strong>m unmittelbaren Arbeitsgenuß in die<br />
Rechnung eingestellt wird, nämlich <strong>de</strong>rjenige Vorteil, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Genuß<br />
<strong>de</strong>s Arbeitsertrages entspringt; wir wollen ihn mittelbaren Arbeitsgenuß<br />
nennen. Die Arbeit wird so lange fortgesetzt, als das Unlustgefühl, das sie<br />
erweckt, durch das Lustgefühl, das <strong>de</strong>r Arbeitsertrag erweckt,<br />
ausgeglichen wird. Die Arbeit wird erst an <strong>de</strong>m Punkte abgebrochen, an<br />
<strong>de</strong>m ihre Fortsetzung mehr Leid als <strong>de</strong>r durch die Fortsetzung zu<br />
gewinnen<strong>de</strong> Güterzuwachs Lust schaffen wür<strong>de</strong>.<br />
Die Metho<strong>de</strong>, durch die Fourier <strong>de</strong>r Arbeit ihre Wi<strong>de</strong>rwärtigkeit<br />
nehmen will, geht zwar von einer richtigen Beobachtung aus, vergreift<br />
sich aber dabei vollkommen in <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r Quantitäten und <strong>de</strong>r<br />
Qualitäten. Fest steht, daß gegenwärtig jene Menge Arbeit, die noch<br />
unmittelbaren Arbeitsgenuß gewährt, nicht mehr als einen<br />
verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Bruchteil jener Bedürfnisse <strong>de</strong>ckt, die die Menschen für<br />
so wichtig halten, daß sie um ihrer willen die Mühsal <strong>de</strong>r Verrichtung<br />
lei<strong>de</strong>rzeugen<strong>de</strong>r Arbeit auf sich nehmen. Doch es ist ein Irrtum,<br />
anzunehmen, daß man daran irgen<strong>de</strong>ine ins Gewicht fallen<strong>de</strong> Än<strong>de</strong>rung<br />
vornehmen könnte, wenn man die Arbeiter nach kurzer Zeit ihre Tätigkeit<br />
wechseln läßt. Einmal wür<strong>de</strong> dabei infolge <strong>de</strong>r geringeren<br />
Geschicklichkeit, die sich <strong>de</strong>r einzelne wegen vermin<strong>de</strong>rter Übung für<br />
je<strong>de</strong>n Zweig, in <strong>de</strong>m er tätig sein soll, nur erwerben könnte, infolge <strong>de</strong>s<br />
Zeitverlustes, <strong>de</strong>r bei je<strong>de</strong>smaligem Schichtwechsel eintreten müßte, und<br />
infolge <strong>de</strong>s Arbeitsaufwan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>n das Hin- und Herschieben <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
erfor<strong>de</strong>rte, <strong>de</strong>r Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit geschmälert wer<strong>de</strong>n. Zweitens ist zu<br />
beachten, daß das Überwiegen<br />
1 Vgl. Jevons, The Theory of Political Economy, Third Edition, London 1888, S. 169,<br />
172 ff.
155<br />
<strong>de</strong>s Arbeitslei<strong>de</strong>s über <strong>de</strong>n unmittelbaren Arbeitsgenuß nur zum<br />
geringsten Teil darauf zurückzuführen ist, daß <strong>de</strong>r Arbeiter anfängt,<br />
gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Arbeit, mit <strong>de</strong>r er beschäftigt ist, überdrüssig zu wer<strong>de</strong>n, ohne<br />
daß seine Empfänglichkeit, bei an<strong>de</strong>rer Arbeit unmittelbaren Arbeitsgenuß<br />
zu empfin<strong>de</strong>n, beeinträchtigt wäre. Der größere Teil <strong>de</strong>s Arbeitslei<strong>de</strong>s ist<br />
auf die allgemeine Ermüdung <strong>de</strong>s Organismus und auf seine Sucht nach<br />
Freisein von je<strong>de</strong>m weiteren Zwang zurückzuführen. Der Mann, <strong>de</strong>r durch<br />
Stun<strong>de</strong>n am Schreibtisch gearbeitet hat, wird lieber eine Stun<strong>de</strong> lang Holz<br />
spalten, als eine weitere Stun<strong>de</strong> am Schreibtisch zubringen. Doch das, was<br />
ihm die Arbeit leidbringend macht, ist nicht nur <strong>de</strong>r Mangel an Abwechslung,<br />
son<strong>de</strong>rn mehr noch ihre Länge. Die Länge <strong>de</strong>s Arbeitstages könnte<br />
man aber ohne Schmälerung <strong>de</strong>s Ertrages nur durch Steigerung <strong>de</strong>r<br />
Produktivität abkürzen. Die viel verbreitete Anschauung, als ob es Arbeit<br />
gebe, die nur <strong>de</strong>n Geist, und solche, die nur <strong>de</strong>n Körper ermü<strong>de</strong>t, ist, wie<br />
je<strong>de</strong>rmann an sich selbst erfahren kann, nicht richtig. Alle Arbeit greift<br />
<strong>de</strong>n ganzen Organismus an. Man täuscht sich darüber, weil man bei<br />
Beobachtung frem<strong>de</strong>r Arbeit nur <strong>de</strong>n unmittelbaren Arbeitsgenuß zu<br />
sehen pflegt. Der Schreiber benei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Kutscher, weil er gerne ein<br />
wenig Rosselenker spielen möchte; doch er möchte es nur so lange tun,<br />
als die Lust daran die Mühe überwiegt. So wer<strong>de</strong>n Jagd und Fischerei,<br />
Bergsteigen, Reiten und Fahren als Sport betrieben. Doch Sport ist nicht<br />
Arbeit im wirtschaftlichen Sinne. Daß die Menschen mit <strong>de</strong>r geringen<br />
Menge Arbeit, die noch unmittelbaren Arbeitsgenuß auslöst, nicht<br />
auskommen können, das eben macht es notwendig, das Arbeitsleid auf<br />
sich zu nehmen, nicht die schlechte Organisation <strong>de</strong>r Arbeit.<br />
Daß man durch Verbesserungen <strong>de</strong>r äußeren Arbeitsbedingungen <strong>de</strong>n<br />
Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit bei gleichbleiben<strong>de</strong>m Arbeitsleid erhöhen o<strong>de</strong>r bei<br />
gleichbleiben<strong>de</strong>m Ertrag das Arbeitsleid min<strong>de</strong>rn kann, ist klar. Doch die<br />
äußeren Arbeitsbedingungen können nur mit Kostenaufwand über das in<br />
<strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung gegebene Maß hinaus<br />
verbessert wer<strong>de</strong>n. Daß gesellig verrichtete Arbeit die Arbeitsfreu<strong>de</strong> hebt,<br />
ist seit uralten Zeiten bekannt, und die gesellige Arbeit hat darum überall<br />
dort ihren Platz, wo sie ohne Schmälerung <strong>de</strong>s Reinertrages durchgeführt<br />
wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Es gibt freilich Ausnahmenaturen, die über das Gemeine hinausragen.<br />
Die großen schöpferischen Genies, die sich in unsterblichen Werken und<br />
Taten ausleben, kennen die Kategorien Arbeitsleid und Arbeitsgenuß<br />
nicht. Ihnen ist das Schaffen zugleich höchste Freu<strong>de</strong>
156<br />
und bitterste Qual, vor allem aber innere Notwendigkeit. Sie stehen<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Wirtschaft. Das, was sie schaffen, hat für sie nicht als<br />
Erzeugnis Wert: sie schaffen um <strong>de</strong>s Schaffens willen, nicht um <strong>de</strong>s<br />
Ertrages willen. Sie selbst kostet das Produkt nichts, weil sie, in<strong>de</strong>m sie<br />
arbeiten, nicht auf etwas verzichten, das ihnen lieber wäre. Die<br />
Gesellschaft kostet aber ihr Produkt nur das, was sie durch an<strong>de</strong>re Arbeit<br />
erzeugen könnten; im Vergleich zum Wert <strong>de</strong>r Leistung kommt das kaum<br />
in Betracht. So ist das Genie in Wahrheit eine Gabe Gottes.<br />
Je<strong>de</strong>rmann kennt die Lebensgeschichte <strong>de</strong>r großen Männer. So kann es<br />
leicht geschehen, daß <strong>de</strong>r Sozialreformer sich versucht sieht, das, was er<br />
von ihnen gehört hat, als allgemeine Erscheinung anzusehen. Immer<br />
wie<strong>de</strong>r begegnet man <strong>de</strong>r Neigung, <strong>de</strong>n Lebensstil <strong>de</strong>s Genies als die<br />
typische Lebensgewohnheit <strong>de</strong>s einfachsten Genossen eines<br />
sozialistischen Gemeinwesens anzusprechen. Doch nicht je<strong>de</strong>r ist ein<br />
Sophokles o<strong>de</strong>r Shakespeare, und hinter <strong>de</strong>r Drehbank stehen ist etwas<br />
an<strong>de</strong>res als Goethesche Gedichte machen o<strong>de</strong>r Napoleonsche Weltreiche<br />
begrün<strong>de</strong>n.<br />
Man kann danach ermessen, was für eine Bewandtnis es mit <strong>de</strong>n<br />
Illusionen hat, <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>r Marxismus über die Stellung <strong>de</strong>r Arbeit in<br />
<strong>de</strong>r Lust- und Leidökonomie <strong>de</strong>r Genossen <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens hingibt. Der Marxismus bewegt sich auch hier ganz wie in<br />
allem an<strong>de</strong>ren, was er über das sozialistische Gemeinwesen zu sagen<br />
weiß, in <strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Utopisten gebahnten Wegen. Unter ausdrücklicher<br />
Bezugnahme auf Fouriers und Owens I<strong>de</strong>en, <strong>de</strong>r Arbeit „<strong>de</strong>n ihr durch die<br />
Teilung abhan<strong>de</strong>n gekommenen Reiz <strong>de</strong>r Anziehung“ dadurch<br />
wie<strong>de</strong>rzugeben, daß in ihr <strong>de</strong>rart abgewechselt wird, daß je<strong>de</strong>r einzelnen<br />
Arbeit nur eine kurze Dauer gewidmet wird, erblickt Engels im<br />
Sozialismus eine Organisation <strong>de</strong>r Produktion, „in <strong>de</strong>r . . . die produktive<br />
Arbeit, statt Mittel <strong>de</strong>r Knechtung, Mittel <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>r Menschen<br />
wird, in<strong>de</strong>m sie je<strong>de</strong>m einzelnen die Gelegenheit bietet, seine sämtlichen<br />
Fähigkeiten, körperliche wie geistige, nach allen Richtungen hin zu bil<strong>de</strong>n<br />
und zu betätigen, und in <strong>de</strong>r sie so aus einer Last eine Lust wird“. 1 Und<br />
Marx spricht von „einer höheren Phase <strong>de</strong>r kommunistischen<br />
Gesellschaft, nach<strong>de</strong>m die knechten<strong>de</strong> Unterordnung <strong>de</strong>r Individuen unter<br />
die Teilung <strong>de</strong>r Arbeit, damit auch <strong>de</strong>r Gegensatz geistiger und<br />
körperlicher Arbeit verschwun<strong>de</strong>n ist“, in <strong>de</strong>r „die Arbeit nicht<br />
1 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 317.
157<br />
nur Mittel zum Leben, son<strong>de</strong>rn selbst das erste Lebensbedürfnis,<br />
gewor<strong>de</strong>n“ sein wird. 1 Von <strong>de</strong>n Ausführungen Fouriers und seiner Schule<br />
unterschei<strong>de</strong>n sich diese Äußerungen nur dadurch, daß sie nicht einmal<br />
<strong>de</strong>n Versuch einer Begründung enthalten.<br />
Fourier und seine Schule wissen aber außer <strong>de</strong>r Abwechslung noch ein<br />
zweites Mittel, um die Arbeit anziehen<strong>de</strong>r zu machen: <strong>de</strong>n Wettbewerb.<br />
Die Menschen seien <strong>de</strong>r höchsten Leistung fähig, wenn sie „un sentiment<br />
<strong>de</strong> rivalité joyeuse ou <strong>de</strong> noble émulation“ beseelt. Hier auf einmal<br />
erkennen sie die Vorzüge <strong>de</strong>s Wettbewerbes an, <strong>de</strong>n sie sonst als<br />
ver<strong>de</strong>rblich bezeichnen. Wenn Arbeiter Mangelhaftes leisten, genüge es,<br />
sie in Gruppen zu teilen; sofort wer<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Gruppen<br />
ein heißer Wettkampf entbrennen, <strong>de</strong>r die Energie <strong>de</strong>s einzelnen<br />
verdoppelt und bei allen plötzlich „un acharnement passioné au travail“<br />
erweckt. 2<br />
Die Beobachtung, daß durch <strong>de</strong>n Wettbewerb die Leistungen gesteigert<br />
wer<strong>de</strong>n, ist zwar durchaus richtig, aber sie haftet an <strong>de</strong>r Oberfläche <strong>de</strong>r<br />
Erscheinungen. Denn <strong>de</strong>r Wettbewerb ist nicht an sich eine menschliche<br />
Lei<strong>de</strong>nschaft. Die Anstrengungen, die die Menschen im Wettbewerb<br />
machen, machen sie nicht um <strong>de</strong>s Wettbewerbs willen, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>s<br />
Zieles, das sie dadurch erreichen wollen. Der Kampf wird wegen <strong>de</strong>s<br />
Preises, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sieger winkt, ausgetragen, nicht um seiner selbst willen.<br />
Welche Preise aber sollten die Arbeiter im sozialistischen Gemeinwesen<br />
zum Wetteifer anspornen? Ehrentitel und Ehrenpreise wer<strong>de</strong>n<br />
erfahrungsgemäß nur wenig geschätzt. Materielle Güter, die ihre<br />
Bedürfnisbefriedignng verbessern, können nicht als Preise gegeben<br />
wer<strong>de</strong>n, da <strong>de</strong>r Verteilungsschlüssel von <strong>de</strong>r individuellen Leistung<br />
unabhängig ist und die Erhöhung <strong>de</strong>r Kopfquote durch erhöhte<br />
Anstrengung eines Arbeiters so unbe<strong>de</strong>utend ist, daß sie nicht ins Gewicht<br />
fällt. Die eigene Befriedigung ob <strong>de</strong>r getanen Pflicht kann es auch nicht<br />
sein; gera<strong>de</strong> weil man diesem Antrieb nicht trauen kann, sticht man ja<br />
nach an<strong>de</strong>ren Antrieben. Und wenn es auch das wäre, so wäre die Arbeit<br />
damit immer noch Mühsal. Sie wäre aber nicht an sich anziehend<br />
gewor<strong>de</strong>n.<br />
Der Fourierismus erblickt <strong>de</strong>n Kernpunkt seiner Lösung <strong>de</strong>s sozialen<br />
Problems darin, daß er die Arbeit aus einer Qual zu einer Freu<strong>de</strong> machen<br />
will. 3 Lei<strong>de</strong>r sind die Mittel, die er dafür angibt,<br />
1 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen Programms, a. a. O., S. 17.<br />
2 Vgl. Consi<strong>de</strong>rant, a. a. O., S. 33.<br />
3 Vgl. Consi<strong>de</strong>rant, Studien über einige Fundamentalprobleme <strong>de</strong>r sozialen Zukunft<br />
(enthalten in „Fouriers System <strong>de</strong>r sozialen Reform“, übersetzt von Kaatz, Leipzig 1906)
158<br />
durchaus unbrauchbar. Hätte Fourier wirklich <strong>de</strong>n Weg weisen können,<br />
auf <strong>de</strong>m man die Arbeit anziehend machen kann, dann hätte er wohl die<br />
abgöttische Verehrung verdient, die ihm seine Schule dargebracht hat. 1<br />
Doch seine viel gefeierten Lehren sind nichts an<strong>de</strong>res als Phantasien eines<br />
Menschen, <strong>de</strong>m es nicht gegeben war, die Dinge <strong>de</strong>r Welt klar zu sehen.<br />
Auch im sozialistischen Gemeinwesen wird die Arbeit Unlustgefühle<br />
erwecken, nicht Lustgefühle. 2<br />
§ 3. Dem Genossen obliegt es, nach Kräften und Fähigkeiten für das<br />
Gemeinwesen zu arbeiten; dagegen hat er wie<strong>de</strong>r gegen das Gemeinwesen<br />
<strong>de</strong>n Anspruch auf Berücksichtigung bei <strong>de</strong>r Verteilung. Wer sich <strong>de</strong>r<br />
Arbeitspflicht ungerechtfertigterweise entziehen will, wird durch die<br />
üblichen Mittel staatlichen Zwanges zum Gehorsam verhalten. Die<br />
Gewalt, die die Wirtschaftsleitung über <strong>de</strong>n einzelnen Genossen haben<br />
wird, wird eine so große sein,<br />
S. 95 ff. - Fourier hat das Verdienst, die Heinzelmännchen in die Sozialwissenschaft<br />
eingeführt zu haben. In seinem Zukunftsreich wer<strong>de</strong>n die Kin<strong>de</strong>r in „Petites Hor<strong>de</strong>s“<br />
organisiert, das vollbringen, was die Erwachsenen nicht leisten. Zu ihren Aufgaben gehört<br />
u. a. die Erhaltung <strong>de</strong>r Straßen. „C’est à leur amour propre que l’Harmonie sera re<strong>de</strong>vable<br />
d’avoir, par toute la terre, <strong>de</strong>s chemins plus somptueux que les allées <strong>de</strong> nos parterres. Ils<br />
seront entretenus d’arbres et d’arbustes, même <strong>de</strong> fleurs, et arrosés au trottoir. Les petites<br />
Hor<strong>de</strong>s courent frénétiquement au travail, qui est exécuté comme oeuvre pie, acte <strong>de</strong><br />
charité envers la Phalange, service <strong>de</strong> Dieu et <strong>de</strong> l’Unité.“ Um 3 Uhr morgens sind sie<br />
immer schon auf <strong>de</strong>n Beinen, reinigen die Ställe, warten das Vieh und die Pfer<strong>de</strong> und<br />
arbeiten in <strong>de</strong>n Schlachthäusern, wo sie darauf achten, daß nie ein Tier gequält, son<strong>de</strong>rn<br />
stets auf die sanfteste Weise getötet wer<strong>de</strong>. „Elles ont la baute police du régne animal.“ Ist<br />
ihre Arbeit getan, so waschen sie sich, klei<strong>de</strong>n sich an und erscheinen dann im Triumph<br />
beim Frühstück. Vgl. Fourier, a. a. O., V. Bd., 2. Aufl., Paris 1841, S. 149, 159.<br />
1 Vgl. z. B. Fabre <strong>de</strong>s Essarts, O<strong>de</strong>s Phalanstériennes, Montreuil-Sous-Bois, 1900.<br />
Auch Béranger und Victor Hugo haben Fourier verehrt; jener widmete ihm ein Gedicht,<br />
das bei Bebel (Charles Fourier, Stuttgart 1890, S. 294 f.) abgedruckt ist.<br />
2 Von dieser Erkenntnis sind die sozialistischen Schriftsteller noch weit entfernt.<br />
Kautsky (Die soziale Revolution, a. a. O., II., S. 16 f.) sieht es als eine Hauptaufgabe eines<br />
proletarischen Regimes an, „die Arbeit, die heute eine Last ist, zu einer Lust zu machen, so<br />
daß es ein Vergnügen wird, zu arbeiten, daß die Arbeiter mit Vergnügen an die Arbeit<br />
gehen“. Er gibt zu, daß „das nicht eine so einfache Sache“ ist und gelangt zum Schlusse:<br />
„Es wird kaum gelingen, die Arbeit in Fabriken und Bergwerken bald zu einer sehr<br />
anziehen<strong>de</strong>n zu machen“. Doch begreiflicherweise kann er sich nicht dazu entschließen,<br />
von <strong>de</strong>r Grundillusion <strong>de</strong>s Sozialismus ganz Abschied zu nehmen.
159<br />
daß kaum anzunehmen ist, es könnte sich jemand auf die Dauer<br />
wi<strong>de</strong>rsetzlich zeigen.<br />
Es genügt aber nicht, daß die Genossen pünktlich zur Arbeit antreten<br />
und die vorgeschriebene Anzahl von Stun<strong>de</strong>n dabei ausharren. Sie müssen<br />
während dieser Zeit auch wirklich arbeiten.<br />
In <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung fällt <strong>de</strong>m Arbeiter das<br />
Produkt seiner Arbeit zu. Der statische o<strong>de</strong>r natürliche Lohnsatz setzt sich<br />
in einer solchen Höhe fest, daß <strong>de</strong>m Arbeiter <strong>de</strong>r Ertrag seiner Arbeit, d.<br />
h. alles das, was <strong>de</strong>r Arbeit zugerechnet wird, zukommt. 1 Der Arbeiter<br />
selbst ist daher daran interessiert, daß die Produktivität <strong>de</strong>r von ihm<br />
geleisteten Arbeit möglichst groß ist. Das gilt nicht nur dort, wo<br />
Stücklohn herrscht. Auch die Höhe <strong>de</strong>s Zeitlohnes ist von <strong>de</strong>r<br />
Grenzproduktivität <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Art von Arbeit abhängig. Die<br />
verkehrstechnische Form <strong>de</strong>r Lohnbildung än<strong>de</strong>rt auf die Dauer nichts an<br />
<strong>de</strong>r Lohnhöhe. Der Lohnsatz hat stets die Ten<strong>de</strong>nz, zum statischen Lohn<br />
zurückzukehren. Auch <strong>de</strong>r Zeitlohn macht davon keine Ausnahme.<br />
Schon <strong>de</strong>r Zeitlohn bietet aber Gelegenheit, Beobachtungen darüber<br />
anzustellen, wie sich die Arbeitsleistung gestaltet, wenn <strong>de</strong>r Arbeiter die<br />
Empfindung hat, nicht für sich zu arbeiten, weil zwischen seiner Leistung<br />
und <strong>de</strong>r ihm zufallen<strong>de</strong>n Entlohnung kein Zusammenhang besteht. Im<br />
Zeitlohn ist auch <strong>de</strong>r geschicktere Arbeiter nicht geneigt, mehr als jenes<br />
Min<strong>de</strong>stmaß zu leisten, das von je<strong>de</strong>m Arbeiter gefor<strong>de</strong>rt wird. Der<br />
Stücklohn spornt zur Höchstleistung an, <strong>de</strong>r Zeitlohn führt zur<br />
Min<strong>de</strong>stleistung. In <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung wird die<br />
soziale Rückwirkung dieser Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Zeitlohnes dadurch<br />
außeror<strong>de</strong>ntlich abgeschwächt, daß die Zeitlohnsätze für die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Kategorien von Arbeit stark abgestuft sind. Der Arbeiter hat ein<br />
Interesse daran, eine Arbeitsstelle aufzusuchen, wo das gefor<strong>de</strong>rte<br />
Min<strong>de</strong>stmaß an Leistung so hoch ist, als er es nur zu leisten vermag, weil<br />
mit <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>r gefor<strong>de</strong>rten Min<strong>de</strong>stleistung auch <strong>de</strong>r Lohn steigt.<br />
Erst in <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m man von <strong>de</strong>r Abstufung <strong>de</strong>r Zeitlohnsätze<br />
nach <strong>de</strong>r Arbeitsleistung abgeht, beginnt <strong>de</strong>r Zeitlohn produktionshemmend<br />
zu wirken. Das tritt beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich bei <strong>de</strong>n Angestellten <strong>de</strong>s<br />
Staates und <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n zutage. Hier wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten<br />
auf <strong>de</strong>r einen Seite das Min<strong>de</strong>stmaß, das vom einzelnen Arbeiter verlangt<br />
wird, immer mehr her untergesetzt<br />
1 Vgl. Clark, Distribution of Wealth, New York 1907, S. 157 ff.
160<br />
und auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite jener Antrieb zu besserer Leistung beseitigt, <strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Behandlung <strong>de</strong>r einzelnen Beamtenklassen und in<br />
<strong>de</strong>m beschleunigten Aufstieg <strong>de</strong>r fleißigeren und fähigeren Arbeiter in<br />
höhere Besoldungsstufen gelegen war. Der Erfolg dieser Politik hat<br />
gezeigt, daß <strong>de</strong>r Arbeiter nur dann ernstliche Anstrengungen macht, wenn<br />
er weiß, daß er davon etwas hat.<br />
In <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaftsordnung kann zwischen<br />
Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt keine wie immer geartete Beziehung<br />
bestehen. An <strong>de</strong>r Unmöglichkeit, rechnerisch die produktiven Beiträge <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Produktionsfaktoren zu ermitteln, müßten alle Versuche<br />
scheitern, <strong>de</strong>n Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s einzelnen zu ermitteln und danach <strong>de</strong>n<br />
Lohnsatz festzustellen. Das sozialistische Gemeinwesen kann wohl die<br />
Verteilung von gewissen äußerlichen Momenten <strong>de</strong>r Arbeitsleistung<br />
abhängig machen; aber je<strong>de</strong> <strong>de</strong>rartige Differenzierung beruht auf Willkür.<br />
Nehmen wir an, es wird für je<strong>de</strong>n Produktionszweig das Min<strong>de</strong>stmaß <strong>de</strong>r<br />
Leistungen festgesetzt. Nehmen wir an, daß das in <strong>de</strong>r Weise geschehe,<br />
wie es Rodbertus als „normalen Werkarbeitstag“ vorschlägt. Für je<strong>de</strong>s<br />
Gewerbe wird die Zeit, die ein Arbeiter mit mittlerer Kraft und<br />
Anstrengung dauernd arbeiten kann, und dann die Leistung, die ein<br />
mittlerer Arbeiter bei mittlerer Geschicklichkeit und mittlerem Fleiß<br />
während dieser Zeit vollbringen kann, festgesetzt. 1 Von <strong>de</strong>n technischen<br />
Schwierigkeiten, die dann in je<strong>de</strong>m einzelnen konkreten Falle <strong>de</strong>r<br />
Beurteilung <strong>de</strong>r Frage, ob dieses Min<strong>de</strong>stmaß tatsächlich erreicht wur<strong>de</strong><br />
o<strong>de</strong>r nicht, entgegenstehen, wollen wir dabei ganz absehen. Doch es ist<br />
klar, daß eine <strong>de</strong>rartige allgemeine Festsetzung nicht an<strong>de</strong>rs als<br />
willkürlich sein kann. Eine Einigung darüber wird zwischen <strong>de</strong>n Arbeitern<br />
<strong>de</strong>r einzelnen Gewerbe nie zu erzielen sein. Je<strong>de</strong>r wird behaupten, durch<br />
die Festsetzung überbür<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n zu sein, und nach Herabmin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
ihm auferlegten Aufgaben streben. Mittlere Qualität <strong>de</strong>s Arbeiters,<br />
mittlere Geschicklichkeit, mittlere Kraft, mittlere Anstrengung, mittlerer<br />
Fleiß sind vage Begriffe, die nicht exakt festgestellt wer<strong>de</strong>n können.<br />
1 Vgl. Rodbertus-Jagetzow, Briefe und sozialpolitische Aufsätze, herausgegeben von<br />
R. Meyer, Berlin o. J. (1881), S. 553 f. - Auf die weiteren Vorschläge, die Rodbertus an<br />
die Aufstellung <strong>de</strong>s normalen Werkarbeitstages knüpft, wird hier nicht eingegangen; sie<br />
sind durchaus auf <strong>de</strong>n unhaltbaren Anschauungen gegrün<strong>de</strong>t, die Rodbertus sich über das<br />
Wertproblem gebil<strong>de</strong>t hat.
161<br />
Nun aber ist es klar, daß ein Min<strong>de</strong>stmaß an Leistung, das auf die<br />
Arbeiter von mittlerer Qualität, mittlerer Geschicklichkeit und mittlerer<br />
Kraft berechnet ist, nur von einem Teil, sagen wir, von <strong>de</strong>r Hälfte <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter, erreicht wer<strong>de</strong>n kann. Die an<strong>de</strong>ren wer<strong>de</strong>n weniger leisten. Wie<br />
soll dann geprüft wer<strong>de</strong>n, ob einer aus Unfleiß o<strong>de</strong>r aus Unvermögen<br />
hinter <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>stleistung zurückgeblieben ist? Auch hier muß entwe<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>m freien Ermessen <strong>de</strong>r Organe ein weiter Spielraum gelassen wer<strong>de</strong>n,<br />
o<strong>de</strong>r man muß sich entschließen, gewisse allgemeine Merkmale<br />
festzulegen. Zweifellos wird aber <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r sein, daß die Menge <strong>de</strong>r<br />
geleisteten Arbeit immer mehr und mehr sinkt.<br />
In <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist je<strong>de</strong>r einzelne in <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaft Tätige darauf bedacht, daß je<strong>de</strong>r Arbeit ihr voller Ertrag<br />
zufalle. Der Unternehmer, <strong>de</strong>r einen Arbeiter, <strong>de</strong>r seinen Lohn wert ist,<br />
entläßt, schädigt sich selbst. Der Zwischenvorgesetzte, <strong>de</strong>r einen guten<br />
Arbeiter entläßt und einen schlechten behält, schädigt das<br />
Geschäftsergebnis <strong>de</strong>r ihm anvertrauten Abteilung und damit mittelbar<br />
sich selbst. Hier ist die Aufstellung formaler Merkmale zur Einschränkung<br />
<strong>de</strong>s Ermessens <strong>de</strong>rer, die die Arbeitsleistungen zu beurteilen haben, nicht<br />
erfor<strong>de</strong>rlich. In <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaftsordnung müssen solche<br />
aufgestellt wer<strong>de</strong>n, weil sonst die <strong>de</strong>n Vorgesetzten eingeräumten Rechte<br />
willkürlich mißbraucht wer<strong>de</strong>n könnten. Dann aber hat kein Arbeiter ein<br />
Interesse mehr, wirklich etwas zu leisten. Er hat nur noch das Interesse,<br />
die formalen Bedingungen zu erfüllen, die er erfüllen muß, wenn er nicht<br />
straffällig wer<strong>de</strong>n will.<br />
Was für Ergebnisse Arbeiter, die am Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit nicht interessiert<br />
sind, erzielen, lehrt die Erfahrung, die man in Jahrtausen<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r<br />
unfreien Arbeit gemacht hat. Ein neues Beispiel bieten die Beamten und<br />
Angestellten <strong>de</strong>r staats- und kommunalsozialistischen Betriebe. Man mag<br />
die Beweiskraft dieser Beispiele damit abzuschwächen suchen, daß man<br />
darauf hinweist, diese Arbeiter hätten kein Interesse am Erfolg ihrer<br />
Arbeit, weil sie selbst bei <strong>de</strong>r Verteilung leer ausgehen; im sozialistischen<br />
Gemeinwesen wer<strong>de</strong> je<strong>de</strong>r wissen, daß er für sich arbeitet, und das wer<strong>de</strong><br />
ihn zu höchstem Eifer anspornen. Doch darin liegt ja gera<strong>de</strong> das Problem:<br />
Wenn <strong>de</strong>r Arbeiter sich bei <strong>de</strong>r Arbeit mehr anstrengt, dann hat er um so<br />
viel mehr Arbeitsleid zu überwin<strong>de</strong>n. Von <strong>de</strong>m Erfolg <strong>de</strong>r<br />
Mehranstrengung kommt ihm aber nur ein verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Bruchteil zu.<br />
Die Aussicht darauf, ein halbes Milliardstel
162<br />
<strong>de</strong>ssen, was durch seine Mehranstrengung erzielt wur<strong>de</strong>, auch wirklich für<br />
sich behalten zu dürfen, kann keinen genügen<strong>de</strong>n Anreiz zur Anspannung<br />
<strong>de</strong>r Kräfte bil<strong>de</strong>n. 1<br />
Die sozialistischen Schriftsteller pflegen über diese heiklen Fragen mit<br />
Stillschweigen o<strong>de</strong>r mit einigen nichtssagen<strong>de</strong>n Bemerkungen<br />
hinwegzugleiten. Sie wissen nichts an<strong>de</strong>res vorzubringen als einige<br />
moralisieren<strong>de</strong> Sentenzen. 2 Der neue Mensch <strong>de</strong>s Sozialismus wer<strong>de</strong> von<br />
niedriger Selbstsucht frei sein, er wer<strong>de</strong> sittlich unendlich hoch über <strong>de</strong>m<br />
Menschen <strong>de</strong>r bösen Zeit <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums stehen und aus vertiefter<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>s Zusammenhanges <strong>de</strong>r Dinge und aus edler Auffassung<br />
seiner Pflicht seine Kräfte in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>s allgemeinen Besten stellen.<br />
Sieht man aber näher zu, dann bemerkt man unschwer, daß sich ihre<br />
Ausführungen nur um jene bei<strong>de</strong>n allein <strong>de</strong>nkbaren Alternativen drehen:<br />
Freie Befolgung <strong>de</strong>s Sittengesetzes ohne je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Zwang als <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
eigenen Gewissens o<strong>de</strong>r Erzwingung <strong>de</strong>r Leistungen durch ein System<br />
von Belohnungen und Strafen. Keine von bei<strong>de</strong>n kann zum Ziele führen.<br />
Jene bietet, auch wenn sie tausendmal öffentlich gepriesen und in allen<br />
Schulen und Kirchen verkün<strong>de</strong>t wird, keinen genügen<strong>de</strong>n Antrieb, immer<br />
wie<strong>de</strong>r das Arbeitsleid zu überwin<strong>de</strong>n; diese kann nur eine formale<br />
Erfüllung <strong>de</strong>r Pflicht, niemals eine Erfüllung mit höchstem Einsatz <strong>de</strong>r<br />
eigenen Kraft erzielen.<br />
Der Schriftsteller, <strong>de</strong>r sich am eingehendsten mit <strong>de</strong>m Problem befaßt<br />
hat, ist John Stuart Mill. Alle späteren Ausführungen knüpfen an seine an.<br />
Seine Gedanken begegnen uns nicht nur allenthalben in <strong>de</strong>r Literatur und<br />
in <strong>de</strong>r politischen Wechselre<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Alltags; sie sind gera<strong>de</strong>zu<br />
volkstümlich gewor<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>rmann ist mit ihnen vertraut, wenn auch nur<br />
die wenigsten ihren Urheber kennen. 3 Sie sind seit Jahrzehnten eine<br />
Hauptstütze <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Sozialismus und haben zu seiner Beliebtheit<br />
mehr beigetragen als die haßerfüllten, aber vielfach wi<strong>de</strong>rspruchsvollen<br />
Ausführungen <strong>de</strong>r sozialistischen Agitatoren.<br />
1 Vgl. Schäffle, Die Quintessenz <strong>de</strong>s Sozialismus, 18. Aufl., Gotha 1919, S. 30 f.<br />
2 Vgl. Degenfeld-Schonburg, Die Motive <strong>de</strong>s volkswirtschaftlichen Han<strong>de</strong>lns und <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utsche Marxismus, Tübingen 1920, S. 80 ff.<br />
3 Vgl. Mill, Principles, a. a. O., S. 126 f.; inwieweit Mill diese Gedanken von an<strong>de</strong>ren<br />
übernommen hat, kann hier nicht untersucht wer<strong>de</strong>n. Zumin<strong>de</strong>st ihre weite Verbreitung<br />
verdanken sie <strong>de</strong>r trefflichen Darstellung, die ihnen Mill in seinem viel gelesenen Werk<br />
gegeben hat.
163<br />
Ein Haupteinwand, <strong>de</strong>r gegen die Verwirklichung <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
I<strong>de</strong>en gemacht wer<strong>de</strong>, meint Mill, sei <strong>de</strong>r, daß im sozialistischen<br />
Gemeinwesen je<strong>de</strong>rmann bestrebt sein wer<strong>de</strong>, sich <strong>de</strong>r ihm auferlegten<br />
Arbeitsaufgabe möglichst zu entziehen. Diejenigen, die diesen Einwurf<br />
machen, hätten aber nicht bedacht, in wie hohem Maße die gleichen<br />
Schwierigkeiten schon bei <strong>de</strong>m System bestehen, in <strong>de</strong>m neun Zehntel <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Geschäfte gegenwärtig besorgt wer<strong>de</strong>n. Der Einwand<br />
nehme an, daß gute und wirksame Arbeit nur von solchen Arbeitern zu<br />
haben sei, die die Früchte ihrer Bemühungen für sich beziehen können.<br />
Dies sei aber in <strong>de</strong>r gegenwärtigen Gesellschaftsordnung nur bei einem<br />
kleinen Teile aller Arbeit <strong>de</strong>r Fall. Taglohn und feste Bezüge seien die<br />
herrschen<strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>r Vergütung. Die Arbeit wer<strong>de</strong> von Leuten<br />
besorgt, die weniger persönliches Interesse an ihrer Ausführung haben als<br />
die Mitglie<strong>de</strong>r eines sozialistischen Gemeinwesens, da sie nicht wie diese<br />
für ein Unternehmen arbeiten, <strong>de</strong>ssen Teilhaber sie selbst sind. In <strong>de</strong>r<br />
Mehrzahl <strong>de</strong>r Fälle wer<strong>de</strong>n sie nicht einmal unmittelbar von solchen, die<br />
ein eigenes Interesse mit <strong>de</strong>m Ertrag <strong>de</strong>s Unternehmens verknüpft,<br />
überwacht und geleitet. Auch diese leiten<strong>de</strong> und geistige Tätigkeit wer<strong>de</strong><br />
von im Zeitlohn stehen<strong>de</strong>n Angestellten besorgt. Man könne zugeben, daß<br />
die Arbeit ergiebiger sei bei einem System, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ganze Ertrag o<strong>de</strong>r<br />
ein großer Teil <strong>de</strong>s Ertrages <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Überleistung <strong>de</strong>m Arbeiter<br />
zufalle. Aber bei <strong>de</strong>m gegenwärtigen Wirtschaftssystem fehle eben dieser<br />
Antrieb. Wenn die Arbeit in einem sozialistischen Gemeinwesen weniger<br />
intensiv sein wer<strong>de</strong> als die eines auf eigenem Grund wirtschaften<strong>de</strong>n<br />
Bauern o<strong>de</strong>r eines auf eigene Rechnung arbeiten<strong>de</strong>n Handwerkers, so<br />
wer<strong>de</strong> sie wahrscheinlich ertragreicher sein als die eines Lohnarbeiters,<br />
<strong>de</strong>r überhaupt kein persönliches Interesse an <strong>de</strong>r Sache hat.<br />
Man erkennt unschwer, wo Mill’s Irrtümer ihre Wurzel haben. Es fehlt<br />
ihm, <strong>de</strong>m letzten Vertreter <strong>de</strong>r klassischen Schule <strong>de</strong>r Nationalökonomie,<br />
<strong>de</strong>r die Umwälzung <strong>de</strong>r Nationalökonomie durch die Grenznutzentheorie<br />
nicht mehr erlebt hat, die Erkenntnis <strong>de</strong>s Zusammenhanges zwischen<br />
Lohnhöhe und Grenzproduktivität <strong>de</strong>r Arbeit. Er sieht nicht, daß <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter ein Interesse daran hat, soviel zu leisten, als er kann, weil sein<br />
Einkommen von <strong>de</strong>m Werte <strong>de</strong>r Leistung abhängt, die er vollbringt. Sein<br />
noch nicht durch die Denkmetho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Nationalökonomie<br />
geschärfter Blick sieht nur das, was an <strong>de</strong>r Oberfläche vorgeht; er dringt<br />
nicht die Tiefe <strong>de</strong>r Erscheinungen. Gewiß, <strong>de</strong>r einzelne für Zeitlohn tätige
164<br />
Arbeiter hat kein Interesse, mehr zu leisten als das Min<strong>de</strong>stmaß, das er<br />
leisten muß, um die Stelle nicht zu verlieren. Doch wenn er mehr leisten<br />
kann, wenn seine Kenntnisse, Fähigkeiten und Kräfte dazu ausreichen,<br />
dann strebt er eine Stelle an, in <strong>de</strong>r mehr zu leisten ist, weil er dann sein<br />
Einkommen erhöhen kann. Es kann vorkommen, daß er aus Trägheit<br />
darauf verzichtet. Doch daran ist die Gesellschaftsordnung ohne Schuld.<br />
Sie tut alles, was sie machen kann, um je<strong>de</strong>rmann zum höchsten Fleiß<br />
anzuspornen, in<strong>de</strong>m sie je<strong>de</strong>rmann die Früchte seiner Arbeit ganz zufallen<br />
läßt. Daß die sozialistische Gesellschaftsordnung das nicht kann, das wird<br />
ihr ja gera<strong>de</strong> vorgeworfen, das ist <strong>de</strong>r große Unterschied, <strong>de</strong>r zwischen ihr<br />
und <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung besteht.<br />
Im äußersten Falle hartnäckiger Verweigerung <strong>de</strong>r Pflichterfüllung<br />
wür<strong>de</strong>, meint Mill, <strong>de</strong>m sozialistischen Gemeinwesen dasselbe Mittel zu<br />
Gebote stehen, das die kapitalistische Gesellschaftsordnung für solche<br />
Fälle bereit hat: die Unterbringung <strong>de</strong>s Arbeiters in einer Zwangsanstalt.<br />
Denn die Entlassung, die gegenwärtig das einzige Gegenmittel ist, sei in<br />
Wahrheit gar keines, wenn je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Arbeiter, <strong>de</strong>r an Stelle <strong>de</strong>s<br />
entlassenen angestellt wer<strong>de</strong>n kann, nicht besser arbeitet als sein<br />
Vorgänger. Die Befugnis, <strong>de</strong>n Arbeiter zu entlassen, gebe <strong>de</strong>m<br />
Unternehmer nur die Möglichkeit, von seinen Arbeitern <strong>de</strong>n üblichen<br />
Arbeitsaufwand (the customary amount of labour) zu erzielen; dieses<br />
übliche Maß mag unter Umstän<strong>de</strong>n sehr gering sein. Man sieht hier<br />
<strong>de</strong>utlich, wo die Fehler in Mill’s Ausführungen liegen. Er verkennt <strong>de</strong>n<br />
Umstand, daß <strong>de</strong>r Lohnsatz eben diesem üblichen Maß <strong>de</strong>r Leistung<br />
angepaßt ist, und daß <strong>de</strong>r Arbeiter, <strong>de</strong>r mehr verdienen will, mehr leisten<br />
muß. Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß überall dort, wo Zeitlohn<br />
herrscht, <strong>de</strong>r einzelne Arbeiter dann genötigt ist, sich nach einer Arbeit<br />
umzusehen, bei <strong>de</strong>r das übliche Maß <strong>de</strong>r Leistung höher ist, weil es ihm<br />
nicht möglich ist, bei Verbleiben in <strong>de</strong>r Stelle durch Mehrleistung sein<br />
Einkommen zu erhöhen. Er muß unter Umstän<strong>de</strong>n zur Akkordarbeit<br />
übergehen, einen Berufswechsel vornehmen o<strong>de</strong>r Selbst auswan<strong>de</strong>rn. So<br />
sind aus jenen europäischen Län<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>nen das lan<strong>de</strong>sübliche Maß <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsintensität niedriger ist, Millionen nach Westeuropa o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>n<br />
Vereinigten Staaten ausgewan<strong>de</strong>rt, wo sie mehr arbeiten müssen, aber<br />
auch mehr verdienen. Die schlechteren Arbeiter blieben zurück und<br />
begnügen sich hier bei niedrigerer Leistung mit niedrigeren Löhnen.<br />
Hält man sich dies vor Augen, dann sieht man gleich, was es
165<br />
für eine Bewandtnis damit hat, daß in <strong>de</strong>r Gegenwart auch die beaufsichtigen<strong>de</strong><br />
und leiten<strong>de</strong> Tätigkeit von Angestellten besorgt wird. Auch<br />
diese Kräfte wer<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m Werte ihrer Leistung bezahlt; sie müssen<br />
soviel leisten, als sie nur können, wenn sie ihr Einkommen so hoch als<br />
möglich steigern wollen. Man kann und muß ihnen die Befugnis, namens<br />
<strong>de</strong>s Unternehmers die Arbeiter anzustellen und zu entlassen, übertragen,<br />
ohne befürchten zu müssen, daß sie damit einen Mißbrauch treiben. Sie<br />
erfüllen die soziale Aufgabe, die ihnen obliegt, <strong>de</strong>m Arbeiter nur soviel<br />
Lohn zukommen zu lassen, als seine Leistung wert ist, ohne sich durch<br />
irgendwelche Nebenrücksicht beeinflussen zu lassen. 1 Über <strong>de</strong>n Erfolg<br />
ihres Han<strong>de</strong>lns kann man sich auf Grund <strong>de</strong>r exakten Wirtschaftsrechnung<br />
ein genaues Bild machen. Durch dieses zweite Moment unterschei<strong>de</strong>t sich<br />
ihr Tun von je<strong>de</strong>r Kontrolle, die im sozialistischen Gemeinwesen geübt<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Sie wür<strong>de</strong>n sich selbst schädigen, wenn sie etwa zur<br />
Befriedigung von Rachegelüsten einen Arbeiter schlechter behan<strong>de</strong>ln<br />
wollten als er es verdient. (Natürlich ist hier „verdienen“ nicht in<br />
irgen<strong>de</strong>inem moralischen Sinne gemeint.) Die sozialistische Lehre sieht in<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Unternehmer und <strong>de</strong>n von ihm eingesetzten Werkleitern<br />
zustehen<strong>de</strong>n Befugnis, die Arbeiter zu entlassen und ihren Lohn<br />
festzusetzen, eine Macht, die Privaten einzuräumen be<strong>de</strong>nklich sei. Sie<br />
übersieht, daß <strong>de</strong>r Unternehmer in <strong>de</strong>r Ausübung dieser Befugnis nicht<br />
frei ist, daß er aus Willkür we<strong>de</strong>r entlassen noch schlecht behan<strong>de</strong>ln darf,<br />
weil das Ergebnis ihn schädigen wür<strong>de</strong>. In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Unternehmer bestrebt<br />
ist, die Arbeit möglichst billig einzukaufen, vollbringt er eine <strong>de</strong>r<br />
wichtigsten sozialen Aufgaben.<br />
Daß die als Lohnarbeiter tätigen Angehörigen <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>ren<br />
Volksklassen in <strong>de</strong>r gegenwärtigen Gesellschaftsordnung die übernommene<br />
Pflicht nachlässig erfüllen, sei, meint Mill, offenkundig. Aber<br />
das sei nur auf <strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>ren Stand ihrer Bildung zurückzuführen. In <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaft, in <strong>de</strong>r die Bildung allgemein sein wer<strong>de</strong>,<br />
wer<strong>de</strong>n alle Genossen ihre Pflicht gegenüber <strong>de</strong>m Gemeinwesen<br />
unzweifelhaft so eifrig erfüllen, als dies schon jetzt von <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n höheren und mittleren Klassen angehörigen Besol<strong>de</strong>ten geschehe.<br />
Man sieht, es ist immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rselbe Fehler, <strong>de</strong>n das Denken Mill’s<br />
begeht. Er sieht nicht, daß auch hier Lohn und Leistung sich <strong>de</strong>cken. Aber<br />
schließlich gibt auch Mill zu, daß es keinem Zweifel unterliege, daß im<br />
allgemeinen<br />
1 Dafür, daß <strong>de</strong>r Lohn nicht unter dieses Maß sinkt, sorgt <strong>de</strong>r Wettbewerb <strong>de</strong>r<br />
Unternehmer.
166<br />
„remuneration by fixed salaries“ bei keiner Art von Tätigkeit das höchste<br />
Maß von Eifer („the maximum of zeal“) hervorbringe. Soviel, meint er,<br />
könne man vernünftigerweise gegen die sozialistische Arbeitsverfassung<br />
einwen<strong>de</strong>n.<br />
Aber selbst daß diese Min<strong>de</strong>rwertigkeit notwendigerweise auch in<br />
einem sozialistischen Gemeinwesen fortbestehen müsse, ist nach Mill<br />
nicht ganz so sicher, wie jene annehmen, die nicht gewöhnt sind, sich in<br />
ihrem Denken von <strong>de</strong>n Verhältnissen <strong>de</strong>r Gegenwart zu befreien. Es sei<br />
nicht ausgeschlossen, daß im sozialistischen Gemeinwesen <strong>de</strong>r<br />
Gemeingeist allgemein sein wer<strong>de</strong>, daß an Stelle <strong>de</strong>r Selbstsucht<br />
uneigennützige Hingabe an das Gemeinwohl treten wer<strong>de</strong>. Und nun<br />
verfällt auch Mill in die Träumereien <strong>de</strong>r Utopisten, hält es für <strong>de</strong>nkbar,<br />
daß die öffentliche Meinung stark genug sein wer<strong>de</strong>, die einzelnen zu<br />
erhöhtem Arbeitseifer anzuspornen, daß Ehrgeiz und Eitelkeit zu<br />
wirksamen Triebfe<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n, u. dgl. m. Da ist nur noch einmal darauf<br />
hinzuweisen, daß wir keinen Anhaltspunkt haben, <strong>de</strong>r uns berechtigen<br />
wür<strong>de</strong> anzunehmen, die menschliche Natur wer<strong>de</strong> im sozialistischen<br />
Gemeinwesen eine an<strong>de</strong>re sein als sie gegenwärtig ist. Und nichts spricht<br />
dafür, daß Belohnungen, bestehen sie nun in Auszeichnungen, materiellen<br />
Gaben o<strong>de</strong>r bloß in <strong>de</strong>r ehren<strong>de</strong>n Anerkennung durch die Mitbürger, die<br />
Arbeiter zu mehr veranlassen können, als zur formalen Erfüllung <strong>de</strong>r an<br />
sie geknüpften Bedingnisse. Nichts kann eben <strong>de</strong>n Antrieb zur Überwindung<br />
<strong>de</strong>s Arbeitslei<strong>de</strong>s ersetzen, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Bezug <strong>de</strong>s vollen Wertes<br />
<strong>de</strong>r Arbeit liegt.<br />
Viele Sozialisten meinen freilich diesem Einwand mit <strong>de</strong>m Hinweis<br />
auf jene Arbeit begegnen zu können, die schon jetzt o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
Vergangenheit ohne <strong>de</strong>n Anreiz, <strong>de</strong>r im Lohn liegt, geleistet wur<strong>de</strong>. Sie<br />
nennen <strong>de</strong>n Forscher und <strong>de</strong>n Künstler, die sich unermüdlich mühen, <strong>de</strong>n<br />
Arzt, <strong>de</strong>r sich am Bette <strong>de</strong>s Kranken aufopfert, <strong>de</strong>n Soldaten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Hel<strong>de</strong>ntod stirbt, <strong>de</strong>n Politiker, <strong>de</strong>r seinem I<strong>de</strong>al alles darbringt. Aber <strong>de</strong>r<br />
Künstler und <strong>de</strong>r Forscher fin<strong>de</strong>n ihre Befriedigung in <strong>de</strong>m Genuß, <strong>de</strong>n<br />
ihnen die Arbeit an sich gewährt, und in <strong>de</strong>r Anerkennung, die sie einmal,<br />
wenn auch vielleicht erst von <strong>de</strong>r Nachwelt, zu ernten hoffen, auch in <strong>de</strong>m<br />
Falle, daß <strong>de</strong>r materielle Erfolg ausbleiben sollte. Mit <strong>de</strong>m Arzt und mit<br />
<strong>de</strong>m Berufssoldaten steht es aber nicht an<strong>de</strong>rs als mit <strong>de</strong>n vielen an<strong>de</strong>ren<br />
Arbeitern, <strong>de</strong>ren Arbeit mit Lebensgefahr verbun<strong>de</strong>n ist. Im Angebot von<br />
Arbeitern für diese Berufe gelangt auch ihre min<strong>de</strong>re Anziehungskraft<br />
zum Ausdruck, <strong>de</strong>m entsprechend setzt sich <strong>de</strong>r
167<br />
Lohn fest. Wer aber einmal trotz dieser Gefahren mit Rücksicht auf die<br />
höhere Entlohnung und an<strong>de</strong>re Vorteile und Vorzüge sich <strong>de</strong>m Berufe<br />
gewidmet hat, kann nicht mehr <strong>de</strong>r konkreten Gefahr ausweichen, ohne<br />
sich im übrigen selbst auf das schwerste zu schädigen. Der Berufssoldat,<br />
<strong>de</strong>r feige davonläuft, <strong>de</strong>r Arzt, <strong>de</strong>r sich weigert, <strong>de</strong>n Seuchekranken zu<br />
behan<strong>de</strong>ln, gefähr<strong>de</strong>n ihre Zukunft in <strong>de</strong>m erwählten Beruf so sehr, daß es<br />
für sie kaum ein Schwanken geben kann. Daß es Ärzte gibt, die auch dort,<br />
wo es ihnen niemand übelnehmen wür<strong>de</strong>, sich zu schonen, ihre Pflicht bis<br />
zum äußersten tun, daß es Berufssoldaten gibt, die sich auch darin in<br />
Gefahr begeben, wenn niemand es ihnen nachtragen wür<strong>de</strong>, wenn sie es<br />
nicht täten, soll nicht geleugnet wer<strong>de</strong>n. Aber in diesen seltenen Fällen,<br />
<strong>de</strong>nen man noch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s gesinnungstreuen Politikers, <strong>de</strong>r für seine<br />
Überzeugung zu sterben bereit ist, zuzählen kann, erhebt sich <strong>de</strong>r einfache<br />
Mensch zum höchsten Menschentum, das nur wenigen gegeben ist, zur<br />
völligen Vereinigung von Wollen und Tat. In ausschließlicher Hingabe an<br />
ein einziges Ziel, die alles an<strong>de</strong>re Wollen, Denken und Fühlen<br />
zurückdrängt, die <strong>de</strong>n Selbsterhaltungstrieb aufhebt und unempfindlich<br />
macht gegen Schmerz und Leid, versinkt <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r solcher<br />
Selbstentäußerung fähig ist, die Welt und nichts bleibt übrig als das eine,<br />
<strong>de</strong>m er sich und sein Leben opfert. Von solchen Menschen pflegte man<br />
früher, je nach <strong>de</strong>r Wertung, die man für ihr Ziel empfand, zu sagen, daß<br />
<strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>s Herrn in sie gefahren sei o<strong>de</strong>r daß sie vom Teufel besessen<br />
seien; so unverständlich blieben ihre Beweggrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Masse.<br />
Gewiß ist, daß die Menschheit nicht aus <strong>de</strong>m tierischen Zustan<strong>de</strong><br />
emporgestiegen wäre, wenn sie nicht solche Führer gehabt hätte. Aber<br />
ebenso sicher ist, daß die Menschheit nicht aus lauter solchen Männern<br />
besteht. Das soziale Problem liegt eben darin, auch die gemeine Masse in<br />
die gesellschaftliche Arbeitsordnung als brauchbare Glie<strong>de</strong>r einzuordnen.<br />
Die sozialistischen Schriftsteller haben es <strong>de</strong>nn auch schon lange<br />
aufgegeben, ihren Scharfsinn an diesen unlösbaren Problemen weiter<br />
abzumühen. Nichts an<strong>de</strong>res weiß Kautsky uns darüber zu sagen, als daß<br />
Gewohnheit und Disziplin die Arbeiter auch weiterhin veranlassen wer<strong>de</strong>n<br />
zu arbeiten. „Das Kapital hat <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Arbeiter daran gewöhnt,<br />
tagaus tagein zu arbeiten, er hält es ohne Arbeit gar nicht lange mehr aus.<br />
Es gibt sogar Leute, die so sehr an ihre Arbeit gewöhnt sind, daß sie nicht<br />
wissen, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen, die sich unglücklich<br />
fühlen, wenn sie
168<br />
nicht arbeiten können.“ Daß man diese Gewohnheit leichter ablegen<br />
könnte als an<strong>de</strong>re Gewohnheiten, etwa als die <strong>de</strong>s Ruhens, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Essens, scheint Kautsky nicht zu befürchten. Aber er will sich doch auf<br />
diesen Antrieb allein nicht verlassen und gesteht freimütig zu „er ist <strong>de</strong>r<br />
schwächste“. Darum empfiehlt er Disziplin. Natürlich nicht die<br />
„militärische Disziplin“, nicht <strong>de</strong>n „blin<strong>de</strong>n Gehorsam gegen eine von<br />
oben eingesetzte Autorität“, son<strong>de</strong>rn die „<strong>de</strong>mokratische Disziplin, die<br />
freiwillige Unterwerfung unter eine selbst gewählte Führung“. Aber dann<br />
steigen ihm auch da Be<strong>de</strong>nken auf, die er damit zu zerstreuen sucht, daß<br />
die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen so anziehend sein wer<strong>de</strong>, „daß<br />
es ein Vergnügen wird, zu arbeiten“. Schließlich aber gesteht er, daß es<br />
auch damit zumin<strong>de</strong>st vorerst nicht gehen wird, um endlich zu <strong>de</strong>m<br />
Geständnis zu kommen, daß neben <strong>de</strong>r Anziehungskraft <strong>de</strong>r Arbeit noch<br />
eine an<strong>de</strong>re Anziehungskraft in Wirkung treten muß: „Die <strong>de</strong>s Lohnes <strong>de</strong>r<br />
Arbeit“. 1<br />
So muß <strong>de</strong>nn Kautsky selbst, wenn auch unter mannigfachen<br />
Einschränkungen und Be<strong>de</strong>nken, zum Ergebnis gelangen: Das Arbeitsleid<br />
wird nur dann überwun<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit, und nur <strong>de</strong>r<br />
Ertrag seiner eigenen Arbeit, <strong>de</strong>m Arbeiter (soweit er nicht auch<br />
Eigentümer und Unternehmer ist) zufällt. Damit wird die Möglichkeit<br />
einer sozialistischen Arbeitsordnung verneint. Denn man kann das<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln nicht aufheben, ohne auch die<br />
Entlohnung <strong>de</strong>s Arbeiters durch <strong>de</strong>n Ertrag seiner Arbeit aufzuheben.<br />
§ 4. Die Theorien <strong>de</strong>s „Teilens“ gingen von <strong>de</strong>r Annahme aus, daß es<br />
nur einer gleichmäßigen Verteilung <strong>de</strong>r Güter bedürfe, um allen<br />
Menschen, wenn auch nicht Reichtum, so doch <strong>de</strong>n Wohlstand eines<br />
auskömmlichen Daseins zu bieten. Das schien so selbstverständlich zu<br />
sein, daß man sich gar nicht erst die Mühe gab, es zu beweisen. Der ältere<br />
Sozialismus hat diese Auffassung ganz übernommen. Er erwartet schon<br />
von <strong>de</strong>r Durchführung gleicher Verteilung <strong>de</strong>s Nationaleinkommens<br />
Wohlstand für alle. Erst als die Kritik seiner Gegner ihn darauf<br />
aufmerksam gemacht hatte, daß die gleichmäßige Verteilung <strong>de</strong>s<br />
Einkommens, das <strong>de</strong>r ganzen Volkswirtschaft zufließt, die Lage <strong>de</strong>r<br />
großen Masse kaum beträchtlich zu verbessern imstan<strong>de</strong> wäre, ging er<br />
dazu über, die Behauptung aufzustellen, die kapitalistische<br />
Produktionsweise hemme die Produktivität<br />
1 Vgl. Kautsky, Die soziale Revolution, a. a. O. II., S. 15 ff.
169<br />
<strong>de</strong>r Arbeit; <strong>de</strong>r Sozialismus wer<strong>de</strong> diese Schranken beseitigen und die<br />
Produktivkräfte vervielfältigen, so daß es möglich sein wer<strong>de</strong>, je<strong>de</strong>m<br />
Genossen ein Leben in behaglichen Verhältnissen zu bieten. Ohne sich<br />
darum zu kümmern, daß es ihnen nicht gelungen war, <strong>de</strong>n Einwand <strong>de</strong>r<br />
Liberalen, die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit wer<strong>de</strong> im sozialistischen<br />
Gemeinwesen so sehr sinken, daß Not und Elend allgemein wer<strong>de</strong>n<br />
müßten, zu wi<strong>de</strong>rlegen, fingen die sozialistischen Schriftsteller an, sich in<br />
phantastischen Ausführungen über die Steigerung <strong>de</strong>r Produktivität die<br />
vom Sozialismus zu erwarten sei, zu ergehen.<br />
Kautsky weiß zwei Mittel zu nennen, durch die beim Übergange von<br />
<strong>de</strong>r kapitalistischen zur sozialistische Gesellschaftsordnung eine<br />
Steigerung <strong>de</strong>r Produktion erzielt wer<strong>de</strong>n könnte. Das eine ist die<br />
Konzentration <strong>de</strong>r Gesamtproduktion auf die vollkommensten Betriebe<br />
und die Stillegung aller übrigen weniger auf <strong>de</strong>r Höhe stehen<strong>de</strong>n<br />
Betriebe. 1 Daß dies ein Mittel zur Steigerung <strong>de</strong>r Produktion ist, kann<br />
nicht in Abre<strong>de</strong> gestellt wer<strong>de</strong>n. Aber dieses Mittel ist gera<strong>de</strong> unter <strong>de</strong>r<br />
Herrschaft <strong>de</strong>r freien Konkurrenz in bester Wirksamkeit. Die freie<br />
Konkurrenz merzt schonungslos alle min<strong>de</strong>rertragreichen Unternehmungen<br />
und Betriebe aus. Daß sie es tut, wird ihr immer wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n<br />
Betroffenen zum Vorwurf gemacht; darum gera<strong>de</strong> for<strong>de</strong>rn die<br />
schwächeren Unternehmungen staatliche Subventionen und beson<strong>de</strong>re<br />
Berücksichtigung bei öffentlichen Lieferungen, überhaupt Einschränkung<br />
<strong>de</strong>r freien Konkurrenz auf je<strong>de</strong> mögliche Weise. Daß die auf<br />
privatwirtschaftlicher Grundlage stehen<strong>de</strong>n Trusts in höchstem Maße mit<br />
diesen Mitteln zur Erzielung höherer Produktivität arbeiten, muß auch<br />
Kautsky zugeben, ja er führt sie gera<strong>de</strong>zu als Vorbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r sozialen<br />
Revolution an. Es ist mehr als fraglich, ob <strong>de</strong>r sozialistische Staat auch die<br />
gleiche Nötigung verspüren wird, solche Produktionsverbesserungen<br />
durchzuführen. Wird er nicht einen Betrieb, <strong>de</strong>r nicht mehr rentabel ist,<br />
fortführen, um nicht durch seine Auflassung lokale Nachteile<br />
hervorzurufen? Der private Unternehmer löst rücksichtslos Betriebe auf,<br />
die nicht mehr rentieren; er nötigt dadurch die Arbeiter zum Ortswechsel,<br />
mitunter auch zum Berufswechsel Das ist zweifellos für die Betroffenen<br />
zunächst schädlich, aber für die Gesamtheit ein Vorteil, da es eine<br />
billigere und bessere Versorgung <strong>de</strong>s Marktes ermöglicht. Wird <strong>de</strong>r<br />
sozialistische Staat das<br />
1 Vgl. Kautsky, Die soziale Revolution, a. a. O., II., S. 21 ff.
170<br />
auch tun? Wird er nicht gera<strong>de</strong> im Gegenteil aus politischen Rücksichten<br />
bestrebt sein, die lokale Unzufrie<strong>de</strong>nheit zu vermei<strong>de</strong>n? Bei <strong>de</strong>n<br />
österreichischen Staatsbahnen sind alle Reformen dieser Art daran<br />
gescheitert, daß man die Schädigung einzelner Orte, die aus <strong>de</strong>r<br />
Auflassung überflüssiger Direktionen, Werkstätten und Heizhäuser erfolgt<br />
wäre, zu vermei<strong>de</strong>n suchte. Selbst die Heeresverwaltung hat<br />
parlamentarische Schwierigkeiten gefun<strong>de</strong>n, wenn sie aus militärischen<br />
Rücksichten einem Orte die Garnison entziehen wollte.<br />
Auch das zweite Mittel zur Steigerung <strong>de</strong>r Produktion, das Kautsky<br />
erwähnt, „Ersparnisse <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nsten Art“, fin<strong>de</strong>t er nach seinem<br />
eigenen Geständnis bei <strong>de</strong>n heutigen Trusts bereits verwirklicht. Er nennt<br />
vor allem Ersparnisse an Materialien, Transportkosten, Inseraten und<br />
Reklamespesen. 1 Was nun die Ersparnisse an Material und am Transporte<br />
anbelangt, so zeigt die Erfahrung, daß nirgends in dieser Hinsicht so<br />
wenig sparsam verfahren wird, und daß nirgends mehr Verschwendung<br />
mit Arbeitskraft und mit Material je<strong>de</strong>r Art betrieben wird als im<br />
öffentlichen Dienste und in <strong>de</strong>n öffentlichen Betrieben. Die<br />
Privatwirtschaft dagegen sucht schon im eigenen Interesse <strong>de</strong>r Besitzer<br />
möglichst sparsam zu arbeiten.<br />
Der sozialistische Staat wird freilich alle Reklamespesen, alle Kosten<br />
für Geschäftsreisen<strong>de</strong> und für Agenten sparen. Doch es ist mehr als<br />
fraglich, ob er nicht viel mehr Personen in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Verteilungsapparates stellen wird. Wir haben im Kriege<br />
bereits die Erfahrung gemacht, daß <strong>de</strong>r sozialistische Verteilungsapparat<br />
recht schwerfällig und kostspielig sein kann. O<strong>de</strong>r sind die Kosten <strong>de</strong>r<br />
Brot-, Mehl-, Fleisch-, Zucker- und an<strong>de</strong>ren Karten wirklich geringer als<br />
die Kosten <strong>de</strong>r Inserate? Ist <strong>de</strong>r große persönliche Apparat, <strong>de</strong>r zur<br />
Ausgabe und Verwaltung dieser Rationierungsbehelfe benötigt wird,<br />
billiger als <strong>de</strong>r Aufwand an Geschäftsreisen<strong>de</strong>n und Agenten?<br />
Der Sozialismus wird die kleinen Kramlä<strong>de</strong>n beseitigen. Aber er wird<br />
an ihren Platz Warenabgabestellen setzen müssen, die nicht billiger sein<br />
wer<strong>de</strong>n. Auch die Konsumvereine haben ja nicht weniger Angestellte als<br />
<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rn organisierte Detailhan<strong>de</strong>l verwen<strong>de</strong>t, und sie könnten oft,<br />
gera<strong>de</strong> wegen ihrer hohen Spesen, die<br />
1 Ebendort S. 26.
171<br />
Konkurrenz mit <strong>de</strong>n Kaufleuten nicht aushalten, wenn sie nicht in <strong>de</strong>r<br />
Besteuerung begünstigt wären.<br />
Man sieht, auf wie schwachen Füßen die Argumentation Kantskys hier<br />
steht. Wenn er nun behauptet, „durch Anwendung dieser bei<strong>de</strong>n Mittel<br />
kann ein proletarisches Regime die Produktion sofort auf ein so hohes<br />
Niveau steigern, daß es möglich wird, die Löhne erheblich zu erhöhen und<br />
gleichzeitig die Arbeitszeit zu reduzieren“ so ist dies eine Behauptung, für<br />
die bisher keinerlei Beweis erbracht wur<strong>de</strong>. 1 Nicht besser steht es mit <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren Argumenten, die zum Beweise <strong>de</strong>r angeblichen höheren<br />
Produktivität <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaftsordnung vorgebracht zu<br />
wer<strong>de</strong>n pflegen. Wenn man z. B. darauf hinweist, daß im sozialistischen<br />
Gemeinwesen je<strong>de</strong>r Arbeitsfähige auch wer<strong>de</strong> arbeiten müssen, so gibt<br />
man sich einer argen Täuschung über die Zahl <strong>de</strong>r Müßiggänger in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaft hin.<br />
Soweit man auch Umschau halten mag, nirgends läßt sich ein triftiger<br />
Grund dafür fin<strong>de</strong>n, daß die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen<br />
produktiver sein sollte als im kapitalistischen. Es muß im Gegenteil<br />
festgestellt wer<strong>de</strong>n, daß in einer Gesellschaftsordnung, die <strong>de</strong>m Arbeiter<br />
keinen Anreiz bietet, das Arbeitsleid. zu überwin<strong>de</strong>n und sich<br />
anzustrengen, die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit wesentlich sinken müßte. Doch<br />
das Problem <strong>de</strong>r Produktivität darf nicht lediglich im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
Betrachtung <strong>de</strong>s statischen Zustan<strong>de</strong>s untersucht wer<strong>de</strong>n. Unvergleichlich<br />
wichtiger als die Frage, ob <strong>de</strong>r Übergang zum Sozialismus selbst die<br />
Produktivität steigern wer<strong>de</strong>, ist die, ob es innerhalb einer schon<br />
bestehen<strong>de</strong>n <strong>Gemeinwirtschaft</strong> Raum für die weitere Steigerung <strong>de</strong>r<br />
Produktivität, für <strong>de</strong>n wirtschaftlichen Fortschritt, geben wird. Sie führt<br />
uns zum Problem <strong>de</strong>r Dynamik.<br />
1 Man hat in Jahren <strong>de</strong>r Zwangswirtschaft oft genug von erfrorenen Kartoffeln,<br />
verfaultem Obst, verdorbenem Gemüse gehört. Ist <strong>de</strong>rgleichen früher nicht vorgekommen?<br />
Gewiß, aber in viel kleinerem Umfang. Der Händler, <strong>de</strong>ssen Obst verdarb, erlitt<br />
Vermögensverluste, die ihn für die Zukunft achtsamer machten, und wenn er nicht besser<br />
achtgab, dann mußte dies schließlich zu seinem wirtschaftlichen Untergang führen. Er<br />
schied aus <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>r Produktion aus und wur<strong>de</strong> auf einen Posten im wirtschaftlichen<br />
Leben versetzt, in <strong>de</strong>m er hinfort nicht mehr zu scha<strong>de</strong>n vermochte. An<strong>de</strong>rs im Verkehr<br />
mit staatlich bewirtschafteten Artikeln. Hier steht hinter <strong>de</strong>r Ware kein Eigeninteresse, hier<br />
wirtschaften Beamte, <strong>de</strong>ren Verantwortung so geteilt ist, daß keiner sich über ein kleines<br />
Mißgeschick son<strong>de</strong>rlich aufregt.
V.<br />
Die Einordnung <strong>de</strong>s einzelnen in die gesellschaftliche<br />
Arbeitsgemeinschaft.<br />
§ 1. Das sozialistische Gemeinwesen ist ein großer herrschaftlicher<br />
Verband, in <strong>de</strong>m befohlen und gehorcht wird. Das ist es, was die Worte<br />
„Planwirtschaft“ und „Abschaffung <strong>de</strong>r Anarchie <strong>de</strong>r Produktion“ zum<br />
Ausdrucke bringen sollen. Man kann es in seinem inneren Aufbau am<br />
besten mit einer Armee vergleichen, wie <strong>de</strong>nn auch manche Sozialisten<br />
mit Vorliebe von einer „Arbeitsarmee“ sprechen. Wie in einem<br />
Kriegsheer ist im sozialistischen Gemeinwesen alles von <strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r<br />
Oberleitung ausgehen<strong>de</strong>n Verfügungen abhängig. Je<strong>de</strong>r hat dort <strong>de</strong>n Platz<br />
einzunehmen, auf <strong>de</strong>n er gestellt wur<strong>de</strong>, und solange auf <strong>de</strong>m Platz zu<br />
verbleiben, bis er auf einen an<strong>de</strong>ren versetzt wird. Der Mensch ist dabei<br />
immer nur Objekt <strong>de</strong>r Handlungen <strong>de</strong>r Vorgesetzten. Man steigt nur auf,<br />
wenn man beför<strong>de</strong>rt wird, man sinkt, wenn man <strong>de</strong>gradiert wird. Es ist<br />
nicht notwendig, bei <strong>de</strong>r Beschreibung dieser Verhältnisse länger zu<br />
verweilen. Sie sind je<strong>de</strong>m Untertan <strong>de</strong>s Beamtenstaates ohnehin bekannt.<br />
Die Berufung zu allen Stellungen soll nach <strong>de</strong>r persönlichen Eignung<br />
erfolgen. Für je<strong>de</strong> Stelle soll <strong>de</strong>r genommen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r die beste<br />
Eignung besitzt, vorausgesetzt, daß er nicht für eine wichtigere Stelle<br />
dringen<strong>de</strong>r benötigt wird. So wollen es die Grundregeln aller systematisch<br />
ausgebauten Herrschaftsorganisationeu, <strong>de</strong>s chinesischen Mandarintums<br />
sowohl wie <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Bureaukratie. Das erste Problem, das bei <strong>de</strong>r<br />
Durchführung dieses Grundsatzes zu lösen ist, ist die Bestellung <strong>de</strong>s<br />
obersten Organs. Für seine Lösung gibt es nur eine Möglichkeit, die<br />
charismatische, wenn auch zwei Wege zu ihr hinführen: <strong>de</strong>r<br />
monarchisch-oligarchische und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratische. Der o<strong>de</strong>r die obersten<br />
Leiter sind durch die Gna<strong>de</strong>, die von <strong>de</strong>m göttlichen Wesen auf sie<br />
herabströmt, auserkoren; sie besitzen überirdische Kraft und Fähigkeit, die<br />
sie über die an<strong>de</strong>ren Sterblichen hinaus erheben. Sich gegen sie<br />
aufzulehnen, hieße nicht nur die irdische Ordnung stören, son<strong>de</strong>rn<br />
zugleich auch die ewigen göttlichen Gebote mißachten. Das ist <strong>de</strong>r<br />
Grundgedanke <strong>de</strong>r Theokratien, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Priesterschaft verbün<strong>de</strong>ten<br />
Aristokratien und <strong>de</strong>s Königtums „<strong>de</strong>r Gesalbten Gottes“. Das ist aber<br />
ebenso auch die I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>s Gewaltregimes <strong>de</strong>r Bolschewiken in<br />
Rußland. Von
173<br />
<strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung zur Erfüllung einer beson<strong>de</strong>rs hehren<br />
Aufgabe berufen, tritt <strong>de</strong>r bolschewistische Flügel <strong>de</strong>s Proletariats als<br />
Repräsentant <strong>de</strong>r Menschheit, als Vollstrecker <strong>de</strong>r Notwendigkeit, als<br />
Vollen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Weltenplans auf. Wi<strong>de</strong>rstand gegen ihn ist das größte aller<br />
Verbrechen; ihm selbst aber sind im Kampfe gegen seine Wi<strong>de</strong>rsacher alle<br />
Mittel erlaubt. Es ist, in neuem Gewan<strong>de</strong>, die alte aristokratischtheokratische<br />
I<strong>de</strong>ologie. 1<br />
Der an<strong>de</strong>re Weg ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokratische. Die Demokratie ruft überall die<br />
Mehrheitsentscheidung an. An die Spitze <strong>de</strong>s Gemeinwesens hat <strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r<br />
haben die durch Mehrzahl <strong>de</strong>r Stimmen Berufenen zu treten. Auch diese<br />
Theorie ist wie jene an<strong>de</strong>re charismatisch, nur daß die Gna<strong>de</strong> kein Vorzug<br />
eines einzigen o<strong>de</strong>r einiger weniger ist. Sie ruht auf allen; Volkesstimme<br />
ist Gottesstimme. Im Sonnenstaat <strong>de</strong>s Tommaso Campanella tritt dies<br />
beson<strong>de</strong>rs klar zutage. Der Regent, <strong>de</strong>n die Volksversammlung wählt, ist<br />
zugleich Oberpriester, und sein Name ist „Hoh“, das ist Metaphysik. 2 Die<br />
Demokratie wird in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>s Herrschaftlichen Verban<strong>de</strong>s nicht<br />
nach ihren gesellschaftsdynamischen Funktionen gewertet, son<strong>de</strong>rn als<br />
Mittel zur Erkenntnis <strong>de</strong>s Absoluten. 3<br />
Nach <strong>de</strong>r charismatischen Anschauung überträgt das oberste Organ die<br />
ihm zuteil gewor<strong>de</strong>ne Gna<strong>de</strong> durch die Amtsverleihung an alle von ihm<br />
Abhängigen. Der gewöhnliche Sterbliche wird durch seine Bestellung zur<br />
Amtsperson über die Masse emporgehoben; er gilt nun mehr als die<br />
an<strong>de</strong>ren. Sein Wert steigert sich noch beson<strong>de</strong>rs, wenn er im Dienste ist.<br />
An seiner Befähigung und an seiner Würdigkeit zur Bekleidung <strong>de</strong>s<br />
Amtes ist kein Zweifel erlaubt. Das Amt macht <strong>de</strong>n Mann.<br />
Alle diese Theorien sind, von ihrem apologetischen Werte abgesehen,<br />
rein formal. Sie sagen nichts darüber, wie die Berufung zur höchsten<br />
Macht wirklich erfolgt. Sie wissen nichts davon, ob die Dynasten und<br />
Aristokraten als glückbegünstigte Krieger zur Herrschaft gelangt sind. Sie<br />
geben keine Auskunft über <strong>de</strong>n Mechanismus <strong>de</strong>r Parteibildung, die <strong>de</strong>n<br />
Führer <strong>de</strong>r Demokratie aus Ru<strong>de</strong>r bringt. Sie wissen nichts von <strong>de</strong>n<br />
Einrichtungen, die <strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>r obersten Gewalt trifft, um die<br />
Amtsbewerber auszusieben.<br />
1 Vgl. Kelsen, Staat und Sozialismus, a. a. O., S. 125.<br />
2 Vgl. Georg Adler, Geschichte <strong>de</strong>s Sozialismus und Kommunismus, Leipzig 1899, S.<br />
185 f.<br />
3 Über die gesellschaftsdynamischen Funktionen <strong>de</strong>r Demokratie vgl. oben S. 53 ff.
174<br />
Beson<strong>de</strong>re Einrichtungen müssen nämlich dafür getroffen wer<strong>de</strong>n, weil<br />
nur ein allwissen<strong>de</strong>r Herrscher ohne sie auszukommen vermöchte. Da er<br />
sich nicht selbst ein Urteil über die Befähigung je<strong>de</strong>s einzelnen zu bil<strong>de</strong>n<br />
vermag, muß er zumin<strong>de</strong>st die Bestellung <strong>de</strong>r untergeordneten Organe<br />
seinen Gehilfen überlassen. Um <strong>de</strong>ren Machtbefugnis nicht zur Willkür<br />
ausarten zu lassen, müssen ihnen bestimmte Schranken gezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
So kommt es schließlich nicht mehr auf die wirkliche Befähigung an,<br />
son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>n formalen Nachweis <strong>de</strong>r Befähigung durch Prüfungen,<br />
Zurücklegung bestimmter Schulen, Verbringen einer gewissen Anzahl<br />
von Jahren in untergeordneter Stellung u. dgl. m. Über die<br />
Mangelhaftigkeit dieser Metho<strong>de</strong> besteht nur eine Meinung. Zur guten<br />
Versehung von Geschäften sind an<strong>de</strong>re Eigenschaften erfor<strong>de</strong>rlich als zur<br />
erfolgreichen Ablegung einer Prüfung, mag diese auch einen Stoff<br />
umfassen, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Amtstätigkeit in einem gewissen Zusammenhang<br />
steht. Wer sich auf einem untergeordneten Posten bewährt hat, ist darum<br />
noch lange nicht für <strong>de</strong>n höheren geeignet; es ist nicht wahr, daß sich das<br />
Befehlen am besten durch Gehorchen erlernt. Auch das Alter kann die<br />
persönlichen Fähigkeiten nicht ersetzen. Kurz, das System ist mangelhaft.<br />
Zu seiner Rechtfertigung kann man eben nur anführen, daß man an seine<br />
Stelle nichts Besseres zu setzen weiß.<br />
In <strong>de</strong>r jüngsten Zeit geht man daran, die Probleme <strong>de</strong>r Berufseignung<br />
mit <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r experimentellen Psychologie und Physiologie zu<br />
bearbeiten. Manche versprechen sich davon Ergebnisse, die <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus sehr zustatten kommen könnten. Es ist kein Zweifel, daß im<br />
sozialistischen Gemeinwesen etwas, das <strong>de</strong>n ärztlichen<br />
Tauglichkeitsprüfungen im militärischen Dienstbetriebe entspricht, in<br />
großem Maßstabe und mit verfeinerten Metho<strong>de</strong>n wird durchgeführt<br />
wer<strong>de</strong>n müssen. Man wird jene, die körperliche Mängel vorschützen, um<br />
sich unangenehmen o<strong>de</strong>r schweren Arbeiten zu entziehen, ebenso<br />
untersuchen müssen, wie jene, die sich zu angenehmeren Arbeiten<br />
drängen, <strong>de</strong>nen sie nicht gewachsen sind. Daß es aber möglich sein sollte,<br />
mit diesen Metho<strong>de</strong>n mehr zu leisten, als eine noch immer recht weit<br />
gezogene Grenze <strong>de</strong>r gröbsten Willkür <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong>n zu ziehen, wer<strong>de</strong>n<br />
selbst ihre wärmsten Fürsprecher wohl nicht zu behaupten wagen. Für alle<br />
jene Arbeitsgebiete, auf <strong>de</strong>nen mehr verlangt wird als bloße Muskelkraft<br />
und gute Entwicklung einzelner Sinne, sind sie überhaupt nicht<br />
anwendbar.<br />
§ 2. Die sozialistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft von
175<br />
Beamten. Das bestimmt <strong>de</strong>n Stil <strong>de</strong>s Lebens, <strong>de</strong>r in ihr herrscht, und die<br />
Denkungsart ihrer Mitglie<strong>de</strong>r. Leute, die auf Beför<strong>de</strong>rung warten, die stets<br />
ein „Oben“ über sich haben, zu <strong>de</strong>m sie ängstlich aufschauen, weil sie von<br />
ihm abhängen, Leute, <strong>de</strong>nen das Verständnis für <strong>de</strong>n Zusammenhang, <strong>de</strong>r<br />
zwischen ihrer Bedürfnisbefriedigung und <strong>de</strong>r Güterproduktion besteht,<br />
abgeht, weil sie im Genusse „fester Bezüge“ stehen. Man hat diesen<br />
Typus Mensch in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten allenthalben in Europa,<br />
beson<strong>de</strong>rs aber in Deutschland entstehen sehen. Der sozialpsychologische<br />
Habitus unserer Zeit wird von ihm bestimmt.<br />
Das sozialistische Gemeinwesen kennt nicht die Freiheit <strong>de</strong>r<br />
Berufswahl. Je<strong>de</strong>r hat das zu tun, was ihm aufgetragen wird, und dorthin<br />
zu gehen, wohin er geschickt wird. An<strong>de</strong>rs ist es nicht <strong>de</strong>nkbar. Welche<br />
Folgen das für die Entwicklung <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit im<br />
allgemeinen nach sich ziehen muß, wird später in an<strong>de</strong>rem<br />
Zusammenhang zu erörtern sein. Hier soll zunächst die Stellung<br />
besprochen wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Kunst, <strong>de</strong>r Wissenschaft, <strong>de</strong>r Literatur und <strong>de</strong>r<br />
Presse im sozialistischen Gemeinwesen zukommen wird.<br />
Der russische und <strong>de</strong>r ungarische Bolschewismus haben je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r von<br />
<strong>de</strong>n amtlich dafür bestellten Richtern als Künstler, Forscher o<strong>de</strong>r<br />
Schriftsteller anerkannt wur<strong>de</strong>, von <strong>de</strong>r allgemeinen Arbeitspflicht befreit,<br />
mit <strong>de</strong>n erfor<strong>de</strong>rlichen Arbeitsbehelfen versehen und mit einem Gehalt<br />
bedacht, während alle nichtanerkannten <strong>de</strong>r allgemeinen Arbeitspflicht<br />
unterworfen blieben und keine Behelfe zur Ausübung <strong>de</strong>r künstlerischen<br />
o<strong>de</strong>r wissenschaftlichen Tätigkeit beigestellt erhielten. Die Presse wur<strong>de</strong><br />
verstaatlicht.<br />
Das ist die einfachste Lösung <strong>de</strong>s Problems und je<strong>de</strong>nfalls die einzige,<br />
die <strong>de</strong>m ganzen Aufbau <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens entspricht. Das<br />
Beamtentum wird auf das Gebiet <strong>de</strong>r geistigen Produktion ausge<strong>de</strong>hnt.<br />
Wer <strong>de</strong>n Machthabern nicht gefällt, darf nicht malen, meißeln, dirigieren,<br />
<strong>de</strong>ssen Werke wer<strong>de</strong>n nicht gedruckt und nicht aufgeführt. Daß die<br />
Entscheidung darüber nicht im freien Ermessen <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung<br />
liegt, son<strong>de</strong>rn an das Gutachten eines Sachverständigenkollegiums<br />
gebun<strong>de</strong>n ist, än<strong>de</strong>rt nichts an <strong>de</strong>r Sache. Im Gegenteil, man wird zugeben<br />
müssen, daß solche Kollegien, die sich naturgemäß aus <strong>de</strong>n Älteren und<br />
Angeseheneren zusammensetzen, aus jenen, die schon anerkannt und<br />
geschätzt sind, noch weniger als Laien geeignet sind, das Aufkommen<br />
jüngerer Talente zu för<strong>de</strong>rn, die in ihrem Wollen und in ihrer Auffassung<br />
von <strong>de</strong>n
176<br />
Alten abweichen und sie in ihrem Können vielleicht übertreffen. Aber<br />
auch wenn man das ganze Volk zur Entscheidung mit berufen sollte,<br />
wür<strong>de</strong> man das Aufkommen selbständiger Naturen, die sich gegen die<br />
überkommene Kunstweise und gegen überlieferte Meinungen auflehnen,<br />
nicht erleichtern. Mit solchen Metho<strong>de</strong>n züchtet man nur das<br />
Epigonentum.<br />
In Cabets Ikarien wer<strong>de</strong>n nur die Bücher gedruckt, die <strong>de</strong>r Republik<br />
gefallen (les ouvrages préférés). Die Bücher aus <strong>de</strong>r vorsozialistischen<br />
Zeit läßt die Republik einer Durchsicht unterziehen; die halbwegs<br />
brauchbaren wer<strong>de</strong>n umgearbeitet, die an<strong>de</strong>ren, die man als gefährlich<br />
o<strong>de</strong>r unnütz ansieht, verbrannt. Den Einwand, daß das nichts an<strong>de</strong>res sei,<br />
als was Omar durch die Einäscherung <strong>de</strong>r Alexandrinischen Bibliothek<br />
getan habe, hält Cabet für ganz unstichhaltig. Denn „nous faisons en<br />
faveur <strong>de</strong> l’humanité ce que ces oppresseurs faisaient contre elle: nous<br />
avons fait du feu pour brûler les méchants livres, tandis que <strong>de</strong>s brigands<br />
ou <strong>de</strong>s fanatiques allumaient les bûchers pour brûler d’innoceuts<br />
hérétiques“. 1 Von diesem Ausgangspunkte kann man freilich niemals zum<br />
Verständnis <strong>de</strong>s Toleranzproblems gelangen. Je<strong>de</strong>rmann - frivole<br />
Opportunisten ausgenommen - ist von <strong>de</strong>r Richtigkeit seiner eigenen<br />
Überzeugung durchdrungen. Wenn dieses Vertrauen allein schon<br />
ausreichen sollte, <strong>de</strong>n Grundsatz <strong>de</strong>r Unduldsamkeit zu erweisen, dann<br />
hätten alle recht, die sie for<strong>de</strong>rn, und die An<strong>de</strong>rs<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n verfolgen<br />
wollen. 2 Dann bleibt die For<strong>de</strong>rung nach Toleranz immer nur ein Vorrecht<br />
<strong>de</strong>r Schwachen, und mit <strong>de</strong>r Stärke, die es ermöglicht, Min<strong>de</strong>rheiten zu<br />
unterdrücken, kommt auch die Intoleranz. Doch dann gibt es eben<br />
zwischen <strong>de</strong>n Menschen nur Krieg und Feindschaft, dann ist friedliches<br />
gesellschaftliches Zusammenwirken nicht<br />
1<br />
Vgl. Tugan-Baranowsky, Der mo<strong>de</strong>rne Sozialismus in seiner geschichtlichen<br />
Entwicklung, Dres<strong>de</strong>n 1908, S. 124 f.<br />
2 Luther for<strong>de</strong>rte die Fürsten seiner Partei auf, Klosterwesen und Messe nicht länger zu<br />
dul<strong>de</strong>n. Es wäre, meint er, unangebracht, darauf zu antworten, da Kaiser Karl von <strong>de</strong>r<br />
Richtigkeit <strong>de</strong>r papistischen Lehre überzeugt sei, sei es wohl von seinem Standpunkt billig,<br />
die Lutherische Lehre als Ketzerei zu vertilgen. Denn wir wissen, „daß er <strong>de</strong>s nicht gewiß<br />
ist, noch gewiß sein kann, weil wir wissen, daß er irret und wi<strong>de</strong>r das Evangelium streitet.<br />
Denn wir sind nicht schuldig, zu glauben, daß er gewiß sei, weil er ohne Gottes Wort und<br />
wir mit Gottes Wort fahren; son<strong>de</strong>rn er ist schuldig, daß er Gottes Wort erkenne und gleich<br />
wie wir mit aller Kraft for<strong>de</strong>re.“ Vgl. Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und<br />
Be<strong>de</strong>nken, herg. v. <strong>de</strong> Wette, IV. Teil, Berlin 1827, S. 93 f.; Paulus, Protestantismus und<br />
Toleranz im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt, Freiburg 1911, S. 23.
177<br />
möglich. Weil sie Frie<strong>de</strong>n will, for<strong>de</strong>rt die liberale Politik Duldsamkeit<br />
gegen je<strong>de</strong> frem<strong>de</strong> Meinung.<br />
Im kapitalistischen Gemeinwesen stehen <strong>de</strong>m Künstler und <strong>de</strong>m<br />
Forscher verschie<strong>de</strong>ne Wege offen. Sie können, wenn sie reich sind, frei<br />
ihren Zielen zustreben, sie können reiche Mäzene fin<strong>de</strong>n, sie können auch<br />
als öffentliche Beamte wirken. Sie können aber auch versuchen, von <strong>de</strong>m<br />
Ertrag ihrer schöpferischen Arbeit selbst zu leben. Je<strong>de</strong>r dieser Wege hat<br />
seine Gefahren für <strong>de</strong>n Gehalt <strong>de</strong>s Schaffens; die meisten bergen die<br />
bei<strong>de</strong>n letztgenannten. Es kann geschehen, daß <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Menschheit<br />
neue Werte bringt o<strong>de</strong>r bringen könnte, in Not und Elend verkommt.<br />
Doch es gibt keine Möglichkeit, <strong>de</strong>m wirksam vorzubauen. Der<br />
schöpferische Geist ist ein Neuerer, er muß sich durchringen und<br />
durchsetzen, muß das Alte zertrümmern und Neues an seine Stelle setzen.<br />
Es ist nicht daran zu <strong>de</strong>nken, daß ihm diese Last abgenommen wer<strong>de</strong>n<br />
könnte; er wäre kein Bahnbrecher, wenn er es geschehen ließe. Man kann<br />
<strong>de</strong>n Fortschritt nicht organisieren. 1 Es ist nicht schwer, dafür Sorge zu<br />
tragen, daß das Genie, das sein Werk vollbracht hat, mit <strong>de</strong>m Lorbeer<br />
gekrönt wer<strong>de</strong>, daß seine sterblichen Reste in einem Ehrengrab beigesetzt<br />
und daß seinem An<strong>de</strong>nken Standbil<strong>de</strong>r errichtet wer<strong>de</strong>n. Doch es ist<br />
unmöglich, ihm <strong>de</strong>n Weg zu ebnen, <strong>de</strong>n es zu gehen hat, um seinen Beruf<br />
zu erfüllen. Die Gesellschaftsordnung kann nichts zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />
Fortschritts tun; wenn sie <strong>de</strong>n einzelnen nur nicht in unzerreißbare Ketten<br />
legt, wenn sie um <strong>de</strong>n Kerker, in <strong>de</strong>n sie ihn sperrt, nur nicht<br />
unübersteigbare Mauern zieht, hat sie alles getan, was man von ihr<br />
erwarten kann. Das Genie wird dann schon selbst die Mittel fin<strong>de</strong>n, um<br />
sich ins Freie durchzukämpfen.<br />
Die Verstaatlichung <strong>de</strong>s geistigen Lebens, die <strong>de</strong>r Sozialismus<br />
anstreben muß, wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong>n geistigen Fortschritt unmöglich machen. Man<br />
täuscht sich vielleicht über die Wirkung dieses Systems, weil es in<br />
Rußland neuen Kunstrichtungen zur Herrschaft verholfen hat. Doch diese<br />
Neuerer waren schon da, als die Sowjets ans Ru<strong>de</strong>r kamen; sie haben sich<br />
ihnen angeschlossen, weil sie, die bisher noch nicht anerkannt waren, von<br />
<strong>de</strong>m neuen Regime För<strong>de</strong>rung<br />
1 „Es ist ein irreführen<strong>de</strong>s Wort: Man solle <strong>de</strong>n Fortschritt organisieren; das eigentlich<br />
Produktive läßt sich nicht in vorgebil<strong>de</strong>ten Formen fassen; es ge<strong>de</strong>iht nur in unbehin<strong>de</strong>rter<br />
Freiheit; die Nachtreter mögen sich dann organisieren, was man auch eine Schule bil<strong>de</strong>n<br />
nennt.“ (Spranger, Begabung und Studium, Leipzig 1917, S. 8); vgl. auch Mill, On<br />
Liberty, Third Ed., London 1864, S. 114 ff.
178<br />
erhofften. Die Frage ist die, ob es dann späteren neuen Richtungen<br />
gelingen kann, die einmal ans Ru<strong>de</strong>r Gelangten wie<strong>de</strong>r zu verdrängen.<br />
In Bebels Utopie wird nur die physische Arbeit von <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
anerkannt. Kunst und Wissenschaft wer<strong>de</strong>n in die Mußestun<strong>de</strong>n<br />
verwiesen. So wird, meint Bebel, die künftige Gesellschaft „Gelehrte und<br />
Künstler je<strong>de</strong>r Art und in ungezählter Menge besitzen“. Je<strong>de</strong>r von ihnen<br />
wird in seiner freien Zeit „nach Geschmack seinen Studien und Künsten“<br />
obliegen. 1 Bebel läßt sich dabei vom banausischen Ressentiment <strong>de</strong>s<br />
Handarbeiters gegen alles, was nicht Lastenschleppen und Kurbeldrehen<br />
ist, leiten. Er hält alle geistige Arbeit für Tän<strong>de</strong>lei. Das erhellt schon<br />
daraus, daß er sie mit <strong>de</strong>m „geselligen Umgang“ in eine Reihe stellt. 2<br />
Dennoch muß man untersuchen, ob es nicht <strong>de</strong>nkbar wäre, für die geistige<br />
Arbeit auf diese Weise jene Freiheit zu schaffen, ohne die sie nicht<br />
bestellen kann.<br />
Für alle jene künstlerische und wissenschaftliche Arbeit, die nicht ohne<br />
großen Zeitaufwand, nicht ohne Reisen, nicht ohne die Erlangung einer<br />
technischen Ausbildung und nicht ohne Zuhilfenahme eines großen<br />
Sachaufwan<strong>de</strong>s betrieben wer<strong>de</strong>n kann, ist das von vornherein<br />
ausgeschlossen. Wir wollen annehmen, daß es möglich sei, nach getaner<br />
Tagesarbeit die Abendstun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Schriftstellerei o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r musikalischen<br />
Produktion zu widmen. Wir wollen weiter annehmen, daß die<br />
Wirtschaftsleitung dieses Tun nicht durch böswilliges Dazwischentreten,<br />
etwa durch Versetzung <strong>de</strong>s schlecht angeschriebenen Autors in ein<br />
entferntes Nest unmöglich macht, daß <strong>de</strong>r Urheber eines Werkes -<br />
allenfalls mit Unterstützung von aufopfern<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n - sich soviel vom<br />
Mund abspart, daß er jene Mittel aufbringt, die die Staatsdruckerei für die<br />
Herstellung einer kleinen Auflage for<strong>de</strong>rt. Vielleicht gelingt es, auf<br />
diesem<br />
1 Vgl. Bebel, a. a. O., S. 284.<br />
2 Wie sich in Bebels Kopf das Leben im sozialistischen Gemeinwesen malt, zeigt<br />
folgen<strong>de</strong> Schil<strong>de</strong>rung: „Hier ist sie (nämlich die Frau) unter <strong>de</strong>nselben Bedingungen wie<br />
<strong>de</strong>r Mann tätig. Eben noch praktische Arbeiterin in irgen<strong>de</strong>inem Gewerbe, ist sie in <strong>de</strong>r<br />
nächsten Stun<strong>de</strong> Erzieherin, Lehrerin, Pflegerin, übt sie an einem dritten Teile <strong>de</strong>s Tages<br />
irgen<strong>de</strong>ine Kunst aus o<strong>de</strong>r pflegt eine Wissenschaft, und versieht in einem vierten Teil<br />
irgen<strong>de</strong>ine verwalten<strong>de</strong> Funktion. Sie genießt Studien, Vergnügungen und Unterhaltung<br />
mit ihresgleichen o<strong>de</strong>r mit Männern, ganz wie es ihr beliebt, und die Gelegenheit sich<br />
bietet. In <strong>de</strong>r Liebeswahl ist sie gleich wie <strong>de</strong>r Mann frei und ungehin<strong>de</strong>rt. Sie freit o<strong>de</strong>r<br />
läßt sich freien“ usw. (Bebel, a. a. O., S. 342).
179<br />
Wege auch eine kleine unabhängige periodische Publikation zu schaffen,<br />
vielleicht sogar Aufführungen in <strong>de</strong>n Theatern zu ermöglichen. 1 Aber all<br />
das hätte gegen die überlegene Konkurrenz <strong>de</strong>r durch das Gemeinwesen<br />
auf je<strong>de</strong> Weise geför<strong>de</strong>rten offiziellen Richtung zu kämpfen und könnte<br />
je<strong>de</strong>rzeit durch die Wirtschaftsleitung unterbun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Denn man<br />
darf nicht vergessen, daß bei <strong>de</strong>r Unmöglichkeit, die durch <strong>de</strong>n Druck und<br />
Vertrieb eines Werkes erwachsen<strong>de</strong>n Kosten zu berechnen, <strong>de</strong>m freien<br />
Ermessen <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung in <strong>de</strong>r Regelung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Herausgeber zu<br />
stellen<strong>de</strong>n geschäftlichen Bedingungen vollkommen freier Spielraum<br />
gelassen wäre. Keine Zensur, kein Kaiser und kein Pabst haben je die<br />
Macht zur Unterdrückung <strong>de</strong>r geistigen Freiheit gehabt, die ein<br />
sozialistisches Gemeinwesen haben wür<strong>de</strong>.<br />
§ 3. Man pflegt die Stellung, die <strong>de</strong>m einzelnen im Rahmen eines<br />
sozialistischen Staatswesens zukommt, in <strong>de</strong>r Weise zu umschreiben, daß<br />
man sagt, es wer<strong>de</strong> dort die Freiheit fehlen; das sozialistische<br />
Gemeinwesen wer<strong>de</strong> ein Zuchthausstaat sein. In diesem Ausdruck ist ein<br />
Werturteil enthalten, <strong>de</strong>ssen Überprüfung nicht Aufgabe <strong>de</strong>s<br />
wissenschaftlichen Denkens ist. Ob die Freiheit ein Gut o<strong>de</strong>r ein Übel<br />
o<strong>de</strong>r ein Adiaphoron ist, das zu entschei<strong>de</strong>n ist die Wissenschaft nicht<br />
berufen. Sie kann nur fragen, was ist Freiheit, und wo ist Freiheit.<br />
Der Begriff <strong>de</strong>r Freiheit ist ein Begriff <strong>de</strong>s soziologischen Denkens. Es<br />
ist wi<strong>de</strong>rsinnig, ihn auf Verhältnisse, die außerhalb <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Verban<strong>de</strong>s liegen, überhaupt anzuwen<strong>de</strong>n. Das beweisen am besten die<br />
Mißverständnisse, von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r berühmte Streit um die Willensfreiheit<br />
voll ist. Das Leben <strong>de</strong>s Menschen ist von natürlichen Bedingungen<br />
abhängig, die zu än<strong>de</strong>rn ihm keine Macht gegeben ist. Er wird, lebt und<br />
stirbt unter diesen Bedingungen; er muß sich ihnen anpassen, weil sie sich<br />
nicht ihm unterordnen. Alle Handlungen, die er setzt, wirken sich unter<br />
diesen Bedingungen aus. Wenn er einen Stein schleu<strong>de</strong>rt, dann beschreibt<br />
<strong>de</strong>r die Bahn, die die Natur ihm vorschreibt; wenn er Speise und Trank zu<br />
sich nimmt, dann wird daraus in seinem Leib das, was die Natur daraus<br />
macht. In <strong>de</strong>r Vorstellung von <strong>de</strong>r unbeirrbaren und unbeeinflußbaren<br />
Gesetzlichkeit alles Naturgeschehens suchen wir uns diese Abhängigkeit<br />
<strong>de</strong>s Weltenlaufs von bestimmten, zwischen <strong>de</strong>n Gegebenheiten<br />
bestehen<strong>de</strong>n funktionellen Beziehungen anschaulich zu<br />
1 Das entspricht ungefähr <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en Bellamys (Ein Rückblick, Übers. von Hoops,<br />
Ausgabe von Meyers Volksbüchern, S. 130 ff .).
180<br />
machen. Der Mensch lebt unter <strong>de</strong>r Herrschaft dieser Gesetze, er ist von<br />
ihnen ganz umfangen. Sein Wollen und sein Han<strong>de</strong>ln ist überhaupt nur in<br />
ihrem Rahmen <strong>de</strong>nkbar. Der Natur gegenüber und in <strong>de</strong>r Natur gibt es<br />
keine Freiheit.<br />
Auch das gesellschaftliche Leben ist ein Stück Natur, und auch in ihm<br />
walten die unbeirrbaren Naturgesetze. Sie bedingen das menschliche<br />
Han<strong>de</strong>ln und <strong>de</strong>ssen Erfolg. Wenn sich an die Entstehung <strong>de</strong>r Handlungen<br />
aus <strong>de</strong>m Wollen und an ihre Auswirkung in <strong>de</strong>r Gesellschaft eine<br />
Vorstellung von Freiheit knüpft, so geschieht dies nicht in <strong>de</strong>r Hinsicht,<br />
daß dabei an eine Losgelöstheit dieser Handlungen von <strong>de</strong>n natürlichen<br />
Bedingungen <strong>de</strong>s Weltgeschehens zu <strong>de</strong>nken wäre. Der Sinn dieser<br />
Freiheitsvorstellung ist ganz an<strong>de</strong>rs zu <strong>de</strong>uten.<br />
Wir haben es hier nicht mit <strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>r inneren Freiheit, das sich<br />
an die Entstehung <strong>de</strong>r Willensakte knüpft, zu tun, son<strong>de</strong>rn allein mit <strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>r äußeren Freiheit, das sich an die Auswirkung <strong>de</strong>r Handlungen knüpft.<br />
Je<strong>de</strong>r einzelne Mensch ist von <strong>de</strong>m Verhalten seiner Mitmenschen<br />
abhängig; ihre Handlungen wirken auf ihn in mannigfacher Weise zurück.<br />
Muß er es sich gefallen lassen, daß sie so han<strong>de</strong>ln, als ob er gar nicht auch<br />
ein Mensch mit eigenem Wollen wäre, daß sie in ihrem Han<strong>de</strong>ln<br />
unbekümmert über sein Wollen hinwegschreiten, dann fühlt er sich in<br />
einseitiger Abhängigkeit von ihnen, dann sagt er, er sei unfrei. Er muß<br />
sich, wenn er schwächer ist, <strong>de</strong>m Zwang fügen. In <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Vereinigung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns zu gemeinsamer Arbeit wird die einseitige<br />
Abhängigkeit zu einer wechselweisen. In<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r sein Leben so<br />
einrichtet, daß sein Han<strong>de</strong>ln ein Stück gesellschaftlichen Han<strong>de</strong>lns wird,<br />
ist er genötigt, es <strong>de</strong>m Wollen <strong>de</strong>r Mitmenschen anzupassen. So ist je<strong>de</strong>r<br />
vom an<strong>de</strong>ren nicht stärker abhängig als <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re von ihm selbst. Das ist<br />
es, was man unter äußerer Freiheit zu verstehen pflegt. Sie ist die<br />
Einfügung <strong>de</strong>s einzelnen in <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Notwendigkeit, auf <strong>de</strong>r einen Seite Begrenzung <strong>de</strong>r eigenen<br />
Handlungsfreiheit in Beziehung auf die übrigen, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />
Begrenzung <strong>de</strong>r Handlungsfreiheit aller übrigen in Beziehung auf mich.<br />
Ein Beispiel mag dies anschaulich machen. Der Arbeitgeber hat in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaft scheinbar große Macht über <strong>de</strong>n<br />
Arbeitnehmer. Es hängt von ihm ab, ob er einen Mann als Arbeiter<br />
einstellt, wie er ihn verwen<strong>de</strong>t und entlohnt, und ob er ihn entläßt. Doch<br />
diese Freiheit <strong>de</strong>s einen und die ihr entsprechen<strong>de</strong>
181<br />
Unfreiheit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren sind nur scheinbar. Das Verhalten <strong>de</strong>s<br />
Arbeitgebers gegenüber <strong>de</strong>m Arbeitnehmer steht im Rahmen gesellschaftlicher<br />
Auswirkung. Wenn er <strong>de</strong>n Arbeiter an<strong>de</strong>rs behan<strong>de</strong>lt als ihm<br />
nach <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Wertung seiner Leistung zukommt, dann<br />
erwachsen daraus Folgen, die er selbst zu tragen hat. Er kann wohl <strong>de</strong>n<br />
Arbeiter willkürlich schlechter behan<strong>de</strong>ln, doch für die Kosten seiner<br />
Laune muß er selbst aufkommen. Der Arbeiter ist mithin von ihm nicht<br />
an<strong>de</strong>rs abhängig als je<strong>de</strong>rmann im Rechtsstaat von seinem Nachbar<br />
abhängt, <strong>de</strong>r ihm auch nach freiem Belieben die Fenster einwerfen o<strong>de</strong>r<br />
einen Körperscha<strong>de</strong>n zufügen darf, wenn er die Folgen, die ihm selbst<br />
daraus erwachsen, auf sich nimmt.<br />
In diesem Sinne kann es streng genommen keine unbehin<strong>de</strong>rte Willkür<br />
<strong>de</strong>s gesellschaftlichen Han<strong>de</strong>lns geben. Auch <strong>de</strong>r Khan, <strong>de</strong>r scheinbar frei<br />
nach Gutdünken und Laune über das Leben eines gefangenen Fein<strong>de</strong>s<br />
verfügen kann, muß auf die Folgen seines Tuns Bedacht nehmen. Doch es<br />
gibt Gradunterschie<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>m Verhältnis, in <strong>de</strong>m die Kosten <strong>de</strong>s<br />
willkürlichen Verfahrens zu <strong>de</strong>r Befriedigung stehen, die aus ihm <strong>de</strong>m<br />
Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n erwächst. Keine Rechtsnorm kann mir Schutz gegen die<br />
wi<strong>de</strong>rrechtlichen Angriffe einer Person bieten, <strong>de</strong>ren Haß alle Folgen, die<br />
ihr selbst aus <strong>de</strong>r Verletzung meiner Rechte erwachsen, mit in Kauf<br />
nimmt. Doch schon dann, wenn diese Rechtsfolgen groß genug sind, um<br />
im allgemeinen ruhigen Verlauf <strong>de</strong>r Dinge meine Unverletzlichkeit zu<br />
sichern, fühle ich mich in einem hohen Gra<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Übelwollen<br />
meiner Mitmenschen unabhängig. Daß die Kriminalstrafen im Laufe <strong>de</strong>r<br />
Geschichte immer mil<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n konnten, ist nicht auf eine Mil<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Sitten o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>ka<strong>de</strong>nte Schwäche <strong>de</strong>r Gesetzgeber zurückzuführen,<br />
son<strong>de</strong>rn darauf, daß die Strenge <strong>de</strong>r Strafe ohne Gefährdung ihrer<br />
Präventivkraft in <strong>de</strong>m Maße herabgesetzt wer<strong>de</strong>n konnte, in <strong>de</strong>m die<br />
Rationalität im Han<strong>de</strong>ln das Ressentiment zurückgedrängt hat. Die<br />
Androhung einer kurzen Gefängnisstrafe ist heute ein wirksamerer Schutz<br />
gegen Körperverletzung als einst die Talion.<br />
Soweit die vollkommene Rationalisierung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns durch die<br />
Hilfe <strong>de</strong>r genauen Geldrechnung reicht, ist für Willkür kein Platz. Wenn<br />
man sich in <strong>de</strong>n üblichen Klagen über die Härte eines alles nach Heller<br />
und Pfennig berechnen<strong>de</strong>n Zeitalters ergeht, übersieht man in <strong>de</strong>r Regel,<br />
daß gera<strong>de</strong> in dieser Bindung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns an die in Geld errechnete<br />
Rentabilität die wirksamste
182<br />
Begrenzung <strong>de</strong>r Willkür <strong>de</strong>r Mitmenschen liegt, die im gesellschaftlichen<br />
Verband durchführbar ist. Gera<strong>de</strong> sie macht <strong>de</strong>n Unternehmer, <strong>de</strong>n<br />
Kapitalisten, <strong>de</strong>n Grundbesitzer und <strong>de</strong>n Arbeiter, kurz alle, die für<br />
frem<strong>de</strong>n Bedarf tätig sind, auf <strong>de</strong>r einen Seite, und die Verbraucher auf<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite in ihrem Tun und Lassen von <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Zusammenwirkens abhängig. Nur ein völliges<br />
Verkennen dieser Wechselseitigkeit <strong>de</strong>r Bindung konnte zum Aufwerfen<br />
<strong>de</strong>r Frage führen, ob <strong>de</strong>r Schuldner vom Gläubiger abhänge o<strong>de</strong>r dieser<br />
von jenem. In Wahrheit sind sie wechselseitig in Abhängigkeit, und nicht<br />
an<strong>de</strong>rs steht es zwischen Käufer und Verkäufer und zwischen Arbeitgeber<br />
und Arbeitnehmer. Man beklagt es, daß das Persönliche aus <strong>de</strong>m<br />
Geschäftsleben ausgeschaltet sei, und daß das Geld alle Beziehungen<br />
beherrscht. Doch das, was man hier beklagt, ist nichts an<strong>de</strong>res, als daß die<br />
Willkür, die Gunst und die Laune in jenem Teil <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Lebens, <strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n rein wirtschaftlichen zu nennen pflegen, nichts mehr<br />
zu be<strong>de</strong>uten haben, und daß hier alles nach jenen rationalen Erwägungen<br />
vor sich geht, die die gesellschaftliche Kooperation erfor<strong>de</strong>rt.<br />
Das ist die Freiheit im äußeren Leben <strong>de</strong>s Menschen, daß er<br />
unabhängig ist von <strong>de</strong>m Wohlwollen <strong>de</strong>r Mitmenschen. Diese Freiheit ist<br />
kein Urrecht <strong>de</strong>s Menschen, sie hat es im Urzustan<strong>de</strong> nicht gegeben, sie ist<br />
erst im Laufe <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung erwachsen; ihre volle<br />
Ausbildung ist ein Werk <strong>de</strong>s entwickelten Kapitalismus. Der Mensch <strong>de</strong>r<br />
vorkapitalistischen Zeit hatte über sich einen gnädigen Herrn, um <strong>de</strong>ssen<br />
Gunst er werben mußte. Der Kapitalismus kennt keine Gna<strong>de</strong> und keine<br />
Ungna<strong>de</strong>, er unterschei<strong>de</strong>t nicht mehr gestrenge Herren und gehorsame<br />
Knechte; alle Beziehungen sind sachlich und unpersönlich, sind rechenbar<br />
und vertretbar. Mit <strong>de</strong>m Rationalismus <strong>de</strong>r kapitalistischen Geldrechnung<br />
steigt die Freiheit aus <strong>de</strong>m Reich <strong>de</strong>r Träume in das <strong>de</strong>r Wirklichkeit<br />
herunter.<br />
Der von <strong>de</strong>n reinwirtschaftlichen Beziehungen an Freiheit gewöhnte<br />
Mensch will auch im übrigen Leben Freiheit. Daher geht Hand in Hand<br />
mit <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Kapitalismus das Bestreben, im Staate alle<br />
Willkür und alle persönliche Abhängigkeit auszuschalten. Subjektive<br />
Rechte <strong>de</strong>r Staatsbürger auch im öffentlichen Rechte zu erlangen, das<br />
freie Ermessen <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong>n möglichst einzuschränken, ist das Ziel <strong>de</strong>r<br />
bürgerlichen Freiheitsbewegung. Sie for<strong>de</strong>rt Recht, nicht Gna<strong>de</strong>. Und sie<br />
erkennt bald,
183<br />
daß es zur Verwirklichung dieser For<strong>de</strong>rung kein an<strong>de</strong>res Mittel gibt als<br />
stärkste Zurückdrängung <strong>de</strong>r Gewalt <strong>de</strong>s Staates über <strong>de</strong>n einzelnen, daß<br />
die Freiheit in <strong>de</strong>r Freiheit vom Staate besteht.<br />
Denn <strong>de</strong>r Staat, dieser von einer Personenmehrheit - <strong>de</strong>r Regierung -<br />
gehandhabte gesellschaftliche Zwangsapparat, ist nur soweit für die<br />
Freiheit ungefährlich, als er in seinem Han<strong>de</strong>ln an ein<strong>de</strong>utige, allgemein<br />
verbindliche Normen gebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann, o<strong>de</strong>r als er genötigt ist, die<br />
für alle auf Rentabilität hinarbeiten<strong>de</strong>n Unternehmungen verbindlichen<br />
Grundsätze zu befolgen. Jenes ist auf <strong>de</strong>n Gebieten <strong>de</strong>r Fall, auf <strong>de</strong>nen<br />
seine Tätigkeit eine richterliche ist; <strong>de</strong>r Richter ist an das Gesetz<br />
gebun<strong>de</strong>n, das seinem Ermessen nur einen engen Spielraum gibt. Dieses<br />
ist dort <strong>de</strong>r Fall, wo <strong>de</strong>r Staat im Rahmen <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft<br />
als Unternehmer auftritt, <strong>de</strong>r mit allen an<strong>de</strong>ren Unternehmern unter<br />
gleichen Bedingungen auf dasselbe Ziel, auf höchste Rentabilität,<br />
hinarbeitet. Was darüber hinausgeht, kann we<strong>de</strong>r an Gesetze gebun<strong>de</strong>n<br />
noch auf an<strong>de</strong>re Weise so beschränkt wer<strong>de</strong>n, daß die Willkür <strong>de</strong>r Organe<br />
genug begrenzt wird. Dann steht <strong>de</strong>r einzelne <strong>de</strong>n Entscheidungen <strong>de</strong>r<br />
Beamten schutzlos gegenüber. Er kann, wenn er han<strong>de</strong>lt, nicht berechnen,<br />
welche Folgen sein Han<strong>de</strong>ln für ihn haben wird, weil er nicht wissen<br />
kann, wie es bei jenen aufgenommen wer<strong>de</strong>n wird, von <strong>de</strong>nen er abhängt.<br />
Das ist die Unfreiheit.<br />
Man pflegt das Problem <strong>de</strong>r äußeren Freiheit in <strong>de</strong>r Weise zu fassen,<br />
daß man dabei an größere o<strong>de</strong>r geringere Abhängigkeit <strong>de</strong>s einzelnen von<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>nkt. 1 Doch die politische Freiheit ist noch nicht das<br />
Ganze <strong>de</strong>r Freiheit. Um frei in seinem Han<strong>de</strong>ln zu sein, genügt es nicht,<br />
daß man alles das, was an<strong>de</strong>re nicht schädigt, tun darf, ohne von <strong>de</strong>r<br />
Regierung o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r formlos arbeiten<strong>de</strong>n Repressionskraft <strong>de</strong>r Sitte<br />
gehin<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n. Man muß auch darüber hinaus in <strong>de</strong>r Lage sein,<br />
han<strong>de</strong>ln zu können, ohne im voraus nicht absehbare gesellschaftliche<br />
Folgen <strong>de</strong>r Handlung befürchten zu müssen. Und diese Freiheit verbürgt<br />
nur <strong>de</strong>r Kapitalismus mit seiner nüchternen Zurückführung aller Wechselbeziehungen<br />
auf das kalte, von allem persönlichen losgelöste Tauschprinzip<br />
<strong>de</strong>s do ut <strong>de</strong>s.<br />
Der Sozialismus pflegt das Freiheitsargument gewöhnlich damit<br />
zurückzuweisen, daß er erklärt, in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschafts-<br />
1 So formuliert es auch J. St. Mill, On Liberty, a. a. O., S. 7.
184<br />
ordnung gebe es nur für die Besitzen<strong>de</strong>n Freiheit. Der Proletarier sei<br />
unfrei, <strong>de</strong>nn er müsse arbeiten, um sein Leben zu fristen. Man kann sich<br />
keine ärgere Verkennung <strong>de</strong>s Begriffes <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>nken als diese. Daß<br />
<strong>de</strong>r Mensch arbeiten muß, wenn er mehr verzehren will als das frei in<br />
Wald und Feld herumschweifen<strong>de</strong> Tier, ist eine <strong>de</strong>r Bedingungen, die die<br />
Natur seinem Leben gesetzt hat. Daß die Besitzen<strong>de</strong>n auch ohne zu<br />
arbeiten leben können, ist ein Gewinn, <strong>de</strong>n sie aus <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Arbeitsvereinigung ziehen, ohne jemand, etwa die Nichtbesitzen<strong>de</strong>n, zu<br />
schädigen. Auch für diese bringt die Arbeitsvereinigung Gewinn durch<br />
Erhöhung <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit. Die sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung könnte die Abhängigkeit <strong>de</strong>s einzelnen von <strong>de</strong>n<br />
natürlichen Lebensbedingungen nur dadurch mil<strong>de</strong>rn, daß sie die<br />
Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit weiter steigert. Kann sie das nicht, führt sie im<br />
Gegenteil zur Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Produktivität, dann macht sie <strong>de</strong>n Menschen<br />
<strong>de</strong>r Natur gegenüber unfreier.<br />
VI.<br />
Die <strong>Gemeinwirtschaft</strong> in Bewegung.<br />
§ 1. Der statische Zustand <strong>de</strong>r Wirtschaft ist ein gedankliches<br />
Hilfsmittel <strong>de</strong>r theoretischen Spekulation. Im Leben gibt es keine statische<br />
Wirtschaft; es kann nie eine geben. Denn die Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen<br />
gewirtschaftet wird, sind beständigen Verän<strong>de</strong>rungen unterworfen, die zu<br />
hemmen außerhalb <strong>de</strong>s Bereiches menschlicher Kraft liegt.<br />
Man kann die Einflüsse, die die Wirtschaft in beständiger Bewegung<br />
erhalten, in sechs große Gruppen zusammenfassen. Zunächst und an<br />
allererster Stelle müssen die Verän<strong>de</strong>rungen, die die natürliche Umwelt<br />
mitmacht, genannt wer<strong>de</strong>n. Dazu gehören nicht nur alle großen und<br />
kleinen Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r klimatischen und sonstigen natürlichen<br />
Verhältnisse, die sich ohne je<strong>de</strong>s Zutun <strong>de</strong>s Menschen vollziehen. Man<br />
muß dazu auch jene Verän<strong>de</strong>rungen rechnen, die unter <strong>de</strong>r Einwirkung<br />
<strong>de</strong>s Menschen auf die Natur vor sich gehen, wie Erschöpfung <strong>de</strong>r<br />
Bo<strong>de</strong>nkräfte und Verbrauch von Holzbestän<strong>de</strong>n und Lagern von<br />
Mineralien. An zweiter Stelle kommen die Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Größe<br />
und in <strong>de</strong>r Zusammensetzung <strong>de</strong>r Bevölkerung, dann die Verän<strong>de</strong>rungen<br />
in <strong>de</strong>r Größe und in <strong>de</strong>r Beschaffenheit <strong>de</strong>r Kapitalgüter, dann die<br />
Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Produktionstechnik,
185<br />
dann die Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Organisation <strong>de</strong>r Arbeit<br />
und schließlich die Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Bedarfes. 1<br />
Von allen diesen Ursachen wirtschaftlicher Bewegungen ist die<br />
erstgenannte die allerwichtigste. Es mag sein - wir wollen es zunächst<br />
dahingestellt sein lassen, ob dies möglich ist - daß ein sozialistisches<br />
Gemeinwesen die Bevölkerungsbewegung und die Bedarfsbildung so<br />
regelt, daß je<strong>de</strong> Störung <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Gleichgewichtes durch diese<br />
Elemente vermie<strong>de</strong>n wird. Dann wäre es wohl auch möglich, daß je<strong>de</strong><br />
Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n übrigen Bedingungen <strong>de</strong>r Wirtschaft unterbleibt.<br />
Doch nie wird das sozialistische Gemeinwesen auf die natürlichen<br />
Bedingungen <strong>de</strong>r Wirtschaft einen Einfluß gewinnen können. Die Natur<br />
paßt sich nicht <strong>de</strong>m Menschen an, <strong>de</strong>r Mensch muß sich <strong>de</strong>r Natur<br />
anpassen. Auch das sozialistische Gemeinwesen wird <strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen<br />
<strong>de</strong>r Natur Rechnung tragen müssen; es wird sich genötigt sehen, die wirtschaftlichen<br />
Folgen großer Elementarereignisse zu berücksichtigen, und<br />
es wird <strong>de</strong>m Umstand, daß die zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Naturkräfte und<br />
Naturschätze nicht unerschöpflich sind, Rechnung tragen müssen. In <strong>de</strong>n<br />
ruhigen Gang <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft wer<strong>de</strong>n mithin von außen her<br />
Störungen eindringen. Sie wird ebensowenig statisch sein können, wie es<br />
die kapitalistische Wirtschaft sein kann.<br />
§ 2. Für die naive sozialistische Auffassung gibt es auf Er<strong>de</strong>n einfach<br />
genug Güter, damit je<strong>de</strong>r glücklich und zufrie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>. Der Mangel ist<br />
nur eine Folge verkehrter sozialer Einrichtungen, die einerseits die<br />
Entfaltung <strong>de</strong>r Produktivkraft hemmen, an<strong>de</strong>rerseits durch ungleiche<br />
Verteilung <strong>de</strong>n Armen um das zu wenig zukommen lassen, was die<br />
Reichen zu viel erhalten. 2<br />
Das Malthussche Bevölkerungsgesetz und das Gesetz vom abnehmen<strong>de</strong>n<br />
Ertrag haben diesen Illusionen ein En<strong>de</strong> bereitet. Caeteris<br />
paribus ist die Vermehrung <strong>de</strong>r Bevölkerung über ein bestimmtes Maß<br />
hinaus nicht mit einer proportionalen Zunahme <strong>de</strong>r Unterhaltsmittel<br />
verbun<strong>de</strong>n; durch das Wachstum <strong>de</strong>r Bevölkerung über diesen Punkt<br />
hinaus (absolute Übervölkerung) wird die Kopfquote <strong>de</strong>r Versorgung mit<br />
Gütern vermin<strong>de</strong>rt. Die Frage, ob dieser Punkt unter <strong>de</strong>n gegebenen<br />
Verhältnissen schon erreicht ist o<strong>de</strong>r<br />
1 Vgl. auch Clark, Essentials of Economic Theory, New York 1907, S. 131 f.<br />
2 Vgl. Bebel, a. a. O., S. 340. Bebel zitiert dabei auch die bekannten Heineschen Verse.
186<br />
nicht, ist eine Tatsachenfrage, die mit <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>s prinzipiellen<br />
Gesichtspunktes nicht vermengt wer<strong>de</strong>n darf.<br />
Die Sozialisten haben sich dieser Einsicht gegenüber verschie<strong>de</strong>n<br />
verhalten. Die einen haben sie einfach verworfen. Kaum ein zweiter<br />
Schriftsteller ist im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt mit mehr Heftigkeit bekämpft wor<strong>de</strong>n<br />
als Malthus. Die Schriften von Marx, Engels, Dühring und manchen<br />
an<strong>de</strong>ren sind voll von Beschimpfungen <strong>de</strong>s „Pfaffen“ Malthus. 1 Wi<strong>de</strong>rlegt<br />
haben sie ihn nicht. Man kann heute die Erörterungen über das<br />
Bevölkerungsgesetz als abgeschlossen betrachten. Auch das Gesetz vom<br />
abnehmen<strong>de</strong>n Ertrag wird heute nicht mehr angefochten. So erübrigt es<br />
sich, auf jene Schriftsteller einzugehen, die diese Lehre ablehnen o<strong>de</strong>r<br />
ignorieren.<br />
An<strong>de</strong>re Sozialisten wie<strong>de</strong>r glauben alle Be<strong>de</strong>nken damit zerstreuen zu<br />
können, daß sie auf die ungeheure Steigerung <strong>de</strong>r Produktivität hinweisen,<br />
die durch die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel erzielt wer<strong>de</strong>n<br />
soll. Ob tatsächlich auf eine Steigerung <strong>de</strong>r Produktivität im<br />
sozialistischen Gemeinwesen zu rechnen ist, wird noch zu untersuchen<br />
sein. Gesetzt <strong>de</strong>n Fall, sie wür<strong>de</strong> wirklich eintreten, so wür<strong>de</strong> dies an <strong>de</strong>r<br />
Tatsache nichts än<strong>de</strong>rn können, daß bei je<strong>de</strong>m gegebenen Stand <strong>de</strong>r<br />
Produktivität ein bestimmtes Optimum <strong>de</strong>r Bevölkerungszahl gegeben ist,<br />
über das hinaus je<strong>de</strong> Vermehrung <strong>de</strong>r Menschenzahl zu einer<br />
Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Kopfquote <strong>de</strong>s Arbeitsertrages führen muß. Wenn man<br />
die Wirksamkeit <strong>de</strong>s Bevölkerungsgesetzes und <strong>de</strong>s Gesetzes vom<br />
abnehmen<strong>de</strong>n Ertrag in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung<br />
wi<strong>de</strong>rlegen will, müßte man beweisen, daß je<strong>de</strong>s Kind, das über die<br />
optimale Bevölkerungszahl hinaus geboren wird, zugleich auch eine so<br />
große Verbesserung <strong>de</strong>r volkswirtschaftlichen Produktivität mit auf die<br />
Welt bringt, daß die Kopfquote <strong>de</strong>r Erträge durch sein Hinzutreten nicht<br />
geschmälert wird.<br />
Eine dritte Gruppe wie<strong>de</strong>r beruhigt sich damit, daß bei steigen<strong>de</strong>r<br />
Kultur, bei steigen<strong>de</strong>r Rationalisierung <strong>de</strong>s Lebens, bei zunehmen<strong>de</strong>m<br />
Wohlstand und bei wachsen<strong>de</strong>n Lebensansprüchen erfahrungsgemäß das<br />
Wachstum <strong>de</strong>r Bevölkerung sich verlangsame. Dabei wird übersehen, daß<br />
die Geburtenzahl nicht fällt, weil <strong>de</strong>r Wohlstand größer wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />
daß die Ursache <strong>de</strong>s Geburtenrückganges allein in <strong>de</strong>m moral restraint zu<br />
erblicken ist, und daß für <strong>de</strong>n einzelnen je<strong>de</strong> Veranlassung, sich <strong>de</strong>r<br />
Zeugung zu enthalten, in <strong>de</strong>m Augenblick fortfällt, in <strong>de</strong>m die Gründung<br />
einer Familie ohne eigene wirtschaftliche<br />
1<br />
Vgl. Heinrich Soetbeer, Die Stellung <strong>de</strong>r Sozialisten zur Malthusschen<br />
Bevölkerungslehre, Berlin 1886, S. 83 ff., 52 ff., 85 ff.
187<br />
Opfer erfolgen kann, weil <strong>de</strong>r Unterhalt <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
obliegt. Das ist im Grun<strong>de</strong> genommen <strong>de</strong>rselbe Trugschluß, <strong>de</strong>n Godwin<br />
gemacht hat, wenn er darauf hinwies, daß es „a principle in human<br />
society“ gebe, das die Bevölkerung dauernd in <strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n<br />
Nahrungsmittelspielraum gezogenen Grenzen hält. Malthus hat das Wesen<br />
dieses geheimnisvollen Prinzipes enthüllt. 1<br />
Ein sozialistisches Gemeinwesen ist ohne zwangsweise Regelung <strong>de</strong>r<br />
Bevölkerungsbewegung nicht <strong>de</strong>nkbar. Die sozialistische Gesellschaft<br />
muß es in <strong>de</strong>r Hand haben, zu verhin<strong>de</strong>rn, daß die Bevölkerungszahl über<br />
ein gewisses Maß ansteigt o<strong>de</strong>r unter ein gewisses Maß sinkt, sie muß<br />
trachten, die Bevölkerungszahl stets um jenes Optimum herum zu<br />
erhalten, das die größte Kopfquote <strong>de</strong>s Ertrages zuläßt. Sie muß, gera<strong>de</strong> so<br />
wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Gesellschaft, sowohl Untervölkerung als auch<br />
Übervölkerung als ein Übel ansehen. Und da in ihr jene Motive, die in<br />
einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n<br />
Gesellschaftsordnung wirksam sind, um die Zahl <strong>de</strong>r Zeugungen und<br />
Geburten mit <strong>de</strong>m Nahrungsspielraum in Einklang zu bringen, nicht mehr<br />
bestehen wer<strong>de</strong>n, wird sie die Regelung selbst in die Hand nehmen<br />
müssen. Welche Maßnahmen zur Durchführung <strong>de</strong>r angestrebten<br />
bevölkerungspolitischen Ziele im einzelnen gewählt wer<strong>de</strong>n, brauchen wir<br />
hier nicht zu erörtern. Ebensowenig ist es für uns von Interesse, ob das<br />
sozialistische Gemeinwesen mit diesen Maßnahmen auch Eugenik und<br />
rassenzüchterische I<strong>de</strong>en verwirklichen will o<strong>de</strong>r nicht. Sicher ist, daß ein<br />
sozialistisches Gemeinwesen zwar „freie Liebe“, doch keineswegs<br />
Gebärfreiheit bringen kann. Von einem Recht auf Existenz für je<strong>de</strong>n<br />
Geborenen könnte nur dann die Re<strong>de</strong> sein, wenn man <strong>de</strong>n unerwünschten<br />
Geburten zuvorkommen wür<strong>de</strong>. Auch im sozialistischen Gemeinwesen<br />
wird es solche geben, für die „bei <strong>de</strong>m großen Banquet <strong>de</strong>r Natur kein<br />
Ge<strong>de</strong>ck aufgelegt“ sein wird und <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Befehl gegeben wer<strong>de</strong>n wird,<br />
sich sobald als möglich wie<strong>de</strong>r zu entfernen. Daran kann alle Entrüstung,<br />
die über diese Worte von Malthus aufgebracht wur<strong>de</strong>, nichts än<strong>de</strong>rn.<br />
§ 3. Aus <strong>de</strong>n Grundsätzen, die das sozialistische Gemeinwesen bei <strong>de</strong>r<br />
Verteilung <strong>de</strong>r Genußgüter einhalten muß, ergibt sich, daß es <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Bedarfes nicht freies Spiel lassen kann. Wäre im<br />
sozialistischen Gemeinwesen Wirtschaftsrechnung und damit eine auch<br />
nur annähern<strong>de</strong> Ermittlung <strong>de</strong>r Produktionskosten <strong>de</strong>nkbar,<br />
1 Vgl. Malthus, a. a. O., II. Bd., S. 245 ff.
188<br />
dann könnte je<strong>de</strong>m einzelnen Genossen freigestellt wer<strong>de</strong>n, im Rahmen<br />
<strong>de</strong>r ihm zum Verbrauch zugewiesenen Einheiten <strong>de</strong>n Bedarf frei zu<br />
bestimmen. Je<strong>de</strong>r könnte dann das auswählen, was ihm gera<strong>de</strong> zusagt. Es<br />
wäre bei einigem bösen Willen <strong>de</strong>s Leiters <strong>de</strong>r Produktion wohl möglich,<br />
bestimmte Genüsse durch unrichtige Berechnung <strong>de</strong>r Kosten, etwa durch<br />
zu hohe Ansetzung <strong>de</strong>r auf sie entfallen<strong>de</strong>n Generalunkosten, o<strong>de</strong>r durch<br />
unrationelle Herstellung so zu verteuern, daß sie höher zu stehen kommen<br />
als es sein müßte, und die dadurch benachteiligten Genossen hätten kein<br />
an<strong>de</strong>res Mittel, sich dagegen zu wehren als <strong>de</strong>n politischen Kampf gegen<br />
die Regierung. Sie selbst wären, solange sie in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit sind, nicht<br />
in <strong>de</strong>r Lage, die Rechnung an<strong>de</strong>rs aufzustellen o<strong>de</strong>r die Produktion zu<br />
verbessern. Doch schon <strong>de</strong>r Umstand, daß wenigstens <strong>de</strong>r größte Teil <strong>de</strong>r<br />
in Betracht kommen<strong>de</strong>n Faktoren rechnungsmäßig erfaßt und daß damit<br />
die ganze Frage verhältnismäßig klargestellt wer<strong>de</strong>n könnte, wür<strong>de</strong> ihrem<br />
Standpunkt eine Stütze geben.<br />
Daß im sozialistischen Gemeinwesen nicht gerechnet wer<strong>de</strong>n kann,<br />
muß aber notwendigerweise dazu führen, daß alle Fragen <strong>de</strong>r<br />
Bedarfsgestaltung <strong>de</strong>r Regierung überlassen wer<strong>de</strong>n. Die Gesamtheit <strong>de</strong>r<br />
Genossen wird auf sie <strong>de</strong>nselben Einfluß haben, <strong>de</strong>n sie auf das<br />
Zustan<strong>de</strong>kommen je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Regierungsaktes nehmen kann. Der<br />
einzelne wird aber daran nur soweit teilnehmen können, als er an <strong>de</strong>r<br />
Bildung <strong>de</strong>s Gesamtwillens teil hat. Die Min<strong>de</strong>rheit wird sich <strong>de</strong>m Willen<br />
<strong>de</strong>r Mehrheit beugen müssen. Das System <strong>de</strong>r Verhältniswahl, das seiner<br />
Natur nach nur für Wahlen, nicht auch für Abstimmungen über<br />
Handlungen anwendbar ist, wird ihr keinen Schutz gewähren können.<br />
Der Gesamtwille, das ist <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> Herrschen<strong>de</strong>n, wird<br />
mithin jene Funktionen übernehmen, die in <strong>de</strong>r freien Wirtschaft <strong>de</strong>r<br />
Nachfrage zukommt. Nicht <strong>de</strong>r einzelne wird darüber zu entschei<strong>de</strong>n<br />
haben, welche Bedürfnisse die wichtigsten sind und daher zunächst<br />
befriedigt wer<strong>de</strong>n sollen, son<strong>de</strong>rn die Regierung.<br />
Der Bedarf wird damit viel einförmiger, beson<strong>de</strong>rs aber auch viel<br />
weniger verän<strong>de</strong>rlich wer<strong>de</strong>n als in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft. Die<br />
Kräfte, die hier beständig am Werke sind, ihn zu verän<strong>de</strong>rn, wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r<br />
<strong>Gemeinwirtschaft</strong> fehlen. Wie sollte es Neuerern gelingen, ihren von <strong>de</strong>m<br />
Hergebrachten abweichen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en zur allgemeinen Anerkennung zu<br />
verhelfen? Wie sollte ein Führer die träge Masse aufrütteln? Wie sie<br />
veranlassen, von <strong>de</strong>r liebgewor<strong>de</strong>nen Gewohnheit <strong>de</strong>s Alten zu lassen und<br />
das ungewohnte
189<br />
Bessere dafür einzutauschen? In <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaftsordnung,<br />
in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r einzelne seinen Konsum einrichten kann, wie es ihm seine<br />
Mittel erlauben, genügt es, einen o<strong>de</strong>r wenige zur Erkenntnis zu bringen,<br />
daß <strong>de</strong>r neue Weg ihre Bedürfnisse besser befriedigt; die an<strong>de</strong>ren folgen<br />
allmählich <strong>de</strong>m Beispiel nach. Diese schrittweise Einbürgerung einer<br />
neuen Art <strong>de</strong>r Bedürfnisbefriedigung wird ganz beson<strong>de</strong>rs dadurch<br />
geför<strong>de</strong>rt, daß die Einkommen ungleich verteilt sind. Die Reicheren<br />
nehmen die Neuheiten zuerst auf und gewöhnen sich an ihren Gebrauch.<br />
Damit wird <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren ein Vorbild gesetzt, das sie nachzuahmen<br />
bestrebt sind. Haben die oberen Schichten einmal eine bestimmte<br />
Lebensgewohnheit angenommen, dann empfängt die Produktion die<br />
Anregung, durch Verbesserungen <strong>de</strong>s Verfahrens es dahin zu bringen, daß<br />
auch die ärmeren Schichten sich bald in die Möglichkeit versetzt sehen, es<br />
<strong>de</strong>n reicheren nachzutun. Das ist die dynamische Funktion <strong>de</strong>s Luxus. Die<br />
Neuheit „ist die Laune einer Elite, bevor sie ein Bedürfnis <strong>de</strong>s Publikums<br />
wird und zum Notwendigen gehört. Denn <strong>de</strong>r Luxus von heute ist das<br />
Bedürfnis von morgen“. 1 Der Luxus ist <strong>de</strong>r Bahnbrecher <strong>de</strong>s Fortschrittes,<br />
in<strong>de</strong>m er die latenten Bedürfnisse entwickelt und die Leute unzufrie<strong>de</strong>n<br />
macht. Man <strong>de</strong>nke etwa an <strong>de</strong>n Weg, auf <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r Gebrauch von<br />
Messer und Gabel eingebürgert hat, o<strong>de</strong>r an die Geschichte <strong>de</strong>r<br />
körperlichen Reinlichkeit. Die Sittenprediger, die <strong>de</strong>n Luxus verdammen,<br />
gelangen <strong>de</strong>nn auch, wenn sie nur halbwegs folgerichtig <strong>de</strong>nken,<br />
schließlich dazu, die verhältnismäßige Bedürfnislosigkeit <strong>de</strong>s im Wal<strong>de</strong><br />
frei schweifen<strong>de</strong>n Wil<strong>de</strong>s als das I<strong>de</strong>al sittlicher Lebensführung<br />
hinzustellen.<br />
§ 4. Die Kapitalgüter, die in die Produktion eingehen, wer<strong>de</strong>n in ihr<br />
schneller o<strong>de</strong>r langsamer aufgebraucht. Das gilt nicht nur von jenen<br />
Gütern, aus <strong>de</strong>nen das umlaufen<strong>de</strong> Kapital zusammengesetzt ist, son<strong>de</strong>rn<br />
auch von jenen, aus <strong>de</strong>nen das stehen<strong>de</strong> Kapital besteht; auch sie wer<strong>de</strong>n<br />
früher o<strong>de</strong>r später durch die Produktion aufgezehrt. Damit das Kapital in<br />
<strong>de</strong>r gleichen Größe erhalten o<strong>de</strong>r gemehrt wird, bedarf es immer erneuter<br />
Handlungen jener, die <strong>de</strong>r Produktion die Richtung weisen. Es muß dafür<br />
Sorge getragen wer<strong>de</strong>n, daß die in <strong>de</strong>r Produktion aufgebrauchten<br />
Kapitalgüter wie<strong>de</strong>r hergestellt wer<strong>de</strong>n, und daß darüber hinaus neues<br />
Kapital geschaffen wird; von selbst reproduziert sich das Kapitel nicht.<br />
1 Vgl. Tar<strong>de</strong>, Die sozialen Gesetze, Deutsch von Hammer, Leipzig 1908, S. 99; vgl.<br />
dazu die zahlreichen Beispiele bei Roscher, Ansichten <strong>de</strong>r Volkswirtschaft vom<br />
geschichtlichen Standpunkt, 3. Aufl., Leipzig 1878, I. Bd., S. 112 ff.
190<br />
In einer vollkommen statischen Wirtschaft bedarf es zur Vornahme<br />
dieser Operationen keiner beson<strong>de</strong>ren gedanklichen Vorarbeit. Wo alles in<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft unverän<strong>de</strong>rt beharrt, da ist es nicht beson<strong>de</strong>rs schwer, das,<br />
was aufgebraucht wur<strong>de</strong>, zu ermitteln und danach festzustellen, was zum<br />
Ersatz vorgekehrt wer<strong>de</strong>n muß. In <strong>de</strong>r dynamischen Wirtschaft ist das<br />
ganz an<strong>de</strong>rs. Die Richtung <strong>de</strong>r Produktion und die dabei eingeschlagenen<br />
Verfahrensarten wer<strong>de</strong>n hier immer wie<strong>de</strong>r geän<strong>de</strong>rt. Hier wer<strong>de</strong>n nicht<br />
einfach die abgenützten Anlagen und die verbrauchten Halbfabrikate<br />
durch gleichartige ersetzt; hier treten an <strong>de</strong>ren Stelle an<strong>de</strong>re - bessere o<strong>de</strong>r<br />
zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>r neuen Richtung <strong>de</strong>s Bedarfes besser entsprechen<strong>de</strong> - o<strong>de</strong>r<br />
es wird <strong>de</strong>r Ersatz <strong>de</strong>r in einem Produktionszweig, <strong>de</strong>r eingeschränkt<br />
wer<strong>de</strong>n soll, verbrauchten Kapitalgüter durch Einstellung von neuen<br />
Kapitalgütern in an<strong>de</strong>ren zu erweitern<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r neu zu begrün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Produktionszweigen vorgenommen. Um solche verwickelte Operationen<br />
vorzunehmen, muß man rechnen. Ohne Wirtschaftsrechnung ist<br />
Kapitalrechnung nicht durchführbar. Die sozialistische Wirtschaft, die<br />
keine Wirtschaftsrechnung führen kann, muß hier ganz hilflos einem <strong>de</strong>r<br />
großen Grundprobleme <strong>de</strong>r Wirtschaft gegenüberstehen. Es wird ihr beim<br />
besten Willen nicht möglich sein, die Gedankenoperationen vorzunehmen,<br />
um Produktion und Konsum in einen solchen Einklang zu bringen, daß die<br />
Wertsumme <strong>de</strong>s Kapitals zumin<strong>de</strong>st erhalten wird, und daß nur die<br />
darüber hinaus erzielten Überschüsse zum Verbrauch gelangen.<br />
Aber ganz abgesehen von diesen allein schon ganz unüberwindbaren<br />
Schwierigkeiten stehen einer rationellen Kapitalwirtschaft im<br />
sozialistischen Gemeinwesen noch ganz an<strong>de</strong>re Schwierigkeiten entgegen.<br />
Alle Kapitalerhaltung und alle Kapitalmehrung bereiten Kosten. Sie<br />
legen <strong>de</strong>n Verzicht auf Gegenwartsgenüsse auf, wogegen reichlichere<br />
Genüsse in <strong>de</strong>r Zukunft eingetauscht wer<strong>de</strong>n. Das Opfer, das hier zu<br />
bringen ist, bringen in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaft die Besitzer <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />
und jene, die durch Beschränkung <strong>de</strong>s eigenen Verbrauchs<br />
auf <strong>de</strong>m Wege dazu sind, Besitzer von Produktionsmitteln zu wer<strong>de</strong>n. Der<br />
Vorteil, <strong>de</strong>r damit für die Zukunft erkauft wird, fließt nicht zur Gänze<br />
ihnen zu. Sie müssen ihn mit <strong>de</strong>n Arbeitern teilen, da durch die<br />
Vermehrung <strong>de</strong>s Kapitals caeteris paribus die Grenzproduktivität <strong>de</strong>r<br />
Arbeit und damit <strong>de</strong>r Lohn steigt. (Gesetz
191<br />
vom abnehmen<strong>de</strong>n Ertrag.) Doch schon <strong>de</strong>r Umstand, daß das<br />
Nichtverschwin<strong>de</strong>n (das ist: Nichtaufzehren <strong>de</strong>s Kapitals) und das Sparen<br />
(das ist: Mehren <strong>de</strong>s Kapitals) sich überhaupt für sie bezahlt macht, ist<br />
ausreichend, sie zum Erhalten und zur Erweiterung <strong>de</strong>s Kapitals<br />
anzuspornen, wenn für ihre gegenwärtigen Bedürfnisse einigermaßen<br />
auskömmlich gesorgt ist. Der Antrieb dazu ist um so stärker, je reichlicher<br />
ihre augenblicklichen Bedürfnisse befriedigt sind. Denn je weniger<br />
dringlich die gegenwärtigen Bedürfnisse erscheinen, die nicht zur<br />
Befriedigung gelangen, wenn für die Zukunft Sorge getragen wird, <strong>de</strong>sto<br />
leichter fällt die Entscheidung zugunsten <strong>de</strong>r künftigen Befriedigung. Das<br />
Erhalten und Neuansammeln <strong>de</strong>s Kapitals ist in <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaft eine Funktion <strong>de</strong>r Ungleichheit <strong>de</strong>r Einkommens- und<br />
Vermögensverteilung.<br />
In <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft sind Erhaltung und Mehrung <strong>de</strong>s<br />
Kapitals Aufgaben <strong>de</strong>r organisierten Gesamtheit, <strong>de</strong>s Staates. Der Nutzen<br />
rationeller Kapitalwirtschaft ist hier <strong>de</strong>rselbe wie in <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaftsordnung. Der Vorteil <strong>de</strong>r Kapitalerhaltung und <strong>de</strong>r<br />
Kapitalneubildung kommt allen Glie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Gemeinschaft in gleichem<br />
Maße zugute; auch die Kosten wer<strong>de</strong>n von allen in gleicher Weise<br />
getragen. Die Entscheidung über die Kapitalwirtschaft wird in die Hand<br />
<strong>de</strong>s Gemeinwesens gelegt sein, zunächst in die <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung,<br />
mittelbar in die aller Genossen. Die wer<strong>de</strong>n darüber zu entschei<strong>de</strong>n haben,<br />
ob mehr Genußgüter o<strong>de</strong>r Produktivgüter zu erzeugen sind, ob Produktionsumwege<br />
gewählt wer<strong>de</strong>n sollen, die kürzer sind, aber dafür auch<br />
geringeren Ertrag abwerfen, o<strong>de</strong>r solche, die länger währen, aber dann<br />
auch größeren Ertrag abwerfen. Wie solche Mehrheitsentscheidungen<br />
ausfallen wer<strong>de</strong>n, kann man nicht wissen. Es hätte keinen Sinn, darüber<br />
Vermutungen anzustellen. Die Voraussetzungen für die Entscheidungen<br />
sind hier an<strong>de</strong>re als in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft; in dieser ist das<br />
Sparen Sache <strong>de</strong>r Wirtschaftlicheren und <strong>de</strong>r Wohlhaben<strong>de</strong>ren, in <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen <strong>Gemeinwirtschaft</strong> wird die Entscheidung darüber, ob<br />
gespart wer<strong>de</strong>n soll, allen ohne Unterschied zufallen, also auch <strong>de</strong>n<br />
Fauleren und <strong>de</strong>n Leichtlebigeren. Überdies ist zu be<strong>de</strong>nken, daß hier<br />
jener Antrieb, <strong>de</strong>n höherer Wohlstand für das Sparen gibt, wegfallen wird.<br />
Dann ist zu beachten, daß <strong>de</strong>r Demagogie <strong>de</strong>r Führer und jener, die es<br />
wer<strong>de</strong>n wollen, Tür und Tor geöffnet sein wird. Die Opposition wird<br />
immer gerne bereit sein, zu beweisen, daß man mehr für <strong>de</strong>n<br />
augenblicklichen Bedarf zur Verfügung stellen
192<br />
könnte als ihm tatsächlich gera<strong>de</strong> zugewiesen wird, und die Regierung<br />
wird nicht abgeneigt sein, sich durch Verschwendung etwas länger am<br />
Ru<strong>de</strong>r zu erhalten. Après nous le déluge ist eine alte Regierungsmaxime.<br />
Die Erfahrungen, die man bisher mit <strong>de</strong>r Kapitalwirtschaft öffentlicher<br />
Körperschaften gemacht hat, lassen von <strong>de</strong>r Spartätigkeit künftiger<br />
sozialistischer Regierungen nicht allzu viel erwarten. Im allgemeinen sind<br />
aus öffentlichen Mitteln Neuanlagen nur dann geschaffen wor<strong>de</strong>n, wenn<br />
man die dazu erfor<strong>de</strong>rlichen Summen durch Anleihen, also durch die<br />
Spartätigkeit <strong>de</strong>r einzelnen Bürger, aufgebracht hat. Aus Steuergel<strong>de</strong>rn<br />
o<strong>de</strong>r sonstigen öffentlichen Einkünften ist nur sehr selten Kapital<br />
akkumuliert wor<strong>de</strong>n. Dagegen können zahlreiche Beispiele dafür<br />
beigebracht wer<strong>de</strong>n, daß die im Eigentum <strong>de</strong>r öffentlichen Körperschaften<br />
stehen<strong>de</strong>n Produktionsmittel dadurch in <strong>de</strong>r Wertsumme vermin<strong>de</strong>rt<br />
wur<strong>de</strong>n, daß man, um <strong>de</strong>n gegenwärtigen Ausgabenetat möglichst zu<br />
entlasten, für ihre Instandhaltung nicht entsprechend Sorge getragen hat.<br />
§ 5. Aus <strong>de</strong>m Gesagten erhellt bereits zur Genüge, daß es auch in <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Wirtschaft keinen reinen Beharrungszustand geben wird.<br />
Nicht nur die rastlos vor sich gehen<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>n natürlichen<br />
Bedingungen <strong>de</strong>s Wirtschaftens sorgen dafür; auch abgesehen davon sind<br />
in <strong>de</strong>n Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Bevölkerungsgröße, <strong>de</strong>r Bedarfsgestaltung und <strong>de</strong>r<br />
Kapitalsgröße unablässig dynamische Faktoren wirksam, die man sich aus<br />
<strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft nicht fortzu<strong>de</strong>nken vermag. Ob<br />
alle diese Umwälzungen auch zu Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Organisation <strong>de</strong>r Arbeit und <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Produktion angewen<strong>de</strong>ten<br />
Verfahren führen wer<strong>de</strong>n, kann man unter solchen Umstän<strong>de</strong>n<br />
dahingestellt sein lassen. Denn, wenn einmal die Wirtschaft <strong>de</strong>n<br />
Beharrungszustand verloren hat, ist es gleichgültig, ob die Menschen in<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft auf Neues sinnen und es ins Werk zu setzen trachten.<br />
Sobald einmal alle Verhältnisse im Flusse sind, ist alles, was in <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaft geschieht, Neuerung; auch wenn das Alte nur wie<strong>de</strong>rholt wird,<br />
ist es, weil es unter <strong>de</strong>n neuen Verhältnissen ganz an<strong>de</strong>rs wirkt, in seinen<br />
Folgen ein Neues.<br />
Das be<strong>de</strong>utet nun keinesfalls schon, daß die sozialistische Wirtschaft<br />
eine fortschreiten<strong>de</strong> ist. Wirtschaftliche Verän<strong>de</strong>rung und wirtschaftlicher<br />
Fortschritt sind keineswegs ein und dasselbe; daß eine Wirtschaft nicht im<br />
Beharrungszustand ist, beweist noch nicht, daß sie auch fortschreitet.<br />
Wirtschaftsverän<strong>de</strong>rung ist schon durch die
193<br />
Tatsache <strong>de</strong>r Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Bedingungen <strong>de</strong>s Wirtschaftens gegeben;<br />
unter an<strong>de</strong>ren Bedingungen muß je<strong>de</strong> Wirtschaft eine an<strong>de</strong>re sein.<br />
Wirtschaftlicher Fortschritt sind aber nur solche Verän<strong>de</strong>rungen, die sich<br />
in einer ganz bestimmten Richtung vollziehen, nämlich jene, die uns <strong>de</strong>m<br />
Ziele <strong>de</strong>s Wirtschaftens, möglichst reicher Güterversorgung,<br />
näherbringen. Der Begriff <strong>de</strong>s Fortschrittes ist dabei ganz wertfrei gefaßt.<br />
Wenn für mehr Leute o<strong>de</strong>r für die gleiche Zahl reichlicher vorgesorgt<br />
wird, dann ist die Wirtschaft im Fortschreiten. Daß sich <strong>de</strong>r<br />
wirtschaftliche Fortschritt wegen <strong>de</strong>r Unmöglichkeit <strong>de</strong>r Wertmessung<br />
nicht exakt feststellen läßt, und daß es gar nicht ausgemacht ist, daß er die<br />
Menschen auch „glücklicher“ macht, hat mit unserem Problem nichts. zu<br />
tun.<br />
Der Wege, die <strong>de</strong>r Fortschritt gehen kann, gibt es viele. Die<br />
wirtschaftliche Organisation wird verbessert, die Produktionstechnik wird<br />
auf einen höheren Stand gebracht, die Kapitalansammlung wird<br />
vergrößert, kurz, es gibt viele Wege, die zum Ziele führen. Wird die<br />
sozialistische Gesellschaft sie einschlagen?<br />
Wir wollen ohne weiteres annehmen, daß es <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaft gelingen könnte, die geeignetsten Personen mit <strong>de</strong>r Leitung<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft zu betrauen. Doch wie sollen die, und mögen sie auch noch<br />
so genial sein, rationell han<strong>de</strong>ln können, wenn Rechnen und Berechnen<br />
nicht möglich ist? Schon daran allein müßte alles im Sozialismus<br />
scheitern.<br />
§ 6. In <strong>de</strong>r in Bewegung befindlichen Wirtschaft ist je<strong>de</strong><br />
wirtschaftliche Handlung auf ungewisse künftige Verhältnisse eingestellt.<br />
Sie ist daher mit einem Risiko verbun<strong>de</strong>n, sie ist Spekulation.<br />
Die Spekulation ist bei <strong>de</strong>r großen Masse, die nicht erfolgreich zu<br />
spekulieren versteht, und bei <strong>de</strong>n sozialistischen Schriftstellern aller<br />
Schattierungen sehr schlecht angeschrieben. Der geschäftsfrem<strong>de</strong> Literat<br />
und <strong>de</strong>r wirtschaftslose Beamte sind voll von Neid und Groll, wenn sie an<br />
<strong>de</strong>n glücklichen Spekulanten, an <strong>de</strong>n erfolgreichen Unternehmer, <strong>de</strong>nken.<br />
Ihrem Ressentiment verdanken wir die Bemühungen vieler<br />
nationalökonomischer Schriftsteller, subtile Unterschie<strong>de</strong> zwischen<br />
Spekulation einerseits und wirkliche Werte schaffen<strong>de</strong>m Produzieren und<br />
„legitimen“ Han<strong>de</strong>l an<strong>de</strong>rerseits. zu ent<strong>de</strong>cken. 1 In Wahrheit ist alle<br />
Wirtschaft außerhalb <strong>de</strong>r im<br />
1 Vgl. die treffen<strong>de</strong> Kritik dieser mehr von guter Gesinnung als von wissenschaftlicher<br />
Gedankenschärfe zeugen<strong>de</strong>n Bestrebungen bei <strong>Michael</strong>is, Volkswirtschaftliche Schriften,<br />
Berlin 1873, II. Bd., S. 3 ff., und bei Petritsch, Zur Lehre von <strong>de</strong>r Überwälzung <strong>de</strong>r
194<br />
reinen Beharrungszustand befindlichen Volkswirtschaft Spekulation.<br />
Zwischen <strong>de</strong>m bie<strong>de</strong>ren Handwerkmeister, <strong>de</strong>r in einer Woche ein Paar<br />
Schuhe um einen festen Preis zu liefern verspricht, und <strong>de</strong>m Kohlenwerk,<br />
das auf Jahre hinaus <strong>de</strong>n Verschleiß seiner Produkte vergibt, ist nur ein<br />
gradueller Unterschied. Auch wer sein Geld in festverzinslichen<br />
mün<strong>de</strong>lsicheren Werten anlegt, geht eine Spekulation ein; er kauft Geld<br />
auf Termin, wie <strong>de</strong>r Baumwollespekulant Baumwolle auf Termin kauft.<br />
Die Wirtschaft ist notwendig Spekulation, weil sie auf die ungewisse<br />
Zukunft eingestellt ist; die Spekulation ist das geistige Band, das die<br />
einzelnen Wirtschaftshandlungen zu einem sinnvollen Ganzen, zur<br />
Wirtschaft, zusammenfaßt.<br />
Man pflegt die bekannte Min<strong>de</strong>rergiebigkeit <strong>de</strong>r gemeinwirtschaftlichen<br />
Unternehmungen gewöhnlich darauf zurückzuführen, daß <strong>de</strong>r<br />
einzelne dort mit seinen Interessen nicht genügend an <strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>r<br />
Arbeit geknüpft ist. Wür<strong>de</strong> es gelingen, je<strong>de</strong>n Volksgenossen auf eine<br />
solch hohe Stufe <strong>de</strong>r Erkenntnis zu heben, daß er <strong>de</strong>n Zusammenhang<br />
zwischen seinem eigenen Fleiß und <strong>de</strong>m Ertrage <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Arbeit, von <strong>de</strong>m ihm eine Quote zufällt, begreift, und ihn moralisch so zu<br />
kräftigen, daß er <strong>de</strong>n Verlockungen zur Nachlässigkeit gegenüber<br />
standhaft bleibt, dann wer<strong>de</strong> auch <strong>de</strong>r gemeinwirtschaftliche Betrieb nicht<br />
weniger ergiebig arbeiten als <strong>de</strong>r private Unternehmer. Das Problem <strong>de</strong>r<br />
Sozialisierung erscheint somit als ein sittliches; es ist nur notwendig, <strong>de</strong>n<br />
Menschen entsprechend hoch zu heben, ihm <strong>de</strong>n Unverstand und die<br />
Unmoral, die ihm die schreckliche Zeit <strong>de</strong>s Kapitalismus anerzogen hat,<br />
zu nehmen, um auch <strong>de</strong>r sozialistischen <strong>Gemeinwirtschaft</strong> die Lebensmöglichkeit<br />
zu schaffen. Solange man noch nicht so weit sei, müsse man<br />
trachten, durch Prämien o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichen <strong>de</strong>n einzelnen zu höherem Fleiß<br />
anzuspornen.<br />
Steuern mit beson<strong>de</strong>rer Beziehung auf <strong>de</strong>n Börsenverkehr, Graz 1903, S. 28 ff. Über Adolf<br />
Wagner bemerkt Petritsch, daß er „obgleich er das wirtschaftliche Leben mit Vorliebe<br />
einen Organismus nennt und als solchen betrachtet wissen will und obgleich er stets das<br />
Interesse <strong>de</strong>r Gesamtheit gegenüber jenem einzelner Personen betont, trotz<strong>de</strong>m bei<br />
konkreten ökonomischen Fragen über die einzelnen Personen und ihre mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />
moralischen Absichten nicht hinauskommt und <strong>de</strong>n organischen Zusammenhang, in <strong>de</strong>m<br />
diese mit an<strong>de</strong>ren volkswirtschaftlichen Erscheinungen stehen, geflissentlich übersieht,<br />
also dort endigt, wo streng genommen <strong>de</strong>r Ausgangs-, nicht <strong>de</strong>r Endpunkt einer je<strong>de</strong>n<br />
ökonomischen Untersuchung liegen sollte“ (S. 59). Das gleiche gilt von allen<br />
Schriftstellern, die gegen die Spekulation gewettert haben.
195<br />
Es wur<strong>de</strong> schon gezeigt, daß das Fehlen eines im einzelnen Individuum<br />
wirken<strong>de</strong>n Antriebs zur Überwindung <strong>de</strong>s Arbeitsleids die Produktivität<br />
<strong>de</strong>r Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen auf das geringste Maß<br />
herabdrücken müßte. Doch zu diesem schon im Beharrungszustand<br />
bestehen<strong>de</strong>n Hin<strong>de</strong>rnis gemeinwirtschaftlicher Tätigkeit tritt ein zweites,<br />
das <strong>de</strong>r in Bewegung befindlichen Volkswirtschaft eigentümlich ist. Das<br />
ist die Schwierigkeit, die sich <strong>de</strong>r Spekulation im sozialistischen<br />
Gemeinwesen entgegenstellt.<br />
In <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n<br />
Wirtschaftsordnung ist <strong>de</strong>r Spekulant an <strong>de</strong>m Erfolg <strong>de</strong>r Spekulation auf<br />
das stärkste interessiert. Ist sie von Erfolg begleitet, dann ist es in erster<br />
Linie sein Vorteil; hat sie Mißerfolg, so spürt er zunächst <strong>de</strong>n Verlust. Der<br />
Spekulant steht im Dienste <strong>de</strong>r Gesamtheit; doch er selbst spürt Erfolg<br />
o<strong>de</strong>r Mißerfolg seines Han<strong>de</strong>lns in <strong>de</strong>m Maße stärker als die Gesamtheit,<br />
als Gewinn und Verlust im Verhältnis zu seinen Mitteln viel größer<br />
erscheinen als im Verhältnis zum Gesamtvermögen <strong>de</strong>r Gesellschaft. Je<br />
erfolgreicher er spekuliert, <strong>de</strong>sto mehr Produktionsmittel kommen in seine<br />
Verfügung, <strong>de</strong>sto größer wird sein Einfluß auf die Führung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Geschäfte. Je weniger erfolgreich er spekuliert, <strong>de</strong>sto<br />
geringer wird sein Vermögen, <strong>de</strong>sto geringer sein Einfluß auf die<br />
Geschäfte. Hat er sich ganz verspekuliert, dann verschwin<strong>de</strong>t er überhaupt<br />
aus <strong>de</strong>n Reihen jener, die zur Leitung <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens berufen sind.<br />
In <strong>de</strong>r <strong>Gemeinwirtschaft</strong> ist das ganz an<strong>de</strong>rs. Hier ist <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsleiter an Gewinn und Verlust nur insoweit beteiligt, als er -<br />
einer unter Millionen - als Volksgenosse daran teilnimmt. Sein Han<strong>de</strong>ln<br />
entschei<strong>de</strong>t über das Schicksal aller, er kann das Volk zu Reichtum<br />
führen, er kann es aber auch ebensogut in Elend und Not stürzen. Sein<br />
Genie kann <strong>de</strong>r Menschheit zum Heil ausschlagen, seine Unfähigkeit o<strong>de</strong>r<br />
Nachlässigkeit bringt Zerstörung und Vernichtung. In seinen Hän<strong>de</strong>n<br />
liegen Glück und Unglück wie in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n einer Gottheit. Gottähnlich<br />
müßte fürwahr dieser Leiter <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaft sein, um das zu<br />
vollbringen, was ihm obliegt. Sein Blick müßte alles umspannen können,<br />
was für die Wirtschaft von Be<strong>de</strong>utung sein kann; er müßte ein unfehlbares<br />
Urteil haben, das auch die Verhältnisse entfernter Gegen<strong>de</strong>n und künftiger<br />
Jahrzehnte richtig abzuschätzen weiß.<br />
Daß <strong>de</strong>r Sozialismus ohne weiteres durchführbar wäre, wenn ein<br />
allwissen<strong>de</strong>r und allmächtiger Gott persönlich nie<strong>de</strong>rsteigen
196<br />
wür<strong>de</strong>, um die Regierung <strong>de</strong>r menschlichen Angelegenheiten in die Hand<br />
zu nehmen, ist nicht zu bestreiten. Solange man aber darauf nicht mit<br />
Bestimmtheit rechnen kann, ist nicht zu erwarten, daß die Menschen<br />
einem aus ihrer Mitte freiwillig eine solche Stellung einzuräumen bereit<br />
wären. Daß die Menschen ihre eigenen Gedanken und ihren eigenen<br />
Willen habe, das ist eine jener Grundtatsachen alles gesellschaftlichen<br />
Zusammenlebens, mit <strong>de</strong>nen auch <strong>de</strong>r Sozialreformer rechnen muß. Es ist<br />
nicht anzunehmen, daß die Menschen sich auf einmal freiwillig und auf<br />
alle Zeiten zum willenlosen Werkzeug eines aus ihrer Mitte, und wäre es<br />
auch <strong>de</strong>r Weiseste und Beste, machen wollten.<br />
Sowie man aber davon absieht, die Leitung <strong>de</strong>r Wirtschaft dauernd in<br />
eine Hand zu legen, muß man notwendigerweise dazu gelangen, sie von<br />
Mehrheitsbeschlüssen irgendwelcher Ausschüsse, Kollegien,<br />
Ratsversammlungen und in letzter Linie <strong>de</strong>r gesamten<br />
mitbestimmungsberechtigten Bevölkerung abhängen zu lassen. Damit<br />
beschwört man aber jene Gefahr herauf, an <strong>de</strong>r alle <strong>Gemeinwirtschaft</strong><br />
unfehlbar zugrun<strong>de</strong> geht: die Lähmung <strong>de</strong>r Initiative und <strong>de</strong>s<br />
Verantwortlichkeitsgefühls. Dann ist es unmöglich, Neuerungen<br />
einzuführen, weil man die Masse <strong>de</strong>r Mitberater in <strong>de</strong>n zuständigen<br />
Kollegien nicht mitzureißen vermag.<br />
Die Sache wird dadurch nicht besser, daß die Unmöglichkeit, alle<br />
Entschlüsse von einem einzigen Mann o<strong>de</strong>r von einem einzigen<br />
Kollegium fassen zu lassen, zahllose Instanzen schafft, in <strong>de</strong>nen<br />
Entscheidungen getroffen wer<strong>de</strong>n. Alle diese Instanzen sind nur Unterabteilungen<br />
<strong>de</strong>r einheitlichen Leitung, die <strong>de</strong>r Sozialismus als zentralisierte,<br />
nach einem einheitlichen Plan geleitete Wirtschaft for<strong>de</strong>rt. Man<br />
kann ihnen keine Freiheit lassen, weil sich dies mit <strong>de</strong>r Einheitlichkeit <strong>de</strong>r<br />
Leitung nicht verträgt. Man muß sie an die Weisungen <strong>de</strong>r obersten Stelle<br />
bin<strong>de</strong>n und züchtet damit Verantwortungslosigkeit.<br />
Das Bild, das <strong>de</strong>r Apparat sozialistischer Wirtschaft bietet, ist<br />
allgemein bekannt: eine Unzahl von Posteninhabern, die darauf bedacht<br />
sind, ihre Zuständigkeit eifrig wahrzunehmen, in<strong>de</strong>m sie je<strong>de</strong>rmann<br />
verhin<strong>de</strong>rn, sich in <strong>de</strong>n ihnen eingeräumten Wirkungskreis einzumengen,<br />
und zugleich ängstlich bemüht sind, je<strong>de</strong> Tätigkeit möglichst<br />
abzuschieben. Bei aller Geschäftigkeit bietet so eine Bureaukratie ein<br />
merkwürdiges Beispiel menschlicher Trägheit. Nichts geht vom Fleck,<br />
wenn nicht von außen ein Anstoß kommt. In <strong>de</strong>n verstaatlichten Betrieben<br />
einer im übrigen noch unter <strong>de</strong>r
197<br />
Herrschaft <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln stehen<strong>de</strong>n<br />
Gesellschaftsordnung geht <strong>de</strong>r Anlaß zu Produktionsverbesserungen und<br />
Reformen von jenen Unternehmern aus, die als Lieferanten <strong>de</strong>r<br />
Halbfabrikate und Maschinen sich davon einen Gewinn erhoffen. Die<br />
Leitungen <strong>de</strong>r öffentlichen Betriebe wür<strong>de</strong>n selbst nie zu einer Neuerung<br />
schreiten; sie wür<strong>de</strong>n sich damit begnügen, das nachzuahmen, was<br />
ähnliche im Son<strong>de</strong>reigentum stellen<strong>de</strong> Unternehmungen geschaffen<br />
haben. Wo alle Betriebe vergesellschaftet sein wer<strong>de</strong>n, wird von<br />
Reformen und Verbesserungen überhaupt keine Re<strong>de</strong> sein.<br />
§ 7. Zu <strong>de</strong>n landläufigen sozialistischen Irrtümern gehört die<br />
Behauptung, daß die Aktiengesellschaft eine Vorstufe <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Betriebes darstelle. Auch die Leiter <strong>de</strong>r Aktiengesellschaft seien ja nicht<br />
Eigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel, und doch blühten die Unternehmungen<br />
unter ihrer Leitung. Wenn an Stelle <strong>de</strong>r Aktionäre die Gesellschaft in das<br />
Eigentum <strong>de</strong>r Produktionsmittel träte, wer<strong>de</strong> sich nichts än<strong>de</strong>rn. Die<br />
Direktoren wür<strong>de</strong>n für die Gesellschaft nicht schlechter arbeiten als für<br />
die Interessen <strong>de</strong>r Aktionäre.<br />
Wir müssen zwei Gruppen von Aktiengesellschaften und ähnlichen<br />
Unternehmungen unterschei<strong>de</strong>n. Bei <strong>de</strong>n einen - es sind dies meist nur die<br />
kleineren Gesellschaften - sind in <strong>de</strong>r Rechtsform <strong>de</strong>r Aktiengesellschaft<br />
einige wenige Personen - oft sind es die Erben <strong>de</strong>s Grün<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r<br />
Unternehmung, oft auch frühere Konkurrenten, die sich nun<br />
zusammengeschlossen haben - zu gemeinsamer Unternehmungstätigkeit<br />
verbun<strong>de</strong>n. Die eigentliche Leitung liegt in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Aktionäre<br />
selbst o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st eines Teils <strong>de</strong>r Aktionäre, die im eigenen Interesse<br />
und in <strong>de</strong>m ihnen verwandtschaftlich nahestehen<strong>de</strong>r Aktionäre - Frauen,<br />
Min<strong>de</strong>rjähriger usw. - die Geschäfte führen. Sie nehmen als Vorstandso<strong>de</strong>r<br />
Aufsichtsratsmitglie<strong>de</strong>r, als Direktoren, mitunter auch in juristisch<br />
beschei<strong>de</strong>nerer Stellung, selbst <strong>de</strong>n maßgeben<strong>de</strong>n Einfluß auf <strong>de</strong>n Betrieb<br />
<strong>de</strong>r Geschäfte. Daran än<strong>de</strong>rt auch nichts <strong>de</strong>r Umstand, daß sich mitunter<br />
ein Teil <strong>de</strong>s Aktienkapitals in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n eines Finanzkonsortiums o<strong>de</strong>r<br />
einer Bank befin<strong>de</strong>t. Hier unterschei<strong>de</strong>t sich die Aktiengesellschaft von<br />
<strong>de</strong>r offenen Han<strong>de</strong>lsgesellschaft in <strong>de</strong>r Tat nur durch die Rechtsform.<br />
Bei <strong>de</strong>n großen Aktiengesellschaften liegt die Sache an<strong>de</strong>rs. Hier<br />
nimmt nur ein Teil <strong>de</strong>r Aktionäre - Großaktionäre - an <strong>de</strong>r eigentlichen<br />
Leitung <strong>de</strong>s Unternehmens teil. Diese haben in <strong>de</strong>r Regel das gleiche<br />
Interesse an <strong>de</strong>m Ge<strong>de</strong>ihen <strong>de</strong>r Unternehmung
198<br />
wie je<strong>de</strong>r Eigentümer. Doch es kann geschehen, daß sie an<strong>de</strong>re Interessen<br />
haben als die große Menge <strong>de</strong>r kleinen Aktionäre, die, auch wenn sie die<br />
Mehrheit <strong>de</strong>s Aktienkapitals besitzen, von <strong>de</strong>r Leitung ausgeschlossen<br />
sein können. Dann kann es zu schweren Kollisionen kommen, wenn etwa<br />
die Geschäfte <strong>de</strong>r Unternehmung im Interesse <strong>de</strong>r Leiter in einer Weise<br />
geführt wer<strong>de</strong>n, die die Aktionäre benachteiligt. Aber wie <strong>de</strong>m auch sei,<br />
klar ist es, daß die wirklichen Machthaber in <strong>de</strong>n Gesellschaften die<br />
Geschäfte in ihrem eigenen Interesse führen, mag dies mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
Aktionäre zusammenfallen o<strong>de</strong>r nicht. Für <strong>de</strong>n soli<strong>de</strong>n Verwalter einer<br />
Aktiengesellschaft, <strong>de</strong>r nicht bloß einen vorübergehen<strong>de</strong>n Gewinn machen<br />
will, wird es auf die Dauer im allgemeinen vorteilhaft sein, immer nur das<br />
Interesse <strong>de</strong>r Aktionäre zu vertreten und alle Manipulationen, die sie<br />
schädigen können, zu unterlassen. Das gilt in erster Linie von <strong>de</strong>n Banken<br />
und Finanzgruppen, die beim Publikum <strong>de</strong>n Emissionskredit, <strong>de</strong>n sie<br />
genießen, nicht aufs Spiel setzen wollen. Es ist eine Fabel, daß in <strong>de</strong>r<br />
Verwaltung <strong>de</strong>r Aktiengesellschaften irgendwie „altruistische Motive“<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rgleichen wirksam wären. Die Leiter <strong>de</strong>r großen<br />
Aktiengesellschaften sind mit <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r von ihnen verwalteten<br />
Unternehmungen in ganz an<strong>de</strong>rer Weise verknüpft als dies bei<br />
öffentlichen Betrieben je <strong>de</strong>r Fall sein kann. Sie sind entwe<strong>de</strong>r schon<br />
Besitzer eines nicht unbeträchtlichen Teiles <strong>de</strong>s Aktienkapitals o<strong>de</strong>r<br />
hoffen, es im Laufe <strong>de</strong>r Zeit zu wer<strong>de</strong>n. Sie sind weiter in <strong>de</strong>r Lage, durch<br />
Börsenspiel in <strong>de</strong>n Werten ihres Unternehmens Gewinn zu erzielen. Sie<br />
haben die Aussicht, ihre Stelle zu vererben o<strong>de</strong>r doch wenigstens ihren<br />
Erben einen Teil ihres eigenen Einflusses zu sichern. Nicht <strong>de</strong>r behäbige,<br />
in seiner Denkungsart und seinem Empfin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m öffentlichen Beamten<br />
einigermaßen ähneln<strong>de</strong> Generaldirektor ist <strong>de</strong>r Typus, <strong>de</strong>m die in<br />
Aktienform betriebenen Unternehmungen ihre Erfolge danken, vielmehr<br />
<strong>de</strong>r durch Aktienbesitz interessierte Leiter und <strong>de</strong>r Promoter und Faiseur,<br />
gera<strong>de</strong> jene also, die auszuschalten das Ziel aller Verstaatlichungs- und<br />
Verstadtlichungsaktionen ist.<br />
VII.<br />
Die Undurchführbarkeit <strong>de</strong>s Sozialismus.<br />
§ 1. Der Gang <strong>de</strong>r bisherigen Untersuchungen hat gezeigt, welche<br />
Schwierigkeiten <strong>de</strong>r Aufrichtung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung<br />
entgegenstehen. Im sozialistischen Gemeinwesen fehlt
199<br />
die Möglichkeit, in <strong>de</strong>r Wirtschaft zu rechnen, so daß es unmöglich wird,<br />
Aufwand und Erfolg einer wirtschaftlichen Handlung zu ermitteln, und<br />
das Ergebnis <strong>de</strong>r Rechnung zum Richtmaß <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns zu machen. Das<br />
allein wür<strong>de</strong> schon ausreichen, um <strong>de</strong>n Sozialismus als undurchführbar<br />
erscheinen zu lassen. Aber auch ganz abgesehen davon, stün<strong>de</strong> seiner<br />
Verwirklichung ein zweites unüberwindbares Hin<strong>de</strong>rnis entgegen. Es<br />
erweist sich als unmöglich, eine Organisationsform zu fin<strong>de</strong>n, die das<br />
wirtschaftliche Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>s einzelnen von <strong>de</strong>r Mitwirkung <strong>de</strong>r übrigen<br />
Genossen unabhängig macht, ohne es zu einem je<strong>de</strong>r Verantwortung<br />
baren Hasardieren zu machen. Das sind die bei<strong>de</strong>n Probleme, ohne <strong>de</strong>ren<br />
Lösung <strong>de</strong>r Sozialismus einer nicht im Zustand voller Beharrung<br />
befindlichen Wirtschaft un<strong>de</strong>nkbar und undurchführbar erscheint.<br />
Man hat diesen bei<strong>de</strong>n Grundfragen bisher zu wenig Aufmerksamkeit<br />
zugewen<strong>de</strong>t. Die erste hat man so ziemlich überhaupt übersehen. Daran<br />
trägt <strong>de</strong>r Umstand schuld, daß man sich von <strong>de</strong>m Gedanken, daß die<br />
Arbeitszeit ein brauchbarer Maßstab <strong>de</strong>s Wertes sei, nicht ganz frei zu<br />
machen vermochte. Aber selbst viele von <strong>de</strong>njenigen, die die<br />
Unhaltbarkeit <strong>de</strong>r Arbeitswerttheorie erkannt hatten, halten doch noch an<br />
<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e fest, es sei möglich, <strong>de</strong>n Wert zu messen. Zeugnis davon geben<br />
die vielen Versuche, die unternommen wur<strong>de</strong>n, einen Maßstab <strong>de</strong>s Wertes<br />
zu ent<strong>de</strong>cken. Es war notwendig, sich zur Erkenntnis <strong>de</strong>r Unmöglichkeit<br />
<strong>de</strong>r Wertmessung durchzuringen, und <strong>de</strong>n wahren Charakter <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />
Preisen <strong>de</strong>s Marktes zum Ausdruck gelangen<strong>de</strong>n Austauschverhältnisse zu<br />
erfassen, um Einsicht in das Problem <strong>de</strong>r Wirtschaftsrechnung zu erhalten.<br />
Daß hier überhaupt ein Problem - und gar eines <strong>de</strong>r allerwichtigsten -<br />
liegt, das zu ent<strong>de</strong>cken konnte nur mit <strong>de</strong>n Mitteln <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
theoretischen Nationalökonomie gelingen. Im täglichen Leben <strong>de</strong>r zwar<br />
auf <strong>de</strong>m besten Wege zum Sozialismus, aber noch lange nicht ganz auf<br />
<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s reinen Sozialismus befindlichen Volkswirtschaft war es<br />
noch lange nicht so brennend gewor<strong>de</strong>n, als daß man es hätte bemerken<br />
müssen.<br />
An<strong>de</strong>rs steht es mit <strong>de</strong>m zweiten Problem. Je mehr <strong>de</strong>r gemeinwirtschaftliche<br />
Betrieb sich ausbreitet, <strong>de</strong>sto mehr mußte die<br />
allgemeine Aufmerksamkeit auf die schlechten Geschäftsergebnisse <strong>de</strong>r<br />
verstaatlichten und verstadtlichten Unternehmungen gelenkt wer<strong>de</strong>n. Es<br />
konnte nicht ausbleiben, daß man auf <strong>de</strong>n Sitz <strong>de</strong>s Übels kam. Je<strong>de</strong>s Kind<br />
mußte sehen, wo es fehlte. Man kann nicht sagen, daß man sich mit<br />
diesem Problem nicht beschäftigt
200<br />
hätte. Doch die Art und Weise, in <strong>de</strong>r man sich mit ihm beschäftigte, war<br />
durchaus unzulänglich. Man übersah seinen organischen Charakter; man<br />
meinte, daß es sich nur um eine Frage <strong>de</strong>r besseren Auslese <strong>de</strong>r Personen<br />
und <strong>de</strong>r Eigenschaften dieser Personen handle. Daß auch glänzend<br />
begabte und sittlich hochstehen<strong>de</strong> Männer <strong>de</strong>n Aufgaben, die die<br />
sozialistische Wirtschaftsführung stellt, nicht entsprechen könnten, hat<br />
man nicht bemerken wollen.<br />
§ 2. Den Sozialisten <strong>de</strong>r meisten Richtungen versperrt nicht nur ihr<br />
starres Festhalten an <strong>de</strong>r Arbeitswerttheorie son<strong>de</strong>rn ihre ganze<br />
Auffassung <strong>de</strong>s Wirtschaftens <strong>de</strong>n Weg zu diesen Problemen. Es fehlt<br />
ihnen das Bewußtsein, daß die Wirtschaft immer in Bewegung sein muß;<br />
ihr Bild <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens malt immer nur <strong>de</strong>n<br />
Beharrungszustand. Solange sie sich mit <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaftsordnung befassen, verweilen sie durchaus bei <strong>de</strong>n<br />
dynamischen Erscheinungen und schil<strong>de</strong>rn in grellen Farben die<br />
Reibungen, die sich aus <strong>de</strong>n wirtschaftlichen Umwälzungen ergeben.<br />
Doch sie neigen dazu, alle Dynamik, nicht nur die Reibungen, die sich bei<br />
ihrer Durchsetzung ergeben, als eine Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung anzusehen. In <strong>de</strong>m seligen Reich <strong>de</strong>r Zukunft wer<strong>de</strong><br />
sich alles bewegungs- und reibungslos abwickeln.<br />
Das erkennt man am besten, wenn man sich das Bild vergegenwärtigt,<br />
das <strong>de</strong>r Sozialismus vom Unternehmer zu entwerfen pflegt. Der<br />
Unternehmer erscheint ihm lediglich durch die beson<strong>de</strong>re Stellung<br />
charakterisiert, die er beim Einkommensbezug inne hat. Eine Analyse <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaftsordnung müßte in <strong>de</strong>n Mittelpunkt nicht das<br />
Kapital, auch nicht <strong>de</strong>n Kapitalisten, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Unternehmer stellen.<br />
Doch <strong>de</strong>r Sozialismus, auch <strong>de</strong>r von Marx, sieht im Unternehmer einen<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion Frem<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen ganzes Tun sich im<br />
Aneignen von Mehrwert erschöpft. Er meint, es genüge, diese Parasiten<br />
zu enteignen, um <strong>de</strong>n Sozialismus herzustellen. Ihm und noch <strong>de</strong>utlicher<br />
manchen an<strong>de</strong>ren Sozialisten sch<strong>web</strong>t dabei die Erinnerung an die<br />
Bauerbefreiung und an die Aufhebung <strong>de</strong>r Sklaverei vor. Doch die<br />
Stellung <strong>de</strong>s Grundherrn war eine ganz an<strong>de</strong>re als die <strong>de</strong>s Unternehmers.<br />
Der Grundherr hatte auf die Produktion keinen Einfluß. Er stand<br />
außerhalb <strong>de</strong>s Produktionsprozesses; erst wenn <strong>de</strong>r been<strong>de</strong>t war, trat er<br />
mit seiner For<strong>de</strong>rung auf einen Teil <strong>de</strong>s Ertrages auf. Der Gutsherr und<br />
<strong>de</strong>r Sklavenbesitzer aber behielten ihre Stellung als Leiter <strong>de</strong>r Produktion<br />
auch nach Aufhebung <strong>de</strong>r Frohn<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r
201<br />
Sklaverei. Daß sie fortan die Arbeiter voll entlohnen mußten, än<strong>de</strong>rte<br />
nichts an ihrer wirtschaftlichen Funktion. Doch <strong>de</strong>r Unternehmer erfüllt<br />
eine Aufgabe, die auch im sozialistischen Gemeinwesen versehen wer<strong>de</strong>n<br />
müßte. Das sieht <strong>de</strong>r Sozialismus nicht o<strong>de</strong>r will es nicht sehen.<br />
Das Unverständnis <strong>de</strong>s Sozialismus für die Stellung <strong>de</strong>s Unternehmers<br />
artet in Idiosynkrasie aus, sobald das Wort Spekulant fällt. Hier hat schon<br />
Marx, ungeachtet <strong>de</strong>r guten Vorsätze, die ihn geleitet haben, sich ganz im<br />
„kleinbürgerlichen“ Fahrwasser bewegt, und seine Schule hat ihn hierin<br />
noch übertroffen. Alle Sozialisten übersehen, daß auch im sozialistischen<br />
Gemeinwesen je<strong>de</strong> wirtschaftliche Handlung auf eine ungewisse Zukunft<br />
abgestellt wer<strong>de</strong>n muß, und daß ihr wirtschaftlicher Erfolg auch dann<br />
ungewiß bleibt, wenn sie technisch geglückt ist. Sie sehen in <strong>de</strong>r<br />
Unsicherheit, die zur Spekulation führt, eine Folge <strong>de</strong>r Anarchie <strong>de</strong>r<br />
Produktion, während sie in Wahrheit eine Folge <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rlichkeit <strong>de</strong>r<br />
Bedingungen <strong>de</strong>s Wirtschaftens ist.<br />
Die große Menge ist unfähig zu erkennen, daß im Wirtschaftlichen<br />
nichts beständig ist als <strong>de</strong>r Wechsel. Sie sieht <strong>de</strong>n augenblicklichen Stand<br />
<strong>de</strong>r Dinge als <strong>de</strong>n ewigen an, so sei es stets gewesen und so wer<strong>de</strong> es stets<br />
sein. Wären sie aber selbst imstan<strong>de</strong>, das πάντα ρεί einzusehen, sie<br />
wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Problemen, die es <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln stellt, ratlos gegenüberstehen.<br />
Vorauszusehen und vorzusorgen, neue Wege einzuschlagen, ist stets nur<br />
Sache <strong>de</strong>r wenigen, <strong>de</strong>r Führer, gewesen. Der Sozialismus ist die<br />
Wirtschaftspolitik <strong>de</strong>r Massen, <strong>de</strong>r vielen, die <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>r Wirtschaft<br />
fernestehen; die sozialistischen Theorien sind <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlag ihrer<br />
Anschauungen über das Wirtschaftsleben. Wirtschaftsfrem<strong>de</strong> und<br />
Wirtschaftslose haben ihn geschaffen und hängen ihm an.<br />
Von <strong>de</strong>n Sozialisten hat nur Saint Simon die Stellung <strong>de</strong>s Unternehmers<br />
in <strong>de</strong>r kapitalistischen Volkswirtschaft einigermaßen erkannt.<br />
Man pflegt ihm darum auch mitunter <strong>de</strong>n Namen Sozialist zu verweigern.<br />
Den an<strong>de</strong>ren fehlt vollkommen <strong>de</strong>r Blick dafür, daß die Funktionen, die<br />
<strong>de</strong>n Unternehmern in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung obliegen,<br />
auch im sozialistischen Gemeinwesen erfüllt wer<strong>de</strong>n müssen. Am besten<br />
erhellt dies aus <strong>de</strong>n Schriften von Lenin. Das Um und Auf <strong>de</strong>r Tätigkeit,<br />
die in <strong>de</strong>r kapitalistischen, Wirtschaftsordnung von jenen besorgt wird,<br />
<strong>de</strong>nen er das Prädikat „werktätig“ versagt, ist seiner Meinung nach<br />
„Produktions- und Verteilungskontrolle“ und „Arbeits- und<br />
Produktenregistrierung".
202<br />
Das könne leicht „durch bewaffnete Arbeiter, durch das gesamte<br />
bewaffnete Volk“ besorgt wer<strong>de</strong>n. 1 Lenin trennt dabei ganz richtig diese<br />
Funktionen <strong>de</strong>r „Kapitalisten und Beamten“ von <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s technisch<br />
höher gebil<strong>de</strong>ten Personals, nicht ohne übrigens die Gelegenheit<br />
vorübergehen zu lassen, um durch einen Seitenhieb auf das<br />
wissenschaftlich vorgebil<strong>de</strong>te Personal jener Verachtung für alle<br />
qualifizierte Arbeit, die <strong>de</strong>n marxistischen Proletarier-Snobismus<br />
auszeichnet, Ausdruck zu verleihen. „Diese Registrierung, die Ausübung<br />
dieser Kontrolle“ meint nun Lenin, „hat <strong>de</strong>r Kapitalismus auf das äußerste<br />
vereinfacht, hat sie in außergewöhnlich einfache, je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Lesens und<br />
Schreibens Kundigen zugängliche Operationen <strong>de</strong>r Beaufsichtigung und<br />
Notierung verwan<strong>de</strong>lt, für <strong>de</strong>ren Ausübung die Kenntnis <strong>de</strong>r vier<br />
Rechnungsarten und die Ausstellung entsprechen<strong>de</strong>r Quittungen genügt“. 2<br />
Es sei also ohne weiteres möglich, es dahin zu bringen, daß alle<br />
Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft fähig wer<strong>de</strong>n, diese Aufgaben selbst zu<br />
besorgen. 3 Das ist alles, aber auch rein alles, was Lenin über dieses<br />
Problem zu sagen hat; und kein Sozialist weiß ein Wort mehr darüber. Sie<br />
sind in <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r Wirtschaft nicht weiter gekommen<br />
als <strong>de</strong>r Laufbursche, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Tätigkeit <strong>de</strong>s Unternehmers nur das eine<br />
beobachtet hat, daß er irgendwelche Blätter Papier mit Buchstaben und<br />
Ziffern beschreibt.<br />
Darum ist es Lenin auch ganz unmöglich, die Ursachen <strong>de</strong>s Versagens<br />
seiner Politik zu erkennen. Durch sein Leben und durch seine Lektüre ist<br />
er <strong>de</strong>m Wirtschaftsleben so entrückt geblieben, daß er <strong>de</strong>m Tun <strong>de</strong>r<br />
„Bourgeoisie“ so fremd gegenübersteht wie ein Zulukaffer <strong>de</strong>m Tun eines<br />
Ent<strong>de</strong>ckungsreisen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r geographische Messungen vornimmt. Da er<br />
sieht, daß es so, wie er es angefangen hat, nicht weiter gehen kann,<br />
entschließt er sich, die „bürgerlichen“ Fachmänner nicht länger mehr nur<br />
durch <strong>de</strong>n Hinweis auf die „bewaffneten Arbeiter“ zur Mitwirkung zu<br />
zwingen; sie sollen für eine kurze Übergangszeit „hohe Bezüge“ erhalten,<br />
damit sie die sozialistische Wirtschaft in Gang setzen und sich selbst<br />
damit überflüssig machen. Er hält es für möglich, daß dies schon nach<br />
einem Jahr <strong>de</strong>r Fall sein wird. 4<br />
1 Vgl. Lenin, Staat und Revolution, a. a. O., S. 94.<br />
2 Ebendort S. 95.<br />
3 Ebendort S. 96.<br />
4 Vgl. Lenin, Die nächsten Aufgaben <strong>de</strong>r Sowjetmacht, a. a. O., S. 16 ff. - Seither ist<br />
Lenin noch einige Schritte weitergegangen und will nun <strong>de</strong>n Kapitalismus selbst noch auf<br />
einige Zeit unter Aufsicht <strong>de</strong>r „bewaffneten Arbeiter“ arbeiten lassen, ehe er das<br />
sozialistische Reich <strong>de</strong>s Heils vollen<strong>de</strong>t.
203<br />
Jene Sozialisten, die sich das sozialistische Gemeinwesen nicht so<br />
straff zentralistisch eingerichtet <strong>de</strong>nken, wie es <strong>de</strong>r folgerichtige<br />
Sozialismus allein <strong>de</strong>nken kann und wie es allein <strong>de</strong>nkbar ist, glauben,<br />
daß durch <strong>de</strong>mokratische Einrichtungen in <strong>de</strong>n Betrieben alle<br />
Schwierigkeiten, die sich <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung entgegenstellen, gelöst<br />
wer<strong>de</strong>n könnten. Sie glauben, daß es möglich wäre, die einzelnen Betriebe<br />
sich bis zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> selbständig betätigen zu lassen, ohne<br />
daß dadurch die Einheitlichkeit und das richtige Zusammenwirken <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaft gefähr<strong>de</strong>t wür<strong>de</strong>. Wenn man dann in je<strong>de</strong>m Betrieb die Leitung<br />
unter die Kontrolle von Arbeiterausschüssen stellt, könne es keine<br />
weiteren Schwierigkeiten geben. In all <strong>de</strong>m stecken ganze Bün<strong>de</strong>l von<br />
Trugschlüssen und Irrtümern. Die Probleme <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung, die<br />
uns hier beschäftigen, machen sich innerhalb <strong>de</strong>r einzelnen Betriebe viel<br />
weniger bemerkbar als gera<strong>de</strong> im Zusammenstimmen <strong>de</strong>r Leistungen <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Arbeitsstätten zu <strong>de</strong>m Ganzen <strong>de</strong>r Volkswirtschaft. Es han<strong>de</strong>lt<br />
sich da um Fragen, die, wie Auflösung, Erweiterung, Umgestaltung,<br />
Einschränkung bestehen<strong>de</strong>r Betriebe und Neuerrichtung von Betrieben,<br />
niemals von <strong>de</strong>n Arbeitern eines Betriebes allein entschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
können. Die Probleme, die <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung gestellt sind, reichen<br />
über <strong>de</strong>n einzelnen Betrieb hinaus.<br />
Der Staats- und Kommunalsozialismus hat genug ungünstige<br />
Erfahrungen gemacht, um zur eingehendsten Beschäftigung mit <strong>de</strong>m<br />
Problem <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung angeregt zu wer<strong>de</strong>n. Die Behandlung, die<br />
er ihm hat ange<strong>de</strong>ihen lassen, ist nicht weniger unzulänglich gewesen als<br />
die, die es im Rußland <strong>de</strong>r Bolschewiki erfahren hat. Die herrschen<strong>de</strong><br />
Meinung erblickt <strong>de</strong>n Hauptübelstand <strong>de</strong>r gemeinwirtschaftlichen<br />
Betriebe darin, daß in ihnen nicht „kaufmännisch“ gearbeitet wird. Bei<br />
diesem Schlagwort könnte man an eine zutreffen<strong>de</strong> Beurteilung <strong>de</strong>r Dinge<br />
<strong>de</strong>nken. In <strong>de</strong>r Tat fehlt <strong>de</strong>m gemeinwirtschaftlichen Betrieb <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>s<br />
Kaufmanns, und das Problem, das <strong>de</strong>m Sozialismus hier gestellt ist, ist<br />
eben das, für diesen Mangel Ersatz zu schaffen. Doch so will dieses<br />
Schlagwort gar nicht verstan<strong>de</strong>n sein. Es ist aus <strong>de</strong>r Seele von „Beamten“<br />
geboren, also von Leuten, <strong>de</strong>nen sich alles menschliche Han<strong>de</strong>ln als<br />
Erfüllung von formalen Amts- und Berufspflichten darstellt. Das<br />
Beamtentum klassifiziert die Tätigkeit nach <strong>de</strong>r durch
204<br />
Prüfungen und durch die Zurücklegung einer bestimmten Dienstzeit zu<br />
erlangen<strong>de</strong>n formalen Befähigung zu ihrer Vornahme. „Vorbildung“ und<br />
„Dienstalter“ sind das Um und Auf <strong>de</strong>ssen, was <strong>de</strong>r Beamte in seine<br />
„Stelle“ mitbringt. Erscheinen die Leistungen eines Beamtenkörpers als<br />
unbefriedigend, dann kann dies nur daran liegen, daß die Beamten nicht<br />
die richtige Vorbildung haben. Man muß <strong>de</strong>mnach künftig bei <strong>de</strong>r<br />
Bestellung an<strong>de</strong>rs verfahren. Man schlägt also vor, von <strong>de</strong>n Anwärtern<br />
künftig eine an<strong>de</strong>re Vorbildung zu for<strong>de</strong>rn. Wer<strong>de</strong>n einmal die Beamten<br />
<strong>de</strong>r gemeinwirtschaftlichen Betriebe kaufmännische Vorbildung<br />
mitbringen, dann wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Betrieb kaufmännischen Charakter erhalten.<br />
Darunter stellt sich <strong>de</strong>r Beamte, <strong>de</strong>m es nicht gegeben ist, in <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaft einzudringen, aber nichts an<strong>de</strong>res vor als<br />
gewisse Äußerlichkeiten <strong>de</strong>r Geschäftstechnik: flotte Erledigung <strong>de</strong>r<br />
Einläufe, Verwendung gewisser technischer Hilfsmittel <strong>de</strong>s<br />
Bureaubetriebes, die in die Staatsämter noch nicht genug Eingang<br />
gefun<strong>de</strong>n haben, als da sind Schreibmaschinen, Kopierpressen u. dgl.,<br />
Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Vielschreiberei, und an<strong>de</strong>res. So ziehen <strong>de</strong>nn die<br />
„Kaufleute“ in die Kanzleiräume <strong>de</strong>r gemeinwirtschaftlichen Betriebe ein.<br />
Und man ist sehr erstaunt, daß auch sie versagen, ja noch mehr versagen<br />
als die vielgeschmähten Juristen, die sich wenigstens an formaler<br />
Schulung ihnen überlegen erweisen.<br />
Es ist nicht schwer, die Trugschlüsse, die in diesem Gedankengang<br />
stecken, aufzu<strong>de</strong>cken. Die Kaufmannseigenschaft ist von <strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>s<br />
Unternehmers in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht zu trennen.<br />
Das „Kaufmännische“ ist keine Eigenschaft <strong>de</strong>r Person, die angeboren ist;<br />
nur die geistigen Eigenschaften, die ein Kaufmann benötigt, können<br />
angeboren sein. Es ist ebensowenig eine Fertigkeit, die durch Studium<br />
erworben wer<strong>de</strong>n kann; nur die Kenntnisse und Fertigkeiten, die ein<br />
Kaufmann braucht, können gelehrt und gelernt wer<strong>de</strong>n. Kaufmann wird<br />
man nicht dadurch, daß man eine Reihe von Jahren in <strong>de</strong>r kaufmännischen<br />
Lehre o<strong>de</strong>r an einer Han<strong>de</strong>lslehranstalt zubringt, nicht dadurch, daß man<br />
von <strong>de</strong>r Buchhaltung etwas versteht und mit Ausdrücken <strong>de</strong>s Kaufmannsjargons<br />
Bescheid weiß, nicht dadurch, daß man Sprachkenntnisse und<br />
Fertigkeiten im Maschineschreiben und in <strong>de</strong>r Kurzschrift besitzt. Das<br />
alles sind Dinge, die <strong>de</strong>r Bureauarbeiter benötigt. Doch <strong>de</strong>r Bureauarbeiter<br />
ist kein Kaufmann, mag ihn auch die Sprache <strong>de</strong>s täglichen Lebens als<br />
„gelernten Kaufmann“ bezeichnen.<br />
Man hat es schließlich damit versucht, Unternehmer, die sich
205<br />
jahrelang erfolgreich betätigt haben, zu Leitern gemeinwirtschaftlicher<br />
Betriebe zu machen. Der Erfolg war kläglich. Sie haben die Sache nicht<br />
besser gemacht als die an<strong>de</strong>ren, dafür es an jenem Sinn für formale<br />
Ordnung fehlen lassen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n „gelernten“ Beamten auszeichnet. Ein<br />
Unternehmer, <strong>de</strong>n man seiner charakteristischen Stellung im<br />
Wirtschaftsleben entklei<strong>de</strong>t, hört auf, Kaufmann zu sein. Er mag in seine<br />
neue Stellung noch so viel Erfahrung und Routine mitbringen, er wird in<br />
ihr doch nur Beamter sein.<br />
Ebensowenig geht es an, das Problem durch Besoldungsreformen zu<br />
lösen. Man meint, wenn man die Leiter <strong>de</strong>r gemeinwirtschaftlichen<br />
Betriebe besser bezahlte, dann wer<strong>de</strong> ein Wettbewerb um diese Stellen<br />
einsetzen, <strong>de</strong>r es ermöglichen wird, die Besten auszuwählen. Manche<br />
gehen noch weiter und glauben durch Gewinnbeteiligung <strong>de</strong>r Leiter <strong>de</strong>r<br />
Schwierigkeiten Herr wer<strong>de</strong>n zu können. Es ist bezeichnend, daß diese<br />
Vorschläge bisher kaum Verwirklichung gefun<strong>de</strong>n haben, trotz<strong>de</strong>m sie,<br />
solange gemeinwirtschaftliche Betriebe neben privaten Unternehmungen<br />
bestehen, durchführbar erscheinen, da solange auch die Möglichkeit <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaftsrechnung die Ermittlung <strong>de</strong>s vom gemeinwirtschaftlichen<br />
Betrieb erreichten Erfolges zuläßt, was im rein sozialistischen<br />
Gemeinwesen nicht <strong>de</strong>r Fall sein wird. Das Problem liegt nämlich gar<br />
nicht so sehr in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r Teilnahme <strong>de</strong>s Leiters am Gewinn als in<br />
seiner Teilnahme an Verlusten, die durch seine Geschäftsführung<br />
entstehen. Für Verluste kann man <strong>de</strong>n vermögenslosen Leiter eines<br />
gemeinwirtschaftlichen Betriebes nur zu einem verhältnismäßig sehr<br />
geringen Teile an<strong>de</strong>rs als bloß moralisch haftbar machen. Ist er nun auf<br />
<strong>de</strong>r einen Seite am Gewinn materiell interessiert, am Verlust aber kaum<br />
beteiligt, so för<strong>de</strong>rt man seinen Leichtsinn. Das ist eine Erfahrung, die<br />
nicht bloß die gemeinwirtschaftlichen Betriebe, son<strong>de</strong>rn auch die privaten<br />
Unternehmungen überall machen mußten, wo sie mittellose Angestellte in<br />
leiten<strong>de</strong>n Posten mit Tantiemenberechtigung bedacht haben.<br />
Es ist ein Verzicht auf die Lösung <strong>de</strong>r Probleme, die uns beschäftigen,<br />
wenn man sich damit zu trösten versucht, die sittliche Läuterung <strong>de</strong>r<br />
Menschen, die sich die Sozialisten von <strong>de</strong>r Durchführung ihrer Pläne<br />
erwarten, wer<strong>de</strong> von selbst alles auf das schönste in Ordnung bringen. Ob<br />
<strong>de</strong>r Sozialismus die sittliche Wirkung, die man von ihm erwartet, haben<br />
wird o<strong>de</strong>r nicht, mag hier füglich dahingestellt bleiben. Denn die<br />
Probleme, die uns beschäftigen, entspringen nicht einer sittlichen<br />
Unvollkommenheit <strong>de</strong>r Menschen.
206<br />
Es sind Probleme <strong>de</strong>r Logik <strong>de</strong>s Willens und <strong>de</strong>r Tat, die ohne zeitliche<br />
und örtliche Beschränkungen für alles menschliche Han<strong>de</strong>ln gelten.<br />
§ 3. Ungeachtet <strong>de</strong>r gewonnenen Erkenntnis, daß alle bisherigen<br />
sozialistischen Bestrebungen an diesen Problemen gescheitert sind, soll<br />
nun <strong>de</strong>r Versuch unternommen wer<strong>de</strong>n, Wege aufzuspüren, auf <strong>de</strong>nen ihre<br />
Lösung gesucht wer<strong>de</strong>n müßte. Nur so können wir uns Klarheit darüber<br />
verschaffen, ob sie im Rahmen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung<br />
überhaupt gelöst wer<strong>de</strong>n können.<br />
Der erste Schritt, <strong>de</strong>n man machen müßte, wäre <strong>de</strong>r, innerhalb <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Gemeinwesens Abteilungen zu bil<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen die<br />
Besorgung bestimmter Geschäftszweige zugewiesen wird. Solange die<br />
Wirtschaft <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens von einer einzigen Stelle<br />
aus geleitet wird, die allein alle Verfügungen trifft und allein alle<br />
Verantwortung trägt, ist an ihre Lösung nicht zu <strong>de</strong>nken, weil dann alle<br />
übrigen Tätigen nur ausführen<strong>de</strong> Werkzeuge ohne selbständig<br />
abgegrenzten Wirkungskreis und mithin ohne beson<strong>de</strong>re Verantwortung<br />
sind. Das, was wir anstreben müssen, ist gera<strong>de</strong> die Möglichkeit, nicht nur<br />
<strong>de</strong>n gesamten Prozeß überblicken und kontrollieren zu können, son<strong>de</strong>rn<br />
auch die einzelnen Teilprozesse, die sich im engeren Rahmen abspielen,<br />
geson<strong>de</strong>rt betrachten und beurteilen zu können.<br />
Wir befin<strong>de</strong>n uns, wenn wir dieses Verfahren einschlagen, in<br />
Übereinstimmung mit allen im Dunkel tappen<strong>de</strong>n Versuchen, die bis nun<br />
zur Lösung unserer Probleme gemacht wur<strong>de</strong>n. Es ist allen klar, daß man<br />
zum angestrebten Ziel nur gelangen kann, wenn man die<br />
Verantwortlichkeit von unten aufbaut. Dazu muß man vom einzelnen<br />
Betrieb o<strong>de</strong>r vom einzelnen Geschäftszweig ausgehen. Es ist dabei ganz<br />
gleichgültig, welche Einheit zugrun<strong>de</strong> gelegt wird. Es macht nichts aus,<br />
ob die Einheit, die wir zum Ausgang nehmen, größer o<strong>de</strong>r kleiner ist, weil<br />
das gleiche Prinzip, das wir einmal zur Zerlegung angewen<strong>de</strong>t haben,<br />
immer wie<strong>de</strong>r angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann, wo es nottut, eine zu große<br />
Einheit weiter zu zerlegen. Viel wichtiger als die Frage, wo und wie oft<br />
<strong>de</strong>r Schnitt geführt wird, ist die, wie trotz <strong>de</strong>r Zerlegung <strong>de</strong>r Wirtschaft in<br />
Teile die Einheit <strong>de</strong>s Zusammenwirkens, ohne die gesellschaftliche<br />
Wirtschaft nicht möglich ist, gewahrt bleiben kann.<br />
Wir <strong>de</strong>nken uns die Wirtschaft <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens<br />
zunächst in eine beliebige Anzahl von Abteilungen zerlegt, <strong>de</strong>ren je<strong>de</strong><br />
einem beson<strong>de</strong>ren Abteilungsleiter unterstellt wird. Je<strong>de</strong>r Abteilungsleiter
207<br />
wird mit <strong>de</strong>r vollen Verantwortlichkeit für sein Han<strong>de</strong>ln beklei<strong>de</strong>t. Das<br />
heißt, ihm fließt <strong>de</strong>r Gewinn o<strong>de</strong>r doch ein größerer Teil <strong>de</strong>s Gewinnes zu;<br />
an<strong>de</strong>rerseits wird ihm <strong>de</strong>r Verlust insoferne zur Last gelegt, daß ihm jene<br />
Produktionsmittel, die er durch schlechte Maßnahmen verwirtschaftet,<br />
nicht von <strong>de</strong>r Gesellschaft ersetzt wer<strong>de</strong>n. Hat er ganz abgewirtschaftet,<br />
dann hört er überhaupt auf, Abteilungsleiter zu sein und tritt in die Masse<br />
<strong>de</strong>r übrigen Genossen zurück.<br />
Soll nun diese Selbstverantwortung <strong>de</strong>s Abteilungsleiters nicht bloßer<br />
Schein sein, dann muß sein Han<strong>de</strong>ln von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Abteilungsleiter <strong>de</strong>utlich unterscheidbar sein. Alles, was er an Rohstoffen<br />
und Halbfabrikaten von an<strong>de</strong>ren Abteilungsleitern zur Weiterverarbeitung<br />
o<strong>de</strong>r zur Verwendung als Werkzeug in seiner Abteilung übernimmt, und<br />
alle Arbeit, die er in seiner Abteilung leisten läßt, wird ihm zur Last<br />
geschrieben; alles, was er an an<strong>de</strong>re Abteilungen o<strong>de</strong>r an die Konsumtion<br />
abgibt, wird ihm gutgeschrieben. Dazu ist es notwendig, daß ihm freie<br />
Wahl gelassen wird, zu entschei<strong>de</strong>n, welche Maschinen, Rohstoffe,<br />
Halbfabrikate und Arbeitskräfte er in seiner Abteilung verwen<strong>de</strong>n will<br />
und was er in ihr erzeugen will. Wäre das nicht <strong>de</strong>r Fall, dann könnte man<br />
ihm keine Verantwortung aufbür<strong>de</strong>n. Denn es wäre ja nicht seine Schuld,<br />
wenn er auf Befehl <strong>de</strong>r Oberleitung irgen<strong>de</strong>twas erzeugt hätte, wofür unter<br />
<strong>de</strong>n gegebenen Verhältnissen kein entsprechen<strong>de</strong>r Bedarf besteht, o<strong>de</strong>r<br />
wenn seine Abteilung darunter lei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, daß sie die Vorerzeugnisse<br />
von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Abteilungen in ungeeignetem Zustand o<strong>de</strong>r, was dasselbe<br />
ist, mit zu hoher Belastung bekäme. In jenem Fall wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mißerfolg<br />
seiner Abteilung auf Verfügungen <strong>de</strong>r obersten Leitung, in diesem auf die<br />
Mißerfolge <strong>de</strong>r Abteilungen, die Vorerzeugnisse herstellen, zurückzuführen<br />
sein. An<strong>de</strong>rerseits aber muß es auch <strong>de</strong>r Gesellschaft freistehen,<br />
dasselbe Recht, das sie <strong>de</strong>m Abteilungsleiter einräumt, für sich selbst in<br />
Anspruch zu nehmen. Das heißt, sie übernimmt die Produkte, die er<br />
erzeugt hat, auch nur nach Maßgabe ihres Bedarfes und womöglich dort,<br />
wo sie sie mit <strong>de</strong>m geringsten Belastungssatz erhalten kann, und sie<br />
berechnet ihm die Arbeit, die sie ihm liefert, zu <strong>de</strong>m höchsten Satz, <strong>de</strong>n<br />
sie dafür zu empfangen in <strong>de</strong>r Lage ist; sie gibt sie gewissermaßen <strong>de</strong>m<br />
Höchstbieten<strong>de</strong>n.<br />
Die Gesellschaft als Produktionsgemeinschaft zerfällt nun in drei<br />
Gruppen. Die eine bil<strong>de</strong>t die Leitung. Der obliegt lediglich die Aufsicht<br />
über <strong>de</strong>n ordnungsmäßigen Verlauf <strong>de</strong>s gesamten Produktionsprozesses,
208<br />
<strong>de</strong>ssen Durchführung ganz <strong>de</strong>n Abteilungsleitern überantwortet ist. Die<br />
dritte Gruppe bil<strong>de</strong>n die Genossen, die we<strong>de</strong>r im Dienste <strong>de</strong>r Oberleitung<br />
stehen, noch Abteilungsleiter sind. Zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Gruppen stehen<br />
als beson<strong>de</strong>re Gruppe die Abteilungsleite; sie haben von <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
bei Einführung <strong>de</strong>s Regimes eine einmalige Ausstattung mit<br />
Produktionsmitteln empfangen, wofür sie kein Entgelt zu leisten hatten,<br />
und empfangen von ihr immer wie<strong>de</strong>r die Arbeitskraft <strong>de</strong>r Angehörigen<br />
<strong>de</strong>r dritten Gruppe, die <strong>de</strong>m Meistbieten<strong>de</strong>n unter ihnen zugewiesen<br />
wer<strong>de</strong>n. Die genußreifen Güter wer<strong>de</strong>n dann von <strong>de</strong>r Leitung, die je<strong>de</strong>m<br />
Genossen <strong>de</strong>r dritten Gruppe alles das gutzuschreiben hat, was sie für<br />
seine Arbeitskraft von <strong>de</strong>n Abteilungsleitern erlöst hat, o<strong>de</strong>r, falls sie ihn<br />
in ihrem eigenen Wirkungskreis verwen<strong>de</strong>t, alles das, was sie für seine<br />
Arbeitskraft von <strong>de</strong>n Abteilungsleitern hätte erlösen können, wie<strong>de</strong>r durch<br />
Zuschlag an <strong>de</strong>n Meistbieten<strong>de</strong>n, er sei Genosse welcher <strong>de</strong>r drei Gruppen<br />
immer, verteilt. Der Erlös wird <strong>de</strong>n Abteilungsleitern, die sie geliefert<br />
haben, gutgeschrieben.<br />
Bei dieser Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Gesellschaft können die Abteilungsleiter<br />
voll zur Verantwortung für ihr Tun und Lassen herangezogen wer<strong>de</strong>n. Das<br />
Gebiet, für das sie die Verantwortung tragen, ist scharf von <strong>de</strong>m<br />
abgegrenzt, für das <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren die Verantwortung obliegt. Hier steht<br />
man nicht mehr <strong>de</strong>m Gesamterfolg <strong>de</strong>s Wirtschaftsprozesses <strong>de</strong>r gesamten<br />
Wirtschaftsgemeinschaft gegenüber, in <strong>de</strong>m man die Beiträge <strong>de</strong>r<br />
einzelnen nicht mehr zu schei<strong>de</strong>n vermag. Der „produktive Beitrag“ eines<br />
je<strong>de</strong>n einzelnen Abteilungsleiters ist geson<strong>de</strong>rter Beurteilung zugänglich;<br />
ebenso aber auch <strong>de</strong>r eines je<strong>de</strong>n einzelnen Genossen <strong>de</strong>r dritten Gruppe.<br />
Den Abteilungsleitern muß aber auch die Möglichkeit gegeben<br />
wer<strong>de</strong>n, ihre Abteilung so umzugestalten, auszu<strong>de</strong>hnen o<strong>de</strong>r zu verkleinern,<br />
wie es die jeweilige Richtung <strong>de</strong>r Nachfrage <strong>de</strong>r Genossen, die<br />
bei <strong>de</strong>r Versteigerung <strong>de</strong>r genußreifen Güter sichtbar wird, erfor<strong>de</strong>rt. Dazu<br />
müssen sie in <strong>de</strong>r Lage sein, die Produktionsmittel ihrer Abteilung, die in<br />
an<strong>de</strong>ren Abteilungen dringen<strong>de</strong>r benötigt wer<strong>de</strong>n, an diese zu überlassen;<br />
und dafür dürfen sie soviel for<strong>de</strong>rn, als sie überhaupt unter <strong>de</strong>n gegebenen<br />
Verhältnissen erreichen können.<br />
Man braucht diese Konstruktion nicht weiter auszuführen; man erkennt<br />
unschwer, daß sie nichts an<strong>de</strong>res darstellt als das System <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaftsordnung. In <strong>de</strong>r Tat bietet nur diese die Form<br />
gesellschaftlicher Wirtschaft, in <strong>de</strong>r die strenge
209<br />
Durchführung <strong>de</strong>s Gedankens <strong>de</strong>r persönlichen Verantwortlichkeit je<strong>de</strong>s<br />
einzelnen Genossen möglich ist. Der Kapitalismus ist die Gestaltung <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Wirtschaft, in <strong>de</strong>r alle jene Mängel <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Systems, die oben auseinan<strong>de</strong>rgesetzt wur<strong>de</strong>n, behoben sind. Der<br />
Kapitalismus ist die einzig <strong>de</strong>nkbare und mögliche Gestalt<br />
gesellschaftlicher Wirtschaft.<br />
II. Abschnitt.<br />
Das sozialistische Gemeinwesen im Verkehr.<br />
I.<br />
Weltsozialismus und Staatensozialismus.<br />
§ 1. Der ältere Sozialismus ist durch seine Vorliebe für die Rückkehr<br />
zur einfacheren Produktionsweise <strong>de</strong>r Vorzeit gekennzeichnet. Sein I<strong>de</strong>al<br />
ist das autarke Dorf o<strong>de</strong>r, wenn es hoch kommt, die autarke Landschaft:<br />
eine Stadt, um die sich eine Anzahl Dörfer gruppieren. Allem Han<strong>de</strong>l und<br />
Verkehr abhold, sehen seine Vorkämpfer im Außenhan<strong>de</strong>l vollends etwas<br />
Schädliches, das beseitigt wer<strong>de</strong>n müsse. Der Außenhan<strong>de</strong>l bringe<br />
überflüssige Waren ins Land; da man sie früher entbehren konnte, sei es<br />
erwiesen, daß man sie nicht brauche und nur durch die leichte Möglichkeit<br />
<strong>de</strong>r Beschaffung zu unnötigem Aufwand verleitet wer<strong>de</strong>. Er ver<strong>de</strong>rbe die<br />
Sitten und schleppe frem<strong>de</strong> Bräuche und Anschauungen ein. Der<br />
kynisch-stoische Lebensgrundsatz <strong>de</strong>r Autarkie wird frühzeitig in <strong>de</strong>r<br />
Utopie in wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit umge<strong>de</strong>utet. Dem<br />
romanhaft i<strong>de</strong>alisierten lykurgischen Sparta rühmt Plutarch nach, daß kein<br />
Schiff mit Kaufmannsgütern in seine Häfen einlief. 1<br />
Das Festhalten am I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Autarkie und die völlige<br />
Verständnislosigkeit für das Wesen <strong>de</strong>s Verkehrs und <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls lassen<br />
die Utopisten das Problem <strong>de</strong>r räumlichen Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>alstaates<br />
übersehen. Ob die Grenzen ihres Märchenlan<strong>de</strong>s weiter o<strong>de</strong>r enger<br />
gesteckt sind, spielt in ihren Erwägungen keine Rolle. Im kleinsten Dorf<br />
ist Raum genug für die Verwirklichung ihrer Pläne. So kann <strong>de</strong>r Gedanke<br />
entstehen, die Utopie probeweise in kleinem Maßstabe zu verwirklichen.<br />
Owen grün<strong>de</strong>t in Indiana New Harmony, Cabet in Texas ein kleines<br />
Ikarien, Consi<strong>de</strong>rant<br />
1 Vgl. Poehlmann, a. a. O., I. Bd., S. 110 ff., 123 f.
210<br />
gleichfalls in Texas ein Musterphalanstère. „Duo<strong>de</strong>z-Ansgabe <strong>de</strong>s neuen<br />
Jerusalems“ spottet das Kommunistische Manifest.<br />
Allmählich nur fangen die Sozialisten an einzusehen, daß man die<br />
Autarkie <strong>de</strong>s engen Raumes nicht zum Grundsatz <strong>de</strong>s Sozialismus machen<br />
könne. Thompson, ein Schüler Owens, bemerkt, daß die Durchführung<br />
<strong>de</strong>r Gleichheit innerhalb <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r einer Gemein<strong>de</strong> noch lange nicht<br />
die Durchführung <strong>de</strong>r Gleichheit zwischen <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn verschie<strong>de</strong>ner<br />
Gemein<strong>de</strong>n be<strong>de</strong>ute. Unter <strong>de</strong>m Einfluß dieser Erkenntnis nimmt sein<br />
I<strong>de</strong>al die Formen <strong>de</strong>s zentralistischen Sozialismus an. 1 Saint Simon und<br />
seine Schule waren durchaus Zentralisten. Pecqueurs Reformpläne<br />
nannten sich national und universell. 2<br />
Damit taucht ein beson<strong>de</strong>res Problem <strong>de</strong>s Sozialismus auf. Kann es auf<br />
Er<strong>de</strong>n räumlich begrenzten Sozialismus geben o<strong>de</strong>r muß notwendigerweise<br />
die ganze bewohnte Er<strong>de</strong> ein einheitliches sozialistisches<br />
Gemeinwesen bil<strong>de</strong>n?<br />
§ 2. Für <strong>de</strong>n Marxismus kann es nur eine Lösung dieses Problems<br />
geben: die ökumenische.<br />
Der Marxismus geht davon aus, daß schon <strong>de</strong>r Kapitalismus aus<br />
innerer Notwendigkeit <strong>de</strong>r ganzen Welt seinen Stempel aufgedrückt hat.<br />
Schon <strong>de</strong>r Kapitalismus ist nicht auf ein einziges o<strong>de</strong>r auf einige wenige<br />
Völker beschränkt; er ist übernational und kosmopolitisch. „An die Stelle<br />
<strong>de</strong>r alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit<br />
tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit <strong>de</strong>r Nationen<br />
voneinan<strong>de</strong>r.“ Mit <strong>de</strong>n wohlfeilen Preisen ihrer Waren, die ihre „schwere<br />
Artillerie“ bil<strong>de</strong>n, zwingt die Bourgeoisie alle Nationen, sich die<br />
Produktionsweise <strong>de</strong>r Bourgeoisie anzueignen, wenn sie nicht zugrun<strong>de</strong><br />
gehen wollen. „Sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst<br />
einzuführen, d. h. Bourgeois zu wer<strong>de</strong>n. Mit einem Wort, sie schafft sich<br />
eine Welt nach ihrem eigenen Bild.“ Das gilt nicht nur von <strong>de</strong>r<br />
materiellen, son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>r geistigen Produktion. „Die geistigen<br />
Erzeugnisse <strong>de</strong>r einzelnen Nationen wer<strong>de</strong>n Gemeingut. Die nationale<br />
Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus<br />
<strong>de</strong>n vielen nationalen und lokalen Literaturen bil<strong>de</strong>t sich eine<br />
Weltliteratur". 3<br />
1<br />
Vgl. Tagan-Baranowsky, Der mo<strong>de</strong>rne Sozialismus in seiner geschichtlichen<br />
Entwicklung, a. a. O., S. 136.<br />
2 Vgl. Pecqueur, a. a. O., S. 699.<br />
3 Vgl. Marx-Engels, Das Kommunistische Manifest, a. a. O., S. 26.
211<br />
Daraus folgt im Sinne <strong>de</strong>r materialistischen Geschichtsauffassung, daß<br />
auch <strong>de</strong>r Sozialismus keine nationale, son<strong>de</strong>rn nur eine internationale<br />
Erscheinung sein kann. Er ist eine geschichtliche Phase <strong>de</strong>r ganzen<br />
Menschheit, nicht eines einzigen Volkes. Die Frage, ob diese o<strong>de</strong>r jene<br />
Nation schon „reif“ sei für <strong>de</strong>n Sozialismus, kann im Sinne <strong>de</strong>s reinen<br />
Marxismus überhaupt nicht gestellt wer<strong>de</strong>n. Der Kapitalismus macht die<br />
Welt für <strong>de</strong>n Sozialismus reif, nicht ein einzelnes Land o<strong>de</strong>r gar eine<br />
einzelne Industrie. Die Expropriateure, durch <strong>de</strong>ren Expropriation <strong>de</strong>r<br />
letzte Schritt zur Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus einst geschehen soll,<br />
darf man sich nicht an<strong>de</strong>rs vorstellen <strong>de</strong>nn als Großkapitalisten, <strong>de</strong>ren<br />
Kapitalien in <strong>de</strong>r ganzen Welt angelegt sind. Für <strong>de</strong>n Marxisten sind daher<br />
die sozialistischen Experimente <strong>de</strong>r „Utopisten“ ebenso wi<strong>de</strong>rsinnig wie<br />
<strong>de</strong>r Bismarcksche, natürlich nicht ernst gemeinte Vorschlag, in einem <strong>de</strong>r<br />
polnischen Kreise <strong>de</strong>s preußischen Staates probeweise <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
einzuführen. 1 Der Sozialismus ist eine Geschichtsepoche, die man nicht<br />
künstlich in <strong>de</strong>r Retorte zur Probe und im Kleinen herstellen kann. So<br />
kann es für <strong>de</strong>n Marxismus das Problem <strong>de</strong>r Autarkie eines sozialistischen<br />
Gemeinwesens gar nicht geben. Das sozialistische Gemeinwesen, das er<br />
allein <strong>de</strong>nken kann, umfaßt die ganze Menschheit und die ganze<br />
Erdoberfläche. Die Wirtschaftsleitung ist für die ganze Welt einheitlich.<br />
Die späteren Marxisten haben freilich erkannt, daß man auch damit<br />
rechnen muß, daß, zumin<strong>de</strong>st eine Zeitlang, mehrere unabhängige<br />
sozialistische Gemeinwesen nebeneinan<strong>de</strong>r bestehen wer<strong>de</strong>n. 2 Gibt man<br />
aber das zu, dann muß man weiter gehen und auch <strong>de</strong>n Fall ins Auge<br />
fassen, daß ein o<strong>de</strong>r mehrere sozialistische Gemeinwesen neben einer im<br />
großen und ganzen auf kapitalistischer Grundlage wirtschaften<strong>de</strong>n<br />
Umwelt bestehen.<br />
§ 3. Wenn Marx und ihm folgend die Mehrzahl aller neueren<br />
sozialistischen Schriftsteller sich die Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
allein in <strong>de</strong>r Gestalt eines einheitlichen sozialistischen Weltstaates<br />
<strong>de</strong>nken, übersehen sie, daß gewaltige Kräfte <strong>de</strong>r Ökumenisierung<br />
entgegenwirken.<br />
Man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß die Leichtigkeit,<br />
mit <strong>de</strong>r sie über diese Probleme hinweggehen, auf eine - wie<br />
1 Vgl. Bismarcks Re<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Sitzung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Reichstages vom 19. Februar 1878<br />
(Fürst Bismarcks Re<strong>de</strong>n, herg. v. Stein, VII. Bd., S. 34).<br />
2 Vgl. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozial<strong>de</strong>mokratie, Wien 1907, S. 519.
212<br />
wir sehen wer<strong>de</strong>n, durch nichts gerechtfertigte - Herübernahme <strong>de</strong>r zur<br />
Zeit <strong>de</strong>r Ausbildung <strong>de</strong>s Marxismus herrschen<strong>de</strong>n Anschauungen über die<br />
künftige politische Gestaltung <strong>de</strong>r Welt zurückzuführen ist. Die liberale<br />
Doktrin glaubte damals alle regionale und staatliche Abson<strong>de</strong>rung als<br />
einen politischen Atavismus ansehen zu dürfen. Sie hatte, unwi<strong>de</strong>rlegbar<br />
für alle Zeiten, ihre Lehre von <strong>de</strong>n Wirkungen <strong>de</strong>r Schutzzölle und <strong>de</strong>s<br />
Freihan<strong>de</strong>ls vorgetragen, hatte gezeigt, daß alles, was <strong>de</strong>n Verkehr<br />
hemmen kann, zum Nachteile aller Beteiligten ausschlägt und hatte sich<br />
mit großem Erfolge daran gemacht, <strong>de</strong>n Staat auf die Funktion <strong>de</strong>s<br />
Sicherheitsproduzenten zu beschränken. Für <strong>de</strong>n Liberalismus besteht das<br />
Problem <strong>de</strong>r Staatsgrenzen nicht. Wenn man die staatlichen Aufgaben<br />
darauf beschränkt, Leben und Eigentum gegen Mör<strong>de</strong>r und Diebe zu<br />
schützen, ist es weiter von keinem Belang, ob dieses o<strong>de</strong>r jenes Land noch<br />
„zu uns“ gehört o<strong>de</strong>r nicht. Ob <strong>de</strong>r Staat sich räumlich über ein weiteres<br />
o<strong>de</strong>r engeres Gebiet erstreckt, erscheint einem Zeitalter gleichgültig, das<br />
die Zollschranken zerstört und daran ist, die einzelnen staatlichen Rechtsund<br />
Verwaltungssysteme einan<strong>de</strong>r anzugleichen. Um die Mitte <strong>de</strong>s 19.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts mochte <strong>de</strong>n Optimisten unter <strong>de</strong>n Liberalen <strong>de</strong>r Gedanken<br />
eines Völkerbun<strong>de</strong>s, eines wahren Weltstaates, als in nicht allzuweiter<br />
Ferne erfüllbar erscheinen.<br />
Schon die Liberalen haben das größte Hin<strong>de</strong>rnis, das sich <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Weltfreihan<strong>de</strong>ls in <strong>de</strong>n Weg stellen sollte, nicht<br />
genügend beachtet: das nationale Problem. Die Sozialisten aber übersehen<br />
vollkommen, daß dieses Hin<strong>de</strong>rnis für die sozialistische Gesellschaft noch<br />
unendlich viel größer ist. Die Unfähigkeit, im nationalökonomischen<br />
Denken über Ricardo hinauszugehen, die die Marxisten kennzeichnet, und<br />
ihr Unverständnis für alle nationalpolitischen Fragen haben es ihnen<br />
unmöglich gemacht, das Problem, das hier liegt, auch nur zu ahnen.<br />
II.<br />
Die Wan<strong>de</strong>rungen als Problem <strong>de</strong>s Sozialismus.<br />
§ 1. Bei voller Freiheit <strong>de</strong>s Verkehrs wür<strong>de</strong> es dazu kommen, daß nur<br />
die günstigsten Produktionsbedingungen zur Verwertung herangezogen<br />
wer<strong>de</strong>n. Die Urproduktion wür<strong>de</strong> jene Grundstücke aufsuchen, die unter<br />
gleichen Umstän<strong>de</strong>n die höchste Ausbeute geben.
213<br />
Die verarbeiten<strong>de</strong> Industrie wür<strong>de</strong> ihren Standort dort nehmen, wo zur<br />
Erzeugung einer Gütereinheit (bis zur vollen Genußreife, also<br />
einschließlich <strong>de</strong>s Transportes zum Konsumtionsort) die geringste<br />
Transportleistung benötigt wird. Da die Arbeiter sich in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r<br />
Produktionsstätten ansie<strong>de</strong>ln müssen, müssen sich die Siedlungsverhältnisse<br />
<strong>de</strong>n natürlichen Produktionsbedingungen anpassen.<br />
Die natürlichen Produktionsverhältnisse sind nur im Beharrungszustand<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft unverän<strong>de</strong>rlich. Die Kräfte <strong>de</strong>r Bewegung<br />
gestalten sie beständig um. In <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Einflusse <strong>de</strong>r dynamischen<br />
Faktoren sich verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Wirtschaft sind die Menschen auf <strong>de</strong>r<br />
Wan<strong>de</strong>rung von <strong>de</strong>n Stätten <strong>de</strong>r weniger günstigen zu <strong>de</strong>n Stätten <strong>de</strong>r<br />
günstigeren Produktionsbedingungen. In <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaftsordnung wan<strong>de</strong>rn Kapital und Arbeit unter <strong>de</strong>m Drucke <strong>de</strong>s<br />
freien Wettbewerbes zu <strong>de</strong>n günstigsten Standorten hin. Im geschlossenen<br />
sozialistischen Gemeinwesen wird dasselbe Ergebnis durch Verfügungen<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung erzielt. Es ist immer das gleiche: die Menschen<br />
wan<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Stätten <strong>de</strong>r günstigsten Lebensbedingungen zu. 1<br />
Diese Wan<strong>de</strong>rungen sind von <strong>de</strong>n schwerwiegendsten Folgen für die<br />
Gestaltung <strong>de</strong>r nationalen Verhältnisse. Sie führen Angehörige von<br />
Nationen, <strong>de</strong>ren Siedlungsgebiete weniger günstige Produktionsmöglichkeiten<br />
aufweisen, in das Gebiet jener Nationen, die sich eines von <strong>de</strong>r<br />
Natur besser bedachten Siedlungsgebietes erfreuen. Sind die Bedingungen,<br />
unter <strong>de</strong>nen sich die Wan<strong>de</strong>rungen vollziehen, so beschaffen, daß die<br />
Einwan<strong>de</strong>rer von ihrer neuen Umgebung assimiliert wer<strong>de</strong>n, dann wird<br />
die Auswan<strong>de</strong>rungsnation dadurch zahlenmäßig geschwächt; sind sie so,<br />
daß die Einwan<strong>de</strong>rer in <strong>de</strong>r neuen Heimat ihr Volkstum bewahren o<strong>de</strong>r<br />
gar die Ureinwohner sich assimilieren, dann ist es an <strong>de</strong>r das<br />
Einwan<strong>de</strong>rungsland bewohnen<strong>de</strong>n Nation, von <strong>de</strong>r Einwan<strong>de</strong>rung eine<br />
Beeinträchtigung ihrer nationalen Stellung zu befürchten.<br />
Angehöriger einer nationalen Min<strong>de</strong>rheit zu sein, bringt mannigfache<br />
politische Nachteile mit sich. 2 Diese Nachteile sind um so stärker fühlbar,<br />
je weiter <strong>de</strong>r Wirkungskreis <strong>de</strong>r politischen Gewalt ist. Sie sind in einem<br />
rein liberalen Staatswesen am kleinsten, in einem sozialistischen am<br />
stärksten. Je stärker sie aber empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto stärker wie<strong>de</strong>r<br />
wächst in je<strong>de</strong>m Volk das Bestreben,<br />
1 Vgl. meine Ausführungen in „Nation, Staat und Wirtschaft“, Wien 1919, S. 45 ff.<br />
2 Vgl. ebendort S. 37 ff.
214<br />
seine Angehörigen vor <strong>de</strong>m Schicksal, das die nationale Min<strong>de</strong>rheit trifft,<br />
zu bewahren. Groß an Zahl zu wer<strong>de</strong>n, die Majorität in weiten und reichen<br />
Landstrecken zu besitzen, wird zu einem erstrebenswerten Ziel <strong>de</strong>r<br />
Politik. Das aber ist Imperalismus. 1 Das beliebteste Mittel <strong>de</strong>s<br />
Imperialismus waren in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten <strong>de</strong>s 19. und in <strong>de</strong>n ersten<br />
<strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts han<strong>de</strong>lspolitische Eingriffe, also Schutzzölle und<br />
Einfuhrverbote, Ausfuhrprämien, Frachtbegünstigungen und was alles<br />
damit zusammenhängt. Weniger Aufmerksamkeit hat man einem an<strong>de</strong>ren<br />
wichtigen Mittel imperialistischer Politik geschenkt, das immer größere<br />
Be<strong>de</strong>utung erhält: <strong>de</strong>n Einwan<strong>de</strong>rungs- und Auswan<strong>de</strong>rungserschwerungen.<br />
Die ultima ratio imperialistischer Politik ist aber <strong>de</strong>r Krieg. Ihm<br />
gegenüber erscheinen alle an<strong>de</strong>ren Mittel, die sie anwen<strong>de</strong>t, nur als<br />
unzulängliche Aushilfen.<br />
Nichts berechtigt uns anzunehmen, daß es im sozialistischen<br />
Gemeinwesen weniger nachteilig sein sollte, einer nationalen Min<strong>de</strong>rheit<br />
anzugehören. Gera<strong>de</strong> das Gegenteil muß <strong>de</strong>r Fall sein. Je mehr <strong>de</strong>r<br />
einzelne in allen Belangen von <strong>de</strong>r Obrigkeit abhängt, je mehr Be<strong>de</strong>utung<br />
die Entscheidungen <strong>de</strong>r politischen Körper für das Leben <strong>de</strong>s einzelnen<br />
haben, <strong>de</strong>sto stärker wird die politische Ohnmacht, zu <strong>de</strong>r nationale<br />
Min<strong>de</strong>rheiten verurteilt sind, empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
Doch wir können, wenn wir das Wan<strong>de</strong>rproblem im sozialistischen<br />
Gemeinwesen betrachten, davon absehen, ein beson<strong>de</strong>res Augenmerk <strong>de</strong>n<br />
Reibungen zu schenken, die durch die Wan<strong>de</strong>rungen zwischen <strong>de</strong>n<br />
Nationen entstehen. Denn schon zwischen <strong>de</strong>n Angehörigen einer und<br />
<strong>de</strong>rselben Nation müssen sich in einem sozialistischen Gemeinwesen<br />
Gegensätze herausbil<strong>de</strong>n, die das Problem <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, das<br />
<strong>de</strong>m Liberalismus durchaus gleichgültig ist, zu einem Hauptproblem <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus machen müssen.<br />
§ 2. In <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft sind Kapital und Arbeit so lange<br />
in Bewegung, bis überall das gleiche Grenznutzenniveau erreicht ist. Der<br />
Ruhezustand ist erreicht, wenn Kapital und Arbeit in allen Verwendungen<br />
die gleiche Grenzproduktivität aufweisen.<br />
Betrachten wir zunächst die Arbeiterwan<strong>de</strong>rungen allein, ohne auf die<br />
Wan<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Kapitals Rücksicht zu nehmen. Die zuströmen<strong>de</strong>n<br />
Arbeiter drücken dort, wohin sie sich begeben, die Grenzproduktivität <strong>de</strong>r<br />
Arbeit. Daß <strong>de</strong>r Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit, <strong>de</strong>r Lohn, sinkt, schädigt unmittelbar<br />
die Arbeiter, die vor <strong>de</strong>r Zuwan<strong>de</strong>rung<br />
1 Vgl. ebendort S. 63 f.
215<br />
dort tätig waren. Sie sehen im Zugewan<strong>de</strong>rten einen Lohndrücker. Ihr<br />
Son<strong>de</strong>rinteresse verlangt nach Einwan<strong>de</strong>rungsverboten; Zuzug<br />
fernzuhalten, wird zu einem Programmpunkt <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rpolitik aller<br />
Arbeitergruppen.<br />
Der Liberalismus hat gezeigt, wer die Kosten dieser Politik trägt.<br />
Zunächst sind die Arbeiter betroffen, die sich an Stätten ungünstigerer<br />
Produktionsbedingungen bei geringerer Grenzproduktivität <strong>de</strong>r Arbeit mit<br />
niedrigeren Löhnen begnügen müssen, und die Eigentümer <strong>de</strong>r günstigere<br />
Bedingungen gewähren<strong>de</strong>n Produktionsmittel, die nicht jenen Ertrag zu<br />
erzielen vermögen, <strong>de</strong>n sie durch Einstellung einer größeren Zahl von<br />
Arbeitern erhalten könnten. Aber damit sind die Wirkungen nicht<br />
erschöpft. Ein System,. das die nächstliegen<strong>de</strong>n Son<strong>de</strong>rinteressen <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Gruppen schützt, hemmt allgemein die Produktivität und<br />
schädigt damit in letzter Linie alle, auch die, die es zunächst begünstigt.<br />
Wie sich das En<strong>de</strong>rgebnis für <strong>de</strong>n einzelnen gestaltet, ob er im<br />
Schutzsystem gegenüber <strong>de</strong>m, was ihm bei voller Freiheit <strong>de</strong>s Verkehres<br />
zufallen wür<strong>de</strong>, gewinnt o<strong>de</strong>r verliert, das hängt von <strong>de</strong>m Gra<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Schutzes ab, <strong>de</strong>r ihm und an<strong>de</strong>ren gewährt wird. Wenn auch das Gesamtergebnis<br />
<strong>de</strong>r Produktion im Schutzsystem hinter <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r freien Wirtschaft<br />
zurückbleibt, so daß das Durchschnittseinkommen niedriger sein muß, so<br />
ist doch wohl möglich, daß einzelne dabei besser fahren, als bei <strong>de</strong>r freien<br />
Wirtschaft. Je stärker <strong>de</strong>r Schutz <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rinteressen durchgeführt ist, je<br />
größer daher die Gesamteinbuße wird, <strong>de</strong>sto geringer wird die<br />
Wahrscheinlichkeit, daß es einzelne geben kann, die dadurch mehr<br />
gewinnen als verlieren. Aber immerhin, die Möglichkeit ist vorhan<strong>de</strong>n.<br />
Sobald überhaupt grundsätzlich die Möglichkeit besteht, Son<strong>de</strong>rinteressen<br />
wahrzunehmen und Privilegien durchzusetzen, entbrennt <strong>de</strong>r<br />
Kampf <strong>de</strong>r Interessenten um <strong>de</strong>n Vorrang. Je<strong>de</strong>r sucht <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />
zuvorzukommen und mehr Vorrechte als die an<strong>de</strong>ren zu erhalten, um<br />
mehr Vorteile einheimsen zu können. Der Gedanke <strong>de</strong>s lückenlosen<br />
gleichen Schutzes aller Interessen ist ein Wahngebil<strong>de</strong> einer schlecht<br />
durchdachten Theorie. Denn wür<strong>de</strong>n alle Son<strong>de</strong>rinteressen gleichmäßig<br />
geschützt, so hätte niemand einen Vorteil vom Schutz; alle wür<strong>de</strong>n nur<br />
gleichmäßig die Nachteile <strong>de</strong>r Verringerung <strong>de</strong>r Produktivität spüren. Nur<br />
die Hoffnung je<strong>de</strong>s einzelnen, für sich einen stärkeren Schutz durchsetzen<br />
zu können, <strong>de</strong>r ihn <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, weniger Geschützten gegenüber in<br />
Vorteil bringt, macht das Schutzsystem <strong>de</strong>m einzelnen begehrenswert. Es<br />
wird
216<br />
von jenen gefor<strong>de</strong>rt, die die Macht haben, für sich beson<strong>de</strong>re Privilegien<br />
zu erwerben und sie festzuhalten.<br />
In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Liberalismus die Wirkungen <strong>de</strong>r Schutzpolitik enthüllt hat,<br />
hat er die Macht zur Erkämpfung von Son<strong>de</strong>rprivilegien gebrochen. Denn<br />
nun ward es klar, daß es im besten Falle immer nur wenige sein können,<br />
die durch das Schutzsystem absolut gewinnen, daß die große Mehrzahl<br />
dabei verlieren muß. Diese Erkenntnis entzog <strong>de</strong>n Vorkämpfern <strong>de</strong>s<br />
Schutzsystems die Anhängerschaft <strong>de</strong>r Masse; die Privilegien fielen, weil<br />
sie die Volkstümlichkeit eingebüßt hatten.<br />
Die Wie<strong>de</strong>rbelebung <strong>de</strong>s Schutzsystems setzte die geistige Vernichtung<br />
<strong>de</strong>s Liberalismus voraus, die von zwei Seiten in Angriff<br />
genommen wur<strong>de</strong>: vom nationalistischen Gesichtspunkt aus und vom<br />
Gesichtspunkt <strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Kapitalismus gefähr<strong>de</strong>ten Interessen <strong>de</strong>s<br />
Mittelstan<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r Arbeiter. Jener Gedankengang hat die territorialen<br />
Abschließungsbestrebungen gezeitigt, dieser die Son<strong>de</strong>rrechte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />
Konkurrenzkampfe nicht gewachsenen Unternehmer und <strong>de</strong>r Arbeiter.<br />
Sobald jedoch einmal <strong>de</strong>r liberale Gedanke vollständig überwun<strong>de</strong>n ist<br />
und das Schutzsystem von ihm keine weitere Beeinträchtigung erfahren<br />
kann, steht <strong>de</strong>r Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s Gebietes <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rprivilegien nichts<br />
mehr entgegen. Man hat lange geglaubt, daß die territorial wirksamen<br />
Schutzmaßnahmen an nationale und an politische Grenzen gebun<strong>de</strong>n<br />
seien, so daß etwa an die Wie<strong>de</strong>raufrichtung von Inlandszollschranken, an<br />
die Aufhebung <strong>de</strong>r inneren Freizügigkeit und an ähnliche Maßnahmen<br />
nicht mehr zu <strong>de</strong>nken sei. Man konnte daran freilich nicht <strong>de</strong>nken, so<br />
lange man noch auf einen Rest liberaler Anschauungen Rücksicht nehmen<br />
mußte. Als man sich in Deutschland und Österreich in <strong>de</strong>r Kriegswirtschaft<br />
davon befreit hatte, wur<strong>de</strong>n über Nacht allenthalben regionale<br />
Absperrungsmaßnahmen eingeführt. Die Bezirke landwirtschaftlicher<br />
Überschußproduktion schlossen sich gegen die Bezirke, die ihre<br />
Bevölkerung nur durch Zufuhr von Lebensmitteln ernähren können, ab,<br />
um ihrer Bevölkerung billigere Lebensmittelpreise zu sichern. Die Städte<br />
und Industriebezirke erschwerten die Zuwan<strong>de</strong>rung, um <strong>de</strong>m Steigen <strong>de</strong>r<br />
Lebensmittelpreise und <strong>de</strong>r Wohnungsmieten entgegenzutreten. Die<br />
regionalen Son<strong>de</strong>rinteressen durchbrachen die Einheit <strong>de</strong>s<br />
Wirtschaftsgebietes, auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r etatistische Neomerkantilismus alle seine<br />
Pläne aufgebaut hatte.<br />
Angenommen, <strong>de</strong>r Sozialismus wäre überhaupt durchführbar, so<br />
wür<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>r einheitlichen Durchführung <strong>de</strong>s Weltsozialismus
217<br />
große Schwierigkeiten in <strong>de</strong>n Weg stellen. Man muß mit <strong>de</strong>r Möglichkeit<br />
rechnen, daß die Arbeiter <strong>de</strong>r einzelnen Län<strong>de</strong>r, Bezirke, Gemein<strong>de</strong>n,<br />
Unternehmungen und Betriebe sich auf <strong>de</strong>n Standpunkt stellen wer<strong>de</strong>n,<br />
daß die auf ihrem Gebiet befindlichen Produktionsmittel ihr Eigentum<br />
seien und daß von ihren Früchten kein Außenstehen<strong>de</strong>r Gewinn ziehen<br />
soll. Dann aber zerfällt <strong>de</strong>r Sozialismus in zahlreiche selbständige<br />
sozialistische Gemeinwesen, wenn er nicht überhaupt gänzlich in<br />
Syndikalismus aufgeht. Der Syndikalismus ist ja nichts an<strong>de</strong>res als die<br />
äußerste Durchführung <strong>de</strong>s Grundsatzes <strong>de</strong>r Dezentralisation.<br />
III.<br />
Die auswärtige Han<strong>de</strong>lspolitik sozialistischer<br />
Gemeinwesen.<br />
§ 1. Für ein sozialistisches Gemeinwesen, das nicht die ganze<br />
Menschheit umfaßt, wür<strong>de</strong> kein Grund bestehen, sich selbstgenügsam<br />
gegen das ganze Ausland abzuschließen. Es mag <strong>de</strong>n Machthabern eines<br />
solchen Staates unbequem sein, daß mit <strong>de</strong>n frem<strong>de</strong>n Produkten auch<br />
frem<strong>de</strong> Gedanken über die Grenzen hereinkommen. Sie mögen für <strong>de</strong>n<br />
Fortbestand <strong>de</strong>s sozialistischen Systems fürchten, wenn es <strong>de</strong>n Genossen<br />
ermöglicht wird, Vergleiche zwischen ihrer Lage und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Auslän<strong>de</strong>r,<br />
die nicht sozialistischen Gemeinwesen angehören, zu ziehen. Doch das<br />
sind politische Rücksichten. Sie fallen weg, wenn das Ausland auch auf<br />
sozialistischer Grundlage eingerichtet ist. Übrigens müßte ein von <strong>de</strong>r<br />
Ersprießlichkeit <strong>de</strong>s Sozialismus überzeugter Staatsmann vom Verkehr<br />
mit <strong>de</strong>n Angehörigen nichtsozialistischer Staaten erwarten, daß er die<br />
Auslän<strong>de</strong>r zum Sozialismus bekehren wer<strong>de</strong>, und keineswegs fürchten,<br />
daß er die sozialistische Gesinnung seiner Landsleute erschüttern könnte.<br />
Welche Nachteile aus <strong>de</strong>r Abschließung <strong>de</strong>r Grenzen gegen die<br />
Einfuhr ausländischer Waren für die Versorgung <strong>de</strong>r Genossen <strong>de</strong>s<br />
sozialistischen Gemeinwesens erwachsen müßten, zeigt die Freihan<strong>de</strong>lstheorie.<br />
Kapital und Arbeit müßten in relativ ungünstigeren<br />
Produktionsbedingungen verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, wo sie einen geringeren<br />
Ertrag abwerfen. Ein krasses Beispiel stellt die Sache am leichtesten klar.<br />
Ein sozialistisches Deutschland könnte, wenn auch unter enormem<br />
Aufwand von Kapital und Arbeit, in Treibhäusern Kaffee bauen. Es wäre<br />
aber weitaus vorteilhafter, anstatt Kaffee im Lan<strong>de</strong> unter großen Kosten<br />
zu erzeugen. ihn aus Brasilien zu beziehen und
218<br />
dagegen Produkte auszuführen für <strong>de</strong>ren Erzeugung die Verhältnisse in<br />
Deutschland günstiger sind als für <strong>de</strong>n Kaffeebau.<br />
§ 2. Damit sind auch die Richtlinien gegeben, die die Han<strong>de</strong>lspolitik<br />
eines sozialistischen Gemeinwesens befolgen müßte. Sie wird, wenn sie<br />
rein wirtschaftlich verfahren will, nichts an<strong>de</strong>res zu erreichen trachten als<br />
das, was sich bei vollkommener Han<strong>de</strong>lsfreiheit durch das freie Spiel <strong>de</strong>r<br />
wirtschaftlichen Kräfte einstellen wür<strong>de</strong>. Das sozialistische Gemeinwesen<br />
wird seine Erzeugung auf jene Güter beschränken, für <strong>de</strong>ren Erzeugung<br />
relativ günstigere Produktionsbedingungen als im Auslan<strong>de</strong> gegeben sind,<br />
und je<strong>de</strong> einzelne Produktion nur soweit aus<strong>de</strong>hnen, als diese relative<br />
Überlegenheit reicht. Alle an<strong>de</strong>ren Waren wird es im Tauschwege aus<br />
<strong>de</strong>m Auslan<strong>de</strong> beziehen.<br />
Es ist für diese grundsätzliche Feststellung zunächst ohne Belang, ob<br />
sich <strong>de</strong>r Verkehr mit <strong>de</strong>m Auslan<strong>de</strong> unter Zuhilfenahme eines allgemein<br />
gebräuchlichen Tauschmittels, <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s, abspielt o<strong>de</strong>r nicht. Wie das<br />
Wirtschaften im sozialistischen Gemeinwesen selbst, so wird auch <strong>de</strong>r<br />
Verkehr mit <strong>de</strong>m Auslan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r sich durch nichts von jenem<br />
unterschei<strong>de</strong>t, nicht rationell eingerichtet wer<strong>de</strong>n können, wenn es keine<br />
Geldrechnung und keine Geldpreisbildung für die Produktionsmittel gibt.<br />
Da ist <strong>de</strong>m, was darüber schon gesagt wur<strong>de</strong>, nichts beizufügen. Doch wir<br />
wollen uns ein sozialistisches Gemeinwesen in einer im übrigen nicht<br />
sozialistischen Welt vorstellen. Ein solches Gemeinwesen könnte in Geld<br />
rechnen und berechnen wie eine Staatsbahn o<strong>de</strong>r ein städtisches<br />
Wasserwerk, die inmitten einer im übrigen auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung bestehen.<br />
§ 3. Es ist für niemand gleichgültig, wie es bei seinem Nachbar bestellt<br />
ist. Da die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit durch die Arbeitsteilung erhöht wird,<br />
liegt es in je<strong>de</strong>rmanns Interesse, daß sie soweit durchgeführt wird als es<br />
unter <strong>de</strong>n gegebenen Verhältnissen nur immer möglich ist. Es schädigt<br />
auch mich, daß es noch Leute gibt, .die an <strong>de</strong>r Autarkie ihrer<br />
Hauswirtschaft festhalten; wür<strong>de</strong>n sie in <strong>de</strong>n Verkehr eintreten, dann<br />
könnte die Arbeitsteilung umfassen<strong>de</strong>r durchgeführt wer<strong>de</strong>n. Wenn<br />
Produktionsmittel in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n von weniger geeigneten Wirten liegen,<br />
ist <strong>de</strong>r Scha<strong>de</strong>n ebenso allgemein. In <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
wird dieses Interesse aller und <strong>de</strong>r Gesamtheit durch das Gewinnstreben<br />
je<strong>de</strong>s einzelnen Unternehmers wirksam. Der Unternehmer sucht<br />
auf <strong>de</strong>r einen Seite immer fort nach neuen Absatzgebieten und unterbietet<br />
mit seinen
219<br />
billigeren und besseren Waren die teueren und schlechteren Erzeugnisse<br />
<strong>de</strong>r weniger rationell arbeiten<strong>de</strong>n Produktion. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite sucht<br />
er immer billigere und ergiebigere Quellen für die Beschaffung <strong>de</strong>r<br />
Rohstoffe und erschließt günstigere Produktionsbedingungen. Das ist das<br />
wahre Wesen <strong>de</strong>r Expansionsten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Kapitalismus, die die<br />
neomarxistische Verlegenheitsphrase als „Verwertungsstreben <strong>de</strong>s<br />
Kapitals“ ganz mißversteht und erstaunlicherweise zur Erklärung <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Imperialismus heranzuziehen sucht.<br />
Die ältere Kolonialpolitik <strong>de</strong>r europäischen Mächte war durchaus<br />
merkantilistisch, militaristisch und imperialistisch. Nach Überwindung<br />
<strong>de</strong>s Merkantilismus durch <strong>de</strong>n Liberalismus än<strong>de</strong>rte sich <strong>de</strong>r Charakter <strong>de</strong>r<br />
Kolonialpolitik vollkommen. Von <strong>de</strong>n alten Kolonialmächten hatten<br />
einige - Spanien, Portugal und Frankreich - <strong>de</strong>n größten Teil ihrer<br />
Besitzungen verloren. England, das die erste Kolonialmacht gewor<strong>de</strong>n<br />
war, ging daran, seinen Besitz so zu verwalten, wie es <strong>de</strong>n Grundsätzen<br />
<strong>de</strong>r Freihan<strong>de</strong>lslehre entsprach. Wenn die englischen Freihändler von<br />
Englands Beruf sprachen, die rückständigen Völker in die Kultur<br />
einzubeziehen, so war das nicht cant. England hat bewiesen, daß es seine<br />
Stellung in Indien, in <strong>de</strong>n Kronkolonien und in <strong>de</strong>n Protektoraten wirklich<br />
als Mandat <strong>de</strong>r europäischen Kultur aufgefaßt hat. Es ist nicht Heuchelei,<br />
wenn <strong>de</strong>r englische Liberalismus Englands Herrschaft in <strong>de</strong>n Kolonien als<br />
ebenso nützlich für die Unterworfenen und für die übrigen Völker <strong>de</strong>r<br />
Welt als für England erklärt hat. Allein die Tatsache, daß England in<br />
Indien am Freihan<strong>de</strong>l festgehalten hat, zeigt, daß es die Kolonialpolitik<br />
ganz an<strong>de</strong>rs aufgefaßt hat als die Staaten, die in die Kolonialpolitik in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahrzehnten <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts neueingetreten o<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>reingetreten<br />
sind: Frankreich, Deutschland, Vereinigte Staaten, Japan,<br />
Belgien und Italien. Die Kriege, die England in <strong>de</strong>r Ära <strong>de</strong>s Liberalismus<br />
zur Aus<strong>de</strong>hnung seines Kolonialbesitzes und zur Erschließung von<br />
Gebieten, die <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l <strong>de</strong>n Zutritt wehrten, geführt hat, haben<br />
die Grundlage für die mo<strong>de</strong>rne Weltwirtschaft geschaffen. 1 Um ihre Be-<br />
1 Bei <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r englischen Politik zur Erschließung Chinas pflegt man immer<br />
wie<strong>de</strong>r die Tatsache in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund zu stellen, daß es <strong>de</strong>r Opiumhan<strong>de</strong>l war, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
unmittelbaren Anstoß zum Ausbruch <strong>de</strong>r kriegerischen Verwicklungen gegeben hat. Doch<br />
in <strong>de</strong>n Kriegen, die die Englän<strong>de</strong>r und Franzosen zwischen 1839 und 1860 gegen China<br />
geführt haben, ging es um die Han<strong>de</strong>lsfreiheit im allgemeinen und nicht nur um die <strong>de</strong>s<br />
Opiumhan<strong>de</strong>ls. Daß vom Standpunkte <strong>de</strong>r Freihändler auch <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l mit Giften keine<br />
Hin<strong>de</strong>rnisse in <strong>de</strong>n Weg gelegt wer<strong>de</strong>n dürfen und je<strong>de</strong>rmann aus eigenem Antrieb sich <strong>de</strong>r<br />
Genüsse, die seinem Organismus schädlich sind, enthalten soll, ist nicht so nie<strong>de</strong>rträchtig<br />
und gemein, wie es sozialistische und anglophobe Schriftsteller darzutun pflegen. Rosa<br />
Luxemburg (Die Akkumulation <strong>de</strong>s Kapitals, Berlin 1913, S. 363 ff.) wirft <strong>de</strong>n Englän<strong>de</strong>rn
220<br />
<strong>de</strong>utung zu ermessen, braucht man sich nur vorzustellen, was es hieße,<br />
wenn China und Indien samt ihrem Hinterland außerhalb <strong>de</strong>s<br />
Weltverkehrs stün<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r Chinese und je<strong>de</strong>r Hindu, aber auch je<strong>de</strong>r<br />
Europäer und je<strong>de</strong>r Amerikaner wäre um ein Beträchtliches schlechter<br />
versorgt. Wenn England heute Indien verlieren wür<strong>de</strong> und dieses an<br />
Naturschätzen reiche Land, in Anarchie versinkend, für <strong>de</strong>n Weltmarkt<br />
weniger als bisher o<strong>de</strong>r nichts liefern wür<strong>de</strong>, dann wäre dies eine<br />
wirtschaftliche Katastrophe ersten Ranges.<br />
Der Liberalismus will <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l alle verschlossenen Türen öffnen.<br />
Es liegt ihm fern, jemand zum Kaufen o<strong>de</strong>r Verkaufen zu zwingen. Er will<br />
nur die Regierungen beseitigen, die durch Han<strong>de</strong>lsverbote und an<strong>de</strong>re<br />
Verkehrsbeschränkungen ihre Untertanen von <strong>de</strong>n Vorteilen <strong>de</strong>r<br />
Teilnahme am Weltverkehr auszuschließen suchen und damit die<br />
Versorgung aller Menschen verschlechtern. Seine Politik hat mit <strong>de</strong>m<br />
Imperialismus, <strong>de</strong>r erobern will, um Gebiete vom Weltverkehr<br />
abzusperren, nichts gemein.<br />
Auch die sozialistischen Gemeinwesen wer<strong>de</strong>n nicht an<strong>de</strong>rs han<strong>de</strong>ln<br />
können als die liberalen Politiker. Auch sie wer<strong>de</strong>n es nicht dul<strong>de</strong>n<br />
können, daß Gebiete, die die Natur verschwen<strong>de</strong>risch ausgestattet hat,<br />
vom Verkehr abgesperrt wer<strong>de</strong>n, und daß ganze Völker am<br />
Güteraustausch nicht teilnehmen wollen. Für <strong>de</strong>n Sozialismus wird es aber<br />
ein Problem geben, das er nicht lösen kann, weil es nur die kapitalistische<br />
Gesellschaftsordnung zu lösen vermag: das <strong>de</strong>s Eigentums an<br />
ausländischen Produktionsmitteln.<br />
In <strong>de</strong>r kapitalistischen Welt, wie sie die Freihändler haben wollen, sind<br />
die Staatsgrenzen be<strong>de</strong>utungslos. Der Verkehr strömt ungehin<strong>de</strong>rt über sie<br />
hinweg. Sie hemmen we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r unbeweglichen<br />
Produktionsmittel zum besten Wirt noch können sie die Anlage <strong>de</strong>r<br />
beweglichen Produktionsmitteln an <strong>de</strong>n Orten, die die günstigsten<br />
Produktionsbedingungen aufweisen, stören. Das Eigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln ist von <strong>de</strong>r Staatszugehörigkeit unabhängig. Es gibt<br />
Kapitalsanlagen im Auslan<strong>de</strong>.<br />
Im Sozialismus ist das ganz an<strong>de</strong>rs. Ein sozialistisches Gemeinwesen<br />
kann Produktionsmittel, die außerhalb <strong>de</strong>r Grenzen seines Staatsgebietes<br />
liegen,<br />
und Franzosen vor, es sei kein Hel<strong>de</strong>nstück gewesen, mit europäischen Waffen die nur mit<br />
unmo<strong>de</strong>rnen Waffen versehenen Chinesen zu besiegen. Hätten sie auch nur mit alten<br />
Flinten und Spießen zu Fel<strong>de</strong> ziehen sollen?
221<br />
nicht eigentümlich besitzen und Kapitalsanlagen, die vom Standpunkte<br />
<strong>de</strong>r Erzielung höchsten Ertrages besser im Auslan<strong>de</strong> zu machen wären,<br />
nicht durchführen. Ein sozialistisches Europa müßte untätig zusehen,<br />
wenn im sozialistischen Indien die Bo<strong>de</strong>nschätze schlecht ausgenützt<br />
wer<strong>de</strong>n, so daß Indien im Austausche auf <strong>de</strong>m Weltmarkt weniger Güter<br />
abzugeben hätte, als es bei besserer Bewirtschaftung abgeben könnte.<br />
Neuanlagen von Kapitalien müßten von <strong>de</strong>n Europäern in Europa unter<br />
ungünstigeren Bedingungen vorgenommen wer<strong>de</strong>n, während in Indien<br />
günstigere Produktionsbedingungen wegen Kapitalmangel nicht<br />
ausgenützt wer<strong>de</strong>n könnten. Ein Nebenein-an<strong>de</strong>rbestehen von<br />
unabhängigen sozialistischen Gemeinwesen, die miteinan<strong>de</strong>r nur durch<br />
<strong>de</strong>n Austausch von Gütern in Verbindung sind, müßte sich als gera<strong>de</strong>zu<br />
wi<strong>de</strong>rsinnig erweisen. Es wür<strong>de</strong> Zustän<strong>de</strong> herbeiführen, die, ganz<br />
abgesehen von allen an<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n, schon für sich allein ausreichend<br />
wären, um die Produktivität ganz beträchtlich herabzusetzen.<br />
Diese Schwierigkeiten können nicht behoben wer<strong>de</strong>n, solange man<br />
selbständige sozialistische Gemeinwesen nebeneinan<strong>de</strong>r bestehen läßt.<br />
Um sie zu überwin<strong>de</strong>n, müßten die einzelnen sozialistischen<br />
Gemeinwesen zu einem einheitlichen, die ganze Welt umspannen<strong>de</strong>n<br />
Gemeinwesen zusammengeschlossen wer<strong>de</strong>n.<br />
III. Abschnitt.<br />
Beson<strong>de</strong>re Gestaltungen <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
I<strong>de</strong>als und pseudosozialistische Gebil<strong>de</strong>.<br />
I.<br />
Beson<strong>de</strong>re Gestaltungen <strong>de</strong>s sozialistischen I<strong>de</strong>als.<br />
§ 1. Das Wesen <strong>de</strong>s Sozialismus ist das: alle Produktionsmittel stehen<br />
in <strong>de</strong>r ausschließlichen Verfügungsgewalt <strong>de</strong>s organisierten<br />
Gemeinwesens. Das allein und nichts an<strong>de</strong>res ist Sozialismus. Alle<br />
an<strong>de</strong>ren Begriffsbestimmungen sind falsch.<br />
Man mag wohl <strong>de</strong>r Ansicht sein, daß die Durchführung <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus nur unter ganz bestimmten politischen und sittlichen<br />
Voraussetzungen möglich ist. Das berechtigt aber noch nicht dazu, nur<br />
eine ganz bestimmte Form <strong>de</strong>s Sozialismus mit diesem Namen zu<br />
bezeichnen und allen an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>nkbaren Möglichkeiten <strong>de</strong>r Verwirklichung<br />
<strong>de</strong>s sozialistischen I<strong>de</strong>als diesen Namen vorzuenthalten.
222<br />
Der marxistische Sozialismus war ganz beson<strong>de</strong>rs rührig darin, sein<br />
beson<strong>de</strong>res sozialistisches I<strong>de</strong>al als <strong>de</strong>n einzig wahren Sozialismus zu<br />
preisen und zu behaupten, daß alle an<strong>de</strong>ren sozialistischen I<strong>de</strong>ale und alle<br />
von an<strong>de</strong>ren eingeleiteten Wege zur Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus mit<br />
<strong>de</strong>m richtigen Sozialismus gar nichts zu tun hätten. Politisch war dieses<br />
Verhalten <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie außeror<strong>de</strong>ntlich klug. Es hätte ihr die<br />
Agitation sehr erschwert, wenn sie hätte zugeben wollen, daß ihr I<strong>de</strong>al<br />
irgend etwas gemein habe mit <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen, die die Politik <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Parteien anstrebt. Sie hätte niemals vermocht, die Millionen unzufrie<strong>de</strong>ner<br />
Deutscher um ihre Fahnen zu sammeln, wenn sie offen zugegeben hätte,<br />
daß das, was sie anstrebt, sich grundsätzlich nicht von <strong>de</strong>m unterschei<strong>de</strong>t,<br />
was die herrschen<strong>de</strong>n Schichten <strong>de</strong>s preußischen Staates sich zum Ziel<br />
gesetzt haben. Stellte man an einen Marxisten vor <strong>de</strong>m Oktober 1917 die<br />
Frage, wodurch sich <strong>de</strong>nn sein Sozialismus von <strong>de</strong>m Sozialismus an<strong>de</strong>rer<br />
Richtungen, vor allem von jenem <strong>de</strong>r konservativen Mächte, unterschei<strong>de</strong>,<br />
so erhielt man die Antwort, es hätten sich im marxistischen Sozialismus<br />
Demokratie und Sozialismus untrennbar vereinigt; <strong>de</strong>r marxistische<br />
Sozialismus sei überdies staatslos, weil er <strong>de</strong>n Staat zum Absterben<br />
bringe. Was von diesen Argumenten zu halten ist, wur<strong>de</strong> bereits gezeigt.<br />
Sie sind übrigens seit <strong>de</strong>m Sieg <strong>de</strong>r Bolschewiken schnell aus <strong>de</strong>n Reihen<br />
<strong>de</strong>r marxistischen Schlagwörter ausgeschie<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Zumin<strong>de</strong>st sind<br />
die Vorstellungen von Demokratie und Staatslosigkeit, die die Marxisten<br />
heute haben, ganz an<strong>de</strong>re als die, die sie vorher hatten.<br />
Eine an<strong>de</strong>re Antwort, die man von <strong>de</strong>n Marxisten auf jene Frage<br />
erhalten konnte, war die, ihr Sozialismus sei revolutionär im Gegensatz zu<br />
<strong>de</strong>m reaktionären o<strong>de</strong>r konservativen Sozialismus <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Diese<br />
Antwort führt viel eher zur Erkenntnis <strong>de</strong>s Unterschie<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r zwischen<br />
<strong>de</strong>r marxistischen Sozial<strong>de</strong>mokratie und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren sozialistischen<br />
Richtungen besteht. Revolution be<strong>de</strong>utet für <strong>de</strong>n Marxisten nicht<br />
gewaltsame Än<strong>de</strong>rung eines bestehen<strong>de</strong>n Zustan<strong>de</strong>s schlechthin, son<strong>de</strong>rn<br />
im Sinne <strong>de</strong>s marxistischen Chiliasmus eine Handlung, die die<br />
Menschheit <strong>de</strong>r Vollendung ihrer Bestimmung näherbringt. 1 Die<br />
bevorstehen<strong>de</strong> soziale Revolution vollends, die <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
verwirklichen soll, ist <strong>de</strong>r letzte Akt, <strong>de</strong>r zum ewigen Heil führt.<br />
Revolutionäre sind jene, die die Geschichte zur Verwirklichung ihres<br />
Planes zum Werkzeug erwählt<br />
1 Über die an<strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utungen, die <strong>de</strong>r Ausdruck Revolution für die Marxisten hat,<br />
vgl. oben S. 64.
223<br />
hat. Revolutionärer Geist ist <strong>de</strong>r heilige Geist, <strong>de</strong>r über sie gekommen ist<br />
und sie befähigt, dieses Große zu vollbringen. In diesem Sinne erblickt<br />
<strong>de</strong>r marxistische Sozialist die höchste Eigenschaft seiner Partei darin, daß<br />
sie eine revolutionäre Partei sei. In diesem Sinne sieht er in allen an<strong>de</strong>ren<br />
Parteien eine einheitliche reaktionäre Masse, weil sie sich seiner Façon<br />
selig zu wer<strong>de</strong>n entgegensetzen.<br />
Daß dies alles nichts mit <strong>de</strong>m soziologischen Begriffe <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens zu tun hat, ist klar. Daß eine Gruppe von<br />
Personen mit <strong>de</strong>m Anspruche auftritt, daß nur sie allein auserkoren sei,<br />
uns das Heil zu bringen, ist gewiß bemerkenswert. Wenn aber diese<br />
Personen keinen an<strong>de</strong>ren Weg zum Heil kennen als jenen, <strong>de</strong>r auch von<br />
vielen an<strong>de</strong>ren als dahinführend angesehen wird, so genügt die<br />
Behauptung <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Weihe noch nicht, um zwischen ihrem Ziel<br />
und <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren einen grundsätzlichen Gegensatz zu ent<strong>de</strong>cken.<br />
§ 2. Um zum Begriff <strong>de</strong>s Staatssozialismus zu gelangen, darf man sich<br />
nicht damit begnügen, <strong>de</strong>n Ausdruck ethymologisch zu erklären. Die<br />
Geschichte <strong>de</strong>s Wortes spiegelt nur die Tatsache wie<strong>de</strong>r, daß <strong>de</strong>r<br />
Staatssozialismus ein Sozialismus war, zu <strong>de</strong>m sich die Machthaber <strong>de</strong>s<br />
preußischen und an<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>utscher Staaten bekannt haben. Weil sie sich<br />
mit <strong>de</strong>m Staat und <strong>de</strong>r Gestalt, die ihr Staat trug, und mit <strong>de</strong>m<br />
Staatsbegriff überhaupt i<strong>de</strong>ntifizierten, lag es nahe, <strong>de</strong>n Sozialismus, <strong>de</strong>n<br />
sie meinten, Staatssozialismus zu nennen. Dieser Sprachgebrauch bürgerte<br />
sich um so leichter ein, je mehr Unklarheit über <strong>de</strong>n Staatsbegriff durch<br />
die marxistische Lehre vom Klassencharakter <strong>de</strong>s Staates und vom<br />
Absterben <strong>de</strong>s Staates gestiftet wur<strong>de</strong>.<br />
Der marxistische Sozialismus hatte ein lebhaftes Interesse daran,<br />
zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />
zu unterschei<strong>de</strong>n. Die sozial<strong>de</strong>mokratischen Schlagwörter hätten niemals<br />
volkstümlich wer<strong>de</strong>n können, wenn sie als letztes Ziel <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Bestrebungen die Verstaatlichung <strong>de</strong>r Produktionsmittel hingestellt hätten.<br />
Denn <strong>de</strong>r Staat, <strong>de</strong>n die Völker, unter <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Marxismus seine stärkste<br />
Verbreitung gefun<strong>de</strong>n hat, vor Augen hatten, war nicht darnach angetan,<br />
daß man sich von seinem Eingreifen in die Wirtschaft viel versprechen<br />
durfte. Die <strong>de</strong>utschen, österreichischen und russischen Bekenner <strong>de</strong>s<br />
Marxismus lebten in offener Feh<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n Machthabern, die ihnen<br />
gegenüber <strong>de</strong>n Staat vorstellten. Sie hatten überdies Gelegenheit,
224<br />
die Ergebnisse <strong>de</strong>r Verstaatlichungs- und Verstadtlichungstätigkeit zu<br />
prüfen; auch mit bestem Willen ließen sich die schweren Mängel <strong>de</strong>r<br />
Staats- und Gemein<strong>de</strong>regie nicht übersehen. Es war ganz un<strong>de</strong>nkbar,<br />
Begeisterung für ein Programm zu erwecken das die Verstaatlichung zum<br />
Ziele hatte. Eine Oppositionspartei mußte vor allem <strong>de</strong>n verhaßten<br />
Obrigkeitsstaat bekämpfen; nur damit konnte man die Mißvergnügten<br />
gewinnen. Aus diesem Bedürfnis <strong>de</strong>r politischen Agitation heraus<br />
entstand die marxistische Lehre vom Absterben <strong>de</strong>s Staates. Die Liberalen<br />
hatten Beschränkung <strong>de</strong>r Staatsgewalt und Übergabe <strong>de</strong>r Regierung an die<br />
Vertreter <strong>de</strong>s Volkes verlangt; sie hatten <strong>de</strong>n freien Staat gefor<strong>de</strong>rt. Marx<br />
und Engels suchten sie dadurch zu übertrumpfen, daß sie be<strong>de</strong>nkenlos die<br />
anarchistische Lehre von <strong>de</strong>r Aufhebung aller Staatsgewalt übernahmen,<br />
ohne sich darum zu kümmern, daß <strong>de</strong>r Sozialismus nicht Aufhebung<br />
son<strong>de</strong>rn unendliche Verstärkung <strong>de</strong>s Staates be<strong>de</strong>uten muß.<br />
Gera<strong>de</strong> so unhaltbar und wi<strong>de</strong>rsinnig wie die Lehre vom Absterben <strong>de</strong>s<br />
Staates im Sozialismus ist die mit ihr im engsten Zusammenhang stehen<strong>de</strong><br />
scholastische Unterscheidung zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung.<br />
Die Marxisten sind sich selbst <strong>de</strong>r Schwäche ihrer<br />
Beweisführung so wohl bewußt, daß sie es in <strong>de</strong>r Regel unterlassen, auf<br />
diesen Punkt überhaupt einzugehen, und sich damit begnügen, dadurch,<br />
daß sie immer nur von Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />
sprechen, ohne diesen Begriff irgendwie näher zu umschreiben, <strong>de</strong>n<br />
Anschein zu erwecken, als wäre Vergesellschaftung etwas an<strong>de</strong>res als<br />
Verstaatlichung, von <strong>de</strong>ren Wesen je<strong>de</strong>rmann eine Vorstellung hat. Wo es<br />
nicht zu umgehen ist, auf dieses heikle Thema einzugehen, müssen sie<br />
zugeben, daß die Verstaatlichung von Unternehmungen „Vorstufe zur<br />
Besitzergreifung aller Produktivkräfte durch die Gesellschaft selbst“ 1 o<strong>de</strong>r<br />
„<strong>de</strong>r natürliche Ausgangspunkt jener Entwicklung, die zur sozialistischen<br />
Genossenschaft führt“ 2 ist. Engels wehrt sich <strong>de</strong>nn auch schließlich nur<br />
dagegen, daß man „je<strong>de</strong>“ Verstaatlichung „ohne weiteres für sozialistisch<br />
erklärt“. Er möchte vor allem Verstaatlichungen aus staatsfinanziellen<br />
Rücksichten, solche, die vorgenommen wer<strong>de</strong>n „hauptsächlich um sich<br />
eine neue, von Parlamentsbeschlüssen unabhängige Einkommensquelle zu<br />
verschaffen“<br />
1 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 299.<br />
2 Vgl. Kautsky, Das Erfurter Programm, 12. Aufl., Stuttgart 1914, S. 129.
225<br />
nicht als „sozialistische Schritte“ bezeichnen. Doch auch Verstaatlichung<br />
aus solchen Beweggrün<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, in die Sprache <strong>de</strong>s Marxismus<br />
übersetzt, wohl nichts an<strong>de</strong>res be<strong>de</strong>uten, als daß in einem Teile <strong>de</strong>r<br />
Produktion die Aneignung <strong>de</strong>s Mehrwertes durch Kapitalisten beseitigt<br />
wird. Nicht an<strong>de</strong>rs steht es bei <strong>de</strong>n Verstaatlichungen aus politischen und<br />
militärpolitischen Rücksichten, die Engels gleichfalls als nicht<br />
sozialistisch bezeichnen will. Er erblickt das Kriterium <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Verstaatlichung darin, daß die von ihr ergriffenen Produktions- und<br />
Verkehrsmittel „<strong>de</strong>r Leitung durch Aktiengesellschaften wirklich<br />
entwachsen sind, daß also die Verstaatlichung ökonomisch unabweisbar<br />
gewor<strong>de</strong>n“. Diese Notwendigkeit tritt, meint er, zuerst „bei <strong>de</strong>n großen<br />
Verkehrsanstalten: Post, Telegraphen, Eisenbahnen“ hervor. 1 Doch gera<strong>de</strong><br />
die größten Eisenbahnlinien <strong>de</strong>r Welt, die nordamerikanischen, und die<br />
wichtigsten Telegraphenlinien, die Unterseekabel, sind nicht verstaatlicht<br />
wor<strong>de</strong>n, wogegen kleinere, unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>re Linien in <strong>de</strong>n etatistischen<br />
Län<strong>de</strong>rn längst verstaatlicht wur<strong>de</strong>n. Für die Verstaatlichung <strong>de</strong>r Post aber<br />
waren durchaus politische Grün<strong>de</strong> maßgebend gewesen. Kann man sagen,<br />
daß diese Verstaatlichungen „ökonomisch unabweisbar“ gewor<strong>de</strong>n<br />
waren? Und was heißt überhaupt „ökonomisch unabweisbar“?<br />
Auch Kautsky begnügt sich damit, die Meinung zu bekämpfen, daß<br />
je<strong>de</strong> Verstaatlichung einer wirtschaftlichen Funktion o<strong>de</strong>r eines<br />
wirtschaftlichen Betriebes ein Schritt zur sozialistischen Genossenschaft<br />
sei, und daß diese aus einer allgemeinen Verstaatlichung <strong>de</strong>s gesamten<br />
wirtschaftlichen Betriebes hervorgehen könne, ohne daß sich im Wesen<br />
<strong>de</strong>s Staates etwas zu verän<strong>de</strong>rn braucht“. 2 Doch niemand hat je bestreiten<br />
wollen, daß sich das Wesen <strong>de</strong>s Staates sehr stark verän<strong>de</strong>rt, wenn er sich<br />
durch Verstaatlichung <strong>de</strong>s gesamten wirtschaftlichen Betriebes in ein<br />
sozialistisches Gemeinwesen umwan<strong>de</strong>lt. Kautsky weiß <strong>de</strong>nn auch nichts<br />
weiter darüber zu sagen, als daß „solange die besitzen<strong>de</strong>n Klassen auch<br />
die herrschen<strong>de</strong>n sind“ es zu keiner vollen Verstaatlichung kommen wird;<br />
die wer<strong>de</strong> erst durchgeführt wer<strong>de</strong>n, bis „die arbeiten<strong>de</strong>n Klassen im Staat<br />
die herrschen<strong>de</strong>n gewor<strong>de</strong>n sind“. Die Proletarier erst wer<strong>de</strong>n, wenn sie<br />
die politische Macht erobert haben, „<strong>de</strong>n Staat in eine große, im<br />
wesentlichen sich völlig selbstgenügen<strong>de</strong><br />
1 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 298 f.<br />
2 Vgl. Kautsky, Das Erfurter Programm, a. a. O., S. 129.
226<br />
Wirtschaftsgenossenschaft verwan<strong>de</strong>ln“. 1 Der Kernfrage, die allein zu<br />
beantworten ist, ob auch eine durch eine an<strong>de</strong>re Partei als die<br />
sozial<strong>de</strong>mokratische durchgeführte volle Verstaatlichung <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
begrün<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, weicht auch Kautsky behutsam aus.<br />
Es besteht allerdings zwischen Verstaatlichung und Verstadtlichung<br />
einzelner Unternehmungen, die inmitten einer im übrigen am Son<strong>de</strong>reigentum<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln festhalten<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung<br />
als öffentliche o<strong>de</strong>r gemeinwirtschaftliche geführt wer<strong>de</strong>n, und zwischen<br />
<strong>de</strong>r vollen Durchführung <strong>de</strong>s Sozialismus, die an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
kein Son<strong>de</strong>reigentum einzelner neben <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens<br />
dul<strong>de</strong>t, ein grundsätzlicher Unterschied von höchster Be<strong>de</strong>utung.<br />
Solange nur einzelne Unternehmungen durch <strong>de</strong>n Staat betrieben wer<strong>de</strong>n,<br />
wer<strong>de</strong>n noch Preise für die Produktionsmittel auf <strong>de</strong>m Markte gebil<strong>de</strong>t.<br />
Damit ist auch für die staatlichen Unternehmungen die Möglichkeit<br />
gegeben zu rechnen. Wie weit sie das Ergebnis <strong>de</strong>r Rechnung zur Norm<br />
ihres Verhaltens machen wollen o<strong>de</strong>r können, ist eine an<strong>de</strong>re Frage. Doch<br />
schon <strong>de</strong>r Umstand allein, daß bis zu einem bestimmten Gra<strong>de</strong> wenigstens<br />
eine rechnerische Ermittlung <strong>de</strong>s Betriebserfolges möglich ist, gibt <strong>de</strong>r<br />
Geschäftsführung solcher öffentlicher Betriebe einen Rückhalt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Führung eines rein sozialistischen Gemeinwesens fehlen muß. Die Art<br />
und Weise, in <strong>de</strong>r das Staatsunternehmen geführt wird, mag mit Recht <strong>de</strong>n<br />
Namen schlechte Wirtschaft verdienen, doch es ist immerhin noch<br />
Wirtschaft. In einem sozialistischen Gemeinwesen kann es, wie wir<br />
gesehen haben, Wirtschaft im strengen Sinne <strong>de</strong>s Wortes überhaupt nicht<br />
geben. 2<br />
Eine Verstaatlichung aller Produktionsmittel <strong>de</strong>r Volkswirtschaft<br />
bringt jedoch <strong>de</strong>n vollen Sozialismus. Die Verstaatlichung einzelner<br />
Produktionsmittel ist ein Schritt auf <strong>de</strong>m Wege zur Vollsozialisierung. Ob<br />
man sich mit <strong>de</strong>m einen Schritt begnügt o<strong>de</strong>r ob man noch weitere tun<br />
will, kann an seinem Charakter nichts än<strong>de</strong>rn. Auch wenn man alle<br />
Unternehmungen in das Eigentum <strong>de</strong>r organisierten Gesellschaft<br />
überführen will, kann man nichts an<strong>de</strong>res machen als je<strong>de</strong> einzelne, alle<br />
gleichzeitig o<strong>de</strong>r eine nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren verstaatlichen.<br />
Die Unklarheit, die durch <strong>de</strong>n Marxismus über <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r<br />
Vergesellschaftung erzeugt wor<strong>de</strong>n war, hat sich in Deutschland und<br />
1 Ebendort S. 130.<br />
2 Vgl. oben S. 107 f.
227<br />
Österreich nach <strong>de</strong>m Übergang <strong>de</strong>r Herrschaft an die Sozial<strong>de</strong>mokraten<br />
im November 1918 empfindlich bemerkbar gemacht. Über Nacht wur<strong>de</strong><br />
ein neues, bis dahin kaum gehörtes Schlagwort volkstümlich:<br />
„Sozialisierung“ wur<strong>de</strong> die Losung. Das sollte wohl eine Umschreibung<br />
<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Wortes Vergesellschaftung durch ein schön klingen<strong>de</strong>s<br />
Fremdwort sein. Der Gedanke, daß Sozialisierung nichts an<strong>de</strong>res sei als<br />
Verstaatlichung o<strong>de</strong>r Verstadtlichung konnte kaum aufkommen; wer<br />
<strong>de</strong>rartiges behaupten wollte, <strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> be<strong>de</strong>utet, daß er von <strong>de</strong>n Dingen<br />
einfach nichts verstehe, da zwischen bei<strong>de</strong>n ein himmelweiter Unterschied<br />
klaffe. Der bald nach <strong>de</strong>m Übergang <strong>de</strong>r Herrschaft an die<br />
sozial<strong>de</strong>mokratische Partei eingesetzten Sozialisierungskommission fiel<br />
nun die Aufgabe zu, für die Sozialisierung eine Form ausfindig zu<br />
machen, die sie wenigstens äußerlich von <strong>de</strong>n Verstaatlichungen und<br />
Verstadtlichungen <strong>de</strong>r früheren Regierung unterschei<strong>de</strong>n sollte.<br />
Der erste Bericht, <strong>de</strong>n die <strong>de</strong>utsche Sozialisierungskommission über<br />
die Sozialisierung <strong>de</strong>s Kohlenbergbaues erstattet hat, lehnt <strong>de</strong>n Gedanken,<br />
die Sozialisierung durch Verstaatlichung <strong>de</strong>s Kohlenbergbaues und <strong>de</strong>s<br />
Kohlenhan<strong>de</strong>ls durchzuführen, ab, in<strong>de</strong>m er in treffen<strong>de</strong>r Weise die<br />
Mängel <strong>de</strong>s staatlichen Bergbaubetriebes hervorhebt. Was aber Sozialisierung<br />
an<strong>de</strong>rs sein könnte als Verstaatlichung, wird nicht gesagt. Der<br />
Bericht bekennt sich zur Ansicht, „daß eine isolierte Verstaatlichung <strong>de</strong>s<br />
Bergbaues beim Weiterbestehen <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft in an<strong>de</strong>ren<br />
Wirtschaftszweigen nicht als eine Sozialisierung betrachtet wer<strong>de</strong>n kann,<br />
son<strong>de</strong>rn nur die Ersetzung eines Arbeitgebers durch einen an<strong>de</strong>ren<br />
be<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong>,“ aber er läßt die Frage offen, ob eine isolierte „Sozialisierung“,<br />
wie er sie meint und vorschlägt, unter <strong>de</strong>nselben Bedingungen<br />
etwas an<strong>de</strong>res be<strong>de</strong>uten könnte. 1 Es wäre zu verstehen gewesen, wenn die<br />
Kommission darauf hingewiesen hätte, daß es zur Herbeiführung <strong>de</strong>r<br />
beglücken<strong>de</strong>n Wirkungen sozialistischer Gesellschaftsordnung nicht genüge,<br />
einzelne Produktionszweige zu verstaatlichen, und beantragt hätte,<br />
mit einem Schlage alle Unternehmungen durch <strong>de</strong>n Staat zu übernehmen,<br />
wie es die Bolschewiken in Rußland und Ungarn getan haben und wie es<br />
von <strong>de</strong>n Spartakisten<br />
1 Vgl. Bericht <strong>de</strong>r Sozialisierungskommission über die Frage <strong>de</strong>r Sozialisierung <strong>de</strong>s<br />
Kohlenbergbaues vom 31. Juli 1920, mit Anhang: Vorläufiger Bericht vom 15. Februar<br />
1919, 2. Aufl., Berlin 1920, S. 32 f.
228<br />
in Deutschland angestrebt wur<strong>de</strong>. Das hat sie aber nicht getan. Sie hat<br />
vielmehr Vorschläge für die Sozialisierung ausgearbeitet, die die isolierte<br />
Verstaatlichung einzelner Produktionszweige, zunächst <strong>de</strong>s Kohlenbergbaues<br />
und <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls mit seinen Produkten, beantragen. Daß sie <strong>de</strong>n<br />
Ausdruck Verstaatlichung dabei vermei<strong>de</strong>t, ist ganz unwesentlich. Bloß<br />
juristische Haarspalterei ist es, wenn nach <strong>de</strong>n Anträgen <strong>de</strong>r Kommission<br />
als Eigentümer <strong>de</strong>r sozialisierten <strong>de</strong>utschen Kohlenwerke nicht <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utsche Staat, son<strong>de</strong>rn eine „Deutsche Kohlengemeinschaft“ auftreten<br />
soll. Wenn <strong>de</strong>r Bericht <strong>de</strong>r Kommissionsmehrheit ausführt, dieses Eigentum<br />
sei „lediglich in einem formalen juristischen Sinne gedacht“, daß aber<br />
<strong>de</strong>r Kohlengemeinschaft „die materielle Stellung <strong>de</strong>s Privateigentümers<br />
und damit die Möglichkeit, Arbeiter und Konsumenten auszubeuten“<br />
versagt wird, 1 übernimmt er die hohlsten Schlagwörter <strong>de</strong>r Gasse, wie<br />
<strong>de</strong>nn überhaupt <strong>de</strong>r Bericht sich als eine Zusammenfassung aller<br />
volkstümlichen Irrtümer über die Schädlichkeit <strong>de</strong>s kapitalistischen<br />
Wirtschaftssystems darstellt. Das einzige, wodurch sich die nach <strong>de</strong>n<br />
Anträgen <strong>de</strong>r Kommissionsmehrheit sozialisierte Kohlenwirtschaft von<br />
an<strong>de</strong>ren öffentlichen Betrieben unterschei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, ist die Zusammensetzung<br />
ihrer Oberleitung. An die Spitze <strong>de</strong>r Kohlenwerke soll kein<br />
einzelner Beamter gestellt wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn ein Kollegium, das auf beson<strong>de</strong>re<br />
Art gebil<strong>de</strong>t wird. Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus!<br />
Der Staatssozialismus ist nicht dadurch beson<strong>de</strong>rs gekennzeichnet, daß<br />
<strong>de</strong>r Staat <strong>de</strong>r Träger <strong>de</strong>r gemeinwirtschaftlichen Organisation ist, <strong>de</strong>nn<br />
Sozialismus ist an<strong>de</strong>rs überhaupt nicht <strong>de</strong>nkbar. Wenn wir sein Wesen<br />
erfassen wollen, dürfen wir uns nicht an das Wort klammern; wir kämen<br />
damit nicht weiter als jemand, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Begriff Metaphysik aus <strong>de</strong>m<br />
Wortsinn <strong>de</strong>r Teile, die das Kompositum bil<strong>de</strong>n, zu <strong>de</strong>uten suchte. Wir<br />
müssen uns fragen, welche Vorstellungen jene mit diesem Ausdruck<br />
verknüpft haben, die man als Anhänger <strong>de</strong>r staatssozialistischen Richtung<br />
zu bezeichnen pflegt: die radikalen Etatisten.<br />
Der etatistische Sozialismus ist in zwei Punkten von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
sozialistischen Systemen verschie<strong>de</strong>n. Er will, im Gegensatz zu vielen<br />
an<strong>de</strong>ren sozialistischen Richtungen, die an eine möglichst gleichmäßige<br />
Verteilung <strong>de</strong>s Einkommens <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaft unter die<br />
einzelnen Genossen <strong>de</strong>nken, zum Grundsatz <strong>de</strong>r Verteilung<br />
1 Ebendort S. 37.
229<br />
die Würdigkeit <strong>de</strong>s einzelnen machen. Daß das Urteil über die Würdigkeit<br />
durchaus subjektiv ist und in keiner Weise vom Standpunkt einer wertfreien<br />
Beurteilung <strong>de</strong>r menschlichen Verhältnisse überprüft wer<strong>de</strong>n kann,<br />
braucht wohl nicht erst beson<strong>de</strong>rs gesagt zu wer<strong>de</strong>n. Der Etatismus hat<br />
ganz bestimmte Anschauungen über die sittliche Einschätzung <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Schichten <strong>de</strong>r Gesellschaft. Er ist erfüllt von Hochschätzung <strong>de</strong>s<br />
Königtums, <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls, <strong>de</strong>s ländlichen Großgrundbesitzes, <strong>de</strong>r Geistlichkeit,<br />
<strong>de</strong>s Berufskriegertums, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>s Offizierkorps, und <strong>de</strong>s<br />
Beamtentums; auch <strong>de</strong>n Gelehrten und <strong>de</strong>n Künstlern billigt er unter<br />
gewissen Voraussetzungen eine bevorzugte Stellung zu. Dem Bauern und<br />
<strong>de</strong>m Kleingewerbetreiben<strong>de</strong>n wird ein beschei<strong>de</strong>ner Platz zugewiesen,<br />
schlechter kommen schon die gewöhnlichen Handarbeiter weg, am<br />
schlechtesten die unzuverlässigen Elemente, die, mit <strong>de</strong>m Wirkungskreis<br />
und <strong>de</strong>m Einkommen, die ihnen nach <strong>de</strong>m Plane <strong>de</strong>s Etatismus zukommen<br />
sollen, nicht zufrie<strong>de</strong>n, nach materieller Besserung ihrer Lage streben. Der<br />
Etatist ordnet im Geiste alle Glie<strong>de</strong>r, aus <strong>de</strong>nen sich sein Zukunftsstaat<br />
zusammensetzen soll, in Rangstufen ein. Der Edlere soll mehr zu sagen<br />
haben und mehr soziale Ehrungen und mehr Einkommen empfangen als<br />
<strong>de</strong>r weniger Edle. Was aber e<strong>de</strong>l und was une<strong>de</strong>l ist, darüber entschei<strong>de</strong>t<br />
vor allem die Tradition. Nichts macht <strong>de</strong>r Etatist <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung mehr zum Vorwurf als das, daß sie die Einkommen<br />
nicht nach seiner Wertung verteilt. Daß ein Milchhändler o<strong>de</strong>r ein<br />
Fabrikant von Hosenknöpfen ein größeres Einkommen beziehen kann als<br />
<strong>de</strong>r Sprosse eines alten A<strong>de</strong>lsgeschlechtes, als ein Geheimrat o<strong>de</strong>r als ein<br />
Leutnant, dünkt ihm unerträglich. Hauptsächlich um diese Mißstän<strong>de</strong><br />
abzustellen, meint er, müsse die kapitalistische Gesellschaftsordnung<br />
durch die etatistische ersetzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Dem Etatismus liegt es, entsprechend seinem Bestreben, die<br />
überkommene gesellschaftliche Rangordnung und ethische Wertung <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Schichten <strong>de</strong>r Gesellschaft zu erhalten, ferne, durch einen<br />
vollkommenen Umsturz <strong>de</strong>r geschichtlich gewor<strong>de</strong>nen Rechtsordnung<br />
alles Eigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln auch formal in Staatseigentum<br />
zu verwan<strong>de</strong>ln. Nur die großen Unternehmungen sollen verstaatlicht<br />
wer<strong>de</strong>n, und auch da wird zugunsten <strong>de</strong>r landwirtschaftlichen Großbetriebe,<br />
beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>s ererbten Familienbesitzes, eine Ausnahme<br />
gemacht. In <strong>de</strong>r Landwirtschaft und im Mittel- und im Kleingewerbe soll<br />
das Son<strong>de</strong>reigentum <strong>de</strong>m Worte nach bestehen bleiben. Daneben wird<br />
selbst <strong>de</strong>n freien Berufen unter gewissen
230<br />
Einschränkungen ein Spielraum gelassen. Aber alle Unternehmungen<br />
sollen <strong>de</strong>m Wesen nach Staatsbetriebe wer<strong>de</strong>n. Dem Landwirt wer<strong>de</strong>n<br />
Namen und Ehren eines Eigentümers gelassen. Doch es wird ihm<br />
untersagt „egoistisch bloß auf <strong>de</strong>n merkantilen Gewinn zu sehen“; er hat<br />
die „Pflicht, <strong>de</strong>m Staatszwecke zuvor zukommen“. 1 Denn die<br />
Landwirtschaft ist in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Etatisten ein öffentliches Amt. „Der<br />
Landwirt ist ein Staatsbeamter und muß das bauen, was nach bestem<br />
Wissen und Gewissen o<strong>de</strong>r nach Staatsvorschriften <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> nottut. Hat<br />
er seine Zinsen und ein auskömmliches Gehalt, so hat er alles, was er<br />
verlangen darf“. 2 Nicht an<strong>de</strong>rs soll es um <strong>de</strong>n Handwerker und um <strong>de</strong>n<br />
Kaufmann stehen. Für <strong>de</strong>n selbständigen Unternehmer, <strong>de</strong>r über die<br />
Produktionsmittel frei verfügt, ist im Staatssozialismus ebensowenig<br />
Raum wie in irgen<strong>de</strong>inem an<strong>de</strong>ren Sozialismus. Die Preise wer<strong>de</strong>n<br />
obrigkeitlich geregelt, die Obrigkeit bestimmt, was und wie und in<br />
welcher Menge produziert wer<strong>de</strong>n soll. Es gibt keine Spekulation auf<br />
„übermäßigen“ Gewinn. Die Behör<strong>de</strong>n wachen darüber, daß je<strong>de</strong>r nur<br />
einen angemessenen bürgerlichen Nutzen zieht, d. h. einen solchen,<br />
welcher ihm die Lebenshaltung auf die seinem Stan<strong>de</strong> gebühren<strong>de</strong> Weise<br />
sichert. Was zuviel ist, wird „weggesteuert“.<br />
Daß man, um <strong>de</strong>n Sozialismus zu verwirklichen, die kleinen Betriebe<br />
nicht unmittelbar in Staatseigentum überführen müsse, ja daß dies<br />
eigentlich gar nicht möglich sei, so daß die formelle Belassung <strong>de</strong>s<br />
Eigentums bei <strong>de</strong>m Betriebsinhaber und die bloße Unterstellung unter<br />
eine alles Wesentliche bestimmen<strong>de</strong> Staatsaufsicht die einzige Art ist, in<br />
<strong>de</strong>r hier die Sozialisierung durchgeführt wer<strong>de</strong>n kann, ist auch die Ansicht<br />
marxistischer Schriftsteller. Kautsky meint selbst „noch kein Sozialist, <strong>de</strong>r<br />
ernsthaft zu nehmen ist, hat je verlangt, daß die Bauern expropriiert o<strong>de</strong>r<br />
gar ihre Güter konfisziert wer<strong>de</strong>n sollen“. 3 Auch <strong>de</strong>n gewerblichen<br />
Kleinbetrieb will Kautsky nicht durch die förmliche Enteignung <strong>de</strong>s<br />
Besitzes vergesellschaften. 4 Der Bauer und <strong>de</strong>r Handwerker sollen auf die<br />
1<br />
Vgl. Philipp v. Arnim, I<strong>de</strong>en zu einer vollständigen landwirtschaftlichen<br />
Buchhaltung, 1805, S. VI (zitiert bei Waltz, a. a. O., S. 20).<br />
2 Ebendort S. 2 (zitiert bei Waltz, a. a. O., S. 21); vgl. ferner Lenz, Agrarlehre und<br />
Agrarpolitik <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Romantik, Berlin 1912, S. 84. - Vgl. ähnliche Äußerungen <strong>de</strong>s<br />
Prinzen Alois Liechtenstein, eines Führers <strong>de</strong>r österreichischen Christlich-Sozialen, zit. bei<br />
Nitti, Le socialisme catholique, Paris 1894, S. 370 f.<br />
3 Vgl. Kautsky, Die soziale Revolution a. a. O., II., S. 33.<br />
4 Ebendort S. 35.
231<br />
Weise in das Getriebe <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens eingeglie<strong>de</strong>rt<br />
wer<strong>de</strong>n, daß ihre Produktion und die Verwertung <strong>de</strong>r Produkte <strong>de</strong>n<br />
Befehlen <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung unterstellt wer<strong>de</strong>n, wobei ihnen jedoch<br />
<strong>de</strong>m Namen nach das Eigentum belassen wird. Die Aufhebung <strong>de</strong>s freien<br />
Marktes verwan<strong>de</strong>lt sie aus selbstwirtschaften<strong>de</strong>n Eigentümern und<br />
Unternehmern in Funktionäre <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens, die sich<br />
nur durch die Form ihrer Entlohnung von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Genossen<br />
unterschei<strong>de</strong>n. 1 Eine Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s etatistischen Gesellschaftsplanes<br />
kann also darin, daß in dieser Form <strong>de</strong>m Namen nach Reste <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln erhalten bleiben, nicht<br />
behauptet wer<strong>de</strong>n. Eine charakteristische Beson<strong>de</strong>rheit liegt allein in <strong>de</strong>m<br />
Umfang, <strong>de</strong>r dieser Art von Ordnung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse<br />
zugewiesen wird. Daß <strong>de</strong>r Etatismus im allgemeinen auch<br />
<strong>de</strong>n Großgrundbesitz - vielleicht mit Ausnahme <strong>de</strong>s Latifundienbesitzes -<br />
in dieser Weise formell im Son<strong>de</strong>reigentum belassen will, wur<strong>de</strong> schon<br />
erwähnt. Wichtiger noch ist es, daß er von <strong>de</strong>r Anschauung ausgeht, daß<br />
<strong>de</strong>r größere Teil <strong>de</strong>r Bevölkerung in bäuerlichen und kleingewerblichen<br />
Betrieben sein Unterkommen fin<strong>de</strong>n wird, so daß nur verhältnismäßig<br />
wenige als Angestellte von gewerblichen Großbetrieben in <strong>de</strong>n<br />
unmittelbaren Staatsdienst treten wer<strong>de</strong>n. Der Etatismus ist nicht nur im<br />
Gegensatz zu <strong>de</strong>n orthodoxen Marxisten vom Schlage Kautskys <strong>de</strong>r<br />
Ansicht, daß <strong>de</strong>r landwirtschaftliche Kleinbetrieb <strong>de</strong>m Großbetrieb in <strong>de</strong>r<br />
Produktivität nicht nachsteht; er ist auch <strong>de</strong>r Meinung, daß <strong>de</strong>m gewerblichen<br />
Kleinbetriebe neben <strong>de</strong>m Großbetriebe noch ein weites Feld <strong>de</strong>r<br />
Betätigung offen sei. Das ist die zweite Beson<strong>de</strong>rheit, die <strong>de</strong>n Staatssozialismus<br />
von an<strong>de</strong>ren sozialistischen Systemen, vor allem von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
Sozial<strong>de</strong>mokratie unterschei<strong>de</strong>t.<br />
Es ist wohl nicht notwendig, noch länger bei <strong>de</strong>r Ausmalung <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s<br />
zu verweilen, das sich <strong>de</strong>r Staatssozialismus vom i<strong>de</strong>alen Staatswesen<br />
macht. In großen Gebieten Europas ist es seit Jahrzehnten das stille I<strong>de</strong>al<br />
ungezählter Millionen und daher je<strong>de</strong>rmann bekannt, wenn es auch<br />
nirgends klar umschrieben wur<strong>de</strong>. Es ist <strong>de</strong>r Sozialismus <strong>de</strong>s ruhigen<br />
loyalen Beamten, <strong>de</strong>s Gutsbesitzers, <strong>de</strong>s Bauern, <strong>de</strong>s Kleingewerbetreiben<strong>de</strong>n<br />
und zahlreicher Arbeiter und Angestellten. Es ist <strong>de</strong>r Sozialismus<br />
<strong>de</strong>r Professoren, <strong>de</strong>r berühmte Kathe<strong>de</strong>rsozialismus; es ist <strong>de</strong>r Sozialismus<br />
<strong>de</strong>r Künstler,<br />
1 Vgl. Bourguin, a. a. O., S. 62 ff.
232<br />
<strong>de</strong>r Dichter und <strong>de</strong>r Schriftsteller in einer freilich alle Merkmale <strong>de</strong>s<br />
Verfalles tragen<strong>de</strong>n Epoche <strong>de</strong>r Kunstgeschichte. Es ist <strong>de</strong>r Sozialismus,<br />
<strong>de</strong>m die Kirchen aller Bekenntnisse Unterstützung leihen. Es ist <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus <strong>de</strong>s Cäsarismus und <strong>de</strong>s Imperialismus, es ist das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s<br />
sozialen Königtums. Es ist das, was die Politik <strong>de</strong>r meisten europäischen<br />
Staaten, vor allem die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Staaten, als fernes Ziel angesehen<br />
hat, <strong>de</strong>m man zustreben müsse. Es ist das Gesellschaftsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Zeit, die<br />
<strong>de</strong>n großen Weltkrieg vorbereitet hat und mit ihm zusammengebrochen<br />
ist.<br />
Ein Sozialismus, <strong>de</strong>r die Anteile <strong>de</strong>s Einzelnen an <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>r Würdigkeit abstuft, ist kaum an<strong>de</strong>rs als in<br />
<strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Staatssozialismus zu <strong>de</strong>nken. Die Rangordnung, die er <strong>de</strong>r<br />
Verteilung zugrun<strong>de</strong> legen will, ist die einzige, die soweit volkstümlich<br />
ist, daß gegen sie nicht allzu heftiger Wi<strong>de</strong>rstand auftauchen wür<strong>de</strong>. Mag<br />
sie auch weniger noch als viele an<strong>de</strong>re, die man vorschlagen könnte, einer<br />
rationalistischen Kritik standhalten können, so ist sie doch durch das Alter<br />
ihrer Geltung geheiligt. In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Staatssozialismus sie zu verewigen<br />
trachtet und je<strong>de</strong> Verschiebung in <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Rangverhältnissen<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn sucht, rechtfertigt er die Bezeichnung<br />
konservativer Sozialismus, die ihm mitunter beigelegt wird. 1<br />
Er ist in <strong>de</strong>r Tat mehr noch als je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Gestalt <strong>de</strong>s Sozialismus von<br />
Anschauungen getragen, die an die Möglichkeit völliger Erstarrung und<br />
Bewegungslosigkeit <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Verhältnisse glauben; seine<br />
Anhänger halten zumin<strong>de</strong>st je<strong>de</strong> wirtschaftliche Neuerung für überflüssig<br />
o<strong>de</strong>r gar für schädlich. Dem entspricht auch <strong>de</strong>r Weg, auf <strong>de</strong>m die<br />
Etatisten ihr Ziel erreichen wollen. Haben wir im marxistischen<br />
Sozialismus das Gesellschaftsi<strong>de</strong>al von Menschen, die alles nur vom<br />
radikalen Umsturz <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n in blutigen Revolutionen erwarten, so<br />
ist <strong>de</strong>r Staatssozialismus das Gesellschaftsi<strong>de</strong>al jener, die gegen alle<br />
Mißstän<strong>de</strong> die Hilfe <strong>de</strong>r Polizei anrufen. Der Marxismus baut auf die<br />
unfehlbare Einsicht <strong>de</strong>r vom revolutionären Geist erfüllten Proletarier, <strong>de</strong>r<br />
Etatismus auf die Unfehlbarkeit <strong>de</strong>r überkommenen Autoritäten. In <strong>de</strong>m<br />
politischen Absolutismus, <strong>de</strong>r die Möglichkeit eines Irrtums nicht zuläßt,<br />
stimmen freilich bei<strong>de</strong> überein.<br />
Im Gegensatz zum Staatssozialismus ist <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>sozialismus<br />
1 Diesen Charakter <strong>de</strong>s Staatssozialismus hebt beson<strong>de</strong>rs hervor Andler, Les origines<br />
du Socialisme d’État en Allemagne, Deuxième Edition, Paris 1911, S. 2.
233<br />
keine beson<strong>de</strong>re Gestaltung <strong>de</strong>s sozialistischen Gesellschaftsi<strong>de</strong>als. Die<br />
Kommunalisierung von Unternehmungen ist nicht als ein allgemeines<br />
Prinzip gedacht, auf <strong>de</strong>m sich eine Neugestaltung <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens<br />
durchführen läßt. Sie soll nur Unternehmungen, <strong>de</strong>ren Absatz örtlich<br />
beschränkt ist, umfassen. Im streng durchgeführten Staatssozialismus<br />
sollen sich die Gemein<strong>de</strong>betriebe <strong>de</strong>r obersten Wirtschaftsleitung<br />
unterordnen und keinen freieren Spielraum zur Entfaltung haben als die<br />
<strong>de</strong>m Namen nach im Son<strong>de</strong>reigentum verbliebenen landwirtschaftlichen<br />
und gewerblichen Unternehmungen.<br />
§ 3. Der Militärsozialismus ist <strong>de</strong>r Sozialismus eines Staates, in <strong>de</strong>m<br />
alle Einrichtungen auf die Kriegführung abgestellt sind. Er ist<br />
Staatssozialismus, in <strong>de</strong>m die Würdigkeit, die für die soziale Geltung und<br />
für die Zumessung <strong>de</strong>s Einkommens <strong>de</strong>r Genossen entschei<strong>de</strong>nd ist,<br />
ausschließlich o<strong>de</strong>r vorzugsweise nach <strong>de</strong>r Stellung im Heeresverband<br />
beurteilt wird. Je höher <strong>de</strong>r militärische Rang, <strong>de</strong>sto höher die<br />
gesellschaftliche Wertschätzung und <strong>de</strong>r Anteil an <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Divi<strong>de</strong>n<strong>de</strong>.<br />
Der Militärstaat, das ist <strong>de</strong>r Staat <strong>de</strong>r Krieger, in <strong>de</strong>m alles <strong>de</strong>m<br />
Zwecke <strong>de</strong>r Kriegführung untergeordnet wird, kann Son<strong>de</strong>reigentum an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln nicht zulassen. Die Organisation <strong>de</strong>r ständigen<br />
Kriegsbereitschaft ist undurchführbar, wenn neben <strong>de</strong>r Kriegführung noch<br />
an<strong>de</strong>re Ziele <strong>de</strong>m Leben <strong>de</strong>s einzelnen <strong>de</strong>n Weg weisen. Alle<br />
Kriegerkasten, die ihren Glie<strong>de</strong>rn grundherrliche o<strong>de</strong>r gutsherrliche<br />
Einkünfte, eigene Landwirtschaftsbetriebe o<strong>de</strong>r gar durch Ausstattung mit<br />
unfreien Arbeitern Gewerbebetriebe zum Unterhalt zugewiesen haben,<br />
haben sich im Laufe <strong>de</strong>r Zeit ihres kriegerischen Wesens entäußert. Der<br />
Lehensträger ging in seiner wirtschaftlichen Betätigung auf, er bekam<br />
an<strong>de</strong>re Interessen als die, Krieg zu führen und militärische Ehren<br />
einzuheimsen. In <strong>de</strong>r ganzen Welt hat <strong>de</strong>r Feudalismus zur Entmilitarisierung<br />
<strong>de</strong>r Krieger geführt. Die Nachkommen <strong>de</strong>r Reisigen<br />
wur<strong>de</strong>n Landjunker. Besitz macht wirtschaftlich und unkriegerisch. Nur<br />
die Fernhaltung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums kann einem Staatswesen <strong>de</strong>n<br />
militärischen Charakter erhalten. Nur <strong>de</strong>r Krieger, <strong>de</strong>r außer <strong>de</strong>m Krieg<br />
kein an<strong>de</strong>res Betätigungsfeld kennt als die Vorbereitung für <strong>de</strong>n Krieg, ist<br />
immer zum Krieg bereit. Mit Männern, die an ihre Wirtschaft <strong>de</strong>nken,<br />
lassen sich Verteidigungskriege führen, aber keine lange dauern<strong>de</strong>n<br />
Eroberungskriege.<br />
Der Militärstaat ist ein Staat von Räubern. Er lebt vorzugsweise
234<br />
von Beute und Tributen. Neben diesen Einkünften spielt <strong>de</strong>r Ertrag<br />
eigener wirtschaftlicher Tätigkeit nur eine untergeordnete Rolle; vielfach<br />
fehlt sie auch vollkommen. Fließen Beute und Tribute aus <strong>de</strong>m Auslan<strong>de</strong>,<br />
dann ist es klar, daß sie nicht Einzelnen zufließen können, son<strong>de</strong>rn nur<br />
<strong>de</strong>m Fiskus, <strong>de</strong>r sie nach keinem an<strong>de</strong>ren Schlüssel verteilen kann als<br />
nach <strong>de</strong>m militärischen Rang <strong>de</strong>s einzelnen. Das Heer, das allein die<br />
Stetigkeit dieser Quelle sichert, wür<strong>de</strong> eine an<strong>de</strong>re Verteilungsart gar nicht<br />
für <strong>de</strong>nkbar halten. Dann liegt es nahe, dieselben Grundsätze auch auf die<br />
Verteilung <strong>de</strong>s Ertrages <strong>de</strong>r inländischen Produktion, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Genossen<br />
gleichfalls als Tribut und Hörigenzins zufließt, anzuwen<strong>de</strong>n. So ist <strong>de</strong>r<br />
„Kommunismus“ <strong>de</strong>r hellenischen Seeräuber von Lipara und aller an<strong>de</strong>ren<br />
Piratenstaaten zu erklären. 1 Es ist „Räuber- und Kriegerkommunismus“, 2<br />
geboren aus <strong>de</strong>r Übertragung militärischen Denkens auf alle<br />
gesellschaftlichen Beziehungen. Von <strong>de</strong>n Sueben, die er die „gens longe<br />
bellicosissima Germanorum omnium“ nennt, berichtet Caesar, daß sie<br />
alljährlich Truppen zum Beutemachen über die Grenzen sen<strong>de</strong>n. Die,<br />
welche im Lan<strong>de</strong> bleiben, besorgen die wirtschaftlichen Arbeiten auch für<br />
die, die im Fel<strong>de</strong> stehen; im nächsten Jahre wird die Rolle bei<strong>de</strong>r Gruppen<br />
vertauscht. Es gibt kein Ackerland im abgeson<strong>de</strong>rten Besitz <strong>de</strong>r<br />
einzelnen. 3 Nur dadurch, daß je<strong>de</strong>r am Ertrag <strong>de</strong>r kriegerischen und<br />
wirtschaftlichen Tätigkeit, die auf gemeinsame Rechnung und Gefahr<br />
betrieben wird, beteiligt ist, ist es <strong>de</strong>m Kriegerstaat möglich, je<strong>de</strong>n Bürger<br />
zum Krieger und je<strong>de</strong>n Krieger zum Bürger zu machen. Ließe er die einen<br />
immer als Krieger, die an<strong>de</strong>ren immer als auf eigenem Besitz wirtschaften<strong>de</strong><br />
Bürger leben, dann wür<strong>de</strong>n sich die bei<strong>de</strong>n Stän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Krieger und<br />
<strong>de</strong>r Bürger bald im Gegensatz befin<strong>de</strong>n. Dann müßten entwe<strong>de</strong>r die<br />
Krieger die Bürger unterjochen, wobei es fraglich bleibt, ob es ihnen dann<br />
noch möglich wäre, auf Beutezüge auszugehen, wenn sie hinter sich zu<br />
Hause eine unterdrückte Volksmasse zurücklassen müßten. O<strong>de</strong>r es<br />
gelingt <strong>de</strong>n Bürgern, die Oberhand zu gewinnen; dann wer<strong>de</strong>n die Krieger<br />
zu Söldnern herabgedrückt, <strong>de</strong>nen man die Beutezüge schon <strong>de</strong>shalb<br />
untersagen muß, weil man sie, die eine ständige Gefahr bil<strong>de</strong>n, nicht allzu<br />
1 Über Lipara vgl. Poehlmann, a. a. O., I. Bd., S. 44 ff.<br />
2 Vgl. Max Weber, Der Streit um <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r altgermanischen Sozialverfassung<br />
in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur <strong>de</strong>s letzten Jahrzehnts (Jahrbücher für Nationalökonomie und<br />
Statistik, 28. Bd., 1904, S. 445).<br />
3 Vgl. Caesar, De bello Gallico, IV, 1.
235<br />
üppig wer<strong>de</strong>n lassen darf. In bei<strong>de</strong>n Fällen müßte das Staatswesen seinen<br />
rein militärischen Charakter einbüßen. Darum be<strong>de</strong>utet Abschwächung<br />
<strong>de</strong>r „kommunistischen“ Einrichtungen auch Schwächung <strong>de</strong>s kriegerischen<br />
Charakters <strong>de</strong>s Staatswesens. Der kriegerische Gesellschaftstypus<br />
wan<strong>de</strong>lt sich langsam in <strong>de</strong>n industriellen um. 1 Die Kräfte, die ein<br />
kriegerisches Staatswesen zum Sozialismus hindrängen, konnte man im<br />
Weltkrieg <strong>de</strong>utlich beobachten. Je länger <strong>de</strong>r Krieg dauerte, und je mehr<br />
er die Staaten Europas in große Kriegslager verwan<strong>de</strong>lte, <strong>de</strong>sto<br />
unhaltbarer erschien politisch <strong>de</strong>r Gegensatz zwischen <strong>de</strong>m Krieger, <strong>de</strong>r<br />
die Mühseligkeiten und Gefahren <strong>de</strong>s Kampfes zu tragen hatte, und <strong>de</strong>m<br />
zu Hause verbliebenen Mann, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Kriegskonjunktur Nutzen zog.<br />
Die Lose waren zu ungleich verteilt; hätte man die Unterschie<strong>de</strong><br />
fortbestehen lassen, sie hätten bei längerer Kriegsdauer die Staaten<br />
unfehlbar in zwei Lager zerrissen, und die Waffen <strong>de</strong>r Heere hätten sich<br />
zuletzt gegen das eigene Land gekehrt. Der Sozialismus <strong>de</strong>r Heere <strong>de</strong>r<br />
allgemeinen Dienstpflicht for<strong>de</strong>rt zur Ergänzung <strong>de</strong>n Sozialismus <strong>de</strong>r allgemeinen<br />
Arbeitspflicht in <strong>de</strong>r Heimat.<br />
Daß sie nicht an<strong>de</strong>rs als kommunistisch organisiert ihren kriegerischen<br />
Charakter bewahren können, stärkt die Kriegerstaaten nicht für <strong>de</strong>n<br />
Kampf. Der Kommunismus ist für sie ein Übel, das sie mit in Kauf<br />
nehmen müssen; er erzeugt die Schwäche, an <strong>de</strong>r sie schließlich zugrun<strong>de</strong><br />
gehen müssen. Man hat in Deutschland gleich in <strong>de</strong>n ersten Jahren <strong>de</strong>s<br />
Weltkrieges <strong>de</strong>n Weg zum Sozialismus betreten, weil <strong>de</strong>r militaristisch-etatistische<br />
Geist, aus <strong>de</strong>m die Politik, die zum Kriege geführt hat,<br />
entsprungen war, zum Staatssozialismus drängte; man hat gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Krieges die Sozialisierung immer energischer betrieben, weil man aus <strong>de</strong>n<br />
eben geschil<strong>de</strong>rten Grün<strong>de</strong>n die Verfassung <strong>de</strong>r Heimat <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Front<br />
angleichen mußte. Doch <strong>de</strong>r Kriegssozialismus hat die Lage <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Staates im Kriege nicht erleichtert, son<strong>de</strong>rn erschwert; er hat die<br />
Produktion nicht geför<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn gehemmt, die Versorgung von Heer<br />
und Heimat nicht gebessert, son<strong>de</strong>rn verschlechtert. 2 Davon, daß nur <strong>de</strong>r<br />
Geist <strong>de</strong>s Etatismus daran Schuld trägt, daß in <strong>de</strong>n gewaltigen<br />
Erschütterungen <strong>de</strong>r Kriegszeit und <strong>de</strong>r ihr<br />
1 Vgl. Herbert Spencer, Die Prinzipien <strong>de</strong>r Soziologie, übersetzt von Vetter, III. Bd.,<br />
Stuttgart 1899, S. 710 ff.<br />
2 Vgl. meine Ausführungen in: „Nation, Staat und Wirtschaft“, a. a. O., S. 115 ff.,<br />
143f.
236<br />
folgen<strong>de</strong>n Revolutionszeit keine einzige starke Individualität aus <strong>de</strong>r Mitte<br />
<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes aufgetreten ist, sei gar nicht erst gesprochen.<br />
Die geringe Produktivität <strong>de</strong>r kommunistischen Wirtschaftsweise<br />
bringt <strong>de</strong>n kommunistischen Kriegerstaat in Nachteil, wenn es zu einem<br />
Zusammenstoß mit <strong>de</strong>n wohlhaben<strong>de</strong>ren und daher besser ausgerüsteten<br />
und genährten Angehörigen von Völkern kommt, die das Son<strong>de</strong>reigentum<br />
kennen. Die Ertötung <strong>de</strong>r Initiative <strong>de</strong>s einzelnen, die beim Sozialismus<br />
unvermeidlich ist, macht, daß ihm in <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Kampfes die Führer fehlen, die <strong>de</strong>n Weg zum Siege weisen, und die<br />
Unterführer, die die Weisungen jener auszuführen vermögen. Das große<br />
militär-kommunistische Reich <strong>de</strong>r Inkas wur<strong>de</strong> von einer kleinen Schar<br />
Spanier mühelos zertrümmert. 1 Ist <strong>de</strong>r Feind, gegen <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Kriegerstaat<br />
anzukämpfen hat, im Innern <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zu suchen, dann kann man von<br />
einem Erobererkommunismus sprechen. „Kasinokommunismus“ nennt<br />
Max Weber die sozialen Einrichtungen <strong>de</strong>r Dorier in Sparta im Hinblick<br />
auf die Speisegenossenschaft <strong>de</strong>r Syssitien. 2 Wenn die Herrenkaste, statt<br />
kommunistische Einrichtungen zu treffen, die Län<strong>de</strong>reien samt <strong>de</strong>n<br />
Bewohnern einzelnen Glie<strong>de</strong>rn als Son<strong>de</strong>rgut zuweist, geht sie über kurz<br />
o<strong>de</strong>r lang ethnisch in <strong>de</strong>r unterworfenen Bevölkerung auf. Sie wan<strong>de</strong>lt<br />
sich in einen grundbesitzen<strong>de</strong>n A<strong>de</strong>l um, <strong>de</strong>r schließlich auch die<br />
Unterworfenen zum Waffendienst heranzieht. Damit verliert das<br />
Staatswesen seinen auf das Kriegführen abgestellten Charakter. Das war<br />
die Entwicklung, die sich in <strong>de</strong>n Reichen <strong>de</strong>r Langobar<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Westgoten<br />
und <strong>de</strong>r Franken und überall dort vollzogen hat, wo die Normannen als<br />
Eroberer aufgetreten waren.<br />
§ 4. Die theokratische Staatsform verlangt entwe<strong>de</strong>r autarke<br />
Familienwirtschaft o<strong>de</strong>r sozialistische Organisation <strong>de</strong>r Wirtschaft. Sie ist<br />
mit einer Ordnung <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens, die <strong>de</strong>m einzelnen freien<br />
Spielraum zur Entfaltung seiner Kräfte gewährt, unverträglich.<br />
Glaubenseinfalt und Wirtschaftsrationalismus können nicht<br />
1 Wiener (Essai sur les institutions politiques, religieuses, économiques et sociales <strong>de</strong><br />
l’Empire <strong>de</strong>s Incas, Paris 1874, S. 64, 90 ff.) fin<strong>de</strong>t die Erklärung für die Leichtigkeit, mit<br />
<strong>de</strong>r Pizzaro Peru erobern konnte, in <strong>de</strong>r durch <strong>de</strong>n Kommunismus bewirkten Entnervung<br />
<strong>de</strong>s Volkes.<br />
2 Vgl. Max Weber, a. a. O., S. 445.
237<br />
beieinan<strong>de</strong>r wohnen. Es ist un<strong>de</strong>nkbar, daß Priester über Unternehmer<br />
herrschen.<br />
Der kirchliche Sozialismus, wie er in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten bei<br />
zahlreichen Bekennern aller christlichen Kirchen Fuß gefaßt hat, ist nichts<br />
an<strong>de</strong>res als eine Spielart <strong>de</strong>s Staatssozialismus. Staatssozialismus und<br />
kirchlicher Sozialismus sind so sehr ineinan<strong>de</strong>r verwachsen, daß es<br />
schwer fällt, zwischen ihnen eine feste Grenze zu ziehen und von<br />
einzelnen Sozialpolitikern zu sagen, ob sie dieser o<strong>de</strong>r jener Richtung<br />
angehören. Noch stärker als <strong>de</strong>r Etatismus ist <strong>de</strong>r christliche Sozialismus<br />
von <strong>de</strong>r Meinung beherrscht, daß die Volkswirtschaft sich in einem<br />
Beharrungszustand befin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, wenn nicht Profitsucht und Eigennutz<br />
<strong>de</strong>r ihr Streben lediglich auf die Befriedigung materieller Interessen<br />
richten<strong>de</strong>n Menschen ihren gleichmäßigen Gang immer wie<strong>de</strong>r stören<br />
wür<strong>de</strong>n. Die Ersprießlichkeit fortschreiten<strong>de</strong>r Verbesserung <strong>de</strong>r Produktionsmetho<strong>de</strong>n<br />
wird, wenn auch mit Einschränkungen, nicht bestritten;<br />
doch es fehlt die klare Erkenntnis, daß eben diese Neuerungen es sind, die<br />
die Volkswirtschaft nicht zur Ruhe kommen lassen. Soweit diese<br />
Erkenntnis vorhan<strong>de</strong>n ist, wird Beharren auf <strong>de</strong>m einmal erreichtem<br />
Standpunkt je<strong>de</strong>r weiteren Verän<strong>de</strong>rung vorgezogen. Landwirtschaft und<br />
Handwerk, allenfalls noch Krämerei, erscheinen als die allein zulässigen<br />
Beschäftigungen. Han<strong>de</strong>l und Spekulation gelten als überflüssig,<br />
schädlich und vom sittlichen Standpunkt verdammenswert. Fabriken und<br />
Großindustrie sind eine schädliche Erfindung <strong>de</strong>s „jüdischen Geistes“; sie<br />
erzeugen nur schlechte Waren, die von Warenhäusern und an<strong>de</strong>ren<br />
Mißgebil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Han<strong>de</strong>ls <strong>de</strong>n Käufern zu ihrem Scha<strong>de</strong>n<br />
aufgedrängt wer<strong>de</strong>n. Pflicht <strong>de</strong>r Gesetzgebung wäre es, diese Ausschreitungen<br />
<strong>de</strong>s Erwerbsgeistes zu unterdrücken und <strong>de</strong>m Handwerk die<br />
Stellung in <strong>de</strong>r Produktion, aus <strong>de</strong>r es nur durch die Machenschaften <strong>de</strong>s<br />
Großkapitals verdrängt wur<strong>de</strong>, wie<strong>de</strong>rzugeben. 1 Die großen Verkehrsunternehmungen,<br />
die man nun einmal nicht abschaffen könne, wären zu<br />
verstaatlichen.<br />
Das Gesellschaftsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s christlichen Sozialismus, das durch alle<br />
Ausführungen seiner Vertreter durchschimmert, ist rein statisch. In <strong>de</strong>m<br />
Bil<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wirtschaft, wie es sich in diesen Köpfen malt, fehlt daher <strong>de</strong>r<br />
Unternehmer, gibt es keine Spekulation und keinen<br />
1 Vgl. die Kritik <strong>de</strong>r Wirtschaftspolitik <strong>de</strong>r österreichischen Christlich-Sozialen bei<br />
Sigmund Mayer, Die Aufhebung <strong>de</strong>s Befähigungsnachweises in Österreich, Leipzig 1894,<br />
beson<strong>de</strong>rs S. 124 ff.
238<br />
„übermäßigen“ Gewinn. Die Preise und Löhne, die verlangt und gegeben<br />
wer<strong>de</strong>n, sind „gerecht“. Je<strong>de</strong>rmann ist mit seinem Los zufrie<strong>de</strong>n, weil<br />
Unzufrie<strong>de</strong>nheit eine Auflehnung gegen göttliche und menschliche<br />
Gesetze be<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong>. Für <strong>de</strong>n Erwerbsunfähigen wird durch<br />
christliche Mildtätigkeit gesorgt. Dieses I<strong>de</strong>al sei, wird behauptet, im<br />
Mittelalter verwirklicht gewesen. Nur <strong>de</strong>r Unglauben habe die Menschheit<br />
aus diesem Paradies vertreiben können. Wenn man es wie<strong>de</strong>rgewinnen<br />
wolle, müsse man daher zuerst <strong>de</strong>n Weg zur Kirche wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.<br />
Aufklärung und Liberalismus hätten alles Unglück erzeugt, von <strong>de</strong>m die<br />
Welt heute heimgesucht wird.<br />
Die Vorkämpfer christlicher Sozialreform halten im allgemeinen das<br />
Gesellschaftsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s christlichen Sozialismus keineswegs für<br />
sozialistisch. Das ist nichts als Selbsttäuschung. Der christliche Sozialismus<br />
scheint konservativ zu sein, weil er die bestehen<strong>de</strong> Eigentumsordnung<br />
aufrecht erhalten will, o<strong>de</strong>r, richtiger gesagt, reaktionär, weil er<br />
zunächst eine Eigentumsordnung, die irgend einmal in <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />
geherrscht haben soll, wie<strong>de</strong>r herstellen und dann erhalten will. Es ist<br />
auch richtig, daß er sich mit großer Energie gegen die auf radikale<br />
Beseitigung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums errichteten Pläne <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
an<strong>de</strong>rer Richtungen wen<strong>de</strong>t und im Gegensatz zu ihnen behauptet, nicht<br />
Sozialismus, son<strong>de</strong>rn Sozialreform anzustreben. Doch Konservatismus<br />
kann gar nicht an<strong>de</strong>rs verwirklicht wer<strong>de</strong>n als durch Sozialismus. Wo es<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln nicht nur <strong>de</strong>m Worte nach,<br />
son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>m Wesen nach gibt, kann das Einkommen nicht so verteilt<br />
sein, wie es einer bestimmten historisch o<strong>de</strong>r sonstwie festgelegten Ordnung<br />
entspricht. Wo Son<strong>de</strong>reigentum besteht, können nur die Marktpreise<br />
über die Einkommensbildung entschei<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m diese<br />
Erkenntnis wächst, wird <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Kirche stehen<strong>de</strong><br />
Sozialreformer schrittweise zum Sozialismus, <strong>de</strong>r bei ihm kein an<strong>de</strong>rer<br />
sein kann als <strong>de</strong>r Staatssozialismus, hingedrängt. Er muß einsehen, daß es<br />
sonst ein so vollkommenes Beharren am geschichtlich Überkommenen,<br />
wie es sein I<strong>de</strong>al erfor<strong>de</strong>rt, nicht geben kann. Er erkennt, daß es<br />
un<strong>de</strong>nkbar ist, die Einhaltung bestimmter Preise und Löhne zu for<strong>de</strong>rn,<br />
wenn man nicht durch mit Strafandrohung erteilte Befehle einer über<br />
allem Tun walten<strong>de</strong>n Obrigkeit ihre Überschreitung hintanhält. Er muß<br />
aber weiter begreifen, daß die Löhne und Preise nicht willkürlich nach <strong>de</strong>n<br />
I<strong>de</strong>en eines Weltverbesserers bestimmt wer<strong>de</strong>n können, weil je<strong>de</strong><br />
Abweichung vom Marktpreise das Gleichgewicht <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens<br />
stört. So muß
239<br />
er schrittweise über die For<strong>de</strong>rung nach Preistaxen hinaus zur For<strong>de</strong>rung<br />
einer obrigkeitlichen Leitung <strong>de</strong>r Produktion und <strong>de</strong>r Verteilung gelangen.<br />
Es ist <strong>de</strong>rselbe Weg, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r praktische Etatismus zurückgelegt hat. Am<br />
En<strong>de</strong> steht dann hier wie dort ein streng durchgeführter Sozialismus, <strong>de</strong>r<br />
nur <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums bestehen läßt, in Wahrheit aber alle<br />
Verfügungsgewalt über Produktionsmittel an <strong>de</strong>n Staat überträgt.<br />
Nur ein Teil <strong>de</strong>r christlichen Sozialisten hat sich unverhüllt zu diesem<br />
radikalen Programm bekannt. Die an<strong>de</strong>ren haben die offene Sprache<br />
gescheut. Sie haben es ängstlich vermie<strong>de</strong>n, die letzten Folgerungen aus<br />
ihren Prämissen zu ziehen. Sie geben vor, nur Auswüchse und<br />
Ausschreitungen <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung bekämpfen zu<br />
wollen, sie klammern sich daran, daß sie das Son<strong>de</strong>reigentum gar nicht<br />
beseitigen wollen, sie betonen immer wie<strong>de</strong>r ihren Gegensatz zum<br />
Sozialismus <strong>de</strong>r Marxisten. Aber sie erblicken charakteristischerweise<br />
diesen Gegensatz vor allem in Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten über <strong>de</strong>n Weg,<br />
<strong>de</strong>r zur Erreichung <strong>de</strong>s besten Gesellschaftszustan<strong>de</strong>s führt. Sie sind nicht<br />
revolutionär und erhoffen alles von <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Erkenntnis <strong>de</strong>r<br />
Notwendigkeit <strong>de</strong>r Reform. Im übrigen betonen sie immer wie<strong>de</strong>r, daß sie<br />
das Son<strong>de</strong>reigentum nicht antasten wollen. Was beibehalten wer<strong>de</strong>n soll,<br />
ist aber nur <strong>de</strong>r Name <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums. Wenn die Leitung <strong>de</strong>r<br />
Produktion auf <strong>de</strong>n Staat übergegangen ist, ist <strong>de</strong>r Eigentümer nur noch<br />
ein Beamter, ein Beauftragter <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung.<br />
Man sieht ohne weiteres, wie dieser kirchliche Sozialimus <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart mit <strong>de</strong>m Wirtschaftsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Scholastik zusammenhängt Der<br />
Ausgangspunkt, die For<strong>de</strong>rung nach „Gerechtigkeit“ <strong>de</strong>s Lohnes und <strong>de</strong>s<br />
Preises, d. h. nach einer bestimmten, historisch überkommenen Einkommensverteilung,<br />
ist bei<strong>de</strong>n gemeinsam. Erst die Erkenntnis, daß damit<br />
etwas Unmögliches gefor<strong>de</strong>rt wird, wenn man die auf <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum. an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong> Wirtschaftsverfassung<br />
bestehen läßt, drängt die mo<strong>de</strong>rne christliche Reformbewegung<br />
zum Sozialismus hin. Um ihre For<strong>de</strong>rungen durchzuführen,<br />
muß sie Maßnahmen empfehlen, die - mag auch formell das Son<strong>de</strong>reigentum<br />
beibehalten wer<strong>de</strong>n - auf vollständige Sozialisierung <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft hinauslaufen.<br />
Es wird noch zu zeigen sein, daß dieser mo<strong>de</strong>rne christliche<br />
Sozialismus mit <strong>de</strong>m viel berufenen angeblichen Kommunismus <strong>de</strong>s<br />
Urchristentums nichts zu tun hat. Der sozialistische Gedanke ist in <strong>de</strong>r<br />
Kirche neu. Darüber darf auch <strong>de</strong>r Umstand nicht hinwegtäuschen,
240<br />
daß gera<strong>de</strong> die jüngste Entwicklung <strong>de</strong>r kirchlichen Sozialtheorie zur<br />
grundsätzlichen Anerkennung <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln geführt hat, 1 wogegen die älteren kirchlichen<br />
Lehren im Hinblick auf die alle wirtschaftliche Betätigung verdammen<strong>de</strong>n<br />
Gebote <strong>de</strong>r Evangelien es gescheut hatten, sich auch nur mit <strong>de</strong>m Namen<br />
<strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums vorbehaltlos abzufin<strong>de</strong>n. Doch die Anerkennung <strong>de</strong>r<br />
Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums durch die Kirche ist nur so zu<br />
verstehen, daß damit die auf gewaltsamen Umsturz <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n<br />
gerichteten Bestrebungen <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokraten abgelehnt wer<strong>de</strong>n. In<br />
Wahrheit will die Kirche nichts als einen beson<strong>de</strong>rs gefärbten<br />
Staatssozialismus. Sie muß, ihrem ganzen Wesen nach, heute die<br />
konservative Reform .<strong>de</strong>r revolutionären vorziehen.<br />
Das Wesen <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise ist unabhängig von<br />
<strong>de</strong>r konkreten Gestalt, in <strong>de</strong>r man ihre Verwirklichung sucht. Je<strong>de</strong><br />
sozialistische Bestrebung, wie immer sie auch auftreten mag, muß an <strong>de</strong>r<br />
Unmöglichkeit, rein sozialistische Wirtschaft aufzurichten, scheitern.<br />
Daran, nicht an <strong>de</strong>r Unzulänglichkeit <strong>de</strong>s sittlichen Charakters <strong>de</strong>r<br />
Menschen muß <strong>de</strong>r Sozialismus zugrun<strong>de</strong> gehen. Man mag zugeben, daß<br />
die sittlichen Eigenschaften, die von <strong>de</strong>n Genossen <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n müssen, am ehesten durch die Kirche<br />
geweckt wer<strong>de</strong>n könnten. Der Geist, <strong>de</strong>r in einem sozialistischen<br />
Gemeinwesen herrschen müßte, ist <strong>de</strong>m Geist einer kirchlichen<br />
Gemeinschaft am meisten verwandt. Doch um die Schwierigkeiten, die<br />
<strong>de</strong>r Aufrichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung entgegenstehen,<br />
zu beseitigen, müßten die menschliche Natur o<strong>de</strong>r die Gesetze <strong>de</strong>r<br />
uns umgeben<strong>de</strong>n Natur geän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n. Das aber kann auch <strong>de</strong>r Glauben<br />
nicht vollbringen.<br />
§ 5. Die Planwirtschaft ist eine neue Spielart <strong>de</strong>s Staatssozialismus.<br />
Je<strong>de</strong>r Versuch, sozialistische Pläne zu verwirklichen, muß sehr<br />
1 Wir haben oben immer nur von <strong>de</strong>r Kirche im allgemeinen gesprochen, ohne auf die<br />
Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Bekenntnisse Rücksicht zu nehmen. Das ist durchaus zulässig. Die<br />
Entwicklung zum Sozialismus ist allen Bekenntnissen gemeinsam. Im Katholizismus hat<br />
die Enzyklika Leos XIII. „Rerum novarum“ vom Jahre 1891 das Son<strong>de</strong>reigentum als <strong>de</strong>m<br />
Naturrecht entspringend anerkannt; gleichzeitig aber hat die Kirche eine Reihe von<br />
Moralgrundsätzen für die Verteilung <strong>de</strong>s Einkommens aufgestellt, die sich nur im<br />
Staatssozialismus verwirklichen lassen. Im <strong>de</strong>utschen Protestantismus ist <strong>de</strong>r christlichsoziale<br />
Gedanken mit <strong>de</strong>m Staatssozialismus so verbun<strong>de</strong>n, daß man die bei<strong>de</strong>n kaum<br />
voneinan<strong>de</strong>r zu unterschei<strong>de</strong>n vermag.
241<br />
bald auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. So ist es auch <strong>de</strong>m<br />
preußischen Staatssozialismus ergangen. Der Mißerfolg <strong>de</strong>r Verstaatlichung<br />
war zu offenkundig, als daß man ihn hätte übersehen können. Die<br />
Zustän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n gemeinwirtschaftlichen Betrieben waren nicht danach<br />
angetan, zu weiteren Schritten auf <strong>de</strong>m Wege zur Staats- und<br />
Gemein<strong>de</strong>regie zu ermuntern. Man schob die Schuld daran <strong>de</strong>m<br />
Beamtentum zu. Es sei ein Fehler gewesen, die „Fachleute“<br />
auszuschalten. Man müsse in irgen<strong>de</strong>iner Weise die Kräfte <strong>de</strong>r Unternehmer<br />
in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>s Sozialismus stellen. Aus diesem Gedanken<br />
heraus entspringt zunächst die Einrichtung <strong>de</strong>r gemischtwirtschaftlichen<br />
Unternehmungen. An Stelle <strong>de</strong>r vollen Verstaatlichung o<strong>de</strong>r<br />
Verstadtlichung tritt ein Privatunternehmen, an <strong>de</strong>m Staat o<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong><br />
beteiligt sind. Damit wird einerseits <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung jener Rechnung<br />
getragen, die es für ein Unrecht halten, daß Staat und Gemein<strong>de</strong> am Ertrag<br />
<strong>de</strong>r in ihren Hoheitsgebieten betriebenen Unternehmungen nicht beteiligt<br />
sind. Freilich läßt sich solche Beteiligung viel wirksamer durch<br />
Besteuerung erzielen, ohne daß man die öffentlichen Finanzen auch <strong>de</strong>r<br />
Möglichkeit eines Verlustes aussetzt. An<strong>de</strong>rseits aber glaubt man bei<br />
diesem System alle lebendigen Kräfte <strong>de</strong>s Unternehmertums in <strong>de</strong>n Dienst<br />
<strong>de</strong>s gemeinwirtschaftlichen Betriebes zu stellen. Das ist ein grober Irrtum.<br />
Denn sobald einmal auch die Vertreter <strong>de</strong>r öffentlichen Verwaltung an <strong>de</strong>r<br />
Leitung mitbeteiligt sind, müssen alle Hemmungen, die die Entschlußkraft<br />
öffentlicher Angestellter lähmen, wirksam wer<strong>de</strong>n. Die gemeinwirtschaftlichen<br />
Betriebe ermöglichen es, die Angestellten und Arbeiter formell von<br />
<strong>de</strong>n für die öffentlichen Beamten gelten<strong>de</strong>n Bestimmungen auszunehmen<br />
und damit die schädlichen Rückwirkungen, die <strong>de</strong>r Beamtengeist für die<br />
Rentabilität von Unternehmungen äußert, ein wenig zu mil<strong>de</strong>rn. Der<br />
gemischtwirtschaftliche Betrieb hat sich im großen und ganzen sicher<br />
besser bewährt als <strong>de</strong>r reine Regiebetrieb. Für die Durchführbarkeit <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus hat dies ebensowenig zu be<strong>de</strong>uten, wie die guten Ergebnisse,<br />
die einzelne öffentliche Betriebe mitunter aufweisen. Daß es bei Zutreffen<br />
glücklicher Umstän<strong>de</strong> möglich ist, einen gemeinwirtschaftlichen Betrieb<br />
inmitten einer im übrigen auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsordnung halbwegs rationell zu führen,<br />
beweist noch nichts für die Möglichkeit einer Vollsozialisierung <strong>de</strong>r<br />
Volkswirtschaft.<br />
Im Weltkrieg hat man in Deutschland und Österreich mit <strong>de</strong>m<br />
Kriegssozialismus <strong>de</strong>n Versuch gemacht, <strong>de</strong>n Unternehmern die
242<br />
Leitung <strong>de</strong>r verstaatlichten Betriebe zu überlassen. Die Eile, mit <strong>de</strong>r,<br />
mitten unter <strong>de</strong>n schwierigsten Verhältnissen <strong>de</strong>s Krieges, zu<br />
Sozialisierungsmaßnahmen geschritten wur<strong>de</strong>, und <strong>de</strong>r Umstand, daß man<br />
sich, als man damit anfing, we<strong>de</strong>r über die grundsätzliche Tragweite <strong>de</strong>r<br />
neuen Politik noch über das Maß, bis zu <strong>de</strong>m man zu gehen entschlossen<br />
war, eine klare Vorstellung machte, ließen überhaupt keinen an<strong>de</strong>ren<br />
Ausweg zu. Man übertrug die Leitung <strong>de</strong>r einzelnen Produktionszweige<br />
an Zwangsvereinigungen <strong>de</strong>r Unternehmer, die unter Regierungsaufsicht<br />
gestellt wur<strong>de</strong>n. Preisfestsetzung auf <strong>de</strong>r einen Seite, Wegsteuerung <strong>de</strong>r<br />
Gewinne auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite sollten dafür sorgen, daß <strong>de</strong>r Unternehmer<br />
auf die Stellung eines am Ertrag beteiligten Angestellten herabgedrückt<br />
wer<strong>de</strong>. 1 Das System hat sich sehr schlecht bewährt. Dennoch mußte man<br />
an ihm, wenn man nicht überhaupt von allen sozialistischen Versuchen<br />
lassen wollte, festzuhalten trachten, weil man eben nichts Besseres an<br />
seine Stelle zu setzen wußte. Die von Wissell und Moellendorff verfaßte<br />
Denkschrift <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Reichswirtschaftsministeriums vom 7. Mai<br />
1919 spricht es mit trockenen Worten aus, daß es für eine sozialistische<br />
Regierung nichts an<strong>de</strong>res gebe als an <strong>de</strong>m System festhalten, das man im<br />
Kriege als Kriegswirtschaft bezeichnet hat. „Eine sozialistische Regierung“,<br />
- heißt es dort – „darf nicht gleichgültig zusehen, daß wegen einiger<br />
Auswüchse die öffentliche Meinung durch interessierte Vorurteile gegen<br />
eine gebun<strong>de</strong>ne Planwirtschaft vergiftet wird; sie mag die Planwirtschaft<br />
verbessern, sie mag <strong>de</strong>n alten Bureaukratismus auffrischen, sie mag in<br />
Form <strong>de</strong>r Selbstverwaltung die Verantwortung <strong>de</strong>m wirtschaften<strong>de</strong>n<br />
Volke selbst übertragen, aber sie muß sich zur gebun<strong>de</strong>nen Planwirtschaft,<br />
d. h. zu <strong>de</strong>n höchst unpopulären Begriffen Pflicht und Zwang bekennen“. 2<br />
Die Planwirtschaft ist <strong>de</strong>r Entwurf eines sozialistischen Gemeinwesens,<br />
das das unlösbare Problem <strong>de</strong>r Verantwortung <strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
Organe auf beson<strong>de</strong>re Weise zu lösen sucht. Nicht nur <strong>de</strong>r Gedanke, auf<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Lösungsversuch beruht, ist verfehlt; die Lösung selbst ist nur eine<br />
Scheinlösung, und daß die Schöpfer und Befürworter <strong>de</strong>s Entwurfes das<br />
übersehen konnten, ist beson<strong>de</strong>rs charakteristisch für die Geistesverfassung<br />
<strong>de</strong>s Beamtentums. Die<br />
1 Über <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s Kriegssozialismus und seine Wirkungen vgl. meine<br />
Ausführungen in „Nation, Staat und Wirtschaft“, a. a. O., S. 140 ff.<br />
2 Vgl. Denkschrift <strong>de</strong>s Reichswirtschaftsministeriums (abgedruckt bei Wissell, a. a. O.)<br />
S. 106.
243<br />
Selbstverwaltung, die <strong>de</strong>n einzelnen Gebieten und <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Produktionszweigen verliehen wird, ist nur für untergeordnete Dinge von<br />
Be<strong>de</strong>utung. Denn das Schwergewicht <strong>de</strong>r Wirtschaft ruht in <strong>de</strong>m<br />
Ausgleich zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Gebieten und <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Produktionszweigen. Dieser Ausgleich aber kann nur einheitlich erfolgen;<br />
wäre das nicht vorgesehen, dann wür<strong>de</strong> man <strong>de</strong>n ganzen Plan als<br />
syndikalistisch bezeichnen müssen. In <strong>de</strong>r Tat sehen <strong>de</strong>nn auch Wissell<br />
und Moellendorff einen Reichswirtschaftsrat vor, <strong>de</strong>r „die oberste Leitung<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Wirtschaft im Zusammenwirken mit <strong>de</strong>n berufenen<br />
höchsten Organen <strong>de</strong>s Reiches“ hat. 1 Es ist also im Wesen bei <strong>de</strong>m ganzen<br />
Vorschlag nichts an<strong>de</strong>res gewonnen, als daß die Verantwortung für die<br />
Maßnahmen <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung von <strong>de</strong>n Reichsministerien mit einer<br />
zweiten Stelle geteilt wird.<br />
Vom Staatssozialismus <strong>de</strong>s preußischen Staates <strong>de</strong>r Hohenzollern<br />
unterschei<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Sozialismus <strong>de</strong>r Planwirtschaft in <strong>de</strong>r Hauptsache<br />
dadurch, daß er die bevorzugte Stellung in <strong>de</strong>r Geschäftsleitung und bei<br />
<strong>de</strong>r Einkommensverteilung, die dort <strong>de</strong>m Junkertum und <strong>de</strong>r Bureaukratie<br />
zugedacht war, <strong>de</strong>n bisherigen Unternehmern zuweisen will. Das ist eine<br />
durch die Umgestaltung <strong>de</strong>r politischen Lage gebotene Neuerung, eine<br />
Folge <strong>de</strong>s Zusammenbruchs, <strong>de</strong>n Fürstentum, A<strong>de</strong>l, Bureaukratie und<br />
Offizierskorps erlitten haben; für die Probleme <strong>de</strong>s Sozialismus ist es im<br />
übrigen be<strong>de</strong>utungslos.<br />
Es wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n nächsten Jahren noch viele Vorschläge zur Rettung<br />
<strong>de</strong>s Sozialismus auftreten. Wir wer<strong>de</strong>n noch viele neue Namen für die alte<br />
Sache kennen lernen. Aber nicht auf <strong>de</strong>n Namen kommt es an, son<strong>de</strong>rn<br />
auf das Wesen. Am Wesen <strong>de</strong>s Sozialismus können alle diese Entwürfe<br />
nichts än<strong>de</strong>rn.<br />
§ 6. Auch <strong>de</strong>r englische Gil<strong>de</strong>nsozialismus ist ein Versuch, <strong>de</strong>m<br />
unlösbaren Problem <strong>de</strong>r sozialistischen Wirtschaftsführung beizukommen.<br />
Dem englischen Volke, das durch die lange Herrschaft <strong>de</strong>r liberalen I<strong>de</strong>en<br />
vor <strong>de</strong>r im mo<strong>de</strong>rnen Deutschland beson<strong>de</strong>rs ausgebil<strong>de</strong>ten Überschätzung<br />
<strong>de</strong>s Staates bewahrt blieb, hat nicht erst <strong>de</strong>r Mißerfolg <strong>de</strong>r<br />
staatssozialistischen Bestrebungen die Augen öffnen müssen. Niemals hat<br />
<strong>de</strong>r Sozialismus in England das Mißtrauen in die Fähigkeit <strong>de</strong>r Regierung,<br />
alle menschlichen Angelegenheiten auf das Beste leiten zu können, zu<br />
überwin<strong>de</strong>n vermocht.<br />
1 Vgl. ebendort S. 116.
244<br />
Immer haben die Englän<strong>de</strong>r das große Problem, das die übrigen Europäer<br />
vor 1914 kaum erfaßt hatten, als solches erkannt.<br />
Man muß im Gil<strong>de</strong>nsozialismus drei verschie<strong>de</strong>ne Dinge<br />
auseinan<strong>de</strong>rhalten. Der Gil<strong>de</strong>nsozialismus bringt eine Begründung <strong>de</strong>r<br />
Notwendigkeit, das kapitalistische System durch ein sozialistisches zu<br />
ersetzen; diese durchaus eklektische Theorie kümmert uns weiter nicht. Er<br />
gibt ferner <strong>de</strong>n Weg an, <strong>de</strong>r zum Sozialismus hinführen soll; das ist für<br />
uns nur darum wichtig, weil dieser Weg sehr leicht statt zum Sozialismus<br />
zum Syndikalismus führen könnte. Schließlich aber entwirft er das<br />
Programm einer künftigen sozialistischen Gesellschaftsordnung. Mit <strong>de</strong>r<br />
haben wir uns zu befassen.<br />
Das Ziel <strong>de</strong>s Gil<strong>de</strong>nsozialismus ist die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel. Darum dürfen wir ihn mit Recht Sozialismus nennen.<br />
Was seine Eigentümlichkeit ausmacht, ist die beson<strong>de</strong>re Einrichtung, die<br />
er <strong>de</strong>r Verwaltungsorganisation <strong>de</strong>s künftigen sozialistischen Gemeinwesens<br />
geben will. Die Produktion soll durch die Arbeiter <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Produktionszweige geleitet wer<strong>de</strong>n; sie berufen die Vorarbeiter,<br />
Werkmeister und die übrigen Geschäftsführer, sie regeln mittelbar und<br />
unmittelbar die Arbeitsbedingungen und weisen <strong>de</strong>r Produktion Weg und<br />
Ziel. 1 Den Gil<strong>de</strong>n als <strong>de</strong>n Organisationen <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Industriezweigen Tätigen steht als Organisation <strong>de</strong>r Konsumenten <strong>de</strong>r<br />
Staat gegenüber. Er hat das Recht, die Gil<strong>de</strong>n zu besteuern, und ist damit<br />
befähigt, ihre Preis- und Lohnpolitik zu regulieren. 2<br />
1 “Guildsmen are opposed to private ownership of industry, and strongly in favour of<br />
public ownership. Of course, this does not mean that they <strong>de</strong>sire to see industry<br />
bureaucratically administered by State <strong>de</strong>partments. They aim at the control of industry by<br />
National Guilds including the whole personnel of the industry. But they do not <strong>de</strong>sire the<br />
ownership of any industry by the workers employed in it. Their aim is to establish<br />
industrial <strong>de</strong>mocracy by placing the administration in the hands of the workers, but at the<br />
same time to eliminate profit by placing the ownership in the hands of the public. Thus the<br />
workers in a Guild will not be working for profit: the prices of their commodities and indirectly<br />
at least the level of their remuneration will be subject to a consi<strong>de</strong>rable measure of<br />
public control. The Guild system is one of industrial partnership between the workers and<br />
the public, and is thereby sharply distinguished from the proposals popularly <strong>de</strong>scribed as<br />
‚Syndicalist’. The governing i<strong>de</strong>a of National Guilds is that of industrial self-government<br />
and <strong>de</strong>mocracy. Guildsmen hold that <strong>de</strong>mocratic principles are fully as applicable to<br />
industry as to politics.” (Vgl. Cole, Chaos and Or<strong>de</strong>r in industry, London 1920, S. 58 f.)<br />
2 Vgl. Cole, Self-Government in Industry, Fifth Edition, London 1920, s. 235 ff.;<br />
ferner Schuster, zum englischen Gil<strong>de</strong>nsozialismus (Jahrbücher für Nationalökonomie und<br />
Statistik, 115. Bd.), S. 487 ff.
245<br />
Der Gil<strong>de</strong>nsozialismus gibt sich einer großen Täuschung hin, wenn er<br />
glaubt, daß es auf diese Weise möglich wer<strong>de</strong>n könnte, eine sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung zu schaffen, die die Freiheit <strong>de</strong>s Individuums nicht<br />
gefähr<strong>de</strong>t und alle jene Übel <strong>de</strong>s zentralistischen Sozialismus vermei<strong>de</strong>t,<br />
die <strong>de</strong>r Englän<strong>de</strong>r als „Prussian i<strong>de</strong>as“ 1 verabscheut. Auch im<br />
Gesellschaftsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s Gil<strong>de</strong>nsozialismus fällt die ganze Leitung <strong>de</strong>r<br />
Produktion <strong>de</strong>m Staate zu. Er allein gibt <strong>de</strong>r Produktion das Ziel und<br />
bestimmt die Wege, die einzuschlagen sind, um dieses Ziel zu erreichen.<br />
Er bestimmt unmittelbar o<strong>de</strong>r mittelbar durch die Maßnahmen seiner<br />
Besteuerungspolitik die Arbeitsbedingungen, verschiebt die Kapitalien<br />
und die Arbeiter von einem Industriezweig in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, gleicht aus und<br />
vermittelt zwischen <strong>de</strong>n Gil<strong>de</strong>n untereinan<strong>de</strong>r und zwischen Produzenten<br />
und Konsumenten. Diese <strong>de</strong>m Staat zufallen<strong>de</strong>n Aufgaben sind das allein<br />
wichtige, sie machen das Wesen <strong>de</strong>r Wirtschaftsleitung aus. 2 Das, was <strong>de</strong>n<br />
einzelnen Gil<strong>de</strong>n und innerhalb <strong>de</strong>r Gil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Lokalverbän<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n<br />
Einzelbetrieben überlassen bleibt, ist die Ausführung <strong>de</strong>r ihnen vom<br />
Staate übertragenen Arbeiten. Das ganze System stellt sich als eine<br />
Übertragung <strong>de</strong>r politischen Verfassung <strong>de</strong>s englischen Staates auf die<br />
Gütererzeugung dar: sein Vorbild ist das Verhältnis, in <strong>de</strong>m die<br />
Lokalverwaltung zur Staatsverwaltung steht. Der Gil<strong>de</strong>nsozialismus<br />
bezeichnet sich auch ausdrücklich als ökonomischer Fö<strong>de</strong>ralismus. Doch<br />
in <strong>de</strong>r politischen Verfassung eines liberalen Staatswesens ist es nicht<br />
schwer, <strong>de</strong>n einzelnen Gebietskörperschaften eine gewisse Selbständigkeit<br />
einzuräumen. Die notwendige Einordnung <strong>de</strong>r Teile in das Ganze wird<br />
durch <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>m Gebietsverband gegenüber ausgeübten<br />
1 Vgl. Cole, Self-Government, a. a. O., S. 255.<br />
2 „Es bedarf nur einer kurzen Überlegung, um sich darüber klar zu wer<strong>de</strong>n, daß es<br />
zweierlei Sache ist, Gräben zu ziehen und zu bestimmen, wo diese Gräben gezogen<br />
wer<strong>de</strong>n; Brot zu backen und zu bestimmen, wieviel gebacken wer<strong>de</strong>n soll; Häuser zu<br />
bauen und zu bestimmen, wo sie gebaut wer<strong>de</strong>n sollen. Diese Aufzählung von Zweierlei<br />
kann beliebig vermehrt wer<strong>de</strong>n, kein Intensitätsgrad <strong>de</strong>mokratischen Eifers schafft die<br />
Gegensätze aus <strong>de</strong>r Welt. Der Gil<strong>de</strong>nsozialist, <strong>de</strong>r sich diesen Tatsachen gegenüber sieht,<br />
sagt, daß örtliche und zentrale Stellen vorhan<strong>de</strong>n sein müssen, <strong>de</strong>ren Aufgabe es ist, auch<br />
jenen wichtigen Teil <strong>de</strong>s Lebens zu übersehen, <strong>de</strong>r außerhalb <strong>de</strong>r Produktion liegt. Ein<br />
Baumeister möchte wohl nichts an<strong>de</strong>res tun als Häuser bauen, als Bürger lebt er aber auch<br />
in einer gewissen an<strong>de</strong>ren Umwelt und weiß, daß sein Fachgesichtspunkt eine Grenze hat.<br />
Er ist eben nicht nur Produzent, son<strong>de</strong>rn auch Bürger.“ Cole und Mellor,<br />
Gil<strong>de</strong>nsozialismus (Deutsche Übersetzung von „The Meaning of Industrial Freedom“)<br />
Köln 1921, S. 36 f.
246<br />
Zwang, sich bei <strong>de</strong>r Besorgung seiner Angelegenheiten an die Staatsgesetze<br />
zu halten, in ausreichen<strong>de</strong>r Weise gewährleistet. Doch in <strong>de</strong>r<br />
Produktion ist das lange nicht genug. Die Gesellschaft kann es nicht <strong>de</strong>n<br />
in <strong>de</strong>n einzelnen Produktionszweigen Tätigen überlassen, die Menge und<br />
die Beschaffenheit <strong>de</strong>r Arbeit, die sie leisten, und <strong>de</strong>n Aufwand an<br />
sachlichen Produktionsmitteln, <strong>de</strong>n sie dabei aufgehen lassen, selbst zu<br />
bestimmen. 1 Wenn die Arbeiter einer Gil<strong>de</strong> weniger eifrig arbeiten o<strong>de</strong>r<br />
bei <strong>de</strong>r Arbeit mit <strong>de</strong>n Produktionsmitteln verschwen<strong>de</strong>risch umgehen, so<br />
ist das eine Sache, die nicht nur sie angeht, son<strong>de</strong>rn die ganze<br />
Gesellschaft. Der die Produktion leiten<strong>de</strong> Staat kann daher gar nicht<br />
darauf verzichten, sich um die inneren Angelegenheiten <strong>de</strong>r Gil<strong>de</strong> zu<br />
bekümmern. Wenn es ihm verwehrt bleibt, die Kontrolle durch Bestellung<br />
<strong>de</strong>r Meister und Werksdirektoren unmittelbar auszuüben, dann muß er auf<br />
an<strong>de</strong>re Weise, etwa durch die Mittel, die ihm die Handhabung <strong>de</strong>s<br />
Besteuerungsrechtes und <strong>de</strong>r Einfluß, <strong>de</strong>n er auf die Verteilung <strong>de</strong>r<br />
Genußgüter hat, in die Hand geben, darnach streben, die Selbstverwaltung<br />
<strong>de</strong>r Gil<strong>de</strong>n zu einem wesenlosen Schein herabzudrücken. Die<br />
Vorgesetzten, die <strong>de</strong>m einzelnen Arbeiter täglich und stündlich gegenüber<br />
treten, um seine Arbeit zu leiten und zu überwachen, sind <strong>de</strong>m Arbeiter<br />
am meisten verhaßt. Sozialreformer, die von <strong>de</strong>n Stimmungen <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter beeinflußt sind, mögen glauben, daß man diese Organe durch frei<br />
von <strong>de</strong>n Arbeitern selbst gewählte Vertrauensmänner ersetzen könne. Das<br />
ist zwar nicht ganz so ungereimt wie <strong>de</strong>r Glaube <strong>de</strong>r Anarchisten, es<br />
wer<strong>de</strong> je<strong>de</strong>rmann auch ohne Zwang bereit sein, die für das<br />
gesellschaftliche Leben unerläßlichen Regeln zu befolgen, aber doch nicht<br />
viel besser. Die gesellschaftliche Produktion ist eine Einheit, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r<br />
Teil auf die ihm im Rahmen <strong>de</strong>s Ganzen zukommen<strong>de</strong> Funktion genau<br />
eingestellt<br />
1 Tawney (The Acquisitive Society, London 1921, S. 122) bezeichnet es als einen<br />
Vorzug <strong>de</strong>s Gil<strong>de</strong>nsystems für <strong>de</strong>n Arbeiter, daß es ein En<strong>de</strong> mache mit “the odious and<br />
<strong>de</strong>grading system un<strong>de</strong>r which he is thrown asi<strong>de</strong>, like unused material, whenever his<br />
<strong>services</strong> do not happen to be required”. Doch das ist gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r größte Übelstand, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />
System anhaftet. Wenn man keine Bauarbeiten benötigt, weil verhältnismäßig genug<br />
Baulichkeiten vorhan<strong>de</strong>n sind, und <strong>de</strong>nnoch gebaut wer<strong>de</strong>n soll, bloß um die vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Bauarbeiter zu beschäftigen, die nicht gewillt sind, in die unter verhältnismäßigem<br />
Arbeitermangel lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Produktionszweige überzutreten, so ist das Unwirtschaftlichkeit<br />
und Verschwendung. Daß das kapitalistische System <strong>de</strong>n Berufswechsel erzwingt, das ist<br />
gera<strong>de</strong> sein Vorzug vom Standpunkte <strong>de</strong>s allgemeinen Besten, mag es auch unmittelbar<br />
zum Nachteil <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rinteressen kleiner Gruppen ausschlagen.
247<br />
sein muß. Man kann es nicht <strong>de</strong>m Belieben <strong>de</strong>r Teile überlassen, zu<br />
bestimmen, wie sie sich in das Zusammenspiel schicken wollen. Wenn <strong>de</strong>r<br />
freigewählte Vorgesetzte in <strong>de</strong>r Ausübung seiner beaufsichtigen<strong>de</strong>n<br />
Tätigkeit nicht mit <strong>de</strong>m gleichen Eifer und mit <strong>de</strong>m gleichen Nachdruck<br />
vorgehen wird, wie es ein nicht von <strong>de</strong>n Arbeitern gewählter machen<br />
wür<strong>de</strong>, wird die Arbeitsproduktivität sinken.<br />
Der Gil<strong>de</strong>nsozialismus behebt mithin keine <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Aufrichtung <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaftsordnung entgegenstehen<strong>de</strong>n Schwierigkeiten.<br />
Er macht <strong>de</strong>n Sozialismus <strong>de</strong>m englischen Geiste annehmbarer, wenn er<br />
das englischen Ohren unangenehm klingen<strong>de</strong> Wort „Verstaatlichung“<br />
durch das Schlagwort „Self-Government in Industry“ ersetzt. Im Wesen<br />
aber bringt er nichts an<strong>de</strong>res als das, was auch die kontinentalen<br />
Sozialisten heute empfehlen, nämlich <strong>de</strong>n Vorschlag, die Produktion<br />
durch Ausschüsse <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Produktion tätigen Arbeiter und Angestellten<br />
und <strong>de</strong>r Konsumenten leiten zu lassen. Daß man damit um keinen Schritt<br />
<strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>r Probleme <strong>de</strong>s Sozialismus näher kommt, wur<strong>de</strong> schon<br />
gesagt.<br />
Ein gutes Stück seiner Volkstümlichkeit verdankt <strong>de</strong>r Gil<strong>de</strong>nsozialismus<br />
übrigens <strong>de</strong>m syndikalistischen Element, das viele seiner<br />
Anhänger in ihm zu fin<strong>de</strong>n glauben. Der Gil<strong>de</strong>nsozialismus, wie ihn seine<br />
literarischen Vertreter auffassen, ist zweifellos nicht syndikalistisch. Wohl<br />
aber führt <strong>de</strong>r Weg, <strong>de</strong>n er zur Erreichung seiner Ziele einschlagen will,<br />
zunächst zum Syndikalismus. Wenn vorerst in einigen wichtigen<br />
Produktionszweigen Nationalgil<strong>de</strong>n errichtet wer<strong>de</strong>n sollen, die in einem<br />
im übrigen noch kapitalistischen Wirtschaftssystem zu wirken haben<br />
wer<strong>de</strong>n, so be<strong>de</strong>utet dies Syndikalisierung einzelner Industriezweige. Wie<br />
überall, so zeigt es sich auch in England, daß <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>r Sozialisten<br />
leicht ein Abweg zum Syndikalismus wer<strong>de</strong>n kann.<br />
II.<br />
Pseudo-sozialistische Gebil<strong>de</strong>.<br />
§ 1. Dem Erfolg <strong>de</strong>r vom Sozialismus an <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung geübten Kritik vermochte sich in <strong>de</strong>n letzten<br />
Jahrzehnten kaum jemand ganz zu entziehen. Auch die, die sich <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus nicht mehr o<strong>de</strong>r weniger anschließen wollten, haben seiner<br />
Kritik <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln in mancher<br />
Richtung Rechnung zu tragen gesucht. So entstan<strong>de</strong>n einige nicht gut<br />
durchdachte, in <strong>de</strong>r Theorie eklektische und in <strong>de</strong>r Politik
248<br />
schwächliche Systeme, die die Gegensätze zu versöhnen strebten. Sie<br />
fielen bald <strong>de</strong>r Vergessenheit anheim. Nur eines dieser Systeme hat<br />
größere Verbreitung zu gewinnen vermocht: <strong>de</strong>r Solidarismus. Er ist vor<br />
allem in Frankreich zu Hause; man hat ihn, nicht ganz mit Unrecht, die<br />
offizielle Sozialphilosophie <strong>de</strong>r dritten Republik genannt. Außerhalb<br />
Frankreichs ist wohl die Bezeichnung Solidarismus weniger bekannt;<br />
doch die Lehren, die <strong>de</strong>n Solidarismus ausmachen, sind überall das<br />
sozialpolitische Bekenntnis aller jener kirchlich gesinnten o<strong>de</strong>r<br />
konservativen Kreise, die sich nicht <strong>de</strong>m christlichen Sozialismus o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>m Staatssozialismus angeschlossen haben. Der Solidarismus ist we<strong>de</strong>r<br />
durch Tiefe seiner Theorie noch durch die Zahl seiner Anhänger<br />
ausgezeichnet. Was ihm immerhin eine gewisse Be<strong>de</strong>utung verleiht, ist<br />
<strong>de</strong>r Umstand, daß er viele <strong>de</strong>r besten und e<strong>de</strong>lsten Männer und Frauen<br />
unserer Zeit beeinflußt hat.<br />
Der Solidarismus geht davon aus, daß die Interessen aller Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft harmonieren. Das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
ist eine gesellschaftliche Einrichtung, <strong>de</strong>ren Erhaltung nicht nur im<br />
Interesse <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>m aller gelegen ist; es wäre für<br />
alle von Scha<strong>de</strong>n, wenn man es durch das die Ergiebigkeit <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Arbeit gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gemeineigentum ersetzen wollte.<br />
Soweit geht <strong>de</strong>r Solidarismus Hand in Hand mit <strong>de</strong>m Liberalismus. Doch<br />
dann trennen sich ihre Wege Die solidaristische Theorie meint nämlich,<br />
daß in einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung an und für sich <strong>de</strong>r Grundsatz <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Solidarität noch nicht verwirklicht sei. Sie bestreitet,<br />
ohne freilich darauf näher einzugehen o<strong>de</strong>r gar Gedanken, die nicht schon<br />
früher von <strong>de</strong>n Sozialisten aller, beson<strong>de</strong>rs von solchen <strong>de</strong>r nichtmarxistischen<br />
Richtungen vorgebracht wur<strong>de</strong>n, zutage zu för<strong>de</strong>rn, daß schon die<br />
bloße Wahrnehmung <strong>de</strong>r eigenen Vermögensinteressen im Rahmen einer<br />
Freiheit und Eigentum garantieren<strong>de</strong>n Rechtsordnung <strong>de</strong>n Erfolg habe,<br />
daß ein <strong>de</strong>n Zwecken <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenwirkens<br />
entsprechen<strong>de</strong>s Ineinan<strong>de</strong>rgreifen <strong>de</strong>r einzelnen Wirtschaftssubjekte<br />
gesichert wer<strong>de</strong>. Die Menschen <strong>de</strong>r Gesellschaft seien durch die Natur <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Zusammenlebens, in <strong>de</strong>m sie allein existieren können,<br />
an <strong>de</strong>m Wohlergehen ihrer Mitmenschen wechselseitig interessiert, ihre<br />
Interessen seien solidarisch und sie sollten daher solidarisch han<strong>de</strong>ln.<br />
Solidarität sei aber auch in <strong>de</strong>r arbeitteilen<strong>de</strong>n Gesellschaft durch die<br />
Einrichtung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln noch nicht<br />
erreicht. Um
249<br />
solidarisches Han<strong>de</strong>ln zu erreichen, müßten beson<strong>de</strong>re Vorkehrungen<br />
getroffen wer<strong>de</strong>n. Der mehr etatistisch <strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Flügel <strong>de</strong>s Solidarismus<br />
will es durch staatlichen Zwang herbeiführen: Gesetze sollen <strong>de</strong>n<br />
Besitzen<strong>de</strong>n Lasten zugunsten <strong>de</strong>r ärmeren Schichten <strong>de</strong>s Volkes und<br />
zugunsten <strong>de</strong>r „Allgemeinheit“ auferlegen. Der mehr kirchlich gesinnte<br />
Flügel <strong>de</strong>s Solidarismus will dasselbe durch Einwirkung auf das Gewissen<br />
erzielen; nicht Staatsgesetze, son<strong>de</strong>rn Moralvorschriften, die christliche<br />
Liebe, sollen <strong>de</strong>n einzelnen zur Erfüllung seiner sozialen Pflichten<br />
verhalten.<br />
Die Vertreter <strong>de</strong>s Solidarismus haben ihre sozialphilosophischen<br />
Anschauungen in glänzend geschriebenen Essays nie<strong>de</strong>rgelegt, die alle<br />
Vorzüge <strong>de</strong>s französischen Geistes zur Schau tragen. Niemand hat die<br />
wechselseitige Abhängigkeit <strong>de</strong>r Gesellschaftsmenschen mit schöneren<br />
Worten zu schil<strong>de</strong>rn gewußt als sie; allen voran Sully Prudhomme in<br />
seinem berühmten Sonett, das <strong>de</strong>n Dichter nach <strong>de</strong>m Erwachen aus einem<br />
bösen Traum, in <strong>de</strong>m er sich, da die Arbeitsteilung aufhört und niemand<br />
für ihn arbeiten will, „seul, abandonné <strong>de</strong> tout le genre humain“ gesehen<br />
hat, zur Erkenntnis führt<br />
“qu’au siècle où nous sommes,<br />
Nul ne peut se vanter <strong>de</strong> se passer <strong>de</strong>s hommes;<br />
Et <strong>de</strong>puis ce jour-là, je les ai tous aimés“ 1<br />
Sie haben es auch verstan<strong>de</strong>n, ihre Postulate scharfsinnig zu begrün<strong>de</strong>n,<br />
sei es durch theologische, 2 sei es durch juristische Ausführungen 3 . Doch<br />
all das darf uns über die innere Schwäche <strong>de</strong>r Lehre nicht täuschen.<br />
Die Theorie <strong>de</strong>s Solidarismus ist ein unklarer Eklektizismus. Mit ihr ist<br />
eine beson<strong>de</strong>re Auseinan<strong>de</strong>rsetzung überflüssig. Sie interessiert uns hier<br />
auch viel weniger als sein Gesellschaftsi<strong>de</strong>al,<br />
1 Die <strong>de</strong>utsche Übertragung von Thurow, die in <strong>de</strong>r von Die<strong>de</strong>rich herausgegebenen<br />
sozial<strong>de</strong>mokratischen Chrestomathie „Von unten auf“ (Berlin 1911, II. Bd., S. 334)<br />
abgedruckt ist, gibt gera<strong>de</strong> die zitierten Schlußverse <strong>de</strong>s Sonetts in einer Weise wie<strong>de</strong>r, die<br />
<strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>s Originals gar nicht erkennen läßt.<br />
2 Da ist vor allem <strong>de</strong>r Jesuit Pesch (Lehrbuch <strong>de</strong>r Nationalökonomie, I. Bd., 2. Aufl.,<br />
Freiburg 1914, S. 392-438) zu nennen. In Frankreich besteht zwischen <strong>de</strong>n katholisch<br />
<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n frei<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Solidaristen ein - mehr das Verhältnis <strong>de</strong>r Kirche zum<br />
Staat und zur Gesellschaft und weniger die eigentlichen Grundsätze <strong>de</strong>r sozialen Theorie<br />
und Politik berühren<strong>de</strong>r - Gegensatz, <strong>de</strong>r die kirchlichen Kreise <strong>de</strong>r Bezeichnung<br />
„Solidarismus“ gegenüber mißtrauisch macht. Vgl. Haussonville, Assistance publique et<br />
bienfaisance privée (Revue <strong>de</strong>s Deux Mon<strong>de</strong>s, 16. Bd., 1900, S. 773 -808); Bouglè, Le<br />
Solidarisme, Paris 1907, S. 8 ff.<br />
3<br />
Vgl. Bourgeois, Solidarité, 6. Aufl., Paris 1907, S. 115 ff.; Waha, Die<br />
Nationalökonomie in Frankreich, Stuttgart 1910, S. 432 ff.
250<br />
das mit <strong>de</strong>m Anspruche auftritt „die Fehler <strong>de</strong>s individualistischen und<br />
sozialistischen zu vermei<strong>de</strong>n, das Richtige, das in bei<strong>de</strong>n Systemen sich<br />
fin<strong>de</strong>t, zu erhalten“ 1<br />
Der Solidarismus will das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktivgütern<br />
bestehen lassen. Doch er setzt über <strong>de</strong>n Eigentümer eine Instanz -<br />
gleichviel ob das Gesetz und seinen Schöpfer, <strong>de</strong>n Staat, o<strong>de</strong>r das<br />
Gewissen und seinen Berater, die Kirche, - die <strong>de</strong>n Eigentümer dazu<br />
verhalten soll, von seinem Eigentum <strong>de</strong>n richtigen Gebrauch zu machen.<br />
Es soll verhin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r einzelne seine Stellung im<br />
Wirtschaftsprozeß „schrankenlos“ ausnütze; <strong>de</strong>m Eigentum sollen gewisse<br />
Beschränkungen auferlegt wer<strong>de</strong>n. Damit wer<strong>de</strong>n Staat o<strong>de</strong>r Kirche,<br />
Gesetz o<strong>de</strong>r Gewissen zum entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Faktor in <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
gemacht. Das Eigentum wird ihren Normen unterstellt, es hört auf, das<br />
grundlegen<strong>de</strong> und letzte Element <strong>de</strong>r Gesellschaftsordnung zu sein. Es<br />
besteht nur noch, soweit Gesetz o<strong>de</strong>r Moral es walten lassen; d. h. das<br />
Eigentum wird aufgehoben, da <strong>de</strong>r Eigentümer sich in <strong>de</strong>r Verwaltung<br />
seines Vermögens an an<strong>de</strong>re Grundsätze als an die, die ihm die<br />
Rücksichtnahme auf seine Vermögensinteressen auferlegt, zu halten hat.<br />
Man wen<strong>de</strong> ja nicht dagegen ein, daß <strong>de</strong>r Eigentümer unter allen<br />
Umstän<strong>de</strong>n an die Beobachtung <strong>de</strong>r Vorschriften <strong>de</strong>s Rechts und <strong>de</strong>r<br />
Moral gebun<strong>de</strong>n sei, und daß je<strong>de</strong> Rechtsordnung das Eigentum nur<br />
innerhalb <strong>de</strong>r durch die Normen gezogenen Grenzen anerkenne. Denn<br />
wenn diese Normen nur darauf abzielen, daß eben freies Eigentum<br />
bestehe und <strong>de</strong>r Eigentümer in seiner Befugnis, das Eigentum solange zu<br />
behalten, als es nicht infolge <strong>de</strong>r von ihm abgeschlossenen Verträge auf<br />
an<strong>de</strong>re übergeht, nicht gestört wer<strong>de</strong>, dann ist ihr Inhalt nichts an<strong>de</strong>res als<br />
die Anerkennung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktivgütern. Der<br />
Solidarismus hält jedoch diese Normen allein für noch nicht ausreichend,<br />
um <strong>de</strong>n ersprießlichen Zusammenklang <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>r Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft herbeizuführen. Er will noch an<strong>de</strong>re Normen über sie setzen.<br />
Damit aber wer<strong>de</strong>n diese an<strong>de</strong>ren Normen zum Grundgesetz <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft. Nicht mehr das Son<strong>de</strong>reigentum, son<strong>de</strong>rn Gesetzes- und<br />
Moralvorschriften beson<strong>de</strong>rer Art sind nun das Grundgesetz <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft. Der Solidarismus ersetzt das Eigentum durch ein höheres<br />
Recht, d. h. er hebt es auf.<br />
Freilich, soweit wollen die Solidaristen in Wahrheit gar nicht gehen.<br />
Sie wollen, sagen sie, das Eigentum nur beschränken, es<br />
1 Vgl. Pesch, a. a. O., I. Bd., S. 420.
251<br />
aber grundsätzlich beibehalten. Doch wenn man überhaupt dazu gelangt<br />
ist, <strong>de</strong>m Eigentum an<strong>de</strong>re Schranken als jene, die sich aus seinem Wesen<br />
heraus ergeben, zu setzen, dann hat man es schon aufgehoben. Wenn <strong>de</strong>r<br />
Eigentümer nur das mit seinem Eigentum tun darf, was ihm<br />
vorgeschrieben wird, dann leitet die Volkswirtschaft nicht mehr das<br />
Eigentum, son<strong>de</strong>rn jene Macht, die die Gesetze gibt.<br />
Der Solidarismus will zum Beispiel <strong>de</strong>n Wettbewerb regeln; er soll<br />
nicht „zum Untergang <strong>de</strong>s Mittelstan<strong>de</strong>s“ o<strong>de</strong>r zur „Unterdrückung <strong>de</strong>r<br />
Schwachen“ führen dürfen. 1 Das be<strong>de</strong>utet doch nichts an<strong>de</strong>res, als daß ein<br />
bestimmter Zustand <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion erhalten wer<strong>de</strong>n<br />
soll, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums verschwin<strong>de</strong>n müßte.<br />
Dem Eigentümer wird vorgeschrieben, was und wie und in welchem<br />
Umfang er produzieren und zu welchen Bedingungen und an wen er<br />
verkaufen soll. Damit hört er auf, Eigentümer zu sein; er wird ein<br />
bevorrechteter Genosse einer gebun<strong>de</strong>nen Wirtschaftsordnung, ein eine<br />
beson<strong>de</strong>re Rente beziehen<strong>de</strong>r Beamter.<br />
Wer soll in je<strong>de</strong>m einzelnen Fall entschei<strong>de</strong>n, wie weit Gesetz o<strong>de</strong>r<br />
Moral in <strong>de</strong>r Beschränkung <strong>de</strong>r Befugnisse <strong>de</strong>s Eigentümers gehen sollen?<br />
Doch nur das Gesetz o<strong>de</strong>r die Moral selbst.<br />
Wäre <strong>de</strong>r Solidarismus sich über die Konsequenzen seiner Postulate<br />
klar, dann müßte man ihn durchaus als eine Spielart <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
bezeichnen. Doch er ist weit entfernt von dieser Klarheit. Er glaubt, vom<br />
Staatssozialismus grundsätzlich verschie<strong>de</strong>n zu sein, 2 und die Mehrzahl<br />
seiner Anhänger wäre entsetzt, wenn sie erkennen wür<strong>de</strong>n, was ihr I<strong>de</strong>al<br />
in Wahrheit ist. Darum mag man sein Gesellschaftsi<strong>de</strong>al noch zu <strong>de</strong>n<br />
pseudosozialistischen Gebil<strong>de</strong>n rechnen. Aber man übersehe nicht, daß<br />
das, was ihn vom Sozialismus trennt, nur ein Schritt ist. Nur die <strong>de</strong>m<br />
Liberalismus und Kapitalismus im allgemeinen günstigere geistige<br />
Atmosphäre Frankreichs hat die französischen Solidaristen und <strong>de</strong>n vom<br />
französischen Geiste stark beeinflußten Jesuiten Pesell davon abgehalten,<br />
die Grenze, die zwischen Solidarismus und Sozialismus liegt, entschie<strong>de</strong>n<br />
zu überschreiten. Doch manche, die sich noch Solidaristen nennen,<br />
müssen ganz <strong>de</strong>m Etatismus zugezählt wer<strong>de</strong>n; hierher gehört zum<br />
Beispiel Gi<strong>de</strong>.<br />
1 Vgl. ebendort S. 422.<br />
2 Vgl. ebendort S. 420.
252<br />
§ 2. Die auf die Reform <strong>de</strong>r Eigentumsverhältnisse gerichteten<br />
Bestrebungen vorkapitalistischer Zeiten gipfeln gewöhnlich in <strong>de</strong>m<br />
Verlangen nach Herstellung <strong>de</strong>r Vermögensgleichheit. Alle sollen gleich<br />
reich sein, keiner soll mehr, keiner weniger besitzen als die an<strong>de</strong>ren.<br />
Diesen Zustand will man durch Neuverteilung <strong>de</strong>s Ackerlan<strong>de</strong>s<br />
herbeiführen und durch Veräußerungs- und Belastungsverbote zu einem<br />
dauern<strong>de</strong>n gestalten. Es ist klar, daß das kein Sozialismus ist, mag man es<br />
auch heute mitunter als Agrarsozialismus bezeichnen.<br />
Der Sozialismus will die Produktionsmittel überhaupt nicht verteilen<br />
und will mehr als bloß enteignen; er will auf Grund gesellschaftlichen<br />
Eigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln produzieren. Darum sind alle jene<br />
Vorschläge, die nur auf die Enteignung von Produktionsmitteln<br />
hinauslaufen, nicht als sozialistisch anzusehen; es kann sich bei ihnen im<br />
besten Fall um Vorschläge über <strong>de</strong>n Weg han<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>r zum Sozialismus<br />
hinführen soll.<br />
Wenn zum Beispiel angeregt wird, ein Höchstausmaß <strong>de</strong>s zulässigen<br />
Son<strong>de</strong>reigentums einer und <strong>de</strong>rselben Person festzulegen und alles, was<br />
darüber hinausgeht, einzuziehen, so kann man das nur dann als<br />
sozialistisch ansehen, wenn beabsichtigt wird, die auf diese Weise <strong>de</strong>m<br />
Staat zufallen<strong>de</strong>n Vermögen zur Grundlage sozialistischer Produktion zu<br />
machen. Wir hätten dann einen Vorschlag über <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r<br />
Sozialisierung vor uns. Es ist nicht schwer zu erkennen, daß dieser<br />
Vorschlag ganz und gar verfehlt ist. Ob die Menge <strong>de</strong>r Produktionsmittel,<br />
die dabei vergesellschaftet wer<strong>de</strong>n könnten, größer o<strong>de</strong>r kleiner ist, wird<br />
davon abhängen, welche Höhe für das noch zulässige Ausmaß <strong>de</strong>r<br />
Son<strong>de</strong>rvermögen bestimmt wird. Nimmt man sie niedrig, dann ist <strong>de</strong>r<br />
Unterschied gegenüber <strong>de</strong>r sofortigen Sozialisierung nur gering. Nimmt<br />
man sie hoch, dann ist <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r Maßnahme für die<br />
Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel nur klein. In je<strong>de</strong>m Falle müßte<br />
sich aber eine Reihe von nichtbeabsichtigten Wirkungen einstellen. Denn<br />
es wer<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> die energischesten und rührigsten Unternehmer<br />
vorzeitig aus <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Arbeit ausgeschaltet; für die Reichen,<br />
<strong>de</strong>ren Vermögen sich <strong>de</strong>r Grenze nähert, wird ein Anreiz zu<br />
verschwen<strong>de</strong>rischer Lebensführung gegeben. Man könnte mit größter<br />
Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, daß die Begrenzung <strong>de</strong>r<br />
Einzelvermögen die Kapitalbildung verlangsamen wür<strong>de</strong>.<br />
Ähnliches gilt von <strong>de</strong>r von verschie<strong>de</strong>nen Seiten vorgeschlagenen<br />
Beseitigung <strong>de</strong>s Erbrechtes. Die Aufhebung <strong>de</strong>s Erbrechtes und <strong>de</strong>s
253<br />
Rechtes, Schenkungen zur Umgehung <strong>de</strong>s Erbverbotes vorzunehmen,<br />
wür<strong>de</strong> zwar nicht <strong>de</strong>n vollen Sozialismus herbeiführen, doch im Laufe<br />
eines Menschenalters einen sehr beträchtlichen Teil aller<br />
Produktionsmittel in die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaft überführen. Doch sie<br />
wür<strong>de</strong> vor allem die Folge haben, daß die Neubildung von Kapital<br />
verlangsamt und daß ein Teil <strong>de</strong>r schon vorhan<strong>de</strong>nen Produktionsmittel<br />
aufgezehrt wird.<br />
§ 3. Eine Schule von wohlmeinen<strong>de</strong>n Schriftstellern und Unternehmern<br />
empfiehlt die Lohnform <strong>de</strong>r Arbeitergewinnbeteiligung<br />
(Industrial Partnership). Der Geschäftsgewinn soll nicht mehr<br />
ausschließlich <strong>de</strong>m Unternehmer zufallen; er soll zwischen <strong>de</strong>m<br />
Unternehmer und <strong>de</strong>n Arbeitern geteilt wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Lohn <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter durch einen Anteil am Gewinne <strong>de</strong>r sie beschäftigen<strong>de</strong>n<br />
Unternehmung ergänzt wird. Von <strong>de</strong>r Durchführung dieses Vorschlages<br />
erwartete Engel nichts weniger als „eine bei<strong>de</strong> Teile befriedigen<strong>de</strong><br />
Beilegung <strong>de</strong>s entbrannten Kampfes und damit auch die Lösung <strong>de</strong>r<br />
sozialen Frage“ 1 Die Mehrzahl <strong>de</strong>r Vorkämpfer <strong>de</strong>s Systems <strong>de</strong>r<br />
Gewinnbeteiligung schätzt seine Be<strong>de</strong>utung nicht niedriger ein.<br />
Die Vorschläge, <strong>de</strong>m Arbeiter einen Teil <strong>de</strong>s Unternehmergewinnes zu<br />
überweisen, gehen von <strong>de</strong>m Gedanken aus, daß <strong>de</strong>r Arbeiter in <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaftsordnung vom Unternehmer um einen Teil<br />
<strong>de</strong>ssen gebracht wer<strong>de</strong>, worauf er eigentlich Anspruch erheben könnte. Es<br />
ist die unklare Vorstellung eines unveräußerlichen Rechtes auf <strong>de</strong>n<br />
„vollen“ Arbeitsertrag, es ist die Ausbeutungstheorie in ihrer<br />
volkstümlichen, naivsten Gestalt, die, mehr o<strong>de</strong>r weniger offen<br />
ausgesprochen, <strong>de</strong>n Untergrund für die Gewinnbeteiligungsi<strong>de</strong>e abgibt. In<br />
<strong>de</strong>r Auffassung ihrer Vertreter erscheint die soziale Frage als ein Kampf<br />
um <strong>de</strong>n Unternehmergewinn. Die Sozialisten wollen ihn ganz <strong>de</strong>n<br />
Arbeitern zusprechen; die Unternehmer nehmen ihn ganz für sich in<br />
Anspruch. Nun wird empfohlen, <strong>de</strong>n Streit durch einen Vergleich zu<br />
been<strong>de</strong>n: je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Streitteile möge sich mit einem Teil seines<br />
Anspruches begnügen. Bei<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n dabei gut fahren: die Unternehmer,<br />
weil doch ihr Anspruch offenbar ungerecht sei, die Arbeiter,<br />
1 Vgl. Engel, Der Arbeitsvertrag und die Arbeitsgesellschaft (im „Arbeiterfreund“, 5.<br />
Jahrg., 1867, S. 129-154). - Einen Überblick über die jüngste <strong>de</strong>utsche Literatur zum<br />
Gewinnbeteiligungsproblem gibt die als Son<strong>de</strong>rbeilage zum „Reichsarbeitsblatt“ vom 3.<br />
März 1920 veröffentlichte Denkschrift <strong>de</strong>s Statistischen Reichsamtes „Untersuchungen<br />
und Vorschläge zur Beteiligung <strong>de</strong>r Arbeiter an <strong>de</strong>m Ertrage wirtschaftlicher<br />
Unternehmungen“.
254<br />
weil sie kampflos eine beträchtliche Erhöhung ihres Einkommens<br />
erlangen. Dieser Gedankengang, <strong>de</strong>r das Problem <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Organisation <strong>de</strong>r Arbeit als eine Rechtsfrage behan<strong>de</strong>lt wissen will und<br />
eine weltgeschichtliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung wie einen Streit zwischen<br />
zwei Kaufleuten durch Halbierung <strong>de</strong>r Streitsumme zu vergleichen sucht,<br />
ist so schief, daß es kaum lohnt, auf ihn näher einzugehen. Entwe<strong>de</strong>r ist<br />
das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln eine notwendige Einrichtung<br />
<strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft o<strong>de</strong>r es ist es nicht. In diesem Falle<br />
kann man o<strong>de</strong>r muß man es beseitigen, und es liegt kein Grund vor, aus<br />
Rücksicht auf die persönlichen Interessen <strong>de</strong>r Unternehmer dabei auf<br />
halbem Wege stehen zu bleiben. Ist aber das Son<strong>de</strong>reigentum eine Notwendigkeit,<br />
dann bedarf es zu seinem Bestand keiner weiteren Rechtfertigung,<br />
und es liegt kein Grund vor, es durch teilweise Beseitigung in<br />
seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit zu schwächen.<br />
Die Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gewinnbeteiligung glauben durch sie <strong>de</strong>n Arbeiter zu<br />
eifrigerer Erfüllung <strong>de</strong>r übernommenen Pflichten, als sie von <strong>de</strong>m am<br />
Ertrag <strong>de</strong>r Unternehmung nicht interessierten Arbeiter zu erwarten ist,<br />
anspornen zu können. Auch da sind sie im Irrtum. Dort, wo die<br />
Arbeitsintensität nicht durch sozialistisch-<strong>de</strong>struktionistische Sabotage<br />
aller Art gemin<strong>de</strong>rt ist, wo <strong>de</strong>r Arbeiter ohne Schwierigkeiten entlassen<br />
wer<strong>de</strong>n und wo sein Lohn ohne Rücksicht auf Kollektivverträge <strong>de</strong>r<br />
Leistung angepaßt wer<strong>de</strong>n kann, bedarf es keines weiteren Ansporns, um<br />
<strong>de</strong>n Arbeiter fleißig zu machen. Der Arbeiter arbeitet im vollen<br />
Bewußtsein <strong>de</strong>ssen, daß sein Lohn von seiner Leistung abhängt. Wo aber<br />
diese Voraussetzungen fehlen, da kann auch die Aussicht, einen Bruchteil<br />
<strong>de</strong>s Reinertrages <strong>de</strong>r Unternehmung zu beziehen, <strong>de</strong>n Arbeiter nicht<br />
veranlassen, mehr zu leisten als soviel, daß er seiner Verpflichtung gera<strong>de</strong><br />
formell nachkommt. Es ist, wenn auch in an<strong>de</strong>ren Größenverhältnissen,<br />
dasselbe Problem, das uns schon bei Untersuchung <strong>de</strong>r Antriebe, die im<br />
sozialistischen Gemeinwesen zur Überwindung <strong>de</strong>s Arbeitsleids bestehen,<br />
beschäftigt hat: von <strong>de</strong>m Ertrag <strong>de</strong>r Mehrarbeit, <strong>de</strong>ren Last <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
allein zu tragen hat, fällt ihm nur ein Bruchteil zu, <strong>de</strong>r nicht groß genug<br />
ist, die Mehranstrengung zu verlohnen.<br />
Wenn man die Gewinnbeteiligung <strong>de</strong>r Arbeiter individuell durchführt,<br />
so daß je<strong>de</strong>r Arbeiter am Gewinn gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Unternehmung beteiligt wird,<br />
bei <strong>de</strong>r er zufällig arbeitet, dann schafft man ohne ersichtlichen Grund<br />
Unterschie<strong>de</strong> im Einkommen, die keinerlei
255<br />
ökonomische Funktion erfüllen, durch nichts gerechtfertigt erscheinen und<br />
von allen als offenbar unbillig empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n müßten. „Es geht nicht<br />
an, daß <strong>de</strong>r Dreher in einem Werk zwanzig Mark verdient und noch zehn<br />
Mark Gewinnbeteiligung erhält, und bei <strong>de</strong>m Konkurrenzunternehmen,<br />
weil die Geschäfte dort schlechter gehen, vielleicht schlechter geleitet<br />
wer<strong>de</strong>n, nur zwanzig Mark. Entwe<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utet das die Schaffung einer<br />
Rente und vielleicht <strong>de</strong>n Verkauf von Arbeitsplätzen, mit <strong>de</strong>nen diese<br />
Rente verbun<strong>de</strong>n ist, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Mann erklärt seinem Unternehmer: mir ist<br />
es gleich, aus welchem Fonds du die dreißig Mark bezahlst; wenn mein<br />
Kollege bei <strong>de</strong>r Konkurrenz sie erhält, so verlange ich sie auch“ 1 Die<br />
individuelle Gewinnbeteiligung muß gera<strong>de</strong>wegs zum Syndikalismus<br />
führen, wenn auch zu einem Syndikalismus, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>m Unternehmer<br />
noch ein Teil <strong>de</strong>s Unternehmergewinns gewahrt bleibt.<br />
Man kann aber auch einen an<strong>de</strong>ren Weg einschlagen. Nicht <strong>de</strong>r<br />
einzelne Arbeiter wird am Gewinn beteiligt, son<strong>de</strong>rn die Gesamtheit <strong>de</strong>r<br />
Volksgenossen; vom Gewinn aller Unternehmungen gelangt ein Teil an<br />
alle ohne Unterschied zur Verteilung. Das ist in <strong>de</strong>r Besteuerung bereits<br />
verwirklicht. Schon lange vor <strong>de</strong>m Kriege haben in Österreich die<br />
Aktiengesellschaften zwanzig bis vierzig Prozent ihres Reinertrages an<br />
<strong>de</strong>n Staat und all die an<strong>de</strong>ren Träger <strong>de</strong>r Steuerhoheit abführen müssen; in<br />
<strong>de</strong>n ersten Frie<strong>de</strong>nsjahren waren es sechzig bis neunzig Prozent und<br />
darüber. Die gemischtwirtschaftliche Unternehmung stellt <strong>de</strong>n Versuch<br />
dar, die Beteiligung <strong>de</strong>s Gemeinwesens in eine Rechtsform zu bringen, die<br />
diesem auch einen Einfluß auf die Führung <strong>de</strong>r Geschäfte zugesteht, wogegen<br />
es allerdings auch bei <strong>de</strong>r Kapitalaufbringung mitwirken muß.<br />
Auch da ist nicht einzusehen, warum man sich mit einer halben<br />
Beseitigung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums begnügen soll, wenn die vollständige<br />
ohne Schädigung <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit durchführbar sein sollte. Ist<br />
aber die Aufhebung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums von Nachteil, dann ist es auch<br />
die halbe, und <strong>de</strong>r Nachteil <strong>de</strong>r halben Maßnahme mag vielleicht hinter<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r ganzen kaum zurückstehen. Man fährt zu Gunsten <strong>de</strong>r<br />
gemischtwirtschaftlichen Unternehmung gewöhnlich an, daß sie <strong>de</strong>r<br />
Tätigkeit <strong>de</strong>s Unternehmers Spielraum lasse. Doch, wie schon oben<br />
ausgeführt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Unternehmer wird durch <strong>de</strong>n Einfluß, <strong>de</strong>n Staat<br />
o<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong><br />
1 Vgl. die Ausführungen von Vogelstein auf <strong>de</strong>r Regensburger Tagung <strong>de</strong>s Vereins für<br />
Sozialpolitik (Schriften <strong>de</strong>s Vereins für Sozialpolitik, 159. Bd.) S. 132 f.
256<br />
in ihnen ausüben, in <strong>de</strong>r Freiheit seiner Entschließungen gelähmt; eine an<br />
die Mitwirkung von öffentlichen Beamten gebun<strong>de</strong>ner Unternehmung ist<br />
nicht imstan<strong>de</strong>, die Produktionsmittel so zu verwen<strong>de</strong>n, wie es das<br />
Rentabilitätsinteresse verlangt. 1<br />
§ 4. Als politische Taktik stellt <strong>de</strong>r Syndikalismus eine beson<strong>de</strong>re<br />
Kampfesweise <strong>de</strong>r organisierten Arbeiterschaft zur Erreichung ihrer<br />
politischen Ziele dar. Dieses Ziel kann auch die Herstellung <strong>de</strong>s echten,<br />
<strong>de</strong>s zentralistischen Sozialismus, also die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel<br />
sein. Doch man gebraucht <strong>de</strong>n Ausdruck Syndikalismus auch<br />
in einem zweiten Sinn, in <strong>de</strong>m er ein gesellschaftspolitisches Ziel eigener<br />
Art bezeichnet; man versteht dann unter Syndikalismus die Richtung, die<br />
einen Gesellschaftzustand herbeizuführen bestrebt ist, in <strong>de</strong>m die Arbeiter<br />
Eigentümer <strong>de</strong>r Produktionsmittel sind. Nur mit diesem, mit <strong>de</strong>m Syndikalismus<br />
als Ziel haben wir es hier zu tun; jener, <strong>de</strong>r Syndikalismus als<br />
Bewegung, <strong>de</strong>r nur eine politische Taktik ist, kümmert uns nicht.<br />
Der Syndikalismus als Ziel und <strong>de</strong>r Syndikalismus als Bewegung<br />
gehen nicht immer Hand in Hand. Viele Gruppen, die die syndikalistische<br />
action directe zur Grundlage ihres Vorgehens gemacht haben, streben ein<br />
echt sozialistisches Gemeinwesen an. Umgekehrt kann man <strong>de</strong>n<br />
Syndikalismus als Ziel auch an<strong>de</strong>rs zu verwirklichen suchen als durch die<br />
Kampfmetho<strong>de</strong>n, die Sorel empfiehlt.<br />
In <strong>de</strong>m Bewußtsein <strong>de</strong>r Arbeitermassen, die sich sozialistisch o<strong>de</strong>r<br />
kommunistisch nennen, ist <strong>de</strong>r Syndikalismus als Ziel <strong>de</strong>r großen<br />
Umwälzung min<strong>de</strong>stens so lebendig wie <strong>de</strong>r Sozialismus. Die „kleinbürgerlichen“<br />
I<strong>de</strong>en, die Marx zu überwin<strong>de</strong>n gedacht hat, sind auch in<br />
<strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r marxistischen Sozialisten weit verbreitet. Die große Masse<br />
wünscht nicht echten, d. h. zentralistischen Sozialismus, son<strong>de</strong>rn Syndikalismus.<br />
Der Arbeiter will Herr <strong>de</strong>r Produktionsmittel wer<strong>de</strong>n, die in seinem<br />
Betriebe in Verwendung stehen. Die Revolution um uns herum zeigt<br />
mit je<strong>de</strong>m Tag <strong>de</strong>utlicher, daß dies und nichts an<strong>de</strong>res <strong>de</strong>r Wunsch <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter ist. An<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r Sozialismus, <strong>de</strong>r das Erzeugnis <strong>de</strong>r Denkarbeit<br />
in <strong>de</strong>r Studierstube ist, entspringen die syndikalistischen I<strong>de</strong>en<br />
unmittelbar <strong>de</strong>m Denken <strong>de</strong>s einfachen Mannes, <strong>de</strong>r stets <strong>de</strong>m arbeitslosen<br />
Einkommen abhold ist, wofern es ein an<strong>de</strong>rer, nicht er selbst bezieht.<br />
Auch <strong>de</strong>r Syndikalismus strebt, ähnlich wie <strong>de</strong>r Sozialismus, darnach, die<br />
Trennung <strong>de</strong>s Arbeiters vorn Produktionsmittel zu beseitigen, nur daß er<br />
dazu<br />
1 Vgl. oben S. 242.
257<br />
einen an<strong>de</strong>ren Weg einschlägt. Nicht die Gesamtheit aller Arbeiter soll<br />
Eigentümer sämtlicher Produktionsmittel wer<strong>de</strong>n; die in einem bestimmten<br />
Betrieb o<strong>de</strong>r Unternehmen o<strong>de</strong>r die in einem ganzen Produktionszweig<br />
beschäftigten Arbeiter sollen das Eigentum <strong>de</strong>r hier verwen<strong>de</strong>ten<br />
Produktionsmittel erlangen. Die Eisenbahn <strong>de</strong>n Eisenbahnern, die<br />
Bergwerke <strong>de</strong>n Bergleuten, die Fabriken <strong>de</strong>n Arbeitern, lautet die Losung.<br />
Wir müssen von je<strong>de</strong>r „wil<strong>de</strong>n“ Art <strong>de</strong>r Durchführung syndikalistischer<br />
I<strong>de</strong>en absehen und eine durchaus folgerichtige Anwendung<br />
<strong>de</strong>s Grundsatzes auf die ganze Volkswirtschaft zum Ausgangspunkt<br />
unserer Untersuchung nehmen. Man kann sich ohne Schwierigkeit vorstellen,<br />
wie dies zu geschehen hätte. Je<strong>de</strong> Maßnahme, die das Eigentum an<br />
allen Produktionsmitteln <strong>de</strong>n Unternehmern, Kapitalisten und<br />
Grun<strong>de</strong>igentümern entzieht, ohne es <strong>de</strong>r Gesamtheit aller Genossen <strong>de</strong>s<br />
geschlossenen Wirtschaftsgebietes zu übertragen, ist als Syndikalisierung<br />
anzusehen. Es ist dann gleichgültig, ob in dieser Gesellschaft mehr o<strong>de</strong>r<br />
weniger solcher Genossenschaften gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Es ist ohne<br />
Be<strong>de</strong>utung, ob man ganze Produktionszweige als Son<strong>de</strong>rkörper<br />
konstituiert o<strong>de</strong>r einzelne Unternehmungen, wie sie sich gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r<br />
geschichtlichen Entwicklung zufällig herausgebil<strong>de</strong>t haben, o<strong>de</strong>r einzelne<br />
Betriebe o<strong>de</strong>r gar nur einzelne Werkstätten. Am Wesen <strong>de</strong>r Sache wird<br />
kaum etwas geän<strong>de</strong>rt, ob <strong>de</strong>r Striche, die durch die Gesellschaft gezogen<br />
wer<strong>de</strong>n, mehr o<strong>de</strong>r weniger sind und ob sie Horizontal- o<strong>de</strong>r<br />
Vertikalstriche sind. Entschei<strong>de</strong>nd ist allein das, daß <strong>de</strong>r Genosse eines<br />
solchen Gemeinwesens bestimmten Produktionsmitteln als Eigentümer<br />
eines Anteiles, und an<strong>de</strong>ren als Nichteigentümer gegenübersteht, daß er<br />
unter Umstän<strong>de</strong>n etwa auch - z. B. wenn er arbeitsunfähig ist - überhaupt<br />
kein Eigentum besitzt. Die Frage, ob die Arbeiter dadurch eine<br />
wesentliche Erhöhung ihres Einkommens erfahren o<strong>de</strong>r nicht, ist dabei<br />
ohne Be<strong>de</strong>utung. Die meisten Arbeiter haben gera<strong>de</strong>zu phantastische<br />
Vorstellungen über <strong>de</strong>n Reichtumszuwachs, <strong>de</strong>n sie bei einer syndikalistischen<br />
Regelung <strong>de</strong>r Eigentumsverhältnisse erfahren könnten. Sie<br />
glauben, daß schon die bloße Verteilung <strong>de</strong>ssen, was die Grundbesitzer,<br />
Kapitalisten und Unternehmer in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft beziehen,<br />
je<strong>de</strong>m von ihnen beträchtliche Einkommensvermehrung bringen müßte,<br />
und erwarten überdies noch eine ganz. be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Steigerung <strong>de</strong>s<br />
Ertrages <strong>de</strong>r Unternehmungen davon, daß sie selbst, die sich für beson<strong>de</strong>rs<br />
sachverständig halten, die Leitung <strong>de</strong>r Betriebe übernehmen wer<strong>de</strong>n, und<br />
daß je<strong>de</strong>r Arbeiter
258<br />
durch ein persönliches Interesse an <strong>de</strong>m Ge<strong>de</strong>ihen <strong>de</strong>s Unternehmens<br />
interessiert sein wird. Denn dann wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Arbeiter ja nicht mehr für<br />
Frem<strong>de</strong> arbeiten, son<strong>de</strong>rn für sich selbst. Die Liberalen <strong>de</strong>nken über alles<br />
das ganz an<strong>de</strong>rs. Sie weisen darauf hin, daß eine Verteilung <strong>de</strong>s Besitzund<br />
Unternehmereinkommens auf die Arbeiter diesen nur eine kaum ins<br />
Gewicht fallen<strong>de</strong> Erhöhung <strong>de</strong>r Bezüge bringen könnte. Vor allem aber<br />
behaupten sie, daß die Unternehmungen, die nicht mehr vom Eigeninteresse<br />
eines für eigene Rechnung arbeiten<strong>de</strong>n Unternehmertums, son<strong>de</strong>rn<br />
von <strong>de</strong>n dazu nicht geeigneten Arbeiterführern geleitet wer<strong>de</strong>n, im Ertrag<br />
zurückgehen wer<strong>de</strong>n, so daß <strong>de</strong>r Arbeiter nicht nur nicht mehr verdienen<br />
wür<strong>de</strong> als in <strong>de</strong>r freien Wirtschaftsverfassung, son<strong>de</strong>rn beträchtlich<br />
weniger.<br />
Wenn sich die syndikalistische Reform darauf beschränken wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n<br />
Arbeitern das Eigentum <strong>de</strong>r von ihnen verwen<strong>de</strong>ten Produktionsmittel zu<br />
überantworten und im übrigen die Eigentumsordnung <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaft unverän<strong>de</strong>rt beizubehalten, so wäre ihr Ergebnis nichts<br />
an<strong>de</strong>res als eine primitive Verteilung <strong>de</strong>r Güter. Verteilung <strong>de</strong>r Güter, in<br />
<strong>de</strong>r Regel zur Herstellung <strong>de</strong>r Gleichheit <strong>de</strong>s Besitzes und Vermögens,<br />
sch<strong>web</strong>t allem Denken <strong>de</strong>s einfachen Mannes über die Reform <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse vor, liegt allen volkstümlichen<br />
„Sozialisierungs“-Vorschlägen zugrun<strong>de</strong>. Das ist nicht unbegreiflich beim<br />
Landarbeiter, <strong>de</strong>m als Ziel aller wirtschaftlichen Bestrebungen <strong>de</strong>r Erwerb<br />
einer Heimstätte und eines Ackers erscheint, <strong>de</strong>r groß genug wäre, ihn und<br />
seine Familie zu ernähren; im Dorfe ist das „Teilen“, die volkstümliche<br />
Lösung <strong>de</strong>s sozialen Problems, immerhin <strong>de</strong>nkbar. Im Gewerbe, im<br />
Bergbau, im Verkehrswesen, im Han<strong>de</strong>l und im Bankgeschäft, wo die<br />
Naturalteilung nicht einmal <strong>de</strong>nkbar ist, tritt an ihre Stelle <strong>de</strong>r Wunsch<br />
nach Teilung <strong>de</strong>s Eigentumrechts bei Fortbestand <strong>de</strong>r Betriebs- und<br />
Unternehmungseinheit. Die Durchführung <strong>de</strong>r Teilung in dieser einfachen<br />
Weise wäre bestenfalls geeignet, für <strong>de</strong>n Augenblick die Ungleichheit <strong>de</strong>r<br />
Einkommens- und Vermögensverteilung zu beseitigen. Schon nach kurzer<br />
Zeit wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r eine sein Teil vergeu<strong>de</strong>t haben, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re aber durch<br />
Erwerb <strong>de</strong>r Anteile, die die weniger gut Wirtschaften<strong>de</strong>n verloren haben,<br />
sich bereichert haben. Man müßte mithin immer wie<strong>de</strong>r zu neuen<br />
Verteilungen schreiten und damit Leichtsinn und Verschwendung, kurz<br />
je<strong>de</strong>s unwirtschaftliche Gebaren, gera<strong>de</strong>zu belohnen. Wirtschaftliches<br />
Verhalten wird keinen Reiz mehr bieten, <strong>de</strong>nn die Fleißigen und<br />
Sparsamen wer<strong>de</strong>n ja immer
259<br />
wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Früchten ihres Fleißes und ihrer Sparsamkeit <strong>de</strong>n Faulen<br />
und Verschwen<strong>de</strong>rn abgeben müssen.<br />
Doch selbst diesen Erfolg, für <strong>de</strong>n Augenblick Gleichheit <strong>de</strong>r<br />
Einkommen und Vermögen herzustellen, könnte man durch Syndikalisierung<br />
nicht erzielen. Denn Syndikalisierung be<strong>de</strong>utet durchaus nicht<br />
für alle Arbeiter das gleiche. Der Wert <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />
Produktionszweigen verwen<strong>de</strong>ten Produktionsmittel ist nicht proportional<br />
<strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r darin tätigen Arbeiter. Es gibt, wie nicht erst näher ausgeführt<br />
wer<strong>de</strong>n muß, Produkte, in <strong>de</strong>nen verhältnismäßig mehr vom<br />
Produktionsfaktor Arbeit und weniger vom Produktionsfaktor Natur<br />
enthalten ist. Schon eine Verteilung <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren am<br />
geschichtlichen Anfang aller menschlichen Produktion hätte zu<br />
Ungleichheit geführt, vollends erst, wenn die Syndikalisierung bei einem<br />
weit vorgeschritteneren Zustand <strong>de</strong>r Kapitalsbildung stattfin<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>m<br />
nicht nur natürliche Produktionsfaktoren, son<strong>de</strong>rn auch produzierte<br />
Produktionsmittel verteilt wer<strong>de</strong>n. Der Wert <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n einzelnen Arbeitern<br />
bei einer <strong>de</strong>rartigen Verteilung zufallen<strong>de</strong>n Anteile wird daher sehr<br />
verschie<strong>de</strong>n sein; die einen wer<strong>de</strong>n mehr erhalten, die an<strong>de</strong>ren weniger,<br />
und <strong>de</strong>mgemäß wer<strong>de</strong>n die einen ein größeres Besitzeinkommen -<br />
arbeitsloses Einkommen - beziehen als die an<strong>de</strong>ren. Die Syndikalisierung<br />
ist durchaus nicht das Mittel, um Gleichheit <strong>de</strong>s Einkommens in<br />
irgen<strong>de</strong>iner Weise zu erzielen. Sie schafft die bestehen<strong>de</strong> Ungleichheit <strong>de</strong>r<br />
Besitz- und Einkommenverteilung ab, um an ihre Stelle eine an<strong>de</strong>re zu<br />
setzen. Es mag sein, daß man diese syndikalistische Ungleichheit als<br />
gerechter ansieht als die <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftordnung. Doch<br />
darüber kann die Wissenschaft kein Urteil abgeben.<br />
Soll die syndikalistische Reform mehr als die bloße Aufteilung <strong>de</strong>r<br />
Produktivgüter be<strong>de</strong>uten, dann darf sie die Eigentumsordnung <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaft bezüglich <strong>de</strong>r Produktionsmittel nicht<br />
fortbestehen lassen. Sie muß die Produktivgüter aus <strong>de</strong>m Verkehr ziehen.<br />
Die einzelnen Genossen dürfen die ihnen bei <strong>de</strong>r Verteilung zugefallenen<br />
Anteile an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln nicht veräußern; diese sind mit <strong>de</strong>r<br />
Person <strong>de</strong>s Eigentümers in einer engeren Verbindung als es das Eigentum<br />
in <strong>de</strong>r liberalen Gesellschaft ist. In welcher Weise sie unter Umstän<strong>de</strong>n<br />
von <strong>de</strong>r Person getrennt wer<strong>de</strong>n können, kann verschie<strong>de</strong>n geregelt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Der naive Gedankengang <strong>de</strong>r Befürworter <strong>de</strong>s Syndikalismus setzt<br />
ohne weiteres einen vollkommen statischen Zustand <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
voraus und macht sich keine Sorgen darüber, wie sich
260<br />
das System Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Daten gegenüber<br />
verhalten wird. Wenn wir annehmen, daß in <strong>de</strong>r Produktionsweise, in <strong>de</strong>n<br />
Angebot- und Nachfrageverhältnissen, in <strong>de</strong>r Technik und in <strong>de</strong>r<br />
Bevölkerung keine Verän<strong>de</strong>rungen vor sich gehen, dann scheint ja alles in<br />
bester Ordnung zu sein. Je<strong>de</strong>r Arbeiter hat nur ein Kind und schei<strong>de</strong>t in<br />
<strong>de</strong>m Augenblicke aus <strong>de</strong>r Welt, in <strong>de</strong>m sein Nachkomme und alleiniger<br />
Erbe arbeitsfähig wird und an seinen Platz tritt. 1 Wir können allenfalls annehmen,<br />
daß ein Wechsel <strong>de</strong>r Beschäftigung, <strong>de</strong>r Übergang von einem<br />
Produktionszweig zu einem an<strong>de</strong>ren o<strong>de</strong>r von einem selbständigen<br />
Unternehmen zu einem an<strong>de</strong>ren durch freiwilligen gleichzeitigen Tausch<br />
<strong>de</strong>r Arbeitsstelle und <strong>de</strong>s Anteils an <strong>de</strong>r Produktionsmittelausstattung<br />
zugelassen wird. Doch im übrigen setzt <strong>de</strong>r syndikalistische<br />
Gesellschaftszustand notwendigerweise ein streng durchgeführtes<br />
Kastensystem und vollständiges Aufhören je<strong>de</strong>r Bewegung in <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaft und damit im Leben voraus. Schon das kin<strong>de</strong>rlose Absterben<br />
eines Genossen stört ihn und wirft Probleme auf, die ganz und gar<br />
unlösbar sind.<br />
Im syndikalistischen Gemeinwesen setzt sich das Einkommen <strong>de</strong>s<br />
Genossen aus <strong>de</strong>m Ertrage seines Besitzanteils und aus <strong>de</strong>m Arbeitslohn<br />
zusammen. Sind die Anteile am Produktionsmittelbesitz auch nur frei<br />
vererblich, dann bil<strong>de</strong>n sich in kürzester Zeit, auch wenn Verän<strong>de</strong>rungen<br />
unter Leben<strong>de</strong>n nicht gestattet sind, Besitzunterschie<strong>de</strong> heraus. Ist bei<br />
Beginn <strong>de</strong>r syndikalistischen Ära die Trennung <strong>de</strong>s Arbeiters vom<br />
Produktionsmittel dadurch überwun<strong>de</strong>n, daß je<strong>de</strong>r Genosse in seinem<br />
Betrieb sowohl Arbeiter als auch Unternehmer ist, so kann es jetzt auch<br />
schon vorkommen, daß Unternehmungsanteile im Wege <strong>de</strong>s Erbganges<br />
von Genossen erworben wur<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Betrieb nicht angehören. Schon<br />
das muß das syndikalistische Gemeinwesen bald in die Bahn <strong>de</strong>r<br />
Trennung von Arbeit und Besitz treiben, ohne daß es dadurch irgen<strong>de</strong>inen<br />
<strong>de</strong>r Vorzüge <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung erhalten wür<strong>de</strong>. 2<br />
Je<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Volkswirtschaft wirft sofort Probleme auf, an<br />
<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Syndikalismus unfehlbar scheitern muß. Wenn<br />
1 Der Einfachheit halber wird dabei bloß an die Männer gedacht; es bietet keine<br />
Schwierigkeiten, das Schema durch Einfügung <strong>de</strong>s weiblichen Geschlechtes zu erweitern.<br />
2 Es ist daher irreführend, wenn man <strong>de</strong>n Syndikalismus als „Arbeiterkapitalismus“<br />
bezeichnet, wie auch ich es getan habe (in Nation, Staat und Wirtschaft, a. a. O., S. 164).
261<br />
Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Richtung und <strong>de</strong>m Umfang <strong>de</strong>r Nachfrage o<strong>de</strong>r in<br />
<strong>de</strong>r Produktionstechnik Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Einrichtung <strong>de</strong>r Betriebe<br />
notwendig machen, bei <strong>de</strong>nen Arbeiter von Betrieb zu Betrieb, von<br />
Produktionszweig zu Produktionszweig geschoben wer<strong>de</strong>n sollen, dann<br />
entsteht gleich die Frage, wie es mit <strong>de</strong>n Anteilen dieser Arbeiter an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln gehalten wer<strong>de</strong>n soll. Sollen die Arbeiter und ihre<br />
Erben die Anteile in jenen Betrieben, <strong>de</strong>nen sie im Augenblick <strong>de</strong>r<br />
Syndikalisierung gera<strong>de</strong> angehört haben, beibehalten und in die neuen<br />
Betriebe nur als einfache Arbeiter eintreten, die um Lohn dienen, ohne<br />
einen Teil <strong>de</strong>s Besitzeinkommens beziehen zu dürfen? O<strong>de</strong>r sollen sie mit<br />
<strong>de</strong>m Ausschei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Betriebe auch <strong>de</strong>s Anteiles verlustig gehen,<br />
hingegen beim Eintritt in einen neuen Betrieb sofort einen Kopfanteil wie<br />
die an<strong>de</strong>ren schon früher dort Beschäftigten erhalten? In jenem Falle<br />
wür<strong>de</strong> das Prinzip <strong>de</strong>r Syndikalisierung sehr bald durchbrochen sein.<br />
Wür<strong>de</strong> man überdies auch zulassen, daß die Anteile veräußert wer<strong>de</strong>n,<br />
dann wür<strong>de</strong>n sich allmählich wie<strong>de</strong>r jene Zustän<strong>de</strong> herausbil<strong>de</strong>n, die vor<br />
<strong>de</strong>r Reform bestan<strong>de</strong>n haben. Wenn aber <strong>de</strong>r Arbeiter bei seinem Austritt<br />
aus <strong>de</strong>m Betriebe seines Anteiles verlustig geht und beim Eintritt in einen<br />
an<strong>de</strong>ren Betrieb dort einen Anteil erhält, dann wür<strong>de</strong>n jene Arbeiter, die<br />
dabei zu verlieren hätten, naturgemäß je<strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Produktion<br />
energischen Wi<strong>de</strong>rstand entgegensetzen. Die Einführung eines größere<br />
Ergiebigkeit <strong>de</strong>s Arbeitsprozesses verbürgen<strong>de</strong>n Verfahrens wür<strong>de</strong><br />
bekämpft wer<strong>de</strong>n, wenn sie Arbeiter frei macht o<strong>de</strong>r frei machen könnte.<br />
An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong>n sich die Arbeiter eines Betriebes o<strong>de</strong>r Produktionszweiges<br />
dagegen sträuben, durch Neuaufnahme von Arbeitern <strong>de</strong>n Betrieb<br />
in größerem Umfange weiterzuführen, wenn sie davon eine Schmälerung<br />
ihres Besitzeinkommens befürchten müßten. Kurz, <strong>de</strong>r Syndikalismus<br />
wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong> Umstellung <strong>de</strong>r Produktion unmöglich machen. Von<br />
wirtschaftlichem Fortschritt kann dort, wo er herrscht, keine Re<strong>de</strong> sein.<br />
Der Syndikalismus als Ziel ist so wi<strong>de</strong>rsinnig, daß er überhaupt nie<br />
Vertreter gefun<strong>de</strong>n hat, die ihn offen und klar als Schriftsteller zu<br />
empfehlen gewagt hätten; die, die ihn unter <strong>de</strong>m Namen „Genossenschaftssozialismus“<br />
vertreten haben, haben seine Probleme nie ganz<br />
durchdacht. Der Syndikalismus ist nie etwas an<strong>de</strong>res gewesen als ein I<strong>de</strong>al<br />
plün<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Hor<strong>de</strong>n.<br />
§ 5. Das natürliche Eigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln ist teilbar; es<br />
ist in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaft in <strong>de</strong>r Regel
262<br />
geteilt. 1 Doch die Verfügungsmacht, die <strong>de</strong>m zusteht, <strong>de</strong>r die Führung <strong>de</strong>s<br />
Produktionsprozesses in Hän<strong>de</strong>n hat, und die wir allein als Eigentum<br />
bezeichnen, ist unteilbar und unbeschränkbar; sie kann wohl mehreren<br />
gemeinsam zustehen, doch nicht in <strong>de</strong>m Sinne geteilt sein, daß die<br />
Verfügungsmacht selbst in einzelne Befugnisse zerfällt. Über die<br />
Verwendung eines Gutes in <strong>de</strong>r Produktion kann nur einheitlich verfügt<br />
wer<strong>de</strong>n; es ist un<strong>de</strong>nkbar, sie in irgen<strong>de</strong>iner Weise in Elemente aufzulösen.<br />
Das Eigentum im natürlichen Sinne kann nicht beschränkt sein; wo<br />
von Beschränkung gesprochen wird, han<strong>de</strong>lt es sich entwe<strong>de</strong>r nur um ein<br />
Weniger gegenüber einer zu weit gespannten Juristen<strong>de</strong>finition o<strong>de</strong>r um<br />
die Feststellung <strong>de</strong>r Tatsache, daß das Eigentum im natürlichen Sinne im<br />
konkreten Fall einem an<strong>de</strong>ren zusteht als <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>n das Recht <strong>de</strong>n<br />
Eigentümer nennt.<br />
Alle Versuche, <strong>de</strong>n Gegensatz zwischen Gemeineigentum und<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln durch die Halbheit eines<br />
Kompromisses aufzuheben, sind daher verfehlt. Das Eigentum ist immer<br />
dort, wo die Verfügungsmacht ist; die aber kann nicht gebun<strong>de</strong>n und nicht<br />
beschränkt wer<strong>de</strong>n. Darum sind Staatssozialismus und Planwirtschaft, die<br />
<strong>de</strong>m Namen und <strong>de</strong>r Rechtsform nach das Son<strong>de</strong>reigentum beibehalten<br />
wollen, in <strong>de</strong>r Tat aber das Eigentum vergesellschaften, weil sie die<br />
Ausübung <strong>de</strong>r Verfügungsgewalt <strong>de</strong>m staatlichen Befehl unterstellen, in<br />
vollem Sinne sozialistische Systeme. Son<strong>de</strong>reigentum liegt nur dort vor,<br />
wo <strong>de</strong>r einzelne mit seinem Eigentum an Produktionsmitteln so verfahren<br />
kann, wie er es am vorteilhaftesten ansieht; daß er dabei <strong>de</strong>n Interessen<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft dient, weil in <strong>de</strong>r arbeitsteiligen<br />
Gesellschaft je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Diener aller und alle die Herren eines je<strong>de</strong>n sind,<br />
,än<strong>de</strong>rt nichts daran, daß er selbst <strong>de</strong>n Weg sucht, auf <strong>de</strong>m er am besten<br />
dienen kann.<br />
Kompromisse können auch nicht auf <strong>de</strong>m Wege erreicht wer<strong>de</strong>n, daß<br />
man einen Teil <strong>de</strong>r Produktionsmittel <strong>de</strong>r Verfügung <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
unterstellt, <strong>de</strong>n Rest in <strong>de</strong>r Verfügung einzelner beläßt. Da stehen eben<br />
bei<strong>de</strong> Systeme unvermittelt nebeneinan<strong>de</strong>r und wirken sich soweit aus, als<br />
<strong>de</strong>r Raum reicht, <strong>de</strong>n sie einnehmen. Solche Mischung <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Organisationsprinzipien muß je<strong>de</strong>rmann für sinnlos<br />
halten und verdammen; niemand wird es als richtig ansehen können, daß<br />
<strong>de</strong>r Grundsatz, <strong>de</strong>n er für <strong>de</strong>n richtigeren hält, nicht bis zu En<strong>de</strong><br />
durchgeführt wird. Es kann auch von keiner Seite behauptet wer<strong>de</strong>n, daß<br />
das eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re System sich nur<br />
1 Vgl. oben S. 17f.
263<br />
für bestimmte Gruppen von Produktionsmitteln als das richtigere erweist.<br />
Wo <strong>de</strong>rartige Ansichten scheinbar vorliegen, han<strong>de</strong>lt es sich in Wahrheit<br />
entwe<strong>de</strong>r um die Behauptung, daß das eine System min<strong>de</strong>stens für eine<br />
Gruppe von Produktionsmitteln verlangt wer<strong>de</strong>n müsse o<strong>de</strong>r höchstens für<br />
eine Gruppe konzediert wer<strong>de</strong>n könne. Das Kompromiß ist stets nur ein<br />
Ergebnis <strong>de</strong>s augenblicklichen Stan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s Kampfes bei<strong>de</strong>r Prinzipien,<br />
nicht ein Gebil<strong>de</strong> einer logischen Durch<strong>de</strong>nkung <strong>de</strong>s Problems. Die<br />
Halbheit ist, vom Standpunkte einer je<strong>de</strong>n Seite betrachtet, vorläufiger<br />
halber Erfolg auf <strong>de</strong>m Wege zum ganzen.<br />
Das bekannteste und angesehenste <strong>de</strong>r Kompromißsysteme glaubt<br />
allerdings, die Halbheit als dauern<strong>de</strong> empfehlen zu können. Die<br />
Bo<strong>de</strong>nreformer wollen die natürlichen Produktionsfaktoren vergesellschaften,<br />
im übrigen aber das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
bestehen lassen. Sie gehen dabei von <strong>de</strong>r als selbstverständlich<br />
hingestellten Annahme aus, daß das Gemeineigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln rationeller sei als das Son<strong>de</strong>reigentum; weil sie <strong>de</strong>n<br />
Bo<strong>de</strong>n für das wichtigste Produktionsmittel ansehen, wollen sie ihn in das<br />
Eigentum <strong>de</strong>r Gesellschaft überführen. Mit <strong>de</strong>r These, daß das<br />
Gemeineigentum rationeller sei als das Son<strong>de</strong>reigentum, fällt auch die<br />
I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>nreform. Wer <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n für das wichtigste<br />
Produktionsmittel ansieht, muß gera<strong>de</strong> für Son<strong>de</strong>reigentum am Bo<strong>de</strong>n<br />
eintreten, wenn er das Son<strong>de</strong>reigentum für die überlegene Wirtschaftsform<br />
hält.<br />
Ganz dasselbe gilt von einem mit maßloser Überhebung vorgetragenen<br />
System, das außerhalb eines engen Wiener Kreises kaum bekannt sein<br />
dürfte: von <strong>de</strong>r Nährpflichti<strong>de</strong>e von Popper-Lynkeus. Popper will durch<br />
sozialistische Produktion je<strong>de</strong>rmann ein gewisses Min<strong>de</strong>stmaß <strong>de</strong>r<br />
Bedürfnisbefriedigung sichern; im übrigen soll Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln bestehen bleiben; nach Zurücklegung einer Dienstzeit<br />
in <strong>de</strong>r „Nährarmee“ <strong>de</strong>s sozialistischen Produktionsorganismus wird <strong>de</strong>r<br />
Einzelne persönlich frei und kann sich nach Belieben als Arbeiter o<strong>de</strong>r<br />
Unternehmer im nichtsozialistischen Teil betätigen, bezieht aber sein<br />
Leben lang das „Minimum“ in Naturalien. 1 Auch Popper geht von <strong>de</strong>r<br />
Annahme aus, daß sozialistische Produktion höhere Erträge abwirft als<br />
nichtsozialistische. Mit <strong>de</strong>r Feststellung, daß diese Annahme durchaus<br />
unhaltbar ist, sind alle seine Berechnungen als Phantasien ohne je<strong>de</strong> reale<br />
Grundlage abzutun.<br />
1 Vgl. Popper-Lynkeus, Die allgemeine Nährpflicht, Wien 1912, S. 333 ff.
III. Teil.<br />
Die Lehre von <strong>de</strong>r Unentrinnbarkeit<br />
<strong>de</strong>s Sozialismus.<br />
I. Abschnitt.<br />
Die gesellschaftliche Entwicklung.<br />
I.<br />
Der sozialistische Chiliasmus.<br />
§ 1. Der Sozialismus schöpft seine Kraft aus zwei verschie<strong>de</strong>nen<br />
Quellen. Er ist auf <strong>de</strong>r einen Seite ethische, politische und wirtschaftspolitische<br />
For<strong>de</strong>rung: Die „unmoralische“ kapitalistische Wirtschaft soll<br />
durch die höheren sittlichen Ansprüchen genügen<strong>de</strong> sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung ersetzt wer<strong>de</strong>n; die „wirtschaftliche Herrschaft“ <strong>de</strong>r<br />
einen über die an<strong>de</strong>ren soll einer genossenschaftlichen Ordnung weichen,<br />
die allein die Verwirklichung wahrer Demokratie ermögliche; die<br />
unrationelle Privatwirtschaftsordnung, die anarchische Profitwirtschaft,<br />
soll <strong>de</strong>r allein rationellen, weil nach einheitlichen Gesichtspunkten<br />
geleiteten Planwirtschaft Platz machen. Der Sozialismus erscheint damit<br />
als ein Ziel, <strong>de</strong>m wir zuzustreben haben, weil es sittlich und weil es<br />
vernünftig ist. Es gilt, die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> zu besiegen, die Unverstand und<br />
böser Wille seinem Kommen entgegensetzen. Das ist <strong>de</strong>r Grundgedanke<br />
jenes Sozialismus, <strong>de</strong>n Marx und seine Schule <strong>de</strong>n utopischen nennen.<br />
Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aber tritt <strong>de</strong>r Sozialismus als notwendiges Ziel<br />
und En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung auf. Eine dunkle Macht, <strong>de</strong>r<br />
wir uns nicht zu entziehen vermögen, führt die Menschheit stufenweise zu<br />
höheren Formen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen und sittlichen Daseins. Die<br />
Geschichte ist ein fortschreiten<strong>de</strong>r Läuterungsprozeß,
265<br />
an <strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sozialismus als Vollkommenheit steht. Das ist ein<br />
Gedankengang, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s utopischen Sozialismus nicht wi<strong>de</strong>rspricht.<br />
Er schließt sie ganz ein, in<strong>de</strong>m er gera<strong>de</strong>zu als selbstverständlich<br />
voraussetzt, daß <strong>de</strong>r sozialistische Zustand besser, edler und schöner sei<br />
als <strong>de</strong>r nicht sozialistische. Er geht über sie hinaus, in<strong>de</strong>m er die<br />
Verän<strong>de</strong>rung zu ihm hin, die ihm als Fortschritt, als Höherentwicklung<br />
erscheint, nicht abhängig sieht von ,<strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r Menschen. Der<br />
Sozialismus ist ein unentrinnbares und naturnotwendiges Ergebnis <strong>de</strong>r im<br />
gesellschaftlichen Leben wirken<strong>de</strong>n Kräfte; das ist <strong>de</strong>r Grundgedanke <strong>de</strong>s<br />
evolutionistischen Sozialismus, <strong>de</strong>r sich in seiner marxistischen Form <strong>de</strong>n<br />
stolzen Namen „wissenschaftlicher“ Sozialismus beigelegt hat.<br />
Man hat in jüngster Zeit viel Mühe darauf verwen<strong>de</strong>t, nachzuweisen,<br />
daß die Gedanken <strong>de</strong>r materialistischen o<strong>de</strong>r ökonomischen Geschichtsauffassung<br />
schon vor Marx von an<strong>de</strong>ren Denkern ausgesprochen wor<strong>de</strong>n<br />
seien, darunter auch von solchen, die Marx und seine Anhänger<br />
hochmütig als Utopisten zu bezeichnen lieben. Diese Untersuchungen und<br />
die Kritik <strong>de</strong>r materialistischen Geschichtsauffassung pflegen sich das<br />
Problem viel zu eng zu stellen, wenn sie nur das Beson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r<br />
marxistischen Entwicklungstheorie, ihren spezifisch ökonomischen<br />
Charakter und die Be<strong>de</strong>utung, die sie <strong>de</strong>m Klassenkampf beilegt, prüfen<br />
und darüber vergessen, ihr Wesen als Vollkommen-heitslehre, als Theorie<br />
<strong>de</strong>s Fortschrittes und <strong>de</strong>r Höherentwicklung zu beachten.<br />
In <strong>de</strong>r materialistischen Geschichtsauffassung sind drei Elemente<br />
enthalten, die sich zwar zu einem geschlossenen System zusammenfügen,<br />
von <strong>de</strong>nen jedoch je<strong>de</strong>s einzelne beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung in <strong>de</strong>r für die<br />
Weltanschauung und die Politik <strong>de</strong>s Marxismus entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Betonung<br />
<strong>de</strong>r Theorie hat. Die materialistische Geschichtsauffassung ist zunächst<br />
eine bestimmte Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r geschichtlichen und soziologischen<br />
Forschung; als solche sucht sie eine Erklärung für das Verhältnis <strong>de</strong>r<br />
ökonomischen „Struktur“ zum ganzen Leben einer Zeit zu geben. Sie ist<br />
weiter eine soziologische Lehre, in<strong>de</strong>m sie einen bestimmten Begriff <strong>de</strong>r<br />
Klasse und <strong>de</strong>s Klassenkampfes als eines soziologischen Elements<br />
aufstellt. Endlich ist sie eine Fortschrittstheorie, eine Lehre über die<br />
Bestimmung <strong>de</strong>s Menschengeschlechts, über Sinn und Wesen, Zweck und<br />
Ziel <strong>de</strong>s menschlichen Lebens. Man hat gera<strong>de</strong> diese Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
materialistischen Geschichtsauffassung weniger beachtet als die ersten<br />
bei<strong>de</strong>n. Doch nur sie allein ist es, die für die sozialistische Lehre als<br />
solche in
266<br />
Betracht kommt. Es ist ohne weiteres klar, daß die materialistische<br />
Geschichtsauffassung soweit, als sie nur Forschungsmetho<strong>de</strong>, heuristisches<br />
Prinzip für die Erkenntnis <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung, sein<br />
soll, noch nichts über die Notwendigkeit einer sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung auszusagen vermag. Aus wirtschaftsgeschichtlichen<br />
Studien ergibt sich durchaus nicht mit zwingen<strong>de</strong>r Notwendigkeit <strong>de</strong>r<br />
Schluß, daß unsere Entwicklung zum Sozialismus hinstrebt. Dasselbe gilt<br />
von <strong>de</strong>r Klassenkampftheorie. Gera<strong>de</strong> wenn man sich auf <strong>de</strong>n Standpunkt<br />
stellt, daß die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von<br />
Klassenkämpfen sei, ist nicht abzusehen, warum auf einmal <strong>de</strong>r Klassenkampf<br />
aus ihr verschwin<strong>de</strong>n soll. Könnte es nicht sein, daß das, was<br />
bisher <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>r Geschichte ausgemacht hat, ihren Inhalt bis an das<br />
En<strong>de</strong> aller Tage ausmachen wird? Nur soweit die materialistische Geschichtsauffassung<br />
Fortschrittstheorie ist, vermag sie über das Ziel <strong>de</strong>r<br />
geschichtlichen Entwicklung eine Aussage zu machen und zu behaupten,<br />
daß <strong>de</strong>r Untergang <strong>de</strong>r kapitalistischen Lebensordnung und <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>s<br />
Proletariats gleich unvermeidlich seien. Nichts hat die Verbreitung <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen I<strong>de</strong>en mehr geför<strong>de</strong>rt als dieser Glaube an die<br />
Unentrinnbarkeit <strong>de</strong>s Sozialismus. Auch die Mehrzahl <strong>de</strong>r Gegner <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus steht im Banne dieser Lehre und fühlt sich durch sie im<br />
Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong> gelähmt. Der Gebil<strong>de</strong>te fürchtet unmo<strong>de</strong>rn zu erscheinen,<br />
wenn er sich nicht vom „sozialen“ Geist beseelt zeigt, <strong>de</strong>nn nun sei das<br />
Zeitalter <strong>de</strong>s Sozialismus, <strong>de</strong>r Geschichtstag <strong>de</strong>s vierten Stan<strong>de</strong>s,<br />
angebrochen, und da sei reaktionär, wer noch am Liberalismus festhalte.<br />
Je<strong>de</strong> Errungenschaft <strong>de</strong>s sozialistischen Gedankens, die uns <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Produktionsweise näherbringt, wird als Fortschritt<br />
gewertet, je<strong>de</strong> Maßnahme zum Schutze <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums gilt als<br />
Rückschritt. Mit Wehmut, ja mit Trauer sehen die einen, mit Freu<strong>de</strong>n die<br />
an<strong>de</strong>ren das Zeitalter <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums im Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Zeiten<br />
dahinschwin<strong>de</strong>n, alle aber glauben, daß die Geschichte es unwi<strong>de</strong>rruflich<br />
zum Untergange bestimmt habe.<br />
Als Fortschrittstheorie, die über die Erfahrung und über das Erfahrbare<br />
hinausgeht, ist die materialistische Geschichtsauffassung nicht Wissenschaft,<br />
son<strong>de</strong>rn Metaphysik. Das Wesen aller Entwicklungs- und<br />
Geschichtsmetaphysik ist die Lehre vom Anfang und En<strong>de</strong>, Ursprung und<br />
Zweck <strong>de</strong>r Dinge. Sie ist entwe<strong>de</strong>r kosmisch gedacht und zieht dann das<br />
ganze Weltall in <strong>de</strong>n Kreis ihrer Erklärung, o<strong>de</strong>r sie ist anthropozentrisch<br />
und zieht <strong>de</strong>n Menschen
267<br />
allein in Betracht. Sie kann religiös sein o<strong>de</strong>r philosophisch. Die<br />
anthropozentrischen philosophischen Entwicklungstheorien gehen unter<br />
<strong>de</strong>m Namen Philosophie <strong>de</strong>r Geschichte. Die religiös gefärbten Entwicklungstheorien,<br />
die immer anthropozentrisch sein müssen, da nur aus<br />
einer anthropozentrischen Lehre heraus die hohe Be<strong>de</strong>utung, die die<br />
Religion <strong>de</strong>m Menschen beilegt, gerechtfertigt wer<strong>de</strong>n kann, gehen<br />
gewöhnlich von <strong>de</strong>r Annahme eines paradiesischen Urzustan<strong>de</strong>s aus, eines<br />
gol<strong>de</strong>nen Zeitalters, von <strong>de</strong>m sich die Menschheit immer mehr und mehr<br />
entfernt, bis sie schließlich wie<strong>de</strong>r zu einem ebenso guten o<strong>de</strong>r womöglich<br />
noch besseren Zeitalter <strong>de</strong>r Vollkommenheit zurückkehrt. Damit verbin<strong>de</strong>t<br />
sich in <strong>de</strong>r Regel die Erlösungsi<strong>de</strong>e. Die Menschheit wird durch die<br />
Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>s gol<strong>de</strong>nen Zeitalters von <strong>de</strong>n Übeln, die die böse Zeit über<br />
sie gebracht hat, erlöst. Die ganze Lehre tritt so als irdische Heilsbotschaft<br />
auf. Sie ist wohl zu unterschei<strong>de</strong>n von jener höchsten Verfeinerung <strong>de</strong>s<br />
religiösen Erlösungsgedankens, <strong>de</strong>n jene Lehren bringen, die die Erlösung<br />
von <strong>de</strong>m irdischen Leben <strong>de</strong>s Menschen fortverlegen in ein besseres<br />
Jenseits. Dort erscheint <strong>de</strong>r irdische Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s einzelnen nie als Ziel; er<br />
ist nur Vorbereitung für ein an<strong>de</strong>rsgeartetes, besseres, leidloses Sein, das<br />
auch in einem Nichtsein, in einem Aufgelöstsein in <strong>de</strong>m All, in einem<br />
Untergehen bestehen kann.<br />
Für unsere Kultur wur<strong>de</strong> die Heilsbotschaft <strong>de</strong>r jüdischen Propheten<br />
von beson<strong>de</strong>rer Wichtigkeit. Sie verkün<strong>de</strong>n kein Heil in einem besseren<br />
Jenseits, sie verkün<strong>de</strong>n ein Reich Gottes auf Er<strong>de</strong>n. „Sieh, es kommt die<br />
Zeit, spricht <strong>de</strong>r Herr, da man zugleich ackern und ernten, zugleich keltern<br />
und säen wird; und die Berge wer<strong>de</strong>n von süßem Wein triefen und alle<br />
Hügel wer<strong>de</strong>n fruchtbar sein“. 1 „Die Wölfe wer<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>n Lämmern<br />
wohnen und die Par<strong>de</strong>l bei <strong>de</strong>n Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird<br />
Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinan<strong>de</strong>r treiben. Kühe und<br />
Bären wer<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Wei<strong>de</strong> gehen, daß ihre Jungen beieinan<strong>de</strong>r liegen;<br />
und Löwen wer<strong>de</strong>n Stroh essen wie die Ochsen. Und ein Säugling wird<br />
seine Lust haben am Loch <strong>de</strong>r Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand<br />
stecken in die Höhle <strong>de</strong>s Basilisken. Man wird nirgends Scha<strong>de</strong>n tun noch<br />
Ver<strong>de</strong>rben auf meinem ganzen heiligen Berg; <strong>de</strong>nn das Land ist voll<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>s Herren, wie Wasser das Meer be<strong>de</strong>ckt“. 2 Solche<br />
Heilsbotschaft wird nur <strong>de</strong>r freudig annehmen, <strong>de</strong>m sie für die nächste<br />
Zukunft verkün<strong>de</strong>t wird. Und in <strong>de</strong>r Tat meint <strong>de</strong>nn<br />
1 Amos, IX, 13.<br />
2 Jesaia, XI, 6-9.
268<br />
auch Jesaia, daß nur „noch eine geringe Spanne“ von <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Verheißung trenne. 1 Je länger aber die Erfüllung auf sich warten läßt,<br />
<strong>de</strong>sto ungeduldiger müssen die Gläubigen wer<strong>de</strong>n. Was soll ihnen ein<br />
Reich <strong>de</strong>s Heils, <strong>de</strong>ssen Kommen sie nicht mehr erleben wer<strong>de</strong>n? Und so<br />
muß sich <strong>de</strong>nn die Heilsverkündigung notwendigerweise zu einer Lehre<br />
von <strong>de</strong>r Auferstehung <strong>de</strong>r Toten erweitern, einer Auferstehung, die je<strong>de</strong>n<br />
einzelnen vor das Gericht <strong>de</strong>s Herrn treten läßt, <strong>de</strong>r dann die Guten von<br />
<strong>de</strong>n Bösen schei<strong>de</strong>n wird.<br />
Von solchen Gedanken ist das Ju<strong>de</strong>ntum voll, da Jesus als Messias<br />
unter sein Volk tritt. Er kommt nicht nur als Verkün<strong>de</strong>r eines nahen Heils,<br />
er erscheint auch als <strong>de</strong>r Vollen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Verheißung, als <strong>de</strong>r Bringer <strong>de</strong>s<br />
Gottesreiches. 2 Er wan<strong>de</strong>lt unter <strong>de</strong>m Volk und predigt, doch die Welt<br />
geht weiter ihren alten Gang. Er stirbt <strong>de</strong>n Tod am Kreuz, und alles bleibt,<br />
wie es gewesen. Das erschüttert zunächst <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r Jünger auf das<br />
tiefste. Sie verlieren im ersten Augenblick alle Fassung und Besinnung;<br />
die kleine Urgemein<strong>de</strong> zerstreut sich. Erst <strong>de</strong>r Glaube an die Wie<strong>de</strong>rauferstehung<br />
<strong>de</strong>s Gekreuzigten richtet sie wie<strong>de</strong>r auf, erfüllt sie mit<br />
frischer Begeisterung und gibt ihnen die Kraft, ihrer Heilslehre neue<br />
Anhänger zu gewinnen. 3 Die Heilsbotschaft, die sie predigen, ist noch<br />
dieselbe, die Christus gepredigt hatte: Der Herr ist nahe und mit ihm <strong>de</strong>r<br />
große Tag <strong>de</strong>s Gerichts und <strong>de</strong>r Welterneuerung, <strong>de</strong>r Begründung <strong>de</strong>s<br />
Gottesreiches an Stelle <strong>de</strong>r Weltreiche. In <strong>de</strong>m Maße aber, in <strong>de</strong>m das<br />
Harren und Hoffen auf die unmittelbar bevorstehen<strong>de</strong> Wie<strong>de</strong>rkehr Christi<br />
schwand und die wachsen<strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>n anfingen, sich auf längere<br />
Dauer einzurichten, mußte auch <strong>de</strong>r Erlösungsglaube einen Wan<strong>de</strong>l<br />
durchmachen. Auf <strong>de</strong>m Glauben an <strong>de</strong>n unmittelbar bevorstehen<strong>de</strong>n<br />
Eintritt <strong>de</strong>s Gottesreiches hätte sich keine bleiben<strong>de</strong> Weltreligion aufrichten<br />
lassen; je<strong>de</strong>r neue Tag, mit <strong>de</strong>ssen Verstreichen die Verkündigung<br />
unerfüllt blieb, hätte <strong>de</strong>m Bestan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kirche gefährlich wer<strong>de</strong>n müssen.<br />
Erst die Umgestaltung <strong>de</strong>s urchristlichen Grundgedankens vom Nahen <strong>de</strong>s<br />
Gottesreiches zum Christuskult, zum Glauben an die die Gemein<strong>de</strong><br />
erfüllen<strong>de</strong><br />
1 Jesaia, XXIX, 17.<br />
2 Auf die Streitfrage, ob Jesus selbst sich für <strong>de</strong>n Messias gehalten habe o<strong>de</strong>r nicht, ist<br />
hier nicht näher einzugehen. Für uns ist allein von Be<strong>de</strong>utung, daß er das unmittelbare<br />
Kommen <strong>de</strong>s Gottesreiches verkün<strong>de</strong>te und daß er für die Urgemein<strong>de</strong> als Messias <strong>galt</strong>.<br />
3 Vgl. Pflei<strong>de</strong>rer, Das Urchristentum, 2. Aufl., Berlin 1902, I. Bd., S. 7 ff.
269<br />
Gegenwart <strong>de</strong>s himmlischen und auferstan<strong>de</strong>nen Herrn und an die durch<br />
diesen bewirkte Erlösung vom sündigen Weltlauf hat die christliche<br />
Religionsgemeinschaft entstehen lassen. Für die christliche Lehre gibt es<br />
fortan kein von <strong>de</strong>r Zukunft zu erhoffen<strong>de</strong>s Gottesreich auf Er<strong>de</strong>n mehr.<br />
Der Erlösungsgedanke wird sublimiert durch die Lehre von <strong>de</strong>r durch die<br />
Taufe bewirkten Einpflanzung <strong>de</strong>s Gläubigen in <strong>de</strong>n Leib Jesu. „Das<br />
Gottesreich fließt schon in <strong>de</strong>r apostolischen Zeit mit <strong>de</strong>r Kirche<br />
zusammen, und <strong>de</strong>m Kommen <strong>de</strong>s Reiches bleibt nur die Verherrlichung<br />
<strong>de</strong>r Kirche, die Zerschlagung <strong>de</strong>s ir<strong>de</strong>nen Gefäßes und die Befreiung <strong>de</strong>s<br />
leuchten<strong>de</strong>n Schatzes von seinen Hüllen. Im übrigen tritt an Stelle <strong>de</strong>s<br />
Gottesreiches die ‚Eschatologie‘, Himmel, Hölle und Fegefeuer, die<br />
Unsterblichkeit und das Jenseits, ein Gegensatz gegenüber <strong>de</strong>m<br />
Evangelium, <strong>de</strong>r von höchster Be<strong>de</strong>utung ist. Aber auch dieser Endpunkt<br />
schiebt sich hinaus, bis zuletzt das tausendjährige Reich auf die Kirche<br />
ge<strong>de</strong>utet wur<strong>de</strong>". 1<br />
Doch es gab noch einen an<strong>de</strong>ren Weg, auf <strong>de</strong>m man <strong>de</strong>n<br />
Schwierigkeiten begegnen konnte, die sich daraus ergaben, daß die<br />
Erfüllung <strong>de</strong>r Verkündigung sich weiter hinausschob, als man<br />
ursprünglich angenommen hatte. Man konnte zu <strong>de</strong>m Glauben Zuflucht<br />
nehmen, zu <strong>de</strong>m die Propheten einst gegriffen hatten. Das macht die<br />
Lehre von <strong>de</strong>r sichtbaren Wie<strong>de</strong>rkunft Christi, <strong>de</strong>r dann ein tausend Jahre<br />
dauern<strong>de</strong>s irdisches Reich <strong>de</strong>s Heils errichten soll. Von <strong>de</strong>r Kirche als<br />
Ketzerei verdammt, lebt sie als religiöse und politische, vor allem aber als<br />
wirtschaftspolitische Revolutionsi<strong>de</strong>e immer wie<strong>de</strong>r auf.<br />
Vom christlichen Chiliasmus, <strong>de</strong>r durch die Jahrhun<strong>de</strong>rte mit immer<br />
neu erwachen<strong>de</strong>r Kraft schreitet, führt eine gera<strong>de</strong> Linie zum<br />
philosophischen Chiliasmus, in <strong>de</strong>n die Rationalisten <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
das Christentum umzu<strong>de</strong>uten suchen, und von da über Saint Simon, Hegel<br />
und Weitling zu Marx und Lenin. 2 Und es ist ein eigentümliches Spiel <strong>de</strong>s<br />
Zufalls, daß gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sozialismus, <strong>de</strong>r in solcher Weise von mystischen<br />
I<strong>de</strong>en, <strong>de</strong>ren Ursprung sich im Dunkel <strong>de</strong>r Geschichte verliert, abstammt,<br />
sich selbst <strong>de</strong>n Namen wissenschaftlicher Sozialismus beigelegt hat,<br />
während er jenen Sozialismus, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n rationalen Erwägungen <strong>de</strong>r<br />
Philosophen<br />
1 Vgl. Troeltsch, Die Soziallehren <strong>de</strong>r christlichen Kirchen und Gruppen, (Gesammelte<br />
Schriften, Tübingen 1912, I. Bd.) S. 110.<br />
2<br />
Vgl. Gerlich, Der Kommunismus als Lehre vom tausendjährigen Reich, München<br />
1920, S. 17 ff.
270<br />
herkommt, durch die Bezeichnung utopisch zu disqualifizieren sucht.<br />
Die philosophische anthropozentrische Entwicklungs-Metaphysik<br />
gleicht im Wesen <strong>de</strong>r religiösen in je<strong>de</strong>r Beziehung. Die merkwürdige<br />
Mischung von ekstatisch ausschweifen<strong>de</strong>r Phantasie und alltäglicher<br />
Nüchternheit und grob materialistischem Inhalt ihrer Heilsverkündung hat<br />
sie mit <strong>de</strong>n ältesten messianischen Prophezeiungen gemein. Mit <strong>de</strong>r<br />
christlichen Literatur, die die apokalyptischen Schriften auszulegen sucht,<br />
teilt sie das Bestreben, sich durch Deutung konkreter geschichtlicher<br />
Vorgänge auf das Leben anwendbar zu erweisen. Gera<strong>de</strong> darin wird sie<br />
oft lächerlich, wenn sie bei je<strong>de</strong>m größeren Ereignis gleich mit einer<br />
darauf abgestellten, zugleich aber das ganze Weltgeschehen umfassen<strong>de</strong>n<br />
Lehre zur Hand ist. Wieviel solcher Geschichtsphilosophien haben wir<br />
nicht im Weltkrieg entstehen sehen!<br />
§ 2. Die metaphysische Geschichtsphilosophie muß streng von <strong>de</strong>r<br />
rationalen geschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, die lediglich auf <strong>de</strong>r Erfahrung aufgebaut<br />
ist, und zu logisch und empirisch fundierten Ergebnissen hinstrebt. Wo sie<br />
darüber hinausgehen muß, versucht sie es mit Hypothesen. Dabei bleibt<br />
sie sich aber stets bewußt, wo die Erfahrung aufhört und die hypothetische<br />
Deutung beginnt. Sie vermei<strong>de</strong>t es, dort, wo Erfahrung möglich ist,<br />
Begriffsdichtungen anzubringen; sie versucht es nie, die Erfahrungswissenschaft<br />
zu verdrängen. Ihr Ziel ist allein Vereinheitlichung unserer Auffassung<br />
vom sozialen Geschehen und von <strong>de</strong>m Ablauf geschichtlicher<br />
Verän<strong>de</strong>rungen. So nur gelangt sie dazu, das Gesetz, unter <strong>de</strong>m die<br />
Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Zustän<strong>de</strong> stehen, aufzustellen.<br />
In<strong>de</strong>m sie die Kraft, unter <strong>de</strong>ren Wirksamkeit sich Gesellschaft bil<strong>de</strong>t,<br />
nachweist o<strong>de</strong>r nachzuweisen vermeint, ist sie bemüht, das Prinzip<br />
aufzuzeigen, unter <strong>de</strong>ssen Herrschaft die gesellschaftliche Entwicklung<br />
steht. Die Herrschaft dieses Prinzips wird dabei als eine ewig gelten<strong>de</strong><br />
angenommen, das heißt, es wird von ihm ausgesagt, daß es solange tätig<br />
ist, als es Gesellschaft überhaupt gibt. Wäre es an<strong>de</strong>rs, dann müßte ja<br />
neben dieses Prinzip noch ein zweites gestellt und gezeigt wer<strong>de</strong>n, unter<br />
welchen Bedingungen das eine, unter welchen das an<strong>de</strong>re herrscht. Dann<br />
wäre aber erst dieses Prinzip <strong>de</strong>s Wechsels <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Prinzipien das<br />
letzte Gesetz <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens.<br />
Die Aufzeigung eines Prinzips, unter <strong>de</strong>m sich Gesellschaft bil<strong>de</strong>t und<br />
die Verän<strong>de</strong>rungen gesellschaftlicher Zustän<strong>de</strong> sich vollziehen,
271<br />
ist etwas an<strong>de</strong>res als die Aufzeigung <strong>de</strong>s Weges, <strong>de</strong>n die gesellschaftliche<br />
Entwicklung geht. Ein Weg ist notwendigerweise begrenzt. Er hat einen<br />
Ausgangspunkt und einen Endpunkt. Die Herrschaft eines Gesetzes ist<br />
notwendigerweise unbegrenzt, sie ist ohne Anfang und ohne En<strong>de</strong>. Sie ist<br />
Kontinuität, nicht Ereignis. Das Gesetz ist unvollkommen, wenn es seine<br />
Aussage nur über einen Ausschnitt <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung<br />
macht und uns über einen bestimmten Punkt hinaus im Stiche läßt. Es<br />
wür<strong>de</strong> dadurch seinen Charakter als Gesetz verlieren. Das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Entwicklung kann kein an<strong>de</strong>res sein als das <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft überhaupt.<br />
Die teleologische Auffassung beschreibt <strong>de</strong>n Weg mit seinen<br />
Krümmungen und Abweichungen. Sie ist daher typischerweise Stufentheorie.<br />
Sie führt uns die Stationen <strong>de</strong>r Entwicklung vor, bis sie<br />
notwendigerweise zu einer gelangt, die die letzte ist, weil auf sie keine<br />
an<strong>de</strong>re mehr folgt. Es ist nicht abzusehen, wie die Geschichte dann weiter<br />
verlaufen soll, wenn das Ziel erreicht ist. 1<br />
Die chiliastische Geschichtsphilosophie stellt sich auf <strong>de</strong>n „Standpunkt<br />
<strong>de</strong>r Vorsehung, <strong>de</strong>r über alle menschliche Weisheit hinausliegt“, sie will<br />
voraussagen, wie nur „das göttliche Auge“ es könnte. 2 Was sie lehrt, mag<br />
man wie immer benennen, mag es Dichtung, Prophezeiung, Glauben,<br />
Hoffnung nennen; Wissenschaft und Wissen kann es aber niemals sein.<br />
Auch als Hypothese darf<br />
1 Vgl. Wundt, Ethik, 4. Aufl., Stuttgart 1912, II. Bd., S. 246.- Ein kleines, aber<br />
bezeichnen<strong>de</strong>s Beispiel dafür, wie leicht bereit die Vertreter dieser Richtung sind, das<br />
En<strong>de</strong> aller Entwicklung erreicht zu sehen, bietet Engels mit seinem Überblick über die<br />
Geschichte <strong>de</strong>s Kriegswesens. Engels spricht darin - 1878 - die Meinung aus, mit <strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>utsch-französischen Krieg sei in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s Kriegswesens „ein Wen<strong>de</strong>punkt<br />
eingetreten von ganz an<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung als alle früheren“. Es seien nun „die Waffen so<br />
vervollkommnet, daß ein neuer Fortschritt von irgendwelchem umwälzen<strong>de</strong>n Einfluß nicht<br />
mehr möglich ist. Wenn man Kanonen hat, mit <strong>de</strong>nen man ein Bataillon treffen kann,<br />
soweit das Auge es unterschei<strong>de</strong>t, und Gewehre, die für einen einzelnen Mann als<br />
Zielpunkt dasselbe leisten, bei <strong>de</strong>nen das La<strong>de</strong>n weniger Zeit raubt als das Zielen, so sind<br />
alle weiteren Fortschritte für <strong>de</strong>n Feldkrieg mehr o<strong>de</strong>r weniger gleichgültig. Die Ära <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung ist nach dieser Seite hin also im wesentlichen abgeschlossen.“ (Herrn Eugen<br />
Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 176 f.) - Bei <strong>de</strong>r Beurteilung frem<strong>de</strong>r<br />
Anschauungen weiß Marx die Schwäche <strong>de</strong>r Stufentheorie sehr wohl herauszufin<strong>de</strong>n.<br />
Nach ihrer Lehre, meint er, „hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr“.<br />
(Das Elend <strong>de</strong>r Philosophie, Deutsch von Bernstein und Kautsky, 8. Aufl., Stuttgart 1920,<br />
S. 104.) Er merkt nur nicht, daß seine Lehre sich auf <strong>de</strong>nselben Standpunkt für <strong>de</strong>n Tag<br />
stellt, da die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel vollzogen ist.<br />
2 Vgl. Kant, Der Streit <strong>de</strong>r Fakultäten (Sämtl. Werke, a. a. O., I. Bd.) S. 636.
272<br />
man es nicht bezeichnen, so wenig man diesen Ausdruck für die<br />
Wahrsagungen einer Kartenaufschlägerin verwen<strong>de</strong>n darf. Es war ein<br />
beson<strong>de</strong>rs geschickter Kunstgriff <strong>de</strong>r Marxisten, ihre chiliastische Lehre<br />
als Wissenschaft auszugeben. Der Erfolg konnte in einem Zeitalter, in<br />
<strong>de</strong>m man nur auf die Wissenschaft vertraute und alle Metaphysik weit von<br />
sich wies - freilich nur, um sich kritiklos <strong>de</strong>r naiven Metaphysik von<br />
Büchner und Moleschott hinzugeben - nicht ausbleiben.<br />
Das Gesetz <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung sagt uns viel weniger<br />
als die Entwicklungsmetaphysik. Es beschränkt seine Aussagen von<br />
vorneherein, wenn es zugibt, daß seine eigene Wirksamkeit durch<br />
Hinzutreten an<strong>de</strong>rer Prinzipien durchkreuzt wer<strong>de</strong>n kann. Es zieht aber<br />
auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite seiner Geltung keine Grenzen. Es beansprucht ewige<br />
Geltung, es ist ohne Anfang und ohne En<strong>de</strong>. Es überfällt uns nicht als<br />
dunkles Fatum, <strong>de</strong>ssen „willenloser und wi<strong>de</strong>rstandsloser Träger“ wir<br />
sind. Es enthüllt uns nur die innere Triebkraft unseres eigenen Wollens,<br />
zeigt uns seine Naturgesetzlichkeit und seine Notwendigkeit auf. Als<br />
solches ist es tiefste Einsicht - nicht etwa in <strong>de</strong>s Menschen „Bestimmung“<br />
- doch in <strong>de</strong>s Menschen Tun und Lassen.<br />
Soweit <strong>de</strong>r „wissenschaftliche“ Sozialismus Metaphysik, Chiliasmus<br />
und Heilsverkündigung ist, ist es vergeblich und überflüssig, sich mit ihm<br />
wissenschaftlich auseinan<strong>de</strong>rzusetzen. Gegen mystische Glaubenssätze<br />
kämpft man mit Rationalismus vergebens an. Fanatiker kann man nicht<br />
belehren. Sie müssen sich die Köpfe anrennen.<br />
Doch <strong>de</strong>r Marxismus ist nicht bloß Chiliasmus. Soweit ist er doch vom<br />
wissenschaftlichen Geist <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts beeinflußt, daß er es<br />
wenigstens versucht, seine Lehre rational zu begrün<strong>de</strong>n. Mit diesen<br />
Versuchen - und nur mit ihnen - haben wir es im folgen<strong>de</strong>n zu tun.<br />
II.<br />
Die Gesellschaft.<br />
§ 1. Alle älteren Anschauungen über das gesellschaftliche Leben <strong>de</strong>r<br />
Menschen sind vom Gedanken <strong>de</strong>r Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen und <strong>de</strong>s<br />
Menschengeschlechtes beherrscht. Die Gesellschaft reift einem Ziel<br />
entgegen, das ihr von <strong>de</strong>r Gottheit gesetzt ist. Wer so <strong>de</strong>nkt, ist logisch im<br />
Recht, wenn er von Fortschritt und Rückschritt, von Revolution und<br />
Gegenrevolution, von
273<br />
Aktion und Reaktion mit <strong>de</strong>r Betonung spricht, die diese Begriffe bei<br />
vielen mo<strong>de</strong>rnen Historikern und Politikern haben. Die Geschichte wird<br />
gewertet, je nach <strong>de</strong>m sie die Menschheit <strong>de</strong>m Ziele näherbringt o<strong>de</strong>r sie<br />
davon entfernt.<br />
Die Sozialwissenschaft fängt dort an, wo man sich bei <strong>de</strong>r Betrachtung<br />
<strong>de</strong>r menschlichen Dinge von dieser und überhaupt von aller Wertung<br />
befreit. Auch die Sozialwissenschaft ist in <strong>de</strong>m Sinne teleologisch, in <strong>de</strong>m<br />
es je<strong>de</strong> kausale Betrachtung <strong>de</strong>s Willens sein muß. Doch ihr Zweckbegriff<br />
ist ganz in die Kausalerklärung einbezogen. Die Kausalität bleibt für sie<br />
das Grundprinzip <strong>de</strong>r Erkenntnis, <strong>de</strong>ssen Hochhaltung auch durch die<br />
Teleologie kein Abbruch geschehen, darf. 1 Sie wertet die Zwecke nicht;<br />
sie vermag daher auch nicht, von Höherentwicklung und von<br />
Vervollkommnung in <strong>de</strong>m Sinne zu re<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m dies etwa Hegel und<br />
Marx tun. Für sie ist es durchaus nicht ausgemacht, daß alle Entwicklung<br />
in die Höhe führt, daß je<strong>de</strong> spätere Stufe eine höhere ist. Ebensowenig<br />
vermag sie freilich auch im geschichtlichen Prozeß nach Art <strong>de</strong>r<br />
pessimistischen Geschichtsphilosophien einen Abstieg, eine fortschreiten<strong>de</strong><br />
Annäherung an ein böses En<strong>de</strong>, zu erblicken. Die Frage nach <strong>de</strong>n<br />
treiben<strong>de</strong>n Kräften <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung ist die Frage nach<br />
<strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>r Gesellschaft und nach <strong>de</strong>m Ursprung und <strong>de</strong>n Ursachen<br />
<strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Gesellschaftsverhältnisse. Was ist Gesellschaft,<br />
wie wird Gesellschaft und wie verän<strong>de</strong>rt sich Gesellschaft, das können<br />
allein die Probleme sein, die sich die Wissenschaft <strong>de</strong>r Soziologie hier<br />
stellt.<br />
Daß das gesellschaftliche Zusammenleben <strong>de</strong>r Menschen <strong>de</strong>m<br />
biologischen Prozeß gleiche, ist eine alte Beobachtung, die schon <strong>de</strong>r<br />
berühmten, uns von Livias überlieferten Fabel <strong>de</strong>s Menenius Agrippa<br />
zugrun<strong>de</strong> liegt. Es brachte <strong>de</strong>r Wissenschaft von <strong>de</strong>r Gesellschaft wenig<br />
Gewinn, daß man diese Analogie im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt unter <strong>de</strong>m frischen<br />
Eindruck <strong>de</strong>r großen Erfolge <strong>de</strong>r Biologie in umfangreichen Werken bis<br />
zur Lächerlichkeit ausführte. Was für einen Wert sollte es für unsere<br />
Erkenntnis haben, wenn man z. B. das, was die vereinigten Menschen beo<strong>de</strong>r<br />
verarbeitet haben, soziale Interzellularsubstanz benannte, 2 o<strong>de</strong>r wenn<br />
man darüber stritt,<br />
1 Vgl. Cohen, Logik <strong>de</strong>r reinen Erkenntnis, 2. Aufl., Berlin 1914, S. 359.<br />
2 Wie dies Li1ienfeld (La pathologie sociale, Paris 1896, S. 95) macht. Wenn eine<br />
Regierung beim Hause Rothschild eine Anleihe aufnimmt, so stellt sich <strong>de</strong>r Vorgang in <strong>de</strong>r<br />
Auffassung <strong>de</strong>r organischen Soziologie folgen<strong>de</strong>rmaßen dar: „La maison Rothschild agit,<br />
dans cette occasion, parfaitement en analogie avec l‘action d‘un groupe <strong>de</strong> cellules qui,<br />
dans le corps humain, coopèrent à la production du sang nécessaire à l’alimentation du
274<br />
welches Organ <strong>de</strong>s sozialen Körpers <strong>de</strong>m Zentralnervensystem entspreche?<br />
Das zutreffendste Urteil über diese Art, Soziologie zu treiben,<br />
hat jener Nationalökonom gefällt, <strong>de</strong>r meinte, wer das Geld mit <strong>de</strong>m Blute<br />
und <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>m Kreislauf <strong>de</strong>s Blutes vergleicht,<br />
habe für die Nationalökonomie dasselbe geleistet, was einer, <strong>de</strong>r das Blut<br />
mit <strong>de</strong>m Geld und <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s Blutes mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s<br />
vergleichen wollte, für die Biologie leisten wür<strong>de</strong>. Die mo<strong>de</strong>rne Biologie<br />
hat <strong>de</strong>r Sozialwissenschaft einige ihrer wichtigsten Begriffe, so <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeitsteilung und <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Kampfes ums Dasein<br />
entlehnt. Aber sie ist nicht bei metaphorischen Re<strong>de</strong>nsarten und<br />
Analogieschlüssen stehen geblieben, ist vielmehr zu fruchtbarer Verwertung<br />
<strong>de</strong>s übernommenen Gutes vorgeschritten, während die biologische<br />
Soziologie mit <strong>de</strong>n nachher rückentlehnten Begriffen ein nutzloses Spiel<br />
mit Worten trieb. Noch weniger hat für die Erkenntnis <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Zusammenhänge die romantische Richtung mit ihrer „organischen“<br />
Staatsauffassung geleistet. In<strong>de</strong>m sie mit Absicht darauf ausging, das<br />
wichtigste Ergebnis, das die Sozialwissenschaft bis dahin zutage geför<strong>de</strong>rt<br />
hatte, das System <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie, achtlos beiseite zu<br />
schieben, verstand sie es nicht, jenen Teil dieses Systems, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Ausgangspunkt aller Soziologie bil<strong>de</strong>n muß wie er <strong>de</strong>n Ausgangspunkt<br />
<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Biologie bil<strong>de</strong>t, die Lehre von <strong>de</strong>r Arbeitsteilung, für die<br />
Fortentwicklung <strong>de</strong>r Wissenschaft nutzbar zu machen. 1<br />
Das eine hätte <strong>de</strong>r Vergleich mit <strong>de</strong>m biologischen Organismus die<br />
Soziologie lehren müssen, daß <strong>de</strong>r Organismus nur als System von<br />
Organen <strong>de</strong>nkbar ist. Das aber besagt nichts an<strong>de</strong>res, als daß die<br />
Arbeitsteilung das Wesen <strong>de</strong>s Organismus ausmacht. Die Arbeitsteilung<br />
erst bewirkt, daß aus Teilen Glie<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n, in<br />
cerveau dans l’espoir d’en être in<strong>de</strong>mnisées par une réaction <strong>de</strong>s cellules <strong>de</strong> la substance<br />
grise dont ils ont besoin pour s’activer <strong>de</strong> nouveau et accumuler <strong>de</strong> nouvelles énergies“<br />
(ebendort S. 104). Das ist die Metho<strong>de</strong>, die von sich behauptet, sie stehe „auf festem<br />
Bo<strong>de</strong>n“ und erforsche „das Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Erscheinungen Schritt vor Schritt vom einfacheren<br />
zum mannigfaltigeren vorgehend“. (Vgl. Lilienfeld, Zur Verteidigung <strong>de</strong>r organischen<br />
Metho<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Soziologie, Berlin 1898, S. 75.)<br />
1 Es ist charakteristisch, daß gera<strong>de</strong> die Romantiker <strong>de</strong>n organischen Charakter <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft bis zum Überdruß hervorheben, wogegen die liberale Sozialphilosophie dies<br />
niemals tat. Sehr begreiflich. Eine Gesellschaftstheorie, die in Wahrheit organisch war,<br />
mußte diese Eigenschaft ihres Systems nicht erst aufdringlich betonen.
275<br />
<strong>de</strong>ren Zusammenwirken wir die Einheit <strong>de</strong>s Systems, <strong>de</strong>n Organismus,<br />
erkennen. 1 Dies gilt sowohl vom Leben <strong>de</strong>r Pflanzen und Tiere als auch<br />
von <strong>de</strong>r Gesellschaft. Soweit das Prinzip <strong>de</strong>r Arbeitsteilung reicht, kann<br />
man <strong>de</strong>n sozialen Körper mit <strong>de</strong>m biologischen vergleichen. Die<br />
Arbeitsteilung ist das tertium comparationis <strong>de</strong>s alten Gleichnisses.<br />
Die Arbeitsteilung ist ein Grundprinzip alles Lebens. 2 Es ist zuerst für<br />
das Gebiet <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens als Arbeitsteilung in <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Wirtschaft von <strong>de</strong>n Nationalökonomen aufgezeigt wor<strong>de</strong>n<br />
und wur<strong>de</strong> später - zuerst von Milne-Edwards 1827 - von <strong>de</strong>r Biologie<br />
übernommen. Doch daß wir in <strong>de</strong>r Arbeitsteilung ein allgemeines Gesetz<br />
zu erblicken vermögen, darf uns nicht hin<strong>de</strong>rn, die großen grundsätzlichen<br />
Verschie<strong>de</strong>nheiten zu erfassen, die zwischen <strong>de</strong>r Arbeitsteilung in <strong>de</strong>m<br />
tierischen und pflanzlichen Organismus einerseits und <strong>de</strong>r im<br />
Zusammenleben <strong>de</strong>r Menschen an<strong>de</strong>rerseits bestehen. Wie auch immer<br />
wir uns das Wer<strong>de</strong>n, Fortschreiten und <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r physiologischen<br />
Arbeitsteilung <strong>de</strong>nken wollen, es ist klar, daß wir damit noch nichts für<br />
die Erkenntnis <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r soziologischen Arbeitsteilung gewonnen<br />
haben. Der Prozeß, <strong>de</strong>r die homogenen Zellen differenziert und integriert,<br />
ist von <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r aus autarken Individuen die menschliche Gesellschaft hat<br />
erwachsen lassen, durchaus verschie<strong>de</strong>n. Bei diesem wirken Vernunft und<br />
Willen <strong>de</strong>r sich in einer höheren Einheit zu Glie<strong>de</strong>rn eines Ganzen<br />
zusammenschließen<strong>de</strong>n Einheiten mit, Kräfte, <strong>de</strong>ren Eingreifen wir uns<br />
bei jenem nicht zu <strong>de</strong>nken vermögen. Auch dort, wo Tiere sich wie die<br />
Ameisen o<strong>de</strong>r Bienen zu „Tierstaaten“ zusammenschließen, vollziehen<br />
und vollzogen sich alle Bewegungen und Verän<strong>de</strong>rungen instinkt- und<br />
triebartig. Instinkt und Trieb mögen wohl auch am Ausgangspunkt und in<br />
<strong>de</strong>r frühesten Geschichte <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Bildung stehen. Als<br />
<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>s und wollen<strong>de</strong>s Wesen tritt <strong>de</strong>r Mensch schon als Glied einer<br />
gesellschaftlichen Bindung auf, weil <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Mensch als verlorenes<br />
Einzelwesen gar nicht vorstellbar ist. „Der Mensch wird nur unter<br />
Menschen ein Mensch.“ (Fichte.) Die Entwicklung <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Vernunft und die <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft sind ein und <strong>de</strong>rselbe<br />
Prozeß. Alle Weiterbildung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Beziehung ist durchaus<br />
Willenstatsache.<br />
1 Vgl. Cohen, a. a. O., S. 349.<br />
2 Vgl. Hertwig, Allgemeine Biologie, 4. Aufl., Jena 1912, S. 500 ff.; <strong>de</strong>rselbe, Zur<br />
Abwehr <strong>de</strong>s ethischen, <strong>de</strong>s sozialen und <strong>de</strong>s politischen Darwinismus, Jena 1918, S. 69 ff.
276<br />
Gesellschaft wird gedacht und gewollt. Sie ist nicht außer im Denken und<br />
Wollen. Ihr Sein liegt im Menschen drin, nicht in <strong>de</strong>r Außenwelt; es wird<br />
von Innen nach Außen projiziert.<br />
Gesellschaft ist Mithan<strong>de</strong>ln, ist Gemeinschaft im Han<strong>de</strong>ln.<br />
Die Gesellschaft ist ein Organismus, be<strong>de</strong>utet: Gesellschaft ist<br />
Arbeitsteilung. 1 Man hat an alle menschliche Zielsetzung und an die<br />
Wege, auf <strong>de</strong>nen diese Ziele zu erreichen sind, zu <strong>de</strong>nken, wenn man<br />
diesem Begriff voll gerecht wer<strong>de</strong>n will. Dann fällt je<strong>de</strong>s<br />
Sichaufeinan<strong>de</strong>rbeziehen <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r und wollen<strong>de</strong>r Menschen unter ihn.<br />
Der mo<strong>de</strong>rne Mensch ist nicht nur in <strong>de</strong>m Sinne Gesellschaftsmensch, daß<br />
er in bezug auf die Güterversorgung nicht als isoliertes Wesen gedacht<br />
wer<strong>de</strong>n kann, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>m, daß die Entwicklung, die seine<br />
Vernunft und sein Empfindungsvermögen vollzogen haben, nur in <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft möglich war. Der Mensch ist als isoliertes Wesen nicht zu<br />
<strong>de</strong>nken, weil Menschtum nur als Gesellschaftserscheinung besteht und<br />
weil sich die Menschheit über die Tierheit nur in <strong>de</strong>m Maße hinaushob, in<br />
<strong>de</strong>m sich die gesellschaftliche Bindung <strong>de</strong>r Einzelwesen durch<br />
Kooperation ausgestaltet hat. Der Weg vom Menschentier zum Menschen<br />
ist nur durch <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Zusammenschluß und in ihm<br />
zurückgelegt wor<strong>de</strong>n. Der Mensch erhebt sich so weit über das Tier, als er<br />
vergesellschaftet ist. In diesem Sinne mag das Wort <strong>de</strong>s Aristoteles, daß<br />
<strong>de</strong>r Mensch das ζώον πολιτιχόν ist, verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
§ 2. Wir sind noch weit entfernt davon, das letzte und tiefste<br />
Geheimnis <strong>de</strong>s Lebens, das Prinzip <strong>de</strong>r Entstehung von Organismen, zu<br />
begreifen. Wer weiß, ob wir überhaupt jemals dazu gelangen wer<strong>de</strong>n?<br />
Was wir heute allein einzusehen vermögen ist, daß die Bildung von<br />
Organismen aus Individuen ein Neues hervorbringt, das früher nicht<br />
gewesen ist. Die pflanzlichen und tierischen Organismen sind nicht<br />
Summen von Einzelzellen, sie sind mehr als das, und nicht an<strong>de</strong>rs ist das<br />
Verhältnis <strong>de</strong>r Gesellschaft zu <strong>de</strong>n Individuen. Noch haben wir die ganze<br />
Be<strong>de</strong>utung dieser Tatsache nicht begriffen. Unser Denken ist in <strong>de</strong>r<br />
mechanischen Vorstellung <strong>de</strong>r Erhaltung <strong>de</strong>r Kraft und <strong>de</strong>r Materie<br />
befangen, die uns nie zu erklären vermag, wie aus eins zwei wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Wie<strong>de</strong>r wird die Erkenntnis <strong>de</strong>r sozialen Gestaltung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r biologischen<br />
vorausgehen müssen, wenn wir unsere Einsicht vom Wesen <strong>de</strong>s Lebens<br />
wer<strong>de</strong>n erweitern wollen.<br />
1 Vgl. Izoulet, La cité mo<strong>de</strong>rne, Paris 1894, S. 85 ff.
277<br />
Geschichtlich stehen am Ausgangspunkt <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Arbeitsteilung zwei natürliche Tatsachen: Die individuelle Ungleichheit<br />
<strong>de</strong>r menschlichen Anlagen und die Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r äußeren<br />
Lebensbedingungen auf <strong>de</strong>r Erdoberfläche. Diese bei<strong>de</strong>n Tatsachen sind<br />
in Wahrheit eins: die Mannigfaltigkeit <strong>de</strong>r Natur, die sich nicht wie<strong>de</strong>rholt<br />
und das Weltall mit seinem unendlichen, sich nie erschöpfen<strong>de</strong>n Reichtum<br />
an Spielarten hervorbringt. (Und diese natürliche Tatsache selbst, die wir<br />
in <strong>de</strong>r soziologischen Betrachtung als Gegebenheit hinzunehmen haben,<br />
ist das Ergebnis eines in <strong>de</strong>r Natur vorgegangenen Prozesses <strong>de</strong>r<br />
Differenzierung und Integrierung, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Erklärung durch dasselbe<br />
Prinzip harrt, das zur Erklärung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung dienen<br />
soll.) Allein die Beson<strong>de</strong>rheit unserer Untersuchung, die auf soziologische<br />
Erkenntnis hinarbeitet, rechtfertigt, daß wir eine Zerlegung dieses<br />
einheitlichen natürlichen Tatbestan<strong>de</strong>s in zwei vornehmen.<br />
Es ist ohne weiteres zu erkennen, wie diese bei<strong>de</strong>n Tatsachen das<br />
menschliche Verhalten beeinflussen müssen, sobald es zur bewußten Tat,<br />
zu klarem Wollen und zu folgerichtigem Han<strong>de</strong>ln, wird. Sie drängen <strong>de</strong>n<br />
Menschen die Arbeitsteilung gera<strong>de</strong>zu auf. 1 Alt und Jung, Männer und<br />
Weiber, verbin<strong>de</strong>n sich im Han<strong>de</strong>ln, in<strong>de</strong>m sie die Verschie<strong>de</strong>nheit ihrer<br />
Kräfte entsprechend verwerten. Darin liegt auch schon <strong>de</strong>r Keim örtlicher<br />
Arbeitsteilung, wenn <strong>de</strong>r Mann auf die Jagd geht und die Frau zur Quelle,<br />
um Wasser zu holen. Wären die Anlagen und Kräfte aller Individuen und<br />
die äußeren Produktionsbedingungen allenthalben gleich gewesen, <strong>de</strong>r<br />
Gedanke <strong>de</strong>r Arbeitsteilung hätte nie entstehen können. Der Mensch wäre<br />
1 Durkheim (De la division du travail social, Paris 1893, S. 294 ff .) bemüht sich (im<br />
Anschluß an Comte und gegen Spencer) zu beweisen, daß die Arbeitsteilung sich nicht,<br />
wie die Nationalökonomen meinen, <strong>de</strong>shalb durchsetzt, weil sie die Arbeit ergiebiger<br />
macht. Die Arbeitsteilung sei ein Ergebnis <strong>de</strong>s Kampfes um das Dasein. Je dichter die<br />
soziale Masse wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>sto schärfer wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kampf ums Dasein. Dadurch wür<strong>de</strong>n die<br />
Individuen gezwungen, sich in <strong>de</strong>r Arbeit zu spezialisieren, da sie an<strong>de</strong>rs nicht die<br />
Möglichkeit hätten, sich zu erhalten Doch Durkheim übersieht dabei, daß die<br />
Arbeitsteilung diese Möglichkeit <strong>de</strong>n Individuen nur dadurch gewährt, daß sie die Arbeit<br />
ergiebiger macht. Durkheim gelangt zur Ablehnung <strong>de</strong>r Theorie von <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
größeren Ergiebigkeit <strong>de</strong>r Arbeitsteilung durch eine mißverständliche Auffassung <strong>de</strong>s<br />
Grundgedankens <strong>de</strong>s Utilitarismus und <strong>de</strong>s Gesetzes <strong>de</strong>r Bedürfnissättigung (vgl. a. a. 0.,<br />
8. 218 ff., 257 ff.). Seine Auffassung, daß die Zivilisation durch Verän<strong>de</strong>rungen im<br />
Volumen und in <strong>de</strong>r Dichtigkeit <strong>de</strong>r Gesellschaft hervorgerufen wird, ist nicht zu halten<br />
Die Bevölkerung wächst, weil die Arbeit ergiebiger wur<strong>de</strong> und mehr Menschen ernähren<br />
kann, und nicht umgekehrt.
278<br />
nie darauf gekommen, sich <strong>de</strong>n Kampf ums Dasein durch arbeitteilen<strong>de</strong><br />
Kooperation zu erleichtern. Aus ganz gleich veranlagten Menschen auf<br />
einer durchaus gleichförmig gestalteten Erdoberfläche wäre kein<br />
gesellschaftliches Leben entstan<strong>de</strong>n. 1 Die Menschen hätten sich vielleicht<br />
zur Bewältigung von Arbeit zusammengeschlossen, für die die Kräfte <strong>de</strong>s<br />
einzelnen nicht ausreichten. Doch <strong>de</strong>rartige Bun<strong>de</strong>sgenossenschaften sind<br />
noch keine Gesellschaft. Die flüchtigen Beziehungen, die sie schaffen,<br />
sind nicht von Bestand; sie dauern nicht länger als <strong>de</strong>r Anlaß, <strong>de</strong>r sie<br />
hervorgerufen hat. Für die Entstehung gesellschaftlichen Lebens haben sie<br />
nur insofern Be<strong>de</strong>utung, als sie eine Annäherung zwischen <strong>de</strong>n Menschen<br />
herbeiführen, die die wechselseitige Erkenntnis <strong>de</strong>r Verschie<strong>de</strong>nheiten <strong>de</strong>r<br />
natürlichen Veranlagung <strong>de</strong>r einzelnen und damit die Entstehung <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsteilung för<strong>de</strong>rt.<br />
Sobald aber einmal die Arbeitsteilung einsetzt, wirkt sie selbst weiter<br />
differenzierend auf die Fähigkeiten <strong>de</strong>r vergesellschafteten Menschen. Sie<br />
ermöglicht die Ausbildung <strong>de</strong>r individuellen Begabung und macht so die<br />
Arbeitsteilung immer ergiebiger. Durch das gesellschaftliche Zusammenwirken<br />
<strong>de</strong>r Menschen wer<strong>de</strong>n Werke vollbracht, die <strong>de</strong>r einzelne<br />
überhaupt nicht vollbringen könnte, und bei jenen Leistungen, die auch<br />
von einzelnen unternommen wer<strong>de</strong>n können, wird ein besseres Ergebnis<br />
erzielt. Doch mit dieser Feststellung ist die gesellschaftliche Be<strong>de</strong>utung<br />
<strong>de</strong>r Zusammenarbeit noch nicht vollkommen umschrieben. Diese erhellt<br />
erst aus <strong>de</strong>r Feststellung <strong>de</strong>r Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen die durch die<br />
Zusammenarbeit bewirkte Ertragssteigerung steht.<br />
Zu <strong>de</strong>n wichtigsten Leistungen <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie<br />
gehört die Lehre von <strong>de</strong>r internationalen Arbeitsteilung. Sie zeigt uns,<br />
daß, solange aus nichtwirtschaftlichen Grün<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rungen von Kapital<br />
und Arbeit von Land zu Land unterbun<strong>de</strong>n sind, für die örtliche<br />
Arbeitsteilung nicht die absolute Höhe <strong>de</strong>r Produktionskosten, son<strong>de</strong>rn die<br />
relative maßgebend ist. 2 Wen<strong>de</strong>t man das gleiche Prinzip auf die<br />
persönliche Arbeitsteilung an, dann ergibt sich ohne weiteres, daß für <strong>de</strong>n<br />
einzelnen nicht nur die Verbindung<br />
1 Über die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r örtlichen Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Produktionsbedingungen für<br />
die Entstehung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung vgl. von <strong>de</strong>n Steinen, Unter <strong>de</strong>n Naturvölkern<br />
Zentralbrasiliens, 2. Aufl., Berlin 1897, S. 196 ff.<br />
2 Vgl. Ricardo, Principles of Political Economy and Taxation (Works, a. a. O.) S. 76<br />
ff.; Mill, Principles of Political Economy, a. a. O., S. 348 f.; Bastable, The Theory of<br />
International Tra<strong>de</strong>, Third Ed., London 1900, S. 16 ff.
279<br />
mit solchen Personen von Vorteil ist, die ihm in <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Richtung überlegen sind, son<strong>de</strong>rn auch mit solchen, die ihm, in je<strong>de</strong>r in<br />
Betracht kommen<strong>de</strong>n Hinsicht nachstehen. Wenn A <strong>de</strong>m B in <strong>de</strong>r Weise<br />
überlegen ist, daß er zur Erzeugung einer Einheit <strong>de</strong>r Ware p drei Stun<strong>de</strong>n<br />
Arbeit benötigt gegen fünf, die B dazu braucht, und zur Erzeugung einer<br />
Einheit <strong>de</strong>r Ware q zwei Stun<strong>de</strong>n gegen vier, die B braucht, dann ist es für<br />
A vorteilhafter, seine Kraft auf die Erzeugung von q zu beschränken und<br />
die Erzeugung von p <strong>de</strong>m B zu überlassen. Wenn je<strong>de</strong>r von ihnen je 60<br />
Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Erzeugung von p und q widmet, dann ist das Ergebnis dieser<br />
Arbeit für A: 20 p + 30 q, für B: 12 p + 15 q, mithin für bei<strong>de</strong> zusammen:<br />
32 p + 45 p. Beschränkt sich jedoch A auf die Erzeugung von q allein,<br />
dann erzeugt er in 120 Stun<strong>de</strong>n 60 Einheiten, während B, wenn er sich auf<br />
die Erzeugung von p beschränkt, in <strong>de</strong>r gleichen Zeit 24 Einheiten<br />
erzeugt. Das Ergebnis ihrer Tätigkeit ist dann: 24 p + 60 q, was, da p für<br />
A einen Substitutionswert von 3/2 q und für B einen solchen von 5/4 q<br />
hat, einen höheren Ertrag be<strong>de</strong>utet als 32 p + 45 q. Es erhellt mithin<br />
<strong>de</strong>utlich, daß je<strong>de</strong> Erweiterung <strong>de</strong>r persönlichen Arbeitsgemeinschaft für<br />
alle, die sich ihr anschließen, von Vorteil ist. Nicht nur <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich mit<br />
Begabteren, Fähigeren, Fleißigeren zusammenschließt, zieht aus <strong>de</strong>r<br />
Verbindung Gewinn. Auch <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich mit Wenigerbegabten, Unfähigeren,<br />
Fauleren vereinigt, hat davon Vorteil. Der Nutzen <strong>de</strong>r Arbeitsteilung<br />
ist stets ein wechselseitiger, nicht nur dann, wenn durch sie Werke<br />
geschaffen wer<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r isoliert arbeiten<strong>de</strong>, Einzelmensch nie hervorbringen<br />
könnte.<br />
Die höhere Produktivität <strong>de</strong>r arbeitsteilig verrichteten Arbeit ist es, die<br />
die Menschen dazu bringt, einan<strong>de</strong>r nicht mehr als Konkurrenten im<br />
Kampfe ums Dasein anzusehen, son<strong>de</strong>rn als Genossen zur gemeinschaftlichen<br />
För<strong>de</strong>rung ihrer Wohlfahrt. Sie macht aus Fein<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>, aus<br />
Krieg Frie<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>n Individuen die Gesellschaft. 1<br />
§ 3. Organismus und Organisation sind so verschie<strong>de</strong>n wie Leben von<br />
einer Maschine, wie eine natürliche Blume von einer<br />
1 „Der Han<strong>de</strong>l macht das Menschengeschlecht, das zunächst nur die Einheit <strong>de</strong>r Art<br />
hat, zu einer wirklich einheitlichen Gesellschaft.“ (Vgl. Steinthal, Allgemeine Ethik, Berlin<br />
1885, S. 208.) Der Han<strong>de</strong>l aber ist nichts an<strong>de</strong>res als ein technisches Hilfsmittel <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsteilung. - Über die Stellung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung in <strong>de</strong>r Soziologie <strong>de</strong>s Thomas von<br />
Aquin vgl. Schreiber, Die volkswirtschaftlichen Anschauungen <strong>de</strong>r Scholastik seit Thomas<br />
von Aquin, Jena 1913, S. 19 ff.
280<br />
künstlichen. In <strong>de</strong>r natürlichen Pflanze führt je<strong>de</strong> Zelle ihr eigenes Dasein<br />
für sich und in Wechselwirkung mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren. Dieses Selbstsein und<br />
Sichselbsterhalten ist es, was wir leben nennen. In <strong>de</strong>r künstlichen Pflanze<br />
fügen sich die einzelnen Teile zu einem Ganzen nur soweit zusammen, als<br />
<strong>de</strong>r Wille ihres Schöpfers, <strong>de</strong>r sie verbun<strong>de</strong>n hat, wirksam ist. Nur soweit<br />
als dieser Wille wirksam es will, beziehen sich in <strong>de</strong>r Organisation die<br />
Teile aufeinan<strong>de</strong>r. Je<strong>de</strong>r nimmt nur <strong>de</strong>n Platz ein, <strong>de</strong>r ihm zugewiesen ist,<br />
und verläßt ihn gewissermaßen nur auf Befehl. Insofern die Teile leben, d.<br />
h. für sich sind, können sie es im Rahmen <strong>de</strong>r Organisation nur soweit tun,<br />
als ihr Schöpfer sie lebend in seine Schöpfung eingesetzt hat, nicht einen<br />
Schritt darüber hinaus. Das Pferd, das <strong>de</strong>r Fahrer vor <strong>de</strong>n Wagen gespannt<br />
hat, lebt als Pferd. In <strong>de</strong>r Organisation Gespann steht es <strong>de</strong>m Fahrzeug<br />
gera<strong>de</strong> so fremd gegenüber wie <strong>de</strong>r mechanische Motor <strong>de</strong>m von ihm<br />
gezogenen Wagen. Die Teile können ihr Leben auch gegen die<br />
Organisation führen, wenn z. B. das Pferd mit <strong>de</strong>m Wagen durchgeht,<br />
o<strong>de</strong>r wenn das Ge<strong>web</strong>e, aus <strong>de</strong>m die künstliche Blume erzeugt ist, unter<br />
<strong>de</strong>m Einflusse chemischer Prozesse zerfällt. Nicht an<strong>de</strong>rs ist es in <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Organisation. Auch sie ist eine Willenstatsache wie die<br />
Gesellschaft. Doch <strong>de</strong>r Wille, <strong>de</strong>r sie schafft, bringt damit ebensowenig<br />
einen leben<strong>de</strong>n Gesellschaftsorganismus hervor wie die Blumenmacherin<br />
eine leben<strong>de</strong> Rose. Die Organisation hält nur so lange, als <strong>de</strong>r sie<br />
schaffen<strong>de</strong> Wille sie zusammenzuhalten vermag. Die Teile, aus <strong>de</strong>nen die<br />
Organisation zusammengesetzt ist, gehen in die Organisation nur insoweit<br />
ein, als dieser Wille ihrer Schöpfer wirksam wird, soweit es gelingt, ihr<br />
Leben in die Organisation einzufangen. In <strong>de</strong>m exerzieren<strong>de</strong>n Bataillon<br />
gibt es nur einen Willen, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Führers; alles an<strong>de</strong>re ist, soweit es in <strong>de</strong>r<br />
Organisation „Bataillon“ wirkt, tote Maschine. In diesem Ertöten <strong>de</strong>s<br />
Willens, soweit er nicht <strong>de</strong>n Zwecken <strong>de</strong>s Truppenkörpers dient, liegt das<br />
Wesen <strong>de</strong>s militärischen Drills. Der Soldat <strong>de</strong>r Lineartaktik, in <strong>de</strong>r die<br />
Truppe nichts als Organisation sein soll, wird „abgerichtet“. Leben gibt es<br />
im Truppenkörper nicht; das Leben, das <strong>de</strong>r einzelne lebt, lebt er neben<br />
und außer ihm, vielleicht gegen ihn, aber niemals in ihm. Die mo<strong>de</strong>rne<br />
Kriegführung, die auf <strong>de</strong>r Selbsttätigkeit <strong>de</strong>s Plänklers beruht, mußte es<br />
unternehmen, das Leben <strong>de</strong>s einzelnen Soldaten, sein Denken und seinen<br />
Willen in ihren Dienst zu stellen. Sie sucht <strong>de</strong>n Soldaten nicht mehr bloß<br />
abzurichten, son<strong>de</strong>rn auszubil<strong>de</strong>n.
281<br />
Die Organisation ist ein herrschaftlicher Verband, <strong>de</strong>r Organismus ein<br />
genossenschaftlicher. Der primitive Denker sieht überall das, was von<br />
außen organisiert wur<strong>de</strong>, niemals das Selbstgewor<strong>de</strong>ne, das organische. Er<br />
sieht <strong>de</strong>n Pfeil, <strong>de</strong>n er geschnitzt hat, er weiß, wie <strong>de</strong>r Pfeil gewor<strong>de</strong>n und<br />
wie er in Bewegung kam, und nun fragt er bei allem, was er sieht, wer es<br />
gemacht hat und wer es bewegt. Er fragt bei allem Leben nach seinem<br />
Schöpfer, bei je<strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Natur nach ihrem Urheber und<br />
fin<strong>de</strong>t eine animistische Erklärung. So entstehen die Götter. Er sieht die<br />
organisierte Gemein<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r ein o<strong>de</strong>r mehrere Herrscher <strong>de</strong>n<br />
Beherrschten gegenüberstehen, und danach sucht er auch das Leben als<br />
Organisation zu verstehen, nicht als Organismus. Daher die alte<br />
Vorstellung, die im Kopfe <strong>de</strong>n Beherrscher <strong>de</strong>s Körpers zu fin<strong>de</strong>n glaubt<br />
und ihn als Haupt mit <strong>de</strong>mselben Ausdruck bezeichnet wie <strong>de</strong>n Obersten<br />
<strong>de</strong>r Organisation.<br />
Die Überwindung <strong>de</strong>r Organisationsvorstellung, die Erkenntnis <strong>de</strong>s<br />
Wesens <strong>de</strong>s Organismus, ist die größte Tat, die die Wissenschaft geleistet<br />
hat. Sie ist für das Gebiet <strong>de</strong>r Sozialwissenschaft - das kann man bei aller<br />
Anerkennung, die älteren Denkern gebührt, sagen - im wesentlichen vom<br />
18. Jahrhun<strong>de</strong>rt vollbracht wor<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>n Hauptteil hatten daran die<br />
klassische Nationalökonomie und ihre unmittelbaren Vorläufer. Die<br />
Biologie ist ihr nachgefolgt. Sie läßt alle animistischen und vitalistischen<br />
Vorstellungen fallen. Für die mo<strong>de</strong>rne Biologie ist auch <strong>de</strong>r Kopf nicht<br />
mehr das Haupt, kein Regent <strong>de</strong>s Körpers mehr. Es gibt im leben<strong>de</strong>n<br />
Körper keinen Führer und keine Geführten, keinen Gegensatz von Haupt<br />
und Glie<strong>de</strong>rn, von Seele und Körper. Es gibt nur noch Glie<strong>de</strong>r, Organe.<br />
Es ist ein Wahn, die Gesellschaft organisieren zu wollen, nicht an<strong>de</strong>rs<br />
als ob jemand eine leben<strong>de</strong> Pflanze zerstückeln wollte, um aus <strong>de</strong>n toten<br />
Teilen eine neue zu machen. Eine Organisation <strong>de</strong>r Menschheit wäre nur<br />
<strong>de</strong>nkbar, wenn man zuerst <strong>de</strong>n leben<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Organismus<br />
erschlagen hat. Die kollektivistischen Bestrebungen sind schon aus<br />
diesem Grun<strong>de</strong> ganz aussichtslos. Es kann gelingen, eine alle Menschen<br />
umfassen<strong>de</strong> Organisation zu schaffen. Aber das wäre immer nur eine<br />
Organisation, neben <strong>de</strong>r das gesellschaftliche Leben weiterginge, die von<br />
<strong>de</strong>n gesellschaftliehen Kräften verän<strong>de</strong>rt und gesprengt wer<strong>de</strong>n könnte<br />
und sicherlich gesprengt wer<strong>de</strong>n müßte, sobald sie <strong>de</strong>n Versuch machen<br />
wollte, sich gegen sie aufzulehnen. Will man <strong>de</strong>n Kollektivismus zur<br />
Tatsache machen, dann müßte man alles gesellschaftliche Leben
282<br />
zuerst ertöten und dann <strong>de</strong>n kollektiven Staat aufbauen. Die Bolschewiken<br />
<strong>de</strong>nken ganz folgerichtig, wenn sie zuerst alle überkommen gesellschaftlichen<br />
Bindungen auflösen und <strong>de</strong>n in ungezählten Jahrtausen<strong>de</strong>n<br />
aufgerichteten Gesellschaftsbau nie<strong>de</strong>rreißen wollen, um auf <strong>de</strong>n<br />
Trümmern einen Neubau aufzuführen. Sie übersehen nur, daß sich die<br />
isolierten Individuen, zwischen <strong>de</strong>nen keinerlei gesellschaftlichen Beziehungen<br />
mehr bestehen, auch nicht mehr organisieren ließen.<br />
Organisationen sind nur soweit möglich, als sie sich nicht gegen das<br />
Organische kehren und es nicht verletzen. Alle Versuche, <strong>de</strong>n lebendigen<br />
Willen <strong>de</strong>r Menschen in ein Werk einzuspannen, <strong>de</strong>m er nicht dienen will,<br />
müssen scheitern. Je<strong>de</strong> Organisation kann nur soweit ge<strong>de</strong>ihen, als sie sich<br />
auf <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r Organisierten aufbaut und ihren Zwecken dient.<br />
§ 4. Gesellschaft ist nicht bloße Wechselwirkung. Wechselwirkung<br />
fin<strong>de</strong>t auch zwischen Tieren statt, z. B. wenn <strong>de</strong>r Wolf das Lamm auffrißt,<br />
o<strong>de</strong>r wenn Wolf und Wölfin sich paaren. Dennoch sprechen wir nicht von<br />
Tiergesellschaft o<strong>de</strong>r von Wölfegesellschaft. Wolf und Lamm, Wolf und<br />
Wölfin sind zwar Glie<strong>de</strong>r eines Organismus, nämlich <strong>de</strong>sjenigen <strong>de</strong>r<br />
Natur. Diesem Organismus fehlt aber das spezifische Charakteristikum<br />
<strong>de</strong>s gesellschaftlichen Organismus: er ist nicht Willenstatsache. Darum ist<br />
auch die Beziehung zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern nicht schon an und für<br />
sich gesellschaftliche Beziehung. In<strong>de</strong>m Mann und Weib zusammenkommen,<br />
folgen sie <strong>de</strong>m Gesetz, das ihnen in <strong>de</strong>r Natur die Stellung<br />
zuweist. Soweit stehen sie unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s Triebes. Gesellschaft<br />
ist erst dort vorhan<strong>de</strong>n, wo ein Wollen zum Mitwollen, ein Han<strong>de</strong>ln zum<br />
Mithan<strong>de</strong>ln wird. In Gemeinschaft Zielen zuzustreben, die man allein<br />
überhaupt nicht o<strong>de</strong>r je<strong>de</strong>nfalls nicht in gleich wirksamer Weise erreichen<br />
könnte, kooperieren, das ist Gesellschaft. 1<br />
Darum ist Gesellschaft nicht Zweck, son<strong>de</strong>rn Mittel, Mittel je<strong>de</strong>s<br />
einzelnen Genossen zur Erreichung seiner eigenen Ziele. Daß Gesellschaft<br />
überhaupt möglich ist, ist nur darauf zurückzuführen, daß <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s<br />
einen und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren sich in gemeinsamem Streben fin<strong>de</strong>n, so daß<br />
aus <strong>de</strong>r Willensgemeinschaft die Arbeitsgemeinschaft entspringt. Weil ich<br />
das, was ich will, nur erreichen kann, wenn mein Genosse das erreicht,<br />
was er will, wird mir sein<br />
1 Daher ist auch die Auffassung Guyaus, die das Gesellschaftliche unmittelbar aus <strong>de</strong>r<br />
Zweigeschlechtigkeit ableitet, abzulehnen. Vgl. Guyau, Sittlichkeit ohne Pflicht, übers. v.<br />
Schwarz, Leipzig 1909, S. 113 f.
283<br />
Wollen und Han<strong>de</strong>ln zum Mittel, mein eigenes Ziel zu erreichen. Weil<br />
notwendigerweise mein Wollen auch sein Wollen mit einschließt, kann es<br />
gar nicht meine Absicht sein, seinen Willen zu brechen. Das ist die<br />
Grundtatsache, auf <strong>de</strong>r sich alles gesellschaftliche Leben aufbaut. 1<br />
Das Prinzip <strong>de</strong>r Arbeitsteilung enthüllt das Wesen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Wer<strong>de</strong>ns. Wie gewaltig <strong>de</strong>r Fortschritt war, <strong>de</strong>n die<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>s Gesellschaftlichen mit <strong>de</strong>r Erfassung <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsteilung gemacht hatte, zeigt am besten ein Blick auf die<br />
Gesellschaftstheorie Kants. Als Kant schrieb, war die Lehre von <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsteilung, soweit sie auch schon durch die Nationalökonomie <strong>de</strong>s 18.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n war, noch lange nicht ausgebaut; es fehlte<br />
ihr vor allem noch jene Vertiefung, die sie durch die Ricardosche<br />
Außenhan<strong>de</strong>lstheorie erhalten hat. Doch in <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r Harmonie<br />
<strong>de</strong>r Interessen war ihre weittragen<strong>de</strong> Anwendung auf die<br />
Gesellschaftstheorie schon vorweggenommen<br />
1 Fouillée wen<strong>de</strong>t gegen die utilitaristische Gesellschaftstheorie, die die Gesellschaft<br />
als „moyen universel“ (Belot) bezeichnet, folgen<strong>de</strong>s ein: „Tout moyen n’a qu’une valeur<br />
provisoire; le jour où un instrument dont je me servais me <strong>de</strong>vient inutile on nuisible, je le<br />
mets <strong>de</strong> côté. Si la sociêté n’est qu’un moyen, le jour où, exceptionnellement, elle se<br />
trouvera contraire à mes fins, je me dé1ivrerai <strong>de</strong>s lois sociales et moyens sociaux. . . .<br />
Aucune considération sociale ne pourra empêcher la révolte <strong>de</strong> l’individu tant qu’on ne lui<br />
aura pas montré que la société est établie pour <strong>de</strong>s fins qui sont d’abord et avant tout ses<br />
vraies fins à lui-même et qui, <strong>de</strong> plus, ne sont pas simplement <strong>de</strong>s fins <strong>de</strong> plaisir ou<br />
d’intérêt, l’intérêt n’êtant que le plaisir differé attendu pour l’avenir. . . . L’idée d’intérêt<br />
est précisément ce qui divise les hommes, malgré les rapprochements qu’elle peut produire<br />
lorsqu’il y a convergence d’intérêts sur certains points.“ (Vgl. Fouillée, Humanitaires et<br />
libertaires au point <strong>de</strong> vue sociologique et moral, Paris 1914, S. 116 ff.; vgl. auch Guyau,<br />
Die englische Ethik <strong>de</strong>r Gegenwart, übersetzt von Peusner, Leipzig 1914, S. 372 ff.)<br />
Fouillée sieht nicht, daß <strong>de</strong>r vorläufige Wert, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft als Mittel beigelegt wird,<br />
solange anhält, als die naturgegebenen Bedingungen menschlichen Lebens unverän<strong>de</strong>rt<br />
fortbestehen und die Erkenntnis <strong>de</strong>r Vorteile menschlichen Zusammenwirkens nicht<br />
geschwun<strong>de</strong>n ist. Der „ewige“, nicht nur provisorische Bestand <strong>de</strong>r Gesellschaft folgt aus<br />
<strong>de</strong>r Ewigkeit <strong>de</strong>r Bedingungen, auf <strong>de</strong>nen sie aufgebaut ist. Daß eine Gesellschaftstheorie<br />
<strong>de</strong>n Dienst leisten müsse, das Individuum von einer Auflehnung gegen die Gesellschaft<br />
abzuhalten, mag eine Anfor<strong>de</strong>rung sein, die Machthaber an sie stellen; eine wissenschaftliche<br />
For<strong>de</strong>rung ist es keineswegs. Keine Gesellschaftstheorie könnte übrigens das asoziale<br />
Individuum eher zur freiwilligen Einglie<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Verband<br />
bewegen als gera<strong>de</strong> die utilitaristische. Wenn sich aber ein Individuum als Feind <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft zeigt, dann hat die Gesellschaft kein an<strong>de</strong>res Mittel als die<br />
Unschädlichmachung.
284<br />
wor<strong>de</strong>n. Kant ist von diesen I<strong>de</strong>en nicht berührt wor<strong>de</strong>n. Darum vermag er<br />
das gesellschaftliche Sein nicht an<strong>de</strong>rs zu erklären als durch die Annahme<br />
eines Hanges <strong>de</strong>r Menschen in Gesellschaft zu treten, <strong>de</strong>m aber wie<strong>de</strong>r ein<br />
zweiter Hang, <strong>de</strong>r auf die Trennung <strong>de</strong>r Gesellschaft hinarbeitet,<br />
entgegenwirkt. Des Antagonismus dieser bei<strong>de</strong>n Neigungen bediene sich<br />
die Natur, um die Menschheit <strong>de</strong>m Ziele zuzuführen, das sie ihr gesetzt<br />
hat. 1 Man kann sich kaum etwas Ärmlicheres <strong>de</strong>nken als diesen Versuch,<br />
die Gesellschaft aus <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rspiel zweier Neigungen, <strong>de</strong>r Neigung<br />
„sich zu vergesellschaften“ und <strong>de</strong>r Neigung „sich zu vereinzelnen“ zu<br />
erklären. Sie geht nicht tiefer als die Erklärung <strong>de</strong>r Wirkung <strong>de</strong>s Opiums<br />
aus <strong>de</strong>r virtus dormitiva, cuius est natura sensus assupire.<br />
Hat man einmal in <strong>de</strong>r Arbeitsteilung das Wesen <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
gefun<strong>de</strong>n, dann bleibt kein Raum mehr für die Antithese Individuum o<strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft, Individual- o<strong>de</strong>r Sozialprinzip.<br />
§ 5. Soweit die Vergesellschaftung sich jenseits <strong>de</strong>s Erwachens<br />
menschlichen Denkens und Wollens unter <strong>de</strong>r Herrschaft von Instinkt und<br />
Trieb abspielt, kann sie nicht Gegenstand <strong>de</strong>r soziologischen Betrachtung<br />
sein. Das be<strong>de</strong>utet aber keineswegs, daß die Soziologie die Erklärung <strong>de</strong>s<br />
Wer<strong>de</strong>ns <strong>de</strong>r Gesellschaft auf eine an<strong>de</strong>re Wissenschaft abzuwälzen und<br />
die gesellschaftliche Verflechtung <strong>de</strong>r Menschen als eine gegebene<br />
Tatsache hinzunehmen hat. Denn wenn wir - was aus <strong>de</strong>r Gleichsetzung<br />
von Gesellschaft und Arbeitsteilung unmittelbar folgt - zur Auffassung<br />
gelangen, daß die Gesellschaftsbildung mit <strong>de</strong>m Auftreten <strong>de</strong>s <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n<br />
und wollen<strong>de</strong>n Menschen nicht abgeschlossen ist, sich vielmehr in <strong>de</strong>r<br />
Geschichte fortsetzt, müssen wir nach einem Prinzip suchen, das uns diese<br />
Entwicklung verständlich macht. Dieses Prinzip gibt uns die ökonomische<br />
Theorie <strong>de</strong>r Arbeitsteilung. Man hat es dahin formuliert, daß man gesagt<br />
hat: <strong>de</strong>r glückliche Zufall, <strong>de</strong>r die Entstehung <strong>de</strong>r Kultur ermöglicht hat,<br />
ist die Tatsache, das geteilte Arbeit produktiver ist als nicht arbeitsteilig<br />
verrichtete. Die Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung vollzieht sich unter <strong>de</strong>m<br />
Drucke <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß je<strong>de</strong>r ihrer Fortschritte die Produktivität <strong>de</strong>r<br />
Arbeit steigert. Sie ist in diesem Sinne in Wahrheit wirtschaftlicher<br />
Fortschritt, da sie die Wirtschaft ihrem Ziele, möglichst reichlicher<br />
Bedürfnisbefriedigung, näher bringt. Dieser Fortschritt ist auch zugleich<br />
gesellschaftlicher Fortschritt<br />
1 Vgl. Kant, I<strong>de</strong>e zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht<br />
(Sämtliche Werke, a. a. O., I. Bd.) S. 227 f.
285<br />
in <strong>de</strong>m Sinne, als mit ihm die Vergesellschaftung weiterschreitet.<br />
Nur in diesem Sinn und frei von je<strong>de</strong>r teleologischen o<strong>de</strong>r ethischen<br />
Wertung läßt sich <strong>de</strong>r Ausdruck Fortschritt soziologisch in <strong>de</strong>r<br />
Geschichtsbetrachtung anwen<strong>de</strong>n. Wir glauben in <strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse eine bestimmte Richtung beobachten zu<br />
können, und wir fragen nun, in<strong>de</strong>m wir je<strong>de</strong> einzelne Verän<strong>de</strong>rung<br />
geson<strong>de</strong>rt vornehmen, ob und wie weit sich diese Annahme mit ihr<br />
verträgt. Es mag sein, daß wir verschie<strong>de</strong>ne Annahmen dieser Art machen<br />
können, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> in gleicher -Weise <strong>de</strong>r Erfahrung entspricht. Dann<br />
wür<strong>de</strong> das Problem <strong>de</strong>r Verknüpfung dieser Annahmen auftauchen, ob sie<br />
voneinan<strong>de</strong>r unabhängig sind o<strong>de</strong>r ob sie innerlich zusammenhängen; in<br />
diesem Falle wäre dann wie<strong>de</strong>r zu prüfen, von welcher Art dieser<br />
Zusammenhang ist. Immer aber kann es sich dabei nur um eine wertfreie,<br />
an einer Hypothese gemessene Betrachtung <strong>de</strong>s Ablaufes <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen<br />
han<strong>de</strong>ln.<br />
Sieht man von jenen Entwicklungstheorien, die in naiver Weise auf<br />
Werturteilen aufgebaut sind, ganz ab, dann sind es vor allem zwei<br />
Mängel, die die Mehrzahl <strong>de</strong>r zur Deutung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Entwicklung aufgestellten Theorien als unbefriedigend erscheinen lassen.<br />
Der erste Mangel ist <strong>de</strong>r, daß ihr Entwicklungsprinzip nicht an die<br />
Gesellschaft als solche anknüpft. Bei Comte’s Gesetz <strong>de</strong>r drei Stadien <strong>de</strong>s<br />
menschlichen Geistes o<strong>de</strong>r bei Lamprecht’s fünf Stadien <strong>de</strong>s<br />
sozialpsychischen Verlaufs fragt man vergebens nach <strong>de</strong>m inneren und<br />
notwendigen Zusammenhang <strong>de</strong>r geistigen und seelischen Entwicklung<br />
mit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen. Es wird uns gezeigt, wie sich die Gesellschaft<br />
verhält, wenn sie in ein neues Stadium eingetreten ist. Was wir aber<br />
suchen, ist mehr, ist ein Gesetz, das zeigt, wie Gesellschaft entsteht und<br />
sich wan<strong>de</strong>lt. Die Verän<strong>de</strong>rungen, die wir als Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft sehen, wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Stadientheorien als von außen auf die<br />
Gesellschaft einwirken<strong>de</strong> Tatsachen behan<strong>de</strong>lt; wir aber wollen sie als<br />
Auswirkungen einer beständigen Regel begreifen. Der zweite Mangel ist<br />
<strong>de</strong>r, daß alle diese Theorien Stufentheorien sind. Für die Stufentheorie<br />
gibt es in Wahrheit keine Entwicklung, d. h. keine kontinuierliche<br />
Verän<strong>de</strong>rung, in <strong>de</strong>r wir eine bestimmte Richtung zu erkennen glauben.<br />
Ihre Aussage enthält nur die Feststellung einer bestimmten<br />
Aufeinan<strong>de</strong>rfolge von Ereignissen, nicht <strong>de</strong>n Nachweis <strong>de</strong>r kausalen<br />
Verknüpfung dieser Ereignisse untereinan<strong>de</strong>r. Sie gelangt
286<br />
bestenfalls dazu, Parallelismen <strong>de</strong>r Stufenfolge bei <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />
Völkern festzustellen. Wenn wir das menschliche Leben in Kindheit,<br />
Jugendzeit, Mannesalter und Greisenalter glie<strong>de</strong>rn, ist dies etwas an<strong>de</strong>res<br />
als wenn wir das Gesetz aufzeigen, unter <strong>de</strong>ssen Walten Wachstum und<br />
Verfall <strong>de</strong>s Organismus stehen. Je<strong>de</strong>r Stufentheorie haftet notwendigerweise<br />
etwas Willkürliches an. Die Abgrenzung <strong>de</strong>r Stufen ist immer<br />
schwankend.<br />
Die neuere <strong>de</strong>utsche Nationalökonomie hat zweifellos das Richtige<br />
getroffen, wenn sie die Arbeitsteilung zur Grundlage ihrer Entwicklungstheorie<br />
macht. Sie hat sich aber dabei nicht von <strong>de</strong>m alt überkommenen<br />
Schema <strong>de</strong>r stufenweisen Glie<strong>de</strong>rung freizumachen gewußt. Ihre Theorie<br />
ist noch immer Stufentheorie. So unterschei<strong>de</strong>t Bücher die Stufe <strong>de</strong>r<br />
geschlossenen Hauswirtschaft (reine Eigenproduktion, tauschlose<br />
Wirtschaft), die Stufe <strong>de</strong>r Stadtwirtschaft (Kun<strong>de</strong>nproduktion o<strong>de</strong>r Stufe<br />
<strong>de</strong>s direkten Austausches) und die Stufe <strong>de</strong>r Volkswirtschaft<br />
(Warenproduktion, Stufe <strong>de</strong>s Güterumlaufes). 1 Schmoller schei<strong>de</strong>t die<br />
Perio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Dorfwirtschaft, Stadtwirtschaft, Territorialwirtschaft und<br />
Staatswirtschaft. 2 Philippovich unterschei<strong>de</strong>t geschlossene Hauswirtschaft<br />
und Verkehrswirtschaft, innerhalb <strong>de</strong>r Verkehrswirtschaft wie<strong>de</strong>r die<br />
Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>s lokal gebun<strong>de</strong>nen Verkehrs, die <strong>de</strong>s staatlich gebun<strong>de</strong>n<br />
Verkehrs und die <strong>de</strong>s freien Verkehrs (entwickelte Volkswirtschaft,<br />
Kapitalismus. 3 Gegen diese Versuche, die Entwicklung in ein Schema<br />
einzuzwängen, sind schwere Be<strong>de</strong>nken geltend gemacht wor<strong>de</strong>n. Es mag<br />
dahingestellt bleiben, welchen Wert solche Einteilungen für die<br />
Charakteristik bestimmter Geschichtsepochen haben und inwieweit sie als<br />
Hilfsmittel <strong>de</strong>r Darstellung zulässig sind. Je<strong>de</strong>nfalls müssen sie mit großer<br />
Vorsicht verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Wie leicht man bei solchem Klassifizieren<br />
Gefahr läuft, über scholastischer Wortklauberei <strong>de</strong>n Blick für die geschichtliche<br />
Wirklichkeit zu verlieren, zeigt <strong>de</strong>r unfruchtbare Streit um<br />
<strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r Wirtschaft <strong>de</strong>r alten Völker. Für die soziologische<br />
Betrachtung sind die Stufentheorien unbrauchbar. Sie führen uns gera<strong>de</strong> in<br />
einem <strong>de</strong>r wichtigsten Probleme <strong>de</strong>r Geschichte in die Irre, nämlich bei<br />
Entscheidung <strong>de</strong>r Frage, inwiefern eine Kontinuität <strong>de</strong>r geschichtlichen<br />
Entwicklung festzustellen ist.<br />
1 Vgl. Bücher, Die Entstehung <strong>de</strong>r Volkswirtschaft, Erste Sammlung, 10. Aufl.,<br />
Tübingen 1917, S. 91.<br />
2 Vgl. Schmoller, Grundriß <strong>de</strong>r allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 13. u. 14. Tausend,<br />
München 1920, II. Bd., S. 760 ff.<br />
3 Vgl. Philippovich, Grundriß <strong>de</strong>r politischen Ökonomie, I. Bd., II. Aufl., Tübingen<br />
1916, S. 11 ff.
287<br />
Man pflegt diese Frage entwe<strong>de</strong>r dahin zu beantworten, daß man ohne<br />
weiteres annimmt, die gesellschaftliche Entwicklung, als welche wir die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung ins Auge zu fassen haben, habe sich in<br />
einer ununterbrochenen Linie bewegt, o<strong>de</strong>r in<strong>de</strong>m man sich auf <strong>de</strong>n<br />
Standpunkt stellt, daß je<strong>de</strong>s Volk immer wie<strong>de</strong>r von neuem die<br />
Stufenfolge <strong>de</strong>s Fortschrittes durchmessen habe. Bei<strong>de</strong> Annahmen sind<br />
unzutreffend. Die Entwicklung kann nicht als eine ununterbrochene<br />
bezeichnet wer<strong>de</strong>n, da wir <strong>de</strong>utlich in <strong>de</strong>r Geschichte Verfallsperio<strong>de</strong>n -<br />
Perio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Rückbildung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung - zu beobachten vermögen.<br />
An<strong>de</strong>rerseits geht <strong>de</strong>r Fortschritt, <strong>de</strong>n einzelne Völker durch die<br />
Erreichung einer höheren Stufe <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung<br />
erlangt haben, nicht wie<strong>de</strong>r ganz verloren. Er greift auf an<strong>de</strong>re Völker<br />
über und beschleunigt <strong>de</strong>ren Entwicklung. So hat <strong>de</strong>r Untergang <strong>de</strong>r<br />
antiken Welt zweifellos die verkehrswirtschaftliche Entwicklung um<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte zurückgeschraubt. Doch die neuere geschichtliche<br />
Forschung hat gezeigt, daß die Fä<strong>de</strong>n, die die wirtschaftliche Kultur <strong>de</strong>s<br />
Altertums mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mittelalters verbin<strong>de</strong>n, viel dichter waren, als man<br />
früher anzunehmen geneigt war. Der wirtschaftliche Verkehr hat unter <strong>de</strong>n<br />
Stürmen <strong>de</strong>r Völkerwan<strong>de</strong>rung wohl schwer gelitten, doch er hat sie<br />
überlebt. Seine Träger, die Städte, sind in <strong>de</strong>r Völkerwan<strong>de</strong>rung nicht<br />
ganz zugrun<strong>de</strong> gegangen. An die Reste städtischen Lebens knüpfte die<br />
Neuentwicklung <strong>de</strong>s Austauschverkehrs an. 1 In <strong>de</strong>r Stadtkultur hat sich<br />
ein Stück <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Errungenschaften <strong>de</strong>r Antike in das<br />
mo<strong>de</strong>rne Leben herübergerettet.<br />
Die Fortschritte <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind durchaus<br />
abhängig von <strong>de</strong>m Stand <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>s Nutzens, d. i. <strong>de</strong>r höheren<br />
Produktivität, <strong>de</strong>r arbeitsteilig verrichteten Arbeit. Diese Erkenntnis wird<br />
<strong>de</strong>n Menschen zum ersten Male in <strong>de</strong>n freihändlerischen Lehren <strong>de</strong>r<br />
physiokratischen und <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie <strong>de</strong>s 18.<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts voll bewußt. Doch sie ist im Kern schon enthalten in allen<br />
frie<strong>de</strong>nsfreundlichen Gedankengängen, in je<strong>de</strong>m Lob <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns, in<br />
je<strong>de</strong>r Verurteilung <strong>de</strong>s Krieges. Die Geschichte ist <strong>de</strong>r Kampf <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Prinzipien, <strong>de</strong>s friedlichen, die Entwicklung <strong>de</strong>s Verkehrs för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n, und<br />
<strong>de</strong>s militärisch-imperialistischen, das menschliches Zusammenleben nicht<br />
in genossenschaftlicher Arbeitsteilung son<strong>de</strong>rn in gewaltsamem<br />
Nie<strong>de</strong>rhalten <strong>de</strong>r einen durch die an<strong>de</strong>ren sucht. Immer wie<strong>de</strong>r erlangt das<br />
imperialistische<br />
1<br />
Vgl. Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen <strong>de</strong>r europäischen<br />
Kulturentwicklung, Wien 1918, I. Bd., S. 91 ff.
288<br />
Prinzip die Oberhand. Das Liberale vermag sich ihm gegenüber nicht zu<br />
behaupten, solange die tief in <strong>de</strong>n Massen verankerte Neigung zur<br />
friedlichen Arbeit sich nicht zur vollen Erkenntnis ihrer eigenen<br />
Be<strong>de</strong>utung als Prinzip <strong>de</strong>r Gesellschaftsentwicklung durchgerungen hat.<br />
Soweit das imperialistische Prinzip gilt, ist Frie<strong>de</strong>n immer nur in zeitlich<br />
und örtlich beschränktem Umfange zu erreichen: er dauert nie länger, als<br />
die konkreten Tatsachen, die ihn geschaffen. Die geistige Atmosphäre, die<br />
<strong>de</strong>r Imperialismus um sich verbreitet, ist wenig geeignet, die Vergesellschaftung<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Reichsgrenzen zu beför<strong>de</strong>rn; ihr Hinübergreifen<br />
über die politisch-militärischen Schei<strong>de</strong>wän<strong>de</strong>, die die Staaten trennen,<br />
macht er nahezu unmöglich. Die Arbeitsteilung braucht Freiheit und<br />
Frie<strong>de</strong>n. Erst als das achtzehnte Jahrhun<strong>de</strong>rt in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen liberalen<br />
Weltanschauung eine Philosophie <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Zusammenarbeit geschaffen hatte, war die Grundlage für jene<br />
staunenswerte Entwicklung <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Kultur <strong>de</strong>s Zeitalters<br />
gelegt, das die jüngsten imperialistischen und sozialistischen Doktrinen<br />
als das Zeitalter <strong>de</strong>s krassen Materialismus, <strong>de</strong>s Egoismus und <strong>de</strong>s<br />
Kapitalismus zu brandmarken pflegen.<br />
Man kann diese Zusammenhänge nicht verkehrter darstellen, als es die<br />
materialistische Geschichtsauffassung macht, wenn sie die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftlichen I<strong>de</strong>ologie als abhängig von <strong>de</strong>r erreichten Stufe <strong>de</strong>r<br />
technischen Entwicklung darstellt. Nichts ist verfehlter als <strong>de</strong>r bekannte<br />
Ausspruch von Marx: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit<br />
Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen<br />
Kapitalisten“. 1 Das ist schon formal unzulänglich. Wenn man die<br />
geschichtliche Entwicklung durch die Entwicklung <strong>de</strong>r Technik zu<br />
erklären sucht, verschiebt man nur das Problem, ohne es irgendwie zu<br />
lösen. Denn die treiben<strong>de</strong>n Kräfte <strong>de</strong>r technischen Entwicklung bedürfen<br />
dann erst recht einer beson<strong>de</strong>ren Erklärung.<br />
Schon Ferguson hat gezeigt, daß die Ausgestaltung <strong>de</strong>r Technik von<br />
<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt, und daß je<strong>de</strong>s<br />
1 Vgl. Marx, Das Elend <strong>de</strong>r Philosophie, a. a. O., S. 91. In <strong>de</strong>n Formulierungen, die<br />
Marx seiner Geschichtsauffassung später gegeben hat, ist die Schroffheit, die in dieser<br />
frühesten Fassung zum Ausdrucke gelangt, vermie<strong>de</strong>n. Hinter unbestimmten Ausdrücken<br />
wie „Produktivkräfte“ und „Produktionsverhältnisse“ verbergen sich die kritischen<br />
Zweifel, die Marx mittlerweile aufgestiegen sein mochten. Doch eine unhaltbare Theorie<br />
wird dadurch, daß man sie in unklaren, mannigfache Deutung zulassen<strong>de</strong>n Wendungen<br />
vorträgt, nicht haltbar.
289<br />
Zeitalter in <strong>de</strong>r Technik soweit kommt, als ihm die erreichte Stufe <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Arbeitsteilung gestattet. 1 Technische Fortschritte sind<br />
nur möglich, wo durch die Arbeitsteilung die Voraussetzung ihrer<br />
Anwendung geschaffen wur<strong>de</strong>. Die mechanische Schuhfabrikation setzt<br />
eine Gesellschaft voraus, in <strong>de</strong>r die Erzeugung von Schuhen für<br />
Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Millionen Menschen in wenigen Betrieben<br />
vereinigt wer<strong>de</strong>n kann. Für die Dampfmühle gab es in einer Gesellschaft<br />
von autarkisch leben<strong>de</strong>n Bauern keine Verwendungsmöglichkeit. Erst die<br />
Arbeitsteilung kann <strong>de</strong>n Gedanken, motorische Kräfte in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r<br />
Müllerei zu stellen, entstehen lassen. 2<br />
Die Zurückführung alles Gesellschaftlichen auf die Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsteilung hat mit <strong>de</strong>m groben und naiven Materialismus <strong>de</strong>r<br />
technologischen und an<strong>de</strong>rsartigen materialistischen Geschichtskonstruktionen<br />
nichts gemein. Sie be<strong>de</strong>utet auch keineswegs, wie dies beson<strong>de</strong>rs<br />
die Epigonen <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alistischen Philosophie zu behaupten pflegen, eine<br />
unzulässige Verengung <strong>de</strong>s Begriffes <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Zusammenhänge.<br />
Es ist nicht richtig, daß sie <strong>de</strong>n Gesellschaftsbegriff auf das<br />
spezifisch Materielle beschränkt. Was vom gesellschaftlichen Leben<br />
jenseits <strong>de</strong>s Ökonomischen liegt, das sind die Endzwecke. Die Wege aber,<br />
die zu ihnen führen, stehen unter <strong>de</strong>m Gesetz alles rationalen Han<strong>de</strong>lns;<br />
soweit sie in Betracht kommen, wird gewirtschaftet.<br />
§ 6. Die vornehmste Wirkung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung ist die, daß sie aus<br />
<strong>de</strong>m unabhängigen Individuum <strong>de</strong>n abhängigen Gesellschaftsmenschen<br />
macht. Der soziale Mensch wird durch die Arbeitsteilung gera<strong>de</strong> so<br />
verän<strong>de</strong>rt wie die Zelle, die sich in einen Organismus einfügt. Er paßt sich<br />
<strong>de</strong>n neuen Lebensbedingungen an, er läßt manche Kräfte und Organe<br />
verkümmern und entfaltet an<strong>de</strong>re um so besser. Er wird einseitig. Das<br />
haben alle Romantiker, die unentwegten laudatores temporis acti, stets<br />
bedauert. Ihnen ist <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>r<br />
1 Vgl. Ferguson, Abhandlung über die Geschichte <strong>de</strong>r bürgerlichen Gesellschaft,<br />
übers. v. Dorn, Jena 1904, 8. 237 f.; ferner Barth, Die Philosophie <strong>de</strong>r Geschichte als<br />
Soziologie, 2. Aufl., Leipzig 1915, I. Teil, S. 578 ff<br />
2 Das einzige, das von <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n größten Ansprüchen auftreten<strong>de</strong>n materialistischen<br />
Geschichtsauffassung übrig bleibt, ist die Feststellung, daß alles menschliche und<br />
gesellschaftliche Han<strong>de</strong>ln von <strong>de</strong>n Tatsachen <strong>de</strong>r Sachgüterknappheit und <strong>de</strong>s Arbeitsleids<br />
entschei<strong>de</strong>nd beeinflußt wird. Doch gera<strong>de</strong> diese Abhängigkeit können die Marxisten am<br />
wenigsten zugeben, weil sie in allen ihren Äußerungen über die künftige sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung von diesen bei<strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r Wirtschaft absehen.
290<br />
Vergangenheit, <strong>de</strong>r seine Kräfte „harmonisch“ entfaltet, das I<strong>de</strong>al, <strong>de</strong>m<br />
unsere entartete Zeit lei<strong>de</strong>r nicht mehr entspricht. Sie empfehlen darum<br />
Rückbildung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung. Daher ihr Lob <strong>de</strong>r landwirtschaftlichen<br />
Tätigkeit, wobei sie immer nur an <strong>de</strong>n annähernd autarken Bauer <strong>de</strong>nken. 1<br />
Wie überall, wo die völlige Unfähigkeit, das Wesen <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
zu begreifen, und antisoziale Vorschläge in Frage kommen, gehen auch<br />
hier die mo<strong>de</strong>rnen Sozialisten am weitesten. In <strong>de</strong>r höheren Phase <strong>de</strong>r<br />
kommunistischen Gesellschaft wird, so verspricht Marx, „die knechten<strong>de</strong><br />
Unterordnung <strong>de</strong>r Individuen unter die Teilung <strong>de</strong>r Arbeit, damit auch <strong>de</strong>r<br />
Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwun<strong>de</strong>n“ sein. 2 Es wird<br />
<strong>de</strong>m menschlichen „Abwechslungsbedürfnis“ Rechnung getragen wer<strong>de</strong>n.<br />
„Abwechslung von geistiger und körperlicher Arbeit“ wird „die<br />
harmonische Ausbildung <strong>de</strong>s Menschen“ gewährleisten. 3<br />
Was zur Beurteilung dieser Illusionen zu sagen ist, wur<strong>de</strong> bereits an<br />
einer früheren Stelle ausgeführt. 4 Wäre es möglich, mit jenem Maß an<br />
Arbeit, das selbst noch keine Unlust erweckt und nur die aus <strong>de</strong>m<br />
Nichtstun erwachsen<strong>de</strong>n Unlustgefühle überwin<strong>de</strong>t, zur Erreichung aller<br />
menschlichen Zwecke das Auslangen zu fin<strong>de</strong>n,<br />
1 Adam Müller meint über „die lasterhafte Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Teilung <strong>de</strong>r Arbeit in allen<br />
Zweigen <strong>de</strong>r Privatindustrie und auch in <strong>de</strong>m Regierungsgeschäfte“, daß <strong>de</strong>r Mensch „ein<br />
allseitiges, ich möchte sagen kugelrun<strong>de</strong>s Gebiet seines Wirkens“ braucht. Wenn „die<br />
Teilung <strong>de</strong>r Arbeit in großen Städten o<strong>de</strong>r Manufakturen o<strong>de</strong>r Bergwerksprovinzen <strong>de</strong>n<br />
Menschen, <strong>de</strong>n vollständigen freien Menschen, in Rä<strong>de</strong>r, Trillinge, Walzen, Speichen,<br />
Wellen usw. zerschnei<strong>de</strong>t, ihm eine völlig einseitige Sphäre in <strong>de</strong>r schon einseitigen<br />
Sphäre <strong>de</strong>r Versorgung eines einzelnen Bedürfnisses aufdringt, wie kann man begehren,<br />
daß dies Fragment übereinstimmen solle mit <strong>de</strong>m ganzen vollständigen Leben und mit<br />
seinem Gesetze - o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Rechte; wie sollen die Rhomben, Dreiecke und Figuren<br />
aller Art, die man aus <strong>de</strong>r Kugel herausgeschnitten, abgeson<strong>de</strong>rt für sich übereinstimmen<br />
mit <strong>de</strong>r großen Kugel <strong>de</strong>s politischen Lebens und ihrem Gesetze?“ (Vgl. Adam Müller,<br />
Ausgewählte Abhandlungen, herg. v. Baxa, Jena 1921, S. 46 f.)<br />
2 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>s sozial<strong>de</strong>mokratischen Programms, a. a. O., S. 17. - Was für<br />
unrichtige Vorstellungen Marx von <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>r Arbeit in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Industrie hatte,<br />
zeigen unzählige Stellen seiner Schriften. So glaubte er auch, daß „die Teilung <strong>de</strong>r Arbeit<br />
in <strong>de</strong>r mechanischen Fabrik“ dadurch gekennzeichnet sei, „daß sie je<strong>de</strong>n Spezialcharakter<br />
verloren hat. . . . Die automatische Fabrik beseitigt <strong>de</strong>n Spezialisten und <strong>de</strong>n<br />
Fachidiotismus.“ Und er ta<strong>de</strong>lt Proudhon, „<strong>de</strong>r nicht einmal diese eine revolutionäre Seite<br />
<strong>de</strong>r automatischen Fabrik begriffen hat“. (Vgl. Marx, Das Elend <strong>de</strong>r Philosophie, a. a. O.,<br />
S. 129.)<br />
3 Vgl. Bebel, Die Frau und <strong>de</strong>r Sozialismus, a. a. O., S. 283 f.<br />
4 Vgl. oben S. 154 ff.
291<br />
dann wäre die Arbeit überhaupt nicht Gegenstand <strong>de</strong>r Bewirtschaftung.<br />
Der Mensch wür<strong>de</strong> seine Zwecke „spielend“ erreichen. Diese<br />
Voraussetzung trifft aber nicht zu. Auch <strong>de</strong>r autarke Arbeiter muß in <strong>de</strong>n<br />
meisten Arbeiten, die er zu vollbringen hat, über jene Grenzen hinaus,<br />
innerhalb welcher die Arbeit noch Lustgefühle auslöst, arbeiten. Man mag<br />
annehmen, daß die Arbeit bei ihm weniger Unlustgefühle erweckt als bei<br />
jenem Arbeiter, <strong>de</strong>r auf eine bestimmte Tätigkeit beschränkt ist, da er am<br />
Anfang einer je<strong>de</strong>n neuen Arbeit, die er in Angriff nimmt, von neuem<br />
Lustgefühle in <strong>de</strong>r Betätigung selbst fin<strong>de</strong>t. Wenn die Menschen trotz<strong>de</strong>m<br />
zur Arbeitsteilung übergegangen sind und sie immer mehr entwickelt<br />
haben, so lag <strong>de</strong>r Grund hierfür in <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß die höhere<br />
Ergiebigkeit <strong>de</strong>r geteilten Arbeit jenen Ausfall an Lustgefühl übersteigt.<br />
Man kann die Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung nicht zurückschrauben,<br />
ohne die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit herabzusetzen. Das gilt für alle Arten<br />
<strong>de</strong>r Arbeit. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte ohne Vermin<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Ergiebigkeit <strong>de</strong>r Arbeit zur Rückbildung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung<br />
schreiten.<br />
Die Abhilfe für die Schä<strong>de</strong>n, die die einseitige Arbeit <strong>de</strong>m Individuum<br />
an Leib und Seele zufügt, kann man, wenn man nicht die gesellschaftliche<br />
Entwicklung zurückschrauben will, nicht dadurch anstreben, daß man die<br />
Arbeitsteilung aufhebt, son<strong>de</strong>rn nur dadurch, daß <strong>de</strong>r einzelne sich selbst<br />
zu einem vollen Menschen zu entwickeln sucht. Nicht durch Reformen<br />
<strong>de</strong>r Arbeit, durch Reformen <strong>de</strong>s Konsums muß sie angestrebt wer<strong>de</strong>n.<br />
Spiel und Sport, Kunstgenuß und Lektüre weisen <strong>de</strong>n Weg, auf <strong>de</strong>m man<br />
dieses Ziel zu erreichen vermag.<br />
Den harmonisch ausgebil<strong>de</strong>ten Menschen dürfen wir nicht am<br />
Ausgangspunkt <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Entwicklung suchen. Der annähernd<br />
autarke Wirt, <strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Bauern entlegener Seitentäler vor<br />
Augen haben, zeigt durchaus nicht jene edle harmonische Ausbildung <strong>de</strong>s<br />
Körpers, <strong>de</strong>s Geistes und <strong>de</strong>s Gemütes, die die Romantiker ihm<br />
zuzuschreiben pflegen. Die geistige Kultur ist ein Erzeugnis <strong>de</strong>r<br />
Mußestun<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>s ruhigen Behagens, die nur die Arbeitsteilung<br />
vermitteln kann. Nichts ist irriger, als wenn man annimmt, <strong>de</strong>r Einzelmensch<br />
sei in die Geschichte als selbständige Individualität getreten und<br />
habe erst im Laufe <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung, die zur Bildung <strong>de</strong>r<br />
großen Gemeinschaft führt, mit seiner äußeren auch seine innere<br />
Unabhängigkeit verloren. Alle geschichtliche Erfahrung und die<br />
Beobachtung
292<br />
<strong>de</strong>s Lebens <strong>de</strong>r Naturvölker wi<strong>de</strong>rsprechen <strong>de</strong>m ganz und gar. Dem<br />
Urmenschen fehlt alle Individualität in unserem Sinne. Zwei Südseeinsulaner<br />
gleichen sich viel mehr als zwei Londoner <strong>de</strong>s zwanzigsten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts. Persönlichkeit ist nicht von Uranfang her <strong>de</strong>n Menschen<br />
zuteil gewor<strong>de</strong>n. Sie ist durch die Entwicklung <strong>de</strong>r Gesellschaft erarbeitet<br />
wor<strong>de</strong>n. 1<br />
§ 7. Die gesellschaftliche Entwicklung ist als Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsteilung Willenserscheinung; sie ist durchaus vom Willen <strong>de</strong>r<br />
Menschen abhängig. Ohne das Problem zu berühren, ob man berechtigt<br />
ist, je<strong>de</strong>n Fortschritt <strong>de</strong>r Arbeitsteilung, somit <strong>de</strong>r Vergesellschaftung, als<br />
Aufstieg zu höherer Stufe zu werten, müssen wir uns nun fragen, ob <strong>de</strong>r<br />
Weg <strong>de</strong>r Vergesellschaftung nicht in <strong>de</strong>m Sinn ein notwendiger ist, daß er<br />
von <strong>de</strong>n Menschen auch begangen wer<strong>de</strong>n muß. Ist immer weiter<br />
fortschreiten<strong>de</strong> Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>r Geschichte? Ist<br />
Stillstand o<strong>de</strong>r Rückbildung <strong>de</strong>r Gesellschaft möglich?<br />
Wenn wir auch von vornherein die Annahme eines in <strong>de</strong>r<br />
„Naturabsicht“, in einem „verborgenen Plan“ <strong>de</strong>r Natur, gelegenen Zieles<br />
<strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung, wie es Kant vorsch<strong>web</strong>te und wie es<br />
auch Hegel und Marx vor Augen hatten, ablehnen müssen, so können wir<br />
doch nicht umhin zu prüfen, ob nicht ein Prinzip aufgezeigt wer<strong>de</strong>n<br />
könnte, das uns die Notwendigkeit einer fortschreiten<strong>de</strong>n Vergesellschaftung<br />
zu erweisen vermöchte. Da bietet sich zunächst das Prinzip <strong>de</strong>r<br />
natürlichen Auslese dar. Höher entwickelte Gesellschaften erreichen einen<br />
höheren Grad von materiellem Reichtum als weniger entwickelte, sie<br />
haben daher mehr Aussicht, ihre Glie<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m Verkommen im Elend<br />
zu bewahren. Sie sind aber auch besser gerüstet, um feindliche Angriffe<br />
abzuweisen. Die Beobachtung, daß reichere und kultiviertere Völker<br />
häufig militärisch von weniger wohlhaben<strong>de</strong>n und weniger kultivierten<br />
nie<strong>de</strong>rgeworfen wur<strong>de</strong>n, darf nicht irre machen. Völker, die einen hohen<br />
Grad <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung erreicht hatten, haben sich stets<br />
auch gegen eine Übermacht weniger entwickelter Völker zumin<strong>de</strong>st zu<br />
wehren gewußt. Nur im Abstieg befindliche Völker, innerlich zersetzte<br />
Kulturen, wur<strong>de</strong>n die Beute aufstreben<strong>de</strong>r Völker. Wo eine höher<br />
organisierte Gesellschaft <strong>de</strong>m kriegerischen Ansturm einer weniger<br />
entwickelten erlegen ist, da sind die Sieger schließlich kulturell in <strong>de</strong>n<br />
Besiegten aufgegangen, haben ihre<br />
1 Vgl. Durkheim, a. a. O., S. 452 ff.
293<br />
Wirtschafts- und Sozialverfassung, ja auch ihre Sprache und ihren<br />
Glauben angenommen.<br />
Die Überlegenheit <strong>de</strong>r höher entwickelten Gesellschaften über die<br />
weniger entwickelten beruht nicht nur auf ihrer größeren materiellen<br />
Wohlfahrt, son<strong>de</strong>rn auch darauf, daß sie diese schon quantitativ durch die<br />
Zahl ihrer Mitglie<strong>de</strong>r und qualitativ durch die größere Festigkeit ihres<br />
inneren Aufbaues überragen. Denn die gesellschaftliche Höherentwicklung<br />
besteht ja gera<strong>de</strong> darin, daß <strong>de</strong>r gesellschaftliche Kreis erweitert<br />
wird, daß die Arbeitsteilung mehr Menschen und je<strong>de</strong>n einzelnen stärker<br />
erfaßt. Die höher entwickelte Gesellschaft unterschei<strong>de</strong>t sich von <strong>de</strong>r<br />
weniger entwickelten durch <strong>de</strong>n festeren Zusammenschluß ihrer<br />
Mitglie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r die gewaltsame Austragung von Konflikten innerhalb <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft ausschließt und nach außen hin gegen einen Feind, <strong>de</strong>r die<br />
Existenz <strong>de</strong>r Gesellschaft bedroht, eine geschlossene Abwehrfront<br />
herstellt. In <strong>de</strong>n schwächer organisierten Gesellschaften, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftliche Zusammenschluß noch schwach ist und zwischen <strong>de</strong>n<br />
einzelnen Teilen mehr Bun<strong>de</strong>sgenossenschaft für <strong>de</strong>n Krieg als wahre, d.<br />
h. auf Arbeitsgemeinschaft beruhen<strong>de</strong> gesellschaftliche Solidarität besteht,<br />
bricht viel leichter und schneller Uneinigkeit aus als in höher<br />
entwickelten. Denn die militärische Bun<strong>de</strong>sgenossenschaft knüpft um die<br />
Genossen kein festes, dauerhaftes Band. Sie ist ihrer Natur nach nur eine<br />
vorübergehen<strong>de</strong> Bindung, sie wird nur durch die Aussicht auf<br />
augenblicklichen Vorteil zusammengehalten und fällt auseinan<strong>de</strong>r, wenn<br />
<strong>de</strong>r Gegner besiegt ist und <strong>de</strong>r Streit um die Verteilung <strong>de</strong>r Beute beginnt.<br />
Im Kampfe mit niedriger organisierten Gesellschaften ist <strong>de</strong>n höher<br />
entwickelten immer die Uneinigkeit innerhalb jener die mächtigste Hilfe<br />
gewesen. Nur vorübergehend ist es niedriger organisierten Völkern<br />
gelungen, sich zu größeren militärischen Unternehmungen aufzuraffen.<br />
Innere Uneinigkeit hat ihre Heere immer wie<strong>de</strong>r rasch auseinan<strong>de</strong>rgehen<br />
lassen. Man <strong>de</strong>nke etwa an die Kriegszüge <strong>de</strong>r Mongolen gegen die<br />
mitteleuropäische Kultur im 13. Jahrhun<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r an die Bemühungen <strong>de</strong>r<br />
Türken, nach <strong>de</strong>m Westen vorzudringen. Die Überlegenheit <strong>de</strong>s<br />
industriellen Gesellschaftstypus über <strong>de</strong>n militärischen, um die<br />
Ausdrucksweise Herbert Spencer’s zu gebrauchen, beruht nicht in letzter<br />
Linie darauf, daß bloß militärische Verbän<strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r durch die<br />
innere Uneinigkeit auseinan<strong>de</strong>rfallen. 1<br />
1 Die <strong>de</strong>m romantisch-militaristischen I<strong>de</strong>enkreis angehören<strong>de</strong> Vorstellung von <strong>de</strong>r<br />
militärischen Überlegenheit <strong>de</strong>r im Kapitalismus weniger vorgeschrittenen Völker, die<br />
durch die Erfahrungen <strong>de</strong>s Weltkrieges neuerlich gründlich wi<strong>de</strong>rlegt wur<strong>de</strong>, entspringt <strong>de</strong>r<br />
Auffassung, daß im Kampf nur die physische Kraft <strong>de</strong>s Mannes entschei<strong>de</strong>t. Dies trifft
294<br />
Die gesellschaftliche Fortbildung wird aber noch durch einen an<strong>de</strong>ren<br />
Umstand geför<strong>de</strong>rt. Wie schon gezeigt wur<strong>de</strong>, ist die Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Kreises ein Interesse aller Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft. Es<br />
ist für einen hochentwickelten Gesellschaftsorganismus keine gleichgültige<br />
Sache, ob neben ihm außerhalb seines Kreises Völker in Selbstgenügsamkeit<br />
auf einer niedrigeren Stufe ,<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung<br />
verharren. Er hat auch dann ein Interesse, sie in <strong>de</strong>n Kreis seiner<br />
Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft einzubeziehen, wenn er von ihrem<br />
Verharren auf niedrigerer Stufe we<strong>de</strong>r politisch-militärisch bedroht ist<br />
noch auch von <strong>de</strong>r Einbeziehung ihres Wohngebietes, das etwa nur<br />
ungünstigere natürliche Produktionsbedingungen bietet, irgendwelche<br />
unmittelbare Vorteile zu erwarten hat. Es wur<strong>de</strong> schon gezeigt, daß die<br />
Erweiterung <strong>de</strong>s persönlichen Kreises <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r arbeitsteiligen<br />
Gesellschaft Teilnehmen<strong>de</strong>n immer einen Vorteil be<strong>de</strong>utet, so daß auch<br />
das tüchtigere Volk ein Interesse an <strong>de</strong>r Kooperation mit <strong>de</strong>m weniger<br />
tüchtigen hat. Das ist es, was die auf höherer gesellschaftlicher Stufe<br />
stehen<strong>de</strong>n Völker beständig dazu treibt, <strong>de</strong>n Wirtschaftskreis durch<br />
Einbeziehung bisher unzugänglicher Gebiete zu erweitern. Die<br />
Erschließung <strong>de</strong>r rückständigen Gebiete <strong>de</strong>s nahen und fernen Ostens,<br />
Afrikas und Amerikas hat eine Weltwirtschaftsgemeinschaft angebahnt,<br />
die uns kurz vor <strong>de</strong>m Ausbruch <strong>de</strong>s Weltkrieges <strong>de</strong>r Verwirklichung <strong>de</strong>s<br />
Traumes einer ökumenischen Gesellschaft in die Nähe gerückt hatte. Hat<br />
<strong>de</strong>r Weltkrieg diese Entwicklung nur für kurze Zeit unterbrochen, o<strong>de</strong>r hat<br />
er sie ganz vernichtet? Ist es <strong>de</strong>nkbar, daß diese Entwicklung überhaupt<br />
zum Stillstand kommt, daß sich die Gesellschaft gar rückbil<strong>de</strong>t?<br />
aber nicht einmal für die Kämpfe <strong>de</strong>s homerischen Zeitalters ganz zu. Im Kampf<br />
entschei<strong>de</strong>t nicht die physische Kraft, son<strong>de</strong>rn geistige Kräfte, von <strong>de</strong>nen die Taktik und<br />
die Art <strong>de</strong>r Bewaffnung abhängen. Das Um und Auf <strong>de</strong>r Kriegskunst ist, an <strong>de</strong>r<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Stelle eine Überzahl zur Hand zu haben, auch wenn man sonst an Zahl<br />
schwächer sein mag als <strong>de</strong>r Gegner; das Um und Auf <strong>de</strong>r Kriegsvorbereitung ist, möglichst<br />
starke Heere aufzustellen und sie mit allem Kriegsgerät auf das Beste zu versorgen. Das<br />
muß nur <strong>de</strong>shalb erst beson<strong>de</strong>rs hervorgehoben wer<strong>de</strong>n, weil man neuerdings bestrebt ist,<br />
diese Zusammenhänge zu verdunkeln, in<strong>de</strong>m man militärische und wirtschaftspolitische<br />
Ursachen von Sieg und Nie<strong>de</strong>rlage im Kriege zu unterschei<strong>de</strong>n trachtet. Es war immer so<br />
und wird stets so bleiben, daß in <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Fälle Sieg und Nie<strong>de</strong>rlage durch die<br />
gesellschaftliche Gesamtlage <strong>de</strong>r Gegner schon entschie<strong>de</strong>n sind, ehe die Truppen im<br />
Kampfe zusammenstoßen.
295<br />
Man kann dieses Problem nicht behan<strong>de</strong>ln, wenn man nicht zugleich<br />
auf ein an<strong>de</strong>res eingeht, nämlich auf das <strong>de</strong>s Völkerto<strong>de</strong>s. Es ist alte<br />
Überlieferung, vom Altern und Sterben <strong>de</strong>r Völker, von jungen Völkern<br />
und alten Völkern zu sprechen. Wie je<strong>de</strong>s Gleichnis, so hinkt auch dieses,<br />
und wir tun besser, bei <strong>de</strong>r Untersuchung jener Erscheinungen, die es<br />
kennzeichnen soll, auf metaphorische Re<strong>de</strong>nsarten zu verzichten. Was ist<br />
<strong>de</strong>r Kern <strong>de</strong>s Problems, das sich hier bietet?<br />
Es ist zunächst klar, daß wir es nicht mit einem an<strong>de</strong>ren, nicht min<strong>de</strong>r<br />
schwierigen Problem, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r nationalen Wandlungen, verquicken<br />
dürfen. Die Deutschen haben vor tausend o<strong>de</strong>r vor fünfzehnhun<strong>de</strong>rt Jahren<br />
eine an<strong>de</strong>re Sprache gesprochen als heute; doch wir wür<strong>de</strong>n uns hüten,<br />
darum zu sagen, daß die hoch<strong>de</strong>utsche Kultur „gestorben“ sei. Wir<br />
erblicken vielmehr in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Kultur eine ununterbrochene Kette<br />
<strong>de</strong>r Entwicklung, die, von nicht mehr erhaltenen Denkmälern <strong>de</strong>r Literatur<br />
abgesehen, vom ‚Heljand’ und von Otfrieds Evangelien bis in unsere Tage<br />
fortschreitet. Von <strong>de</strong>n Pommern und Preußen, die sich im Laufe <strong>de</strong>r<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Kolonisten assimiliert haben, sagen wir wohl,<br />
daß sie ausgestorben seien, doch wir wer<strong>de</strong>n nicht behaupten wollen, daß<br />
sie je als Völker „alt“ gewor<strong>de</strong>n seien. Wollte man <strong>de</strong>n Vergleich hier<br />
durchführen, so müßte man schon von jung verstorbenen Völkern<br />
sprechen. Die nationale Umgestaltung fällt aus <strong>de</strong>r Betrachtung unserer<br />
Probleme heraus. Das, um was es sich uns han<strong>de</strong>lt, ist ein an<strong>de</strong>res.<br />
Ebensowenig kann damit <strong>de</strong>r staatliche Verfall gemeint sein. Der Verfall<br />
<strong>de</strong>s Staatswesens erscheint bald als eine Folgeerscheinung <strong>de</strong>s Alterns <strong>de</strong>r<br />
Völker, bald als eine hiervon unabhängige Tatsache. Der Untergang <strong>de</strong>s<br />
alten polnischen Staatswesens hat mit einem Verfall <strong>de</strong>r polnischen Kultur<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s polnischen Volkstums nichts zu tun. Die gesellschaftliche<br />
Entwicklung Polens ist durch ihn nicht aufgehalten wor<strong>de</strong>n.<br />
Die Tatsachen, die wohl bei keinem <strong>de</strong>r Fälle fehlen, <strong>de</strong>n man für das<br />
Altern einer Kultur anführt, sind die <strong>de</strong>s Rückganges <strong>de</strong>r Bevölkerung, <strong>de</strong>r<br />
Abnahme <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Verfalles <strong>de</strong>r Städte. Wir verstehen<br />
alle diese Erscheinungen sofort in ihrer geschichtlichen Bedingtheit, wenn<br />
wir in <strong>de</strong>m Altern <strong>de</strong>r Völker Rückbildung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Arbeitsteilung, Rückentwicklung <strong>de</strong>r Gesellschaft, erblicken wollen.<br />
Gesellschaftlicher Rückgang war z. B. <strong>de</strong>r Untergang <strong>de</strong>r antiken Welt.<br />
Die Auflösung <strong>de</strong>s römischen Reiches ist nur die Folge <strong>de</strong>r Rückbildung<br />
<strong>de</strong>r antiken Gesellschaft, die von einem immerhin beträchtlichen Gra<strong>de</strong><br />
gesellschaftlicher
296<br />
Arbeitsteilung in annähernd naturalwirtschaftliche Verhältnisse zurücksinkt.<br />
Darum entvölkern sich die Städte, darum nimmt aber auch die<br />
Bevölkerung auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> selbst ab, darum wachsen Not und Elend,<br />
weil eben eine auf einem geringeren Gra<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Arbeitsteilung beruhen<strong>de</strong> Wirtschaftsordnung weniger produktiv ist.<br />
Darum gehen die technischen Fertigkeiten allmählich verloren, bil<strong>de</strong>t sich<br />
die künstlerische Begabung zurück, erlischt langsam die Beschäftigung<br />
mit <strong>de</strong>n Wissenschaften. Das ist das, was man am treffendsten mit <strong>de</strong>m<br />
Worte Zersetzung gekennzeichnet hat. Die antike Kultur stirbt, weil die<br />
antike Gesellschaft sich rückbil<strong>de</strong>t, sich auflöst. 1<br />
Völkersterben ist Rückentwicklung <strong>de</strong>r Gesellschaft, ist Rückbildung<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Was auch immer ihre Ursache im<br />
einzelnen Falle gewesen sein mag, stets wird sie dadurch wirksam, daß<br />
<strong>de</strong>r Wille zum gesellschaftlichen Zusammenleben schwin<strong>de</strong>t. Das mag<br />
uns früher als ein unverständliches Rätsel erschienen sein, jetzt, da wir es<br />
schau<strong>de</strong>rnd miterleben, da wir in Rußland <strong>de</strong>n gewaltigen Prozeß sich vor<br />
unseren Augen abspielen sehen, wird es uns in seinem Wesen eher<br />
verständlich, wenn wir auch die tiefsten und letzten Grün<strong>de</strong> solcher<br />
Verän<strong>de</strong>rungen nicht zu erkennen vermögen.<br />
Der soziale Geist, <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kooperation ist es,<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaften bil<strong>de</strong>t, weiter entwickelt und zusammenhält. Sobald er<br />
schwin<strong>de</strong>t, fällt auch die Gesellschaft wie<strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r. Völkertod ist<br />
gesellschaftliche Rückbildung, ist Entwicklung von <strong>de</strong>r Arbeitsteilung zur<br />
Selbstgenügsamkeit. Der Gesellschaftsorganismus zerfällt wie<strong>de</strong>r in die<br />
Zellen, aus <strong>de</strong>nen er entstan<strong>de</strong>n ist. Die Menschen bleiben, die<br />
Gesellschaft stirbt. 2<br />
Nichts spricht dafür, daß die gesellschaftliche Entwicklung sich immer<br />
gradlinig aufsteigend vollziehen muß. Gesellschaftlicher Stillstand und<br />
gesellschaftliche Rückbildung sind geschichtliche Tatsachen, an <strong>de</strong>nen<br />
wir nicht vorübergehen dürfen. Die Weltgeschichte ist ein Friedhof toter<br />
Kulturen, und groß sehen wir vor uns die Beispiele stillstehen<strong>de</strong>r Kultur in<br />
Indien und Ostasien.<br />
Die <strong>de</strong>n Literaten und Artisten eigene Überschätzung ihres Getän<strong>de</strong>ls,<br />
die scharf von <strong>de</strong>r Beschei<strong>de</strong>nheit absticht, mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r echte Künstler sein<br />
Werk beurteilt, meint, es käme nicht so sehr<br />
1 Über die Auflösung <strong>de</strong>r altgriechischen Kultur vgl. Pareto, Les systèmes socialistes,<br />
Paris 1902, I. Bd., S. 155 ff.<br />
2 Vgl. Izoulet, a. a. O., S. 488 ff.
297<br />
darauf an, daß die wirtschaftliche Entwicklung fortgehe, wenn nur die<br />
innere Kultur vertieft wer<strong>de</strong>. Doch alle innere Kultur bedarf äußerer<br />
Mittel zu ihrer Verwirklichung, und diese äußeren Mittel sind nur durch<br />
wirtschaftliche Arbeit zu erlangen. Rückgang <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit<br />
durch Rückbildung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kooperation zieht auch <strong>de</strong>n<br />
Verfall <strong>de</strong>r inneren Kultur nach sich.<br />
Alle älteren Kulturen sind entstan<strong>de</strong>n und gewachsen, ohne daß sie<br />
zum vollen Bewußtsein <strong>de</strong>r inneren Gesetze <strong>de</strong>r Kulturentwicklung und<br />
zur Erkenntnis <strong>de</strong>s Wesens und <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung gesellschaftlicher<br />
Arbeitsteilung und Kooperation erwacht wären Sie haben auf ihren<br />
Wegen oftmals mit kulturfeindlichen Ten<strong>de</strong>nzen und I<strong>de</strong>enrichtungen zu<br />
kämpfen gehabt, sie haben über sie wie<strong>de</strong>rholt gesiegt, doch schließlich<br />
hat sie früher o<strong>de</strong>r später alle das Schicksal ereilt. Sie sind <strong>de</strong>m Geiste <strong>de</strong>r<br />
Zersetzung erlegen. Zum erstenmal hat die Menschheit in <strong>de</strong>r<br />
Sozialphilosophie <strong>de</strong>s Liberalismus das Bewußtsein <strong>de</strong>r Gesetze<br />
gesellschaftlicher Entwicklung erlangt, zum erstenmal waren die<br />
Menschen sich klar gewor<strong>de</strong>n, worauf <strong>de</strong>r Kulturfortschritt beruht. Voll<br />
froher Hoffnungen mochte man damals in die Zukunft blicken. Ungeahnte<br />
Perspektiven schienen sich zu eröffnen. Doch es kam an<strong>de</strong>rs. Der<br />
liberalen Sozialtheorie traten in <strong>de</strong>r militaristisch-nationalistischen und<br />
vor allem in <strong>de</strong>r sozialistisch-kommunistischen Lehre I<strong>de</strong>en gegenüber,<br />
die gesellschaftsauflösend wirken. Die nationale Theorie nennt sich<br />
organisch, die sozialistische nennt sich sozial; bei<strong>de</strong> wirken in Wahrheit<br />
<strong>de</strong>sorganisierend und antisozial.<br />
Von allen Beschuldigungen, die man gegen das System <strong>de</strong>s<br />
Freihan<strong>de</strong>ls und <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums erhoben hat, ist keine törichter als<br />
die, daß es antisozial und individualistisch sei und daß es <strong>de</strong>n sozialen<br />
Körper atomisiere. Der Verkehr wirkt nicht auflösend, wie die<br />
romantischen Schwärmer für Autarkie kleiner Teile <strong>de</strong>r Erdoberfläche<br />
behaupten, son<strong>de</strong>rn verbin<strong>de</strong>nd. Erst die Arbeitsteilung läßt<br />
gesellschaftliche Bindung entstehen, sie ist das Soziale schlechthin. Wer<br />
für nationale und staatliche Wirtschaftsgebiete eintritt, sucht die<br />
ökumenische Gesellschaft zu zersetzen. Wer durch <strong>de</strong>n Klassenkampf die<br />
gesellschaftliche Arbeitsteilung im Innern eines Volkes zu zerstören<br />
sucht, ist antisozial.<br />
Ein Untergang <strong>de</strong>r ökumenischen Gesellschaft, die sich unter <strong>de</strong>m<br />
Einfluß <strong>de</strong>s langsam aufkeimen<strong>de</strong>n liberalen Gedankens seit zweihun<strong>de</strong>rt<br />
Jahren zu bil<strong>de</strong>n begonnen hat, wür<strong>de</strong> eine Weltkatastrophe darstellen, die<br />
sich mit nichts, was die uns bekannte
298<br />
Geschichte enthält, auch nur im entferntesten vergleichen läßt. Kein Volk<br />
bliebe von ihr verschont. Wer sollte die zerstörte Welt wie<strong>de</strong>r aufbauen?<br />
§ 8. Die Scheidung <strong>de</strong>r Individuen in Eigentümer und Nichteigentümer<br />
ist ein Ergebnis <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung.<br />
Die Erkenntnis <strong>de</strong>r sozialen Funktion <strong>de</strong>s Eigentums ist die zweite<br />
große soziologische Leistung <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie und <strong>de</strong>r<br />
„individualistischen“ Gesellschaftstheorie <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Für die<br />
ältere Auffassung blieb das Eigentum immer mehr o<strong>de</strong>r weniger ein<br />
Vorrecht <strong>de</strong>r Besitzer, ein Raub am allgemeinen Gut, eine Einrichtung,<br />
die man ethisch als ein Übel, wenn auch mitunter als ein unvermeidliches<br />
Übel, anzusehen neigte. Erst <strong>de</strong>r Liberalismus erkannte die gesellschaftliche<br />
Funktion <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln. Es bringt<br />
die Güter in die Verfügungsgewalt <strong>de</strong>rjenigen, die sie am besten zu<br />
verwen<strong>de</strong>n wissen, es leitet sie in die Hand <strong>de</strong>s besten Wirts. Daher ist<br />
nichts <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Eigentums abträglicher als Besitzprivilegien und<br />
Produzentenschutz. Gebun<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>s Eigentums in je<strong>de</strong>r Gestalt,<br />
Bannrechte und an<strong>de</strong>re Vorrechte <strong>de</strong>r Erzeuger sind Einrichtungen, die<br />
geeignet sind, die gesellschaftliche Funktion <strong>de</strong>s Eigentums zu hemmen.<br />
Sie wer<strong>de</strong>n vom Liberalismus mit <strong>de</strong>rselben Entschie<strong>de</strong>nheit bekämpft,<br />
mit <strong>de</strong>r er gegen je<strong>de</strong> Art von Unfreiheit <strong>de</strong>s Arbeiters auftritt.<br />
Der Eigentümer entzieht niemand etwas. Niemand kann sagen, daß er<br />
entbehrt, weil ein an<strong>de</strong>rer besitzt. Man schmeichelt <strong>de</strong>n Neidinstinkten <strong>de</strong>r<br />
Masse, wenn man ausrechnet, wie viel mehr <strong>de</strong>r Arme zu verzehren hätte,<br />
wenn es keine Unterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Besitzes gäbe. Nur pflegt man dabei zu<br />
übersehen, daß die Größe <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Produktion und die <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Einkommens nicht starr und unverän<strong>de</strong>rlich sind,<br />
vielmehr wesentlich von <strong>de</strong>r Besitzverteilung abhängen. Wenn das<br />
Eigentum an<strong>de</strong>rs verteilt wäre, dann wür<strong>de</strong>n min<strong>de</strong>r tüchtige Wirte, <strong>de</strong>ren<br />
Wirken weniger ergiebig ist, einen Teil <strong>de</strong>r Produktion kommandieren;<br />
das müßte die Menge <strong>de</strong>r Produkte vermin<strong>de</strong>rn. 1 Die Gedankengänge <strong>de</strong>s<br />
1 “The laws, in creating property, have created wealth; but with respect to poverty, it is<br />
not the work of the laws - it is the primitive condition of the human race. The man who<br />
lives only from day to day, is precisely the man in a state of nature. . . . The laws, in<br />
creating property, have been benefactors to those who remain in their original poverty.<br />
They participate more or less in the pleasures, advantages and ressources of civilized<br />
society.” Vgl. Bentham, Principles of the Civil Co<strong>de</strong> (Works, herg. v. Bowring, Edinburgh<br />
1843, I. Bd.) S. 309.
299<br />
Teilungskommunismus sind Atavismus aus Zeiten, in <strong>de</strong>nen die<br />
gesellschaftliche Verknüpfung noch nicht bestand o<strong>de</strong>r nicht jenen Grad<br />
erreicht hatte, <strong>de</strong>n sie heute hat, und in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mentsprechend die<br />
Ergiebigkeit <strong>de</strong>r Produktion auch weit niedriger war. Der landlose Mann<br />
einer auf tauschloser Eigenwirtschaft beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsverfassung<br />
<strong>de</strong>nkt folgerichtig, wenn er in <strong>de</strong>r Aufteilung <strong>de</strong>r Äcker das Ziel seiner<br />
Wünsche erblickt. Der mo<strong>de</strong>rne Proletarier verkennt das Wesen <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Produktion, wenn er ähnlichen Gedankengängen<br />
nachhängt.<br />
Auch das sozialistische I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Überführung <strong>de</strong>r Produktionsmittel in<br />
die ausschließliche Verfügung <strong>de</strong>r organisierten Gesellschaft, <strong>de</strong>s Staates,<br />
wird vom Liberalismus mit <strong>de</strong>m Hinweis auf die Min<strong>de</strong>rergiebigkeit <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Produktionsweise bekämpft. Der Sozialismus <strong>de</strong>r Schule<br />
Hegels versucht <strong>de</strong>mgegenüber <strong>de</strong>n Nachweis zu erbringen, daß die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Geschichte mit Notwendigkeit zur Aufhebung <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln führe.<br />
Nach Lassalle besteht „im allgemeinen <strong>de</strong>r kulturhistorische Gang aller<br />
Rechtsgeschichte eben darin, immer mehr die Eigentumssphäre <strong>de</strong>s<br />
Privatindividuums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb <strong>de</strong>s<br />
Privateigentums zu setzen“. Die Ten<strong>de</strong>nz zur Vermehrung <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>s<br />
Eigentums, die man aus <strong>de</strong>m Gange <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung<br />
herauszulesen suche, sei nur eine scheinbare. Wie sehr auch <strong>de</strong>r „Gedanke<br />
<strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n Aufhebung <strong>de</strong>s Privateigentumsumfanges als eines<br />
wirklichen Gesetzes <strong>de</strong>r kulturhistorischen Bewegung <strong>de</strong>s Rechts für<br />
paradox gehalten wer<strong>de</strong>n“ könne, so bewähre er sich doch bei<br />
eingehen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>taillierter Betrachtung. Diese hat nun Lassalle freilich nicht<br />
gegeben; er hat nach seinem eigenen Worte „statt solcher nur einige sehr<br />
oberflächliche Blicke hingeworfen“. 1 Und auch nach Lassalle hat es<br />
niemand unternommen, diesen Nachweis zu erbringen. Doch wenn sich<br />
jemand gefun<strong>de</strong>n hätte, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Versuch gewagt hätte, so wäre damit noch<br />
lange nicht die Notwendigkeit dieser Entwicklung dargetan gewesen. Mit<br />
<strong>de</strong>n Begriffskonstruktionen <strong>de</strong>r vom Hegelschen Geiste erfüllten<br />
spekulativen Jurispru<strong>de</strong>nz lassen sich bestenfalls geschichtliche<br />
Entwicklungsten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r Vergangenheit erweisen; daß die ent<strong>de</strong>ckte<br />
Entwicklungsrichtung auch weiter verfolgt wer<strong>de</strong>n müsse, ist eine<br />
durchaus willkürliche Annahme. Erst<br />
1 Vgl. Lassalle, Das System <strong>de</strong>r erworbenen Rechte, 2. Aufl., Leipzig 1880, I. Bd., S.<br />
217 ff.
300<br />
wenn man in <strong>de</strong>r Lage wäre, aufzuzeigen, daß die Kraft, die hinter <strong>de</strong>r<br />
Entwicklungsten<strong>de</strong>nz steht, noch fortwirke, wäre <strong>de</strong>r hypothetische<br />
Beweis, <strong>de</strong>n wir benötigen, erbracht. Das aber liegt <strong>de</strong>m Hegelianer<br />
Lassalle ferne. Für ihn ist die Sache damit erledigt, daß ihm <strong>de</strong>utlich wird,<br />
„daß diese fortschreiten<strong>de</strong> Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Privateigentumsumfanges<br />
auf nichts an<strong>de</strong>rem als <strong>de</strong>r positiven Entwicklung <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Freiheit beruht“. 1 Denn nun hat er sein Entwicklungsgesetz in das große<br />
Hegel’sche Schema <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung eingefügt und so<br />
alles geleistet, was die Schule verlangen kann.<br />
Marx hat die Mängel <strong>de</strong>s Hegelschen Entwicklungsscheines erkannt.<br />
Auch er hält es für eine nicht zu bezweifeln<strong>de</strong> Wahrheit, daß <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>r<br />
Geschichte vom Son<strong>de</strong>reigentum zum Gemeineigentum führe. Doch bei<br />
ihm ist nicht wie bei Hegel und Lassalle von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e und von <strong>de</strong>m<br />
juristischen Begriffe <strong>de</strong>s Eigentums die Re<strong>de</strong>. Das Privateigentum „in<br />
seiner nationalökonomischen Bewegung“ treibt zu seiner Auflösung fort,<br />
„aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewußtlose, wi<strong>de</strong>r seinen<br />
Willen stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, durch die Natur <strong>de</strong>r Sache bedingte Entwicklung,<br />
nur in<strong>de</strong>m es das Proletariat als Proletariat erzeugt, das seines geistigen<br />
und physischen Elends bewußte Elend, die ihrer Entmenschung bewußte<br />
und sich selbst aufheben<strong>de</strong> Entmenschung“. 2 Damit wird die Lehre vom<br />
Klassenkampf als <strong>de</strong>m treiben<strong>de</strong>n Element <strong>de</strong>r geschichtlichen<br />
Entwicklung eingeführt.<br />
III.<br />
Der Kampf als Faktor <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Entwicklung.<br />
§ 1. Die einfachste Art, in <strong>de</strong>r wir uns die Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft vorzustellen vermögen, ist die Unterscheidung zweier<br />
Entwicklungsrichtungen, die sich zueinan<strong>de</strong>r verhalten wie Aus<strong>de</strong>hnung<br />
in die Tiefe und Aus<strong>de</strong>hnung in die Breite. Die Vergesellschaftung<br />
schreitet in subjektiver und in objektiver Hinsicht fort: in subjektiver<br />
Hinsicht durch die Erweiterung <strong>de</strong>s Menschenkreises, <strong>de</strong>n sie umfaßt, in<br />
objektiver Hinsicht durch Erweiterung <strong>de</strong>r Ziele <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns, die sie<br />
einbegreift. Ursprünglich auf <strong>de</strong>n<br />
1 Ebendort, S. 222 f.<br />
2 Vgl. Marx, Die Heilige Familie (Aus <strong>de</strong>m literarischen Nachlaß von Karl Marx,<br />
Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, herg. v. Mehring, II. Bd., Stuttgart 1902, S. 132).
301<br />
engsten Personenkreis, auf die unmittelbaren Nachbarn begrenzt, wird die<br />
Arbeitsteilung allmählich allgemeiner, um schließlich alle Menschen, die<br />
die Er<strong>de</strong> bewohnen, zu umfassen. Dieser Prozeß, <strong>de</strong>r noch lange nicht<br />
abgeschlossen ist und auch früher in <strong>de</strong>r Geschichte nie abgeschlossen<br />
war, ist ein endlicher. Er wird am Ziele angelangt sein, wenn alle<br />
Menschen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ein einheitliches System gesellschaftlicher Arbeitsteilung<br />
bil<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Hand in Hand mit diesem Prozeß <strong>de</strong>r Ausbreitung<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Bindung geht <strong>de</strong>r ihrer Vertiefung. Das<br />
gesellschaftliche Han<strong>de</strong>ln umfaßt immer mehr Ziele; das Gebiet, auf <strong>de</strong>m<br />
das Individuum selbstgenügsam für sich sorgt, wird immer enger. Es hat<br />
wenig Sinn, sich die Frage vorzulegen, ob auch dieser Prozeß schließlich<br />
zu einer vollständigen Aufsaugung <strong>de</strong>s autarken Han<strong>de</strong>lns einzelner und<br />
engerer Kreise durch das gesellschaftlich orientierte Han<strong>de</strong>ln führen kann<br />
o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Vergesellschaftung ist immer Zusammenschluß zu gemeinsamem<br />
Wirken; Gesellschaft ist immer Frie<strong>de</strong>n, niemals Krieg. Vernichtungskampf<br />
und Krieg sind Entgesellschaftung. 1 Das verkennen alle jene<br />
Theorien, die <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Fortschritt als ein Ergebnis von<br />
Kämpfen menschlicher Gruppen auffassen.<br />
§ 2. Das Schicksal <strong>de</strong>s einzelnen ist durch sein Sein ein<strong>de</strong>utig<br />
bestimmt. Alles was ist, ist aus seinem Wer<strong>de</strong>n mit Notwendigkeit<br />
hervorgegangen, und alles, was sein wird, fließt mit Notwendigkeit aus<br />
<strong>de</strong>m, was ist. Der augenblickliche Zustand ist das Ergebnis <strong>de</strong>r<br />
Geschichte. 2 Wer sie ganz verstehen könnte, wür<strong>de</strong> auch alle Zukunft<br />
vorhersagen können. Man hat lange geglaubt, von <strong>de</strong>r Determiniertheit<br />
alles Geschehens das menschliche Wollen und Han<strong>de</strong>ln ausnehmen zu<br />
müssen, weil man <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Sinn <strong>de</strong>r „Zurechnung“ dieser allem<br />
rationalen Han<strong>de</strong>ln und nur ihm eigentümlichen Denkoperation, nicht<br />
erfaßt hatte und gemeint hat, daß kausale Erklärung und Zurechnung<br />
unverträglich wären. Das ist heute überwun<strong>de</strong>n. Nationalökonomie,<br />
Rechtsphilosophie und Ethik haben das Zurechnungsproblem soweit<br />
geklärt, daß die alten Mißverständnisse ausgemerzt wer<strong>de</strong>n konnten.<br />
Wenn wir die Einheit, die wir das Individuum nennen, in bestimmte<br />
Komplexe zerlegen wollen, um unserer Erkenntnis <strong>de</strong>n Weg zu<br />
erleichtern, dann müssen wir uns darüber klar sein, daß eine<br />
1 „La guerre est une dissociation.“ Vgl. Novicow, La critique du Darwinisme social,<br />
Paris 1910, S. 124.<br />
2 Vgl. Taine, Histoire <strong>de</strong> la litérature anglaise, Paris 1863, I. Bd., S. XXV.
302<br />
Rechtfertigung unseres Vorgehens nur in <strong>de</strong>m heuristischen Wert <strong>de</strong>r<br />
Einteilung gesucht wer<strong>de</strong>n kann. Vor <strong>de</strong>r Strenge erkenntniskritischer<br />
Prüfung kann die Son<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s im Wesen Gleichartigen nach<br />
äußerlichen Merkmalen nie bestehen. Nur unter diesen Einschränkungen<br />
kann man daran gehen, die Determinanten <strong>de</strong>s individuellen Lebens<br />
gruppenweise zusammenfassen.<br />
Das, was <strong>de</strong>r Mensch mit <strong>de</strong>r Geburt mit auf die Welt bringt, das<br />
Angeborene, nennen wir das Rassengut o<strong>de</strong>r kurz die Rasse. 1 Das<br />
Angeborene im Menschen ist <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschlag <strong>de</strong>r Geschichte aller seiner<br />
Ahnen und ihres Schicksals, alles <strong>de</strong>ssen, was sie erlebt haben. Das Leben<br />
und das Schicksal <strong>de</strong>s Einzelnen beginnen nicht mit <strong>de</strong>r Geburt, sie<br />
verlieren sich nach rückwärts in unendliche und unaus<strong>de</strong>nkbare Fernen.<br />
Der Nachkomme erbt von <strong>de</strong>n Ahnen; das ist eine Tatsache, die außerhalb<br />
<strong>de</strong>s Streites steht, <strong>de</strong>r sich um die Vererbung erworbener Eigenschaften<br />
dreht.<br />
Nach <strong>de</strong>r Geburt beginnt das unmittelbare Erleben. Die Einwirkung <strong>de</strong>r<br />
Umwelt, <strong>de</strong>s Milieus, setzt ein; aus ihrer Verbindung mit <strong>de</strong>m Ererbten<br />
resultiert das Sein <strong>de</strong>s Individuums in je<strong>de</strong>m Augenblicke <strong>de</strong>s Lebens.<br />
Das Milieu ist natürliches Milieu als Bo<strong>de</strong>n, Klima, Nahrung, Fauna,<br />
Flora, kurz als Naturumgebung. Es ist soziales Milieu als Gesellschaft.<br />
Die gesellschaftlichen Kräfte, die auf <strong>de</strong>n Einzelnen einwirken, sind<br />
Sprache, Stellung im Arbeits- und Austauschprozeß, I<strong>de</strong>ologie und die<br />
Zwangsmächte: freie Gewalt und geregelte Gewalt; die geregelte<br />
Gewaltorganisation nennen wir Staat.<br />
Die Abhängigkeit <strong>de</strong>s Menschenlebens vom natürlichen Milieu pflegen<br />
wir uns seit Darwin metaphorisch durch die Vorstellung eines Kampfes<br />
gegen feindliche Gewalten verständlich zu machen. Das war unbe<strong>de</strong>nklich,<br />
solange man nicht daran dachte, die bildliche Ausdrucksweise auf ein<br />
Gebiet zu übertragen, auf <strong>de</strong>m sie ganz und gar unangebracht war und zu<br />
schweren Irrtümern Anlaß geben mußte. Als man die Formeln <strong>de</strong>s<br />
Darwinismus, die aus <strong>de</strong>r Herübernahme von Gedanken, die die<br />
Sozialwissenschaft entwickelt hatte, in die Biologie entstan<strong>de</strong>n waren,<br />
wie<strong>de</strong>r in die Sozialwissenschaft zurückzuführen begann, vergaß man,<br />
was sie ursprünglich zu be<strong>de</strong>uten hatten. So entstand jenes Ungeheuer <strong>de</strong>s<br />
soziologischen Darwinismus, das, in romantische Verherrlichung <strong>de</strong>s<br />
Krieges und <strong>de</strong>s Menschenmor<strong>de</strong>s einmün<strong>de</strong>nd, ganz beson<strong>de</strong>rs dazu<br />
beigetragen<br />
1 Vgl. Taine, a. a. O., S. XXIII: „Ce qu’on appelle la race, ce sont ces dispositions<br />
innées et héréditaires que l’homme apporte avec lui à la lumière.“
303<br />
hat, die liberalen I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Zeitgenossen zu verdrängen und<br />
damit die geistige Atmosphäre zu schaffen, aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Weltkrieg und die<br />
sozialen Kämpfe <strong>de</strong>r Gegenwart entstehen konnten.<br />
Darwin stand unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s Malthus’schen “Essay on the<br />
Principle of Population”. Malthus ist jedoch weit entfernt davon, im<br />
Kampfe eine notwendige gesellschaftliche Einrichtung zu erblicken. Doch<br />
auch Darwin meint, wenn er vom Kampfe ums Dasein spricht, nicht<br />
immer <strong>de</strong>n Vernichtungskampf um Futterplatz und Weibchen auf Leben<br />
und Tod ringen<strong>de</strong>r Lebewesen; er gebraucht <strong>de</strong>n Ausdruck auch bildlich<br />
zur Bezeichnung <strong>de</strong>r Abhängigkeit <strong>de</strong>r Lebewesen voneinan<strong>de</strong>r und von<br />
ihrer Umwelt. 1 Es ist ein Mißverständnis, wenn man die Re<strong>de</strong>wendung<br />
vom Kampf ums Dasein durchaus wörtlich und nicht metaphorisch<br />
nimmt. Das Mißverständnis wird noch größer, wenn man dann <strong>de</strong>n Kampf<br />
ums Dasein <strong>de</strong>m Vernichtungskampf zwischen Menschen gleichsetzt und<br />
daran geht, eine auf <strong>de</strong>r Notwendigkeit <strong>de</strong>s Kampfes beruhen<strong>de</strong><br />
Gesellschaftstheorie zu konstruieren.<br />
Die Malthus’sche Bevölkerungstheorie ist, was ihre <strong>de</strong>r Soziologie<br />
frem<strong>de</strong>n Beurteiler stets zu übersehen pflegen, nur ein Stück <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaftstheorie <strong>de</strong>s Liberalismus; sie will sich in ihren Rahmen<br />
einfügen und kann nur in ihm verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Den Kern <strong>de</strong>r liberalen<br />
Gesellschaftslehre bil<strong>de</strong>t die Lehre von <strong>de</strong>r Arbeitsteilung; nur in<br />
Verbindung mit ihr kann das Bevölkerungsgesetz zur Deutung<br />
gesellschaftlicher Verhältnisse verwen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Die Gesellschaft ist die<br />
Vereinigung <strong>de</strong>r Menschen zur besseren Ausnützung <strong>de</strong>r natürlichen<br />
Daseinsbedingungen; sie beseitigt schon durch ihre Entstehung <strong>de</strong>n<br />
Kampf zwischen <strong>de</strong>n Menschen und setzt an seine Stelle die<br />
wechselseitige Hilfe, die das Wesen aller zu einem Organismus vereinten<br />
Glie<strong>de</strong>r erfüllt. Innerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft gibt es keinen Kampf, nur<br />
Frie<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r Kampf hebt für <strong>de</strong>n Bereich, in <strong>de</strong>m er wirksam wird, die<br />
gesellschaftliche Gemeinschaft auf. Die Gesellschaft als Ganzes, als<br />
Organismus, steht im Kampfe ums Dasein gegen die ihr feindlichen<br />
Kräfte. Doch soweit die Vergesellschaftung - räumlich und sachlich -<br />
reicht, gibt es nur Zusammenwirken. Denn Gesellschaft ist eben nichts<br />
an<strong>de</strong>res als Zusammenwirken. Selbst <strong>de</strong>r Krieg kann innerhalb <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft nicht alle gesellschaftlichen Ban<strong>de</strong> lösen; manche<br />
bleiben, wenn auch gelockert,<br />
1<br />
Vgl. Hertwig, Zur Abwehr <strong>de</strong>s ethischen, <strong>de</strong>s sozialen und <strong>de</strong>s politischen<br />
Darwinismus, a. a. O., S. 10 f.
304<br />
in <strong>de</strong>m Kriege zwischen <strong>de</strong>n die Völkerrechtsgemeinschaft bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Staaten noch bestehen; und soweit herrscht auch im Kriege ein Stück<br />
Frie<strong>de</strong>n.<br />
Das regulieren<strong>de</strong> Prinzip, das innerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>n Ausgleich<br />
trifft zwischen <strong>de</strong>r Beschränktheit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft zur Verfügung<br />
stehen<strong>de</strong>n Unterhaltsmittel auf <strong>de</strong>r einen Seite und <strong>de</strong>r weniger beschränkten<br />
Vermehrungsfähigkeit <strong>de</strong>r Esser auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite, ist das<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln. In<strong>de</strong>m es das Maß <strong>de</strong>s Anteils<br />
am Sozialprodukte, das je<strong>de</strong>m Genossen zufällt, von <strong>de</strong>m ihm, d. h. seiner<br />
Arbeit und seinem Besitze ökonomisch zugerechneten Ertrage abhängig<br />
macht, wird die Ausmerzung <strong>de</strong>r Überzähligen durch <strong>de</strong>n Kampf ums<br />
Dasein, wie er im Pflanzen- und im Tierreiche wütet, durch die<br />
Beschränkung <strong>de</strong>r Nachkommenschaft aus gesellschaftlichen Rücksichten<br />
ersetzt. An Stelle <strong>de</strong>s Kampfes ums Dasein tritt moral restraint, die durch<br />
die gesellschaftliche Stellung auferlegte Beschränkung <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r<br />
Nachkommen.<br />
In <strong>de</strong>r Gesellschaft gibt es keinen Kampf ums Dasein. Es ist ein arges<br />
Mißverständnis, wenn man meint, daß die folgerichtig entwickelte liberale<br />
Gesellschaftstheorie etwas an<strong>de</strong>res überhaupt lehren könne. Einzelne<br />
Re<strong>de</strong>wendungen im Malthus’schen Essay, die an<strong>de</strong>rs ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n<br />
könnten, sind einfach dadurch zu erklären, daß Malthus die erste<br />
unvollkommene Nie<strong>de</strong>rschrift seines berühmten Erstlingswerkes verfaßte,<br />
ehe er ganz in <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie eingedrungen<br />
war. Der beste Beweis dafür, daß seine Lehre gar nicht an<strong>de</strong>rs aufgefaßt<br />
wer<strong>de</strong>n kann, liegt darin, daß es vor Spencers und Darwins Auftreten<br />
niemand einfiel, <strong>de</strong>n Kampf ums Dasein (im mo<strong>de</strong>rnen Sinne <strong>de</strong>s<br />
Ausdrucks) als ein innerhalb <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft wirksames<br />
Prinzip anzusehen. Erst <strong>de</strong>r Darwinismus hat die Theorien entstehen<br />
lassen, die <strong>de</strong>n Kampf <strong>de</strong>r Individuen, <strong>de</strong>r Rassen, <strong>de</strong>r Völker und <strong>de</strong>r<br />
Klassen als das gesellschaftliche Grun<strong>de</strong>lement erkennen. Aus <strong>de</strong>m<br />
Darwinismus, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Gedankenkreis <strong>de</strong>r liberalen Gesellschaftstheorie<br />
hervorgegangen war, holte man nun Waffen, um <strong>de</strong>n verhaßten<br />
Liberalismus zu bekämpfen. In <strong>de</strong>r Berufung auf Darwins Hypothese, die<br />
man lange als eine unumstößliche Tatsache <strong>de</strong>r Wissenschaft angesehen<br />
hat, glaubten Marxismus, 1 Rassenkampftheorie 2 und Nationalismus ihren<br />
Lehren eine nicht zu erschüttern<strong>de</strong><br />
1 Vgl. Ferri, Sozialismus und mo<strong>de</strong>rne Wissenschaft, übers. v. Kurella, Leipzig 1895,<br />
S. 65 ff.<br />
2 Vgl. Gumplowicz, Der Rassenkampf, Innsbruck 1883, S. 176. Über Gumplowiczs<br />
Abhängigkeit vom Darwinismus vgl. Barth, a. a. O., S. 258. Der „liberale“ Darwinismus
305<br />
Grundlage zu geben. Der mo<strong>de</strong>rne Imperialismus stützt sich ganz<br />
beson<strong>de</strong>rs auf die Schlagwörter, in die die Vulgärwissenschaft <strong>de</strong>n<br />
Darwinismus umgeprägt hat.<br />
Die darwinistischen - o<strong>de</strong>r richtiger pseudo-darwinistischen -<br />
Sozialtheorien verkennen die Hauptschwierigkeit, die <strong>de</strong>r Übertragung <strong>de</strong>r<br />
Darwinschen Re<strong>de</strong>wendung vom Kampfe ums Dasein auf die<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse entgegensteht. Der Kampf ums Dasein<br />
tobt in <strong>de</strong>r Natur zwischen Individuen. Nur ausnahmsweise fin<strong>de</strong>n wir in<br />
<strong>de</strong>r Natur Erscheinungen, die man als Kämpfe zwischen Tiergruppen zu<br />
<strong>de</strong>uten in <strong>de</strong>r Lage wäre; hierher gehören die Kämpfe zwischen<br />
„Ameisenstaaten“, die man möglicherweise noch ganz an<strong>de</strong>rs auffassen<br />
müssen wird als heute. 1 Eine vom Darwinismus ausgehen<strong>de</strong> Sozialtheorie<br />
müßte entwe<strong>de</strong>r dazu gelangen, <strong>de</strong>n Kampf aller Individuen gegen alle als<br />
die natürliche und notwendige Form <strong>de</strong>s Verkehrs zwischen <strong>de</strong>n<br />
Menschen zu erklären, und damit die Möglichkeit je<strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Verknüpfung leugnen, o<strong>de</strong>r sie müßte imstan<strong>de</strong> sein, einerseits<br />
aufzuzeigen, warum innerhalb bestimmter Gruppen Frie<strong>de</strong> herrschen kann<br />
und muß, an<strong>de</strong>rerseits aber zu beweisen, daß das Prinzip <strong>de</strong>r friedlichen<br />
Vereinigung, das zur Bildung dieser Verbän<strong>de</strong> führt, in seiner<br />
Wirksamkeit nicht über <strong>de</strong>n Umkreis <strong>de</strong>r Gruppengenossen hinausreicht,<br />
so daß zwischen <strong>de</strong>n Gruppen selbst Kampf herrschen müsse. Es ist das<br />
dieselbe Klippe, an <strong>de</strong>r alle nichtliberalen Gesellschaftstheorien Schiffbruch<br />
lei<strong>de</strong>n. Wenn man ein Prinzip erkennt, das alle Deutschen, alle<br />
Dolichokephalen o<strong>de</strong>r alle Proletarier zum Zusammenschluß treibt und<br />
aus <strong>de</strong>n Individuen die beson<strong>de</strong>re Nation, Rasse o<strong>de</strong>r Klasse bil<strong>de</strong>t, ist es<br />
nicht möglich, zu zeigen, daß dieses Prinzip nur innerhalb <strong>de</strong>r Kollektivgruppen<br />
wirksam ist. Die antiliberalen Gesellschaftstheorien gleiten über<br />
dieses Problem in <strong>de</strong>r Weise hinweg, daß sie sich darauf beschränken, die<br />
Solidarität <strong>de</strong>r Interessen innerhalb <strong>de</strong>r Gruppen wie selbstverständlich<br />
ohne je<strong>de</strong> weitere Erörterung als bewiesen anzunehmen und sich allein<br />
damit befassen, die Gegensätzlichkeit <strong>de</strong>r Interessen zwischen <strong>de</strong>n<br />
Gruppen und die Notwendigkeit <strong>de</strong>s Kampfes als <strong>de</strong>s alleinigen<br />
Triebmittels <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung zu beweisen. Doch wenn<br />
<strong>de</strong>r Krieg <strong>de</strong>r Vater aller Dinge sein soll, wenn er <strong>de</strong>n geschichtlichen<br />
Fortschritt<br />
ist ein schlecht durchdachtes Erzeugnis einer Zeit, die <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r liberalen<br />
Sozialphilosophie nicht mehr zu fassen vermochte.<br />
1 Vgl. Novicow, a. a. O., S. 45.
306<br />
herbeiführt, dann ist nicht zu verstehen, warum die Wirksamkeit dieses<br />
wohltätigen Prinzips durch Frie<strong>de</strong>n innerhalb <strong>de</strong>r Staaten, Völker, Rassen<br />
und Klassen beschränkt sein muß. Wenn die Natur <strong>de</strong>n Krieg for<strong>de</strong>rt,<br />
warum for<strong>de</strong>rt sie nicht <strong>de</strong>n Krieg aller gegen alle, bloß <strong>de</strong>n aller Gruppen<br />
gegen alle Gruppen? Die einzige Theorie, die erklärt, wie zwischen <strong>de</strong>n<br />
Individuen Frie<strong>de</strong>n möglich ist und aus <strong>de</strong>n Individuen Gesellschaft wird,<br />
ist die liberale Sozialtheorie <strong>de</strong>r Arbeitsteilung. Hat man diese Theorie<br />
aber einmal angenommen, dann ist es nicht mehr möglich, die Feindschaft<br />
<strong>de</strong>r Kollektivgebil<strong>de</strong> als notwendig anzusehen. Wenn Bran<strong>de</strong>nburger und<br />
Hannoveraner friedlich in <strong>de</strong>r Gesellschaft nebeneinan<strong>de</strong>r leben, warum<br />
können es nicht auch Deutsche und Franzosen?<br />
Der soziologische Darwinismus ist überhaupt nicht imstan<strong>de</strong>, das<br />
Phänomen <strong>de</strong>r Vergesellschaftung zu erklären; er ist keine Gesellschaftstheorie<br />
son<strong>de</strong>rn „eine Theorie <strong>de</strong>r Ungeselligkeit“. 1<br />
Es ist eine beschämen<strong>de</strong> Tatsache, die uns <strong>de</strong>n Verfall <strong>de</strong>r Soziologie<br />
in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten erst recht <strong>de</strong>utlich ins Bewußtsein rückt, daß<br />
man <strong>de</strong>n soziologischen Darwinismus nun damit zu bekämpfen beginnt,<br />
daß man auf die von <strong>de</strong>r Biologie im Pflanzen- und Tierreiche erst spät<br />
ent<strong>de</strong>ckten Beispiele von gegenseitiger Hilfe, von Symbiose, hinweist.<br />
Ein trutziger Verneiner <strong>de</strong>r liberalen Gesellschaftslehre, <strong>de</strong>r das, was er<br />
ablehnte und bekämpfte, nie kennengelernt hatte, Kropotkin, fand unter<br />
Tieren Ansätze von gesellschaftlichen Verknüpfungen und stellte sie <strong>de</strong>m<br />
Kampfe gegenüber, das wohltätige Prinzip <strong>de</strong>r wechselseitigen<br />
Unterstützung <strong>de</strong>m schädlichen <strong>de</strong>s Kampfes bis aufs Messer entgegensetzend.<br />
2 Ein ganz in <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s marxistischen Sozialismus befangener<br />
Biologe, Kammerer, zeigte, daß in <strong>de</strong>r Natur außer <strong>de</strong>m Kampfprinzip das<br />
<strong>de</strong>r Hilfe im Leben obwalte. 3 Die Biologie kehrt mit dieser Erkenntnis<br />
dorthin zurück, wo sie, von <strong>de</strong>r Soziologie ausgehend, begonnen hatte; sie<br />
bringt <strong>de</strong>r Gesellschaftslehre das Prinzip <strong>de</strong>r Arbeitsteilung wie<strong>de</strong>r<br />
zurück, das sie von ihr empfangen hatte. Sie lehrt die Soziologie nichts<br />
Neues, nichts, was nicht schon <strong>de</strong>m Wesen nach in <strong>de</strong>r Arbeitsteilungstheorie<br />
<strong>de</strong>r vielgeschmähten klassischen Nationalökonomie enthalten<br />
gewesen wäre.<br />
1 Vgl. Barth, a. a. O., S. 243.<br />
2 Vgl. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in <strong>de</strong>r Tier- und Menschenwelt, Deutsche<br />
Ausgabe von Landauer, Leipzig 1908, S. 69 ff.<br />
3 Vgl. Kammerer, Genossenschaften von Lebewesen auf Grund gegenseitiger Vorteile,<br />
Stuttgart 1913; <strong>de</strong>rselbe, Allgemeine Biologie, Stuttgart 1915, S. 306 ff.; <strong>de</strong>rselbe,<br />
Einzeltod, Völkertod, biologische Unsterblichkeit, Wien 1918, S. 29 ff.
307<br />
§ 3. Die naturrechtlichen Gesellschaftstheorien gehen von <strong>de</strong>m Dogma<br />
<strong>de</strong>r Gleichheit alles <strong>de</strong>ssen, was Menschengesicht trägt, aus. Weil alle<br />
Menschen gleich seien, hätten sie einen natürlichen Anspruch darauf von<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft als vollberechtigte Genossen behan<strong>de</strong>lt zu wer<strong>de</strong>n; und<br />
weil je<strong>de</strong>rmann ein natürliches Recht auf Existenz habe, wäre es ein<br />
Unrecht, seinem Leben nachzustellen. So erscheinen die Postulate <strong>de</strong>r<br />
Allgemeinheit <strong>de</strong>r Gesellschaft, <strong>de</strong>r Gleichheit in ihr und <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns<br />
begrün<strong>de</strong>t. Die liberale Theorie leitet sie dagegen aus <strong>de</strong>r Utilität ab. Für<br />
sie <strong>de</strong>cken sich die Begriffe Gesellschaftsmensch und Mensch. Wer fähig<br />
ist, <strong>de</strong>n Vorteil <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsvereinigung<br />
einzusehen, ist als Glied <strong>de</strong>r Gesellschaft willkommen. Der eigene<br />
Vorteil eines je<strong>de</strong>n Genossen empfiehlt es, ihn als gleichberechtigten<br />
Bürger zu behan<strong>de</strong>ln. Nur <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ohne jegliche Rücksicht auf die<br />
Vorteile, die das friedliche Zusammenwirken bietet, <strong>de</strong>n Vernichtungskampf<br />
<strong>de</strong>r Arbeitsvereinigung vorzieht und sich nicht in die gesellschaftliche<br />
Ordnung einfügen will, muß wie ein schädliches Tier<br />
bekämpft wer<strong>de</strong>n. Das ist die Stellung, die man <strong>de</strong>m antisozialen<br />
Verbrecher und <strong>de</strong>n wil<strong>de</strong>n Völkerschaften gegenüber notgedrungen<br />
einnehmen muß. Krieg kann vom Liberalismus nur als Abwehr und<br />
Verteidigung gebilligt wer<strong>de</strong>n. Im übrigen sieht er im Kampf nur das<br />
antisoziale Prinzip <strong>de</strong>r Vernichtung und Zerstörung gesellschaftlicher<br />
Kooperation.<br />
Der Weg, auf <strong>de</strong>m die antiliberalen Gesellschaftstheorien <strong>de</strong>n Versuch<br />
machten, das Frie<strong>de</strong>nsprinzip <strong>de</strong>s Liberalismus in Verruf zu bringen, war<br />
die Verwischung <strong>de</strong>s grundsätzlichen Unterschie<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r zwischen Kampf<br />
und Wettbewerb besteht. Kampf im ursprünglichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes ist<br />
das auf Vernichtung <strong>de</strong>s Lebens <strong>de</strong>s Gegners abzielen<strong>de</strong> Ringen von<br />
Menschen und Tieren. Das gesellschaftliche Leben <strong>de</strong>s Menschen beginnt<br />
mit <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>r Instinkte und Erwägungen, die zum<br />
Vernichtungskampf treiben. Die Geschichte zeigt uns ein stetiges<br />
Zurückweichen <strong>de</strong>s Kampfes als einer Form menschlicher Beziehungen;<br />
die Kämpfe wer<strong>de</strong>n seltener und verlieren gleichzeitig auch an Schärfe.<br />
Der überwun<strong>de</strong>ne Gegner wird nicht mehr vernichtet, ist es irgendwie angängig,<br />
ihn in die Gesellschaft aufzunehmen, so schont man sein Leben.<br />
Der Kampf selbst wird durch die Regeln, an die er gebun<strong>de</strong>n wird,<br />
einigermaßen gemil<strong>de</strong>rt. Doch Krieg und Revolution bleiben trotz alle<strong>de</strong>m<br />
Vernichtung und Zerstörung; <strong>de</strong>r Liberalismus hört darum nicht auf, ihren<br />
antisozialen Charakter zu betonen.
308<br />
Es ist nichts als eine Metapher, wenn man <strong>de</strong>n Wettbewerb Wettkampf<br />
o<strong>de</strong>r Kampf schlechthin nennt. Die Funktion <strong>de</strong>s Kampfes ist<br />
Vernichtung, die <strong>de</strong>s Wettbewerbes Aufbau. Der Wettbewerb im<br />
Wirtschaftsverkehr sorgt dafür, daß die Produktion in rationellster Weise<br />
betrieben wer<strong>de</strong>. Hier wie überall sonst wirkt er als Auslese <strong>de</strong>s Besten. Er<br />
ist ein Grundprinzip <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenwirkens, das unter<br />
keinen Umstän<strong>de</strong>n ausgeschaltet wer<strong>de</strong>n kann. Auch ein sozialistisches<br />
Gemeinwesen könnte ohne Wettbewerb nicht bestehen. Es müßte<br />
versuchen, ihn in irgen<strong>de</strong>iner Weise, etwa durch Prüfungen, einzuführen;<br />
die Wirksamkeit einer sozialistischen Lebensordnung wird davon<br />
abhängen, ob es ihr möglich sein wird, <strong>de</strong>n Wettbewerb genügend<br />
rücksichtslos und scharf zu machen, damit er seine Auslesefunktion<br />
erfülle.<br />
Drei Vergleichspunkte sind es, an die <strong>de</strong>r bildhafte Gebrauch <strong>de</strong>s<br />
Wortes Kampf für Wettbewerb anknüpft. Sowohl zwischen <strong>de</strong>n Gegnern<br />
im Kampfe als auch zwischen <strong>de</strong>n Konkurrenten im Wettkampfe besteht<br />
Feindseligkeit und Gegensätzlichkeit <strong>de</strong>r Interessen. Der Haß, <strong>de</strong>n ein<br />
Krämer seinem unmittelbaren Konkurrenten nachträgt, mag oft nicht<br />
geringer sein als <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n ein Montenegriner gegen die Moslims<br />
empfun<strong>de</strong>n hat. Doch die Affekte, mit <strong>de</strong>nen die Menschen ihr Han<strong>de</strong>ln<br />
begleiten, sind für die gesellschaftliche Funktion <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns ohne<br />
Be<strong>de</strong>utung. Was <strong>de</strong>r einzelne empfin<strong>de</strong>t, ist gleichgültig, solange sein<br />
Han<strong>de</strong>ln sich innerhalb <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Gesellschaftsordnung gesteckten<br />
Grenzen bewegen muß.<br />
Den zweiten Vergleichspunkt erblickt man in <strong>de</strong>r Auslesewirkung von<br />
Kampf und Wettkampf. Wieweit <strong>de</strong>r Kampf als Auslese <strong>de</strong>r Besten wirkt,<br />
soll dahingestellt bleiben; es wird noch zu zeigen sein, daß viele <strong>de</strong>n<br />
Kriegen und Revolutionen antiselektorische Wirkung zuschreiben. 1<br />
Keinesfalls aber geht es an, darüber, daß Kampf und Wettkampf<br />
Auslesefunktion erfüllen, die Wesensverschie<strong>de</strong>nheit, die zwischen ihnen<br />
besteht, zu übersehen.<br />
Den dritten Vergleichspunkt sucht man in <strong>de</strong>n Folgen, die die<br />
Nie<strong>de</strong>rlage für <strong>de</strong>n Überwun<strong>de</strong>nen nach sich zieht. Der Überwun<strong>de</strong>ne<br />
wer<strong>de</strong> vernichtet, sagt man, und be<strong>de</strong>nkt nicht, daß in <strong>de</strong>m einen Fall von<br />
Vernichtung nur bildlich gesprochen wer<strong>de</strong>n kann. Wer im Kampf<br />
unterliegt, wird getötet; auch im mo<strong>de</strong>rnen Kriege, in <strong>de</strong>m man die<br />
Besiegten schont, fließt Blut. Im Konkurrenzkampf wer<strong>de</strong>n, heißt es,<br />
wirtschaftliche Existenzen vernichtet. Doch das<br />
1 Vgl. weiter unten S. 316.
309<br />
be<strong>de</strong>utet nichts an<strong>de</strong>res, als daß die Unterliegen<strong>de</strong>n genötigt wer<strong>de</strong>n, sich<br />
eine an<strong>de</strong>re Stellung in <strong>de</strong>m Gefüge <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung<br />
auszusuchen als die, die sie gerne einnehmen wollten. Es be<strong>de</strong>utet aber<br />
durchaus nicht, daß sie etwa <strong>de</strong>m Hungertod preisgegeben wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Gesellschaft ist für alle Raum und Brot. Ihre Aus<strong>de</strong>hnungsfähigkeit<br />
ermöglicht je<strong>de</strong>m Arbeiter ein Unterkommen; im<br />
statischen Zustand kennt sie keine Arbeitslosen.<br />
Der Kampf im eigentlichen und ursprünglichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes ist<br />
antisozial; er macht zwischen <strong>de</strong>n Kämpfen<strong>de</strong>n Arbeitsgemeinschaft, das<br />
Grun<strong>de</strong>lement <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Vereinigung, unmöglich; er zerstört<br />
die Arbeitsgemeinschaft, wo sie schon besteht. Der Wettbewerb ist ein<br />
Element <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Er ist das ordnen<strong>de</strong><br />
Prinzip im gesellschaftlichen Verban<strong>de</strong>. Kampf und Wettkampf sind,<br />
gesellschaftsdynamisch betrachtet, die schärfsten Gegensätze.<br />
Mit dieser Erkenntnis erlangt man die Grundlage zur Beurteilung aller<br />
jener Theorien, die das Wesen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung im<br />
Kampfe wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>r Gruppen erblicken. Klassenkampf, Rassenkampf,<br />
Nationalitätenkampf können nicht das aufbauen<strong>de</strong> Prinzip sein;<br />
aus Zerstörung und Vernichtung wird niemals ein Bau entstehen.<br />
§ 4. Das wichtigste Mittel <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kooperation ist die<br />
Sprache. Die Sprache schlägt die Brücke über die Kluft, die die<br />
Individuen trennt; nur vermittels <strong>de</strong>r Sprache kann <strong>de</strong>r Mensch das, was<br />
ihn bewegt, <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren wenigstens einigermaßen mitteilen. Was die<br />
Sprache für das Denken und Wollen noch sonst zu be<strong>de</strong>uten hat, wie sie<br />
das Denken und Wollen bedingt und ohne sie kein Denken, nur Instinkt,<br />
und kein Wollen, nur Trieb, bestehen kann, ist hier nicht zu erörtern. 1<br />
Auch das Denken ist eine gesellschaftliche Erscheinung, nicht das<br />
Erzeugnis <strong>de</strong>s isolierten Geistes, son<strong>de</strong>rn ein Kind wechselseitiger<br />
Anregung und Befruchtung <strong>de</strong>r gleichen Zielen mit vereinten Kräften<br />
zustreben<strong>de</strong>n Menschen. Auch die Arbeit <strong>de</strong>s einsamen Denkers, <strong>de</strong>r in<br />
Zurückgezogenheit über Probleme brütet, um die sich nur wenige<br />
Menschen Sorge machen, ist Gespräch, ist Wechselre<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m<br />
Gedankengut, das als das Erzeugnis <strong>de</strong>r Geistesarbeit zahlloser<br />
Geschlechter in <strong>de</strong>r Sprache, in <strong>de</strong>n Begriffen <strong>de</strong>s Alltags und in <strong>de</strong>r<br />
schriftlichen Überlieferung<br />
1 Vgl. Cohen, Ethik <strong>de</strong>s reinen Willens, Berlin 1904, S. 183 f.
310<br />
nie<strong>de</strong>rgelegt ist. Das Denken ist an die Sprache gebun<strong>de</strong>n. Auf <strong>de</strong>n<br />
Sprachelementen baut sich das Begriffsgebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Denkers auf.<br />
Der menschliche Geist lebt nur in <strong>de</strong>r Sprache; im Wort erst ringt er<br />
sich von <strong>de</strong>m Dunkel <strong>de</strong>r Unklarheit und <strong>de</strong>r Verschwommenheit <strong>de</strong>s<br />
Instinkts zu <strong>de</strong>r Klarheit durch, die ihm überhaupt erreichbar ist. Das<br />
Denken und das Gedachte sind von <strong>de</strong>r Sprache, <strong>de</strong>r sie ihre Entstehung<br />
verdanken, nicht mehr loszulösen. Es mag sein, daß wir einmal eine<br />
Weltsprache erhalten wer<strong>de</strong>n. Das wird gewiß nicht auf <strong>de</strong>m Wege<br />
geschehen, <strong>de</strong>n die Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Volapük, <strong>de</strong>s Esperanto und an<strong>de</strong>rer<br />
ähnlicher Erzeugnisse einzuschlagen versucht haben. Die Schwierigkeiten,<br />
die <strong>de</strong>r Weltsprache und <strong>de</strong>r Völkerverständigung entgegenstehen,<br />
können nicht dadurch überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, daß man für die<br />
Bezeichnungen <strong>de</strong>s täglichen Lebens und für das, was jene auszudrücken<br />
wünschen, die sprechen, ohne viel zu <strong>de</strong>nken, i<strong>de</strong>ntische Silbenverbindungen<br />
ausheckt. Das Unübersetzbare, das <strong>de</strong>n Begriffen anhaftet und<br />
in <strong>de</strong>n Worten mitschwingt, trennt die Sprachen, nicht nur die<br />
Verschie<strong>de</strong>nheiten <strong>de</strong>s Klanges <strong>de</strong>r Wörter, die sich restlos übertragen<br />
lassen. Wenn man überall auf Er<strong>de</strong>n für „Kellner“ und für „Haustor“<br />
dieselbe Bezeichnung verwen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, so wür<strong>de</strong> dies noch lange nicht<br />
die Aufhebung <strong>de</strong>r Trennung <strong>de</strong>r Sprachen und Nationen be<strong>de</strong>uten. Doch<br />
wenn es einst dazu kommen sollte, daß alles in einer Sprache<br />
Ausgedrückte restlos in an<strong>de</strong>re Zungen übertragen wer<strong>de</strong>n könnte, dann<br />
wäre die Spracheinheit auch ohne <strong>de</strong>n Gleichklang <strong>de</strong>r Silben erreicht.<br />
Dann wür<strong>de</strong>n die verschie<strong>de</strong>nen Sprachen nur noch verschie<strong>de</strong>ne Zungen<br />
sein; dann wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Flug <strong>de</strong>s Gedankens von Volk zu Volk nicht länger<br />
gehemmt wer<strong>de</strong>n durch die Unübersetzbarkeit <strong>de</strong>s Wortes.<br />
Solange dieser Zustand nicht erreicht ist, - und es ist nicht unmöglich,<br />
daß er nie erreicht wer<strong>de</strong>n wird - ergeben sich aus <strong>de</strong>m<br />
Nebeneinan<strong>de</strong>rleben von Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner Völker in <strong>de</strong>n<br />
gemischtsprachigen Gebieten politische Reibungen, die zur Entstehung<br />
von scharfen politischen Gegensätzen führen. 1 Aus diesen Streitigkeiten<br />
ist - mittelbar und unmittelbar - <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Völkerhaß entsprungen, auf<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Imperialismus fußt.<br />
Die imperialistische Theorie macht sich ihre Aufgabe sehr leicht, wenn<br />
sie sich darauf beschränkt, <strong>de</strong>n Nachweis zu erbringen, daß zwischen <strong>de</strong>n<br />
Nationen Gegensätze bestehen. Um die Richtigkeit<br />
1 Vgl. meine Ausführungen in „Nation, Staat und Wirtschaft“, a. a. O. S. 31 ff.
311<br />
ihrer Ausführungen zu beweisen, hätte sie auch dartun müssen, daß<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Nationen Interessensolidarität besteht. Die nationalistischimperialistische<br />
Lehre ist als Reaktion gegen <strong>de</strong>n ökumenischen<br />
Solidarismus <strong>de</strong>r Freihan<strong>de</strong>lsdoktrin aufgetreten. Die Geistesverfassung,<br />
in <strong>de</strong>r sie die Menschen vorfand, war die kosmopolitische I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Weltbürgertums und <strong>de</strong>r Völkerverbrü<strong>de</strong>rung. So dachte sie, daß es<br />
genügen könnte, <strong>de</strong>n Nachweis zu führen, daß zwischen <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Nationen Gegensätze <strong>de</strong>r Interessen bestehen, und übersah ganz, daß alle<br />
jene Argumente, mit <strong>de</strong>nen sie die Unverträglichkeit <strong>de</strong>r nationalen<br />
Interessen dartun will, auch mit <strong>de</strong>rselben Berechtigung die<br />
Unverträglichkeit <strong>de</strong>r regionalen und schließlich auch <strong>de</strong>r persönlichen<br />
Interessen <strong>de</strong>r einzelnen beweisen könnten. Wenn es <strong>de</strong>m Deutschen<br />
schädlich sein soll, englisches Tuch und russisches Getrei<strong>de</strong> zu<br />
konsumieren, so muß wohl auch <strong>de</strong>m Berliner <strong>de</strong>r Genuß von bayrischem<br />
Bier und Pfälzer Wein Scha<strong>de</strong>n bringen. Wenn es nicht gut tut, die<br />
Arbeitsteilung über die Grenzen <strong>de</strong>s Staates o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Volksgebietes<br />
hinausgreifen zu lassen, dann wird es wohl überhaupt am En<strong>de</strong> das<br />
Richtigste sein, zur Selbstgenügsamkeit <strong>de</strong>r geschlossenen Hauswirtschaft<br />
zurückzukehren. Das Schlagwort: fort mit <strong>de</strong>n frem<strong>de</strong>n Waren! führt,<br />
genau genommen, schließlich zur Aufhebung aller Arbeitsteilung. Denn<br />
das Prinzip, das die internationale Arbeitsteilung als vorteilhaft erscheinen<br />
läßt, ist kein an<strong>de</strong>res als das, das die Arbeitsteilung überhaupt empfiehlt.<br />
Es ist kein Zufall, daß gera<strong>de</strong> das <strong>de</strong>utsche Volk unter allen Völkern<br />
am wenigsten Sinn für nationalen Zusammenhalt hat, und daß es unter<br />
allen Völkern Europas am spätesten Verständnis für die politische<br />
Einigung zu einem alle Volksgenossen umfassen<strong>de</strong>n Staatswesen gezeigt<br />
hat. Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r nationalen Einigung ist ein Kind <strong>de</strong>s Liberalismus, <strong>de</strong>s<br />
Freihan<strong>de</strong>ls und <strong>de</strong>s laissez faire. Das <strong>de</strong>utsche Volk, das sich, gera<strong>de</strong> aus<br />
<strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong> heraus, daß es infolge seiner Siedlungsverhältnisse am<br />
frühesten die Nachteile <strong>de</strong>r nationalen Vergewaltigung in <strong>de</strong>n<br />
gemischtsprachigen Gebieten kennen gelernt hat, <strong>de</strong>m Liberalismus<br />
gegenüber am ablehnendsten verhalten hat, hatte nicht die geistigen Mittel<br />
zur Hand, um <strong>de</strong>n Regionalismus und die Son<strong>de</strong>rbestrebungen einzelner<br />
Gruppen zu überwin<strong>de</strong>n. Und es ist wie<strong>de</strong>rum kein Zufall, daß das Gefühl<br />
<strong>de</strong>r nationalen Zusammengehörigkeit bei keinem zweiten Volke stärker<br />
entwickelt ist als bei <strong>de</strong>n Angelsachsen, <strong>de</strong>m klassischen Volke <strong>de</strong>s<br />
Liberalismus.
312<br />
Es ist ein verhängnisvoller Irrwahn <strong>de</strong>r Imperialisten, wenn sie<br />
glauben, durch die Abweisung <strong>de</strong>s Kosmopolitismus <strong>de</strong>n Zusammenhalt<br />
<strong>de</strong>r Volksgenossen zu kräftigen. Sie übersehen, daß das antisoziale<br />
Grun<strong>de</strong>lement ihrer Lehre, folgerichtig angewen<strong>de</strong>t, zur Zerreißung je<strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Gemeinschaft führen muß.<br />
§ 5. Die Wissenschaft von <strong>de</strong>n angeborenen Eigenschaften <strong>de</strong>s<br />
Menschen ist über die ersten Anfänge nicht hinausgekommen. Wir<br />
können über das Erbgut, das <strong>de</strong>r Einzelne mit auf die Welt bringt,<br />
eigentlich nicht mehr sagen als das, daß es Menschen gibt, die von Geburt<br />
aus besser, und solche, die von Geburt aus schlechter ausgestattet sind.<br />
Darüber aber, worin <strong>de</strong>r Unterschied zwischen gut und schlecht zu suchen<br />
sei, sind wir nicht imstan<strong>de</strong>, irgen<strong>de</strong>ine Aussage zu machen. Wir wissen,<br />
das es zwischen <strong>de</strong>n Menschen Unterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>r körperlichen und<br />
seelischen Eigenschaften gibt, wir wissen, daß es Familien, Stämme und<br />
Gruppen von Stämmen gibt, die verwandte Züge aufweisen, und wir<br />
wissen, daß es wohl gerechtfertigt ist, verschie<strong>de</strong>ne Rassen zu<br />
unterschei<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Rassenqualität <strong>de</strong>s einzelnen zu<br />
sprechen. Doch die Versuche, somatische Merkmale <strong>de</strong>r Rassenverwandtschaft<br />
aufzufin<strong>de</strong>n, sind bis nun ergebnislos geblieben. Man hat gemeint,<br />
im Schä<strong>de</strong>lin<strong>de</strong>x ein Rassenmerkmal gefun<strong>de</strong>n zu haben. Man ist jedoch<br />
allmählich zur Überzeugung gelangt, daß jene Beziehungen zwischen <strong>de</strong>m<br />
Schä<strong>de</strong>lin<strong>de</strong>x und <strong>de</strong>n seelischen und geistigen Eigenschaften <strong>de</strong>s<br />
Individuums, die die anthroposoziologische Schule Laponges zur<br />
Grundlage ihres Systems gemacht hat, nicht bestehen. Neuere Messungen<br />
haben gezeigt, daß die Langköpfigen nicht immer blon<strong>de</strong>, gute, edle und<br />
gebil<strong>de</strong>te Menschen und die Kurzköpfigen nicht immer schwarze,<br />
schlechte, gemeine und ungebil<strong>de</strong>te Leute sind. Zu <strong>de</strong>n langköpfigsten<br />
Rassen zählen die Australneger, die Eskimos und die Kaffern. Viele <strong>de</strong>r<br />
1<br />
größten Genies waren Rundköpfe; Kants Schä<strong>de</strong>lin<strong>de</strong>x war 88. Es hat<br />
sich als sehr wahrscheinlich herausgestellt, daß Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s<br />
Schä<strong>de</strong>lin<strong>de</strong>x auch ohne Rassenmischung durch Einwirkungen <strong>de</strong>r<br />
2<br />
Lebensweise und <strong>de</strong>s geographischen Milieus vor sich gehen können.<br />
Man kann das allen Anfor<strong>de</strong>rungen, die an das wissenschaftliche<br />
Denken gestellt wer<strong>de</strong>n müssen, hohnsprechen<strong>de</strong> Vorgehen<br />
1 Vgl. Oppenheimer, Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie (Verhandlungen<br />
<strong>de</strong>s Zweiten Deutschen Soziologentages, Tübingen 1913) S. 106 ff.; vgl. auch Hertz, Rasse<br />
und Kultur, Leipzig 1915.<br />
2 Vgl. Nyström, Über die Formenverän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s menschlichen Schä<strong>de</strong>ls und <strong>de</strong>ren<br />
Ursachen (Archiv für Anthropologie, 27. Bd.) S. 321 ff., 630 ff., 642.
313<br />
jener Rassentheoretiker, die leichten Herzens ohne je<strong>de</strong>s kritische<br />
Be<strong>de</strong>nken Rassen unterschei<strong>de</strong>n und Rassenmerkmale aufstellen, nicht<br />
genug scharf verurteilen. Es ist nicht zu bestreiten, daß es ihnen dabei<br />
mehr um die Schaffung von Schlagwörtern für <strong>de</strong>n politischen Kampf als<br />
um die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Erkenntnis zu tun ist. Doch die Kritiker <strong>de</strong>s<br />
rassentheoretischen Dilettantismus machen sich ihre Sache zu leicht,<br />
wenn sie ihr Augenmerk lediglich auf die konkrete Gestalt, die die<br />
einzelnen Schriftsteller <strong>de</strong>r Lehre geben, und auf <strong>de</strong>n Inhalt ihrer<br />
Aussagen über die einzelnen Rassen, ihre leiblichen Merkmale und ihre<br />
seelischen Eigenschaften richten. Auch wenn man die willkürlichen, je<strong>de</strong>r<br />
Begründung entbehren<strong>de</strong>n und wi<strong>de</strong>rspruchsvollen Hypothesen von<br />
Gobineau und Chamberlain als leere Hirngespinste zurückgewiesen hat,<br />
bleibt doch ein Kern <strong>de</strong>r Rassentheorie bestehen, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r konkreten<br />
Unterscheidung edler und unedler Rassen unabhängig ist.<br />
In Gobineaus Lehre ist die Rasse ein Anfang; durch einen beson<strong>de</strong>ren<br />
Schöpfungsakt entstan<strong>de</strong>n, ist sie mit beson<strong>de</strong>ren Eigenschaften<br />
ausgestattet. 1 Die Einwirkung <strong>de</strong>s Milieus wird gering angeschlagen.<br />
Rassenmischung zeugt Bastar<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>nen die guten Erbqualitäten <strong>de</strong>r<br />
edleren Rasse verschlechtert auftreten o<strong>de</strong>r ganz verloren gehen. Um die<br />
soziologische Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Rassentheorie zu bestreiten, genügt es<br />
jedoch keineswegs, die Unhaltbarkeit dieser Auffassung zu erweisen und<br />
darzulegen, daß Rasse das Ergebnis einer Entwicklung ist, die unter <strong>de</strong>n<br />
mannigfachsten Einflüssen vonstatten geht. Es bliebe diesem Einwan<strong>de</strong><br />
gegenüber noch immer die Möglichkeit, zu behaupten, daß bestimmte,<br />
durch lange Zeit fortgesetzte Einwirkungen eine o<strong>de</strong>r mehrere Rassen mit<br />
beson<strong>de</strong>rs günstigen Eigenschaften gezüchtet hätten, und daß die<br />
Vorzüge, die die Angehörigen dieser Rassen über die an<strong>de</strong>ren Rassen<br />
hinausheben, einen Vorsprung gewähren, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n übrigen Menschen<br />
in absehbarer Zeit nicht mehr ausgeglichen wer<strong>de</strong>n kann. In <strong>de</strong>r Tat haben<br />
auch die mo<strong>de</strong>rnsten Spielarten <strong>de</strong>r Rassentheorie Ähnliches vorgetragen.<br />
Man muß die Rassentheorie in dieser Gestalt betrachten und sich die<br />
Frage vorlegen, wie sie sich zur soziologischen Theorie von <strong>de</strong>r<br />
Arbeitsgemeinschaft verhält.<br />
Da können wir zunächst feststellen, daß die Rassentheorie zunächst<br />
nichts enthält, was <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsteilung<br />
wi<strong>de</strong>rsprechen müßte. Die bei<strong>de</strong>n vertragen sich sehr gut. Es ist ohne<br />
weiteres zulässig, anzunehmen, daß die Rassen<br />
1 Vgl. Oppenheimer, a. a. O., S. 110 f.
314<br />
in Verstan<strong>de</strong>sfähigkeit und Willenskraft verschie<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>mgemäß auch<br />
für die Gesellschaftsbildung recht ungleich begabt sind, und daß die<br />
besseren Rassen sich gera<strong>de</strong> durch die beson<strong>de</strong>re Eignung für die<br />
Verstärkung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenschlusses auszeichnen.<br />
Diese Hypothese könnte uns manches in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Entwicklung aufklären, was sonst nicht leicht zu erfassen ist. Man mag sie<br />
verwen<strong>de</strong>n, um Entwicklung und Rückbildung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Arbeitsteilung und damit Blüte und Verfall <strong>de</strong>r Kultur zu erklären. Es<br />
bleibe dahingestellt, ob die Hypothese selbst und die auf ihr aufgebauten<br />
weiteren Hypothesen haltbar sind; das steht hier augenblicklich nicht in<br />
Frage. Für uns ist allein das wichtig, daß die Rassentheorie mit <strong>de</strong>n<br />
Ergebnissen <strong>de</strong>r soziologischen Lehre von <strong>de</strong>r Arbeitsgemeinschaft ohne<br />
Schwierigkeit vereinbar ist.<br />
Wenn die Rassentheorie sich gegen das naturrechtliche Postulat <strong>de</strong>r<br />
Gleichheit und damit <strong>de</strong>r Gleichberechtigung aller Menschen wen<strong>de</strong>t,<br />
trifft sie nicht das Freihan<strong>de</strong>lsargument <strong>de</strong>r liberalen Schule. Denn <strong>de</strong>r<br />
Liberalismus tritt für die Freiheit <strong>de</strong>r Arbeiter nicht aus naturrechtlichen<br />
Grün<strong>de</strong>n ein, son<strong>de</strong>rn weil er die unfreie Arbeit, die <strong>de</strong>n Arbeiter nicht mit<br />
<strong>de</strong>m ganzen seiner Arbeit ökonomisch zugerechneten Ertrage entlohnt und<br />
sein Einkommen von <strong>de</strong>r Ergiebigkeit <strong>de</strong>r von ihm geleisteten Arbeit<br />
unabhängig macht, als weniger produktiv ansieht als die freie Arbeit. Die<br />
Rassentheorie weiß auch nichts vorzubringen, das die freihändlerische<br />
Argumentation über die Wirkungen <strong>de</strong>r Ausbreitung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Arbeitsteilung wi<strong>de</strong>rlegen könnte. Zugegeben, daß die Rassen in<br />
Begabung und Charakter verschie<strong>de</strong>n seien, und daß keine Hoffnung<br />
bestehe, diese Unterschie<strong>de</strong> je schwin<strong>de</strong>n zu sehen. Doch die Freihan<strong>de</strong>lstheorie<br />
zeigt eben das, daß auch für die Fähigeren aus <strong>de</strong>r Verbindung mit<br />
<strong>de</strong>n weniger Fähigen ein Vorteil erwächst, daß die gesellschaftliche<br />
Kooperation auch ihnen <strong>de</strong>n Nutzen höherer Produktivität <strong>de</strong>s<br />
Gesamtarbeitsprozesses zuführt. 1<br />
Die Rassentheorie tritt erst dort in Gegensatz zur liberalen Sozialtheorie,<br />
wo sie anfängt, <strong>de</strong>n Kampf zwischen <strong>de</strong>n Rassen zu predigen.<br />
Doch sie weiß nicht mehr zur Bekräftigung <strong>de</strong>s alten Spruches <strong>de</strong>s<br />
Heraklit, daß <strong>de</strong>r Krieg <strong>de</strong>r Vater aller Dinge sei, vorzubringen als die<br />
an<strong>de</strong>ren militaristischen Gesellschaftstheorien. Auch ihr gelingt es nicht<br />
zu zeigen, wie sich aus Zerstörung und Vernichtung<br />
1 Vgl. oben S. 280.
315<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaftsbau türmen könnte. Sie muß im Gegenteil überall dort,<br />
wo sie selbständig <strong>de</strong>nkt und nicht bloß aus gefühlsmäßigen Sympathien<br />
sich dazu verleiten läßt, die militaristisch-aristokratische I<strong>de</strong>ologie zu<br />
übernehmen, gera<strong>de</strong> vom rassenselektorischen Standpunkt dazu gelangen,<br />
<strong>de</strong>n Krieg zu verdammen. Lapouge hat darauf hingewiesen, daß <strong>de</strong>r Krieg<br />
nur bei <strong>de</strong>n Naturvölkern zur Auslese <strong>de</strong>r Kräftigeren und Begabteren<br />
führe, daß er aber bei <strong>de</strong>n zivilisierten Völkern durch ungünstige Auslese<br />
die Rasse verschlechtere. 1 Die Tüchtigen sind <strong>de</strong>r Gefahr, getötet zu<br />
wer<strong>de</strong>n in höherem Gra<strong>de</strong> ausgesetzt als die Untauglichen, die überhaupt<br />
o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st länger hinter <strong>de</strong>r Front bleiben dürfen. Die mannigfachen<br />
Schä<strong>de</strong>n, die die <strong>de</strong>n Krieg Überleben<strong>de</strong>n treffen, setzen ihre Kraft, eine<br />
gesun<strong>de</strong> Nachkommenschaft hervorzubringen, herab.<br />
Die Ergebnisse <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Rassenforschung sind<br />
keineswegs imstan<strong>de</strong>, die liberale Theorie <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Entwicklung irgendwie zu wi<strong>de</strong>rlegen; sie bestätigen sie eher. Die<br />
Rassentheorien Gobineaus und vieler an<strong>de</strong>rer sind aus <strong>de</strong>m Groll einer<br />
unterlegenen Militär- und A<strong>de</strong>lskaste gegen bürgerliche Demokratie und<br />
kapitalistische Wirtschaftsführung entstan<strong>de</strong>n. Sie haben für <strong>de</strong>n<br />
Gebrauch <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen imperialistischen Tagespolitik eine Fassung<br />
angenommen, die sie als eine Wie<strong>de</strong>rgeburt <strong>de</strong>r alten Gewalt- und<br />
Kriegstheorien erscheinen lassen. Doch sie sind nur gegen die<br />
naturrechtlichen Schlagwörter verwendbar; <strong>de</strong>r liberalen Wirtschafts- und<br />
Gesellschaftstheorie können sie nichts entgegenhalten. Auch die<br />
Rassentheorie vermag <strong>de</strong>n Satz, daß alle Kultur das Werk <strong>de</strong>r friedlichen<br />
Kooperation <strong>de</strong>r Menschen ist, nicht zu erschüttern.<br />
IV.<br />
Klassengegensatz und Klassenkampf.<br />
§ 1. In <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeitsgemeinschaft nimmt <strong>de</strong>r Einzelne<br />
jeweils eine bestimmte Stellung ein, durch die sein Verhältnis zu allen<br />
übrigen Glie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Gesellschaft gegeben ist. Die Beziehung, die ihn mit<br />
<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Gesellschaft verbin<strong>de</strong>t, ist die Tauschbeziehung.<br />
Als Geben<strong>de</strong>r und Empfangen<strong>de</strong>r, als Verkäufer und Käufer<br />
gehört er <strong>de</strong>r Gesellschaft an. Dabei<br />
1 „Chez les peuples mo<strong>de</strong>rnes, la guerre et le militarisme sont <strong>de</strong> véritables fléaux dont<br />
le résultat <strong>de</strong>finitif est <strong>de</strong> déprimer la race.“ (Lapouge, Les sé1ections sociales, Paris 1896,<br />
S. 230.)
316<br />
muß seine Stellung durchaus nicht immer ein<strong>de</strong>utig sein. Es kann einer<br />
zugleich Grundbesitzer, Lohnarbeiter und Kapitalbesitzer sein, ein an<strong>de</strong>rer<br />
zugleich Unternehmer, Angestellter und Grundbesitzer, ein dritter<br />
zugleich Unternehmer, Kapitalist und Grundbesitzer usf. Es kann einer<br />
zugleich Käse und Körbe erzeugen und sich daneben gelegentlich als<br />
Taglöhner verdingen usf. Aber auch die Lage jener, die sich in annähernd<br />
gleicher Stellung befin<strong>de</strong>n, unterschei<strong>de</strong>t sich nach <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren<br />
Verhältnissen, in <strong>de</strong>nen sie auf <strong>de</strong>m Markte auftreten. Auch als Käufer für<br />
<strong>de</strong>n Eigenverbrauch ist je<strong>de</strong>r je nach seinen beson<strong>de</strong>ren Bedürfnissen in<br />
an<strong>de</strong>rer Stellung. Auf <strong>de</strong>m Markte gibt es immer nur einzelne Individuen;<br />
<strong>de</strong>r Marktverkehr <strong>de</strong>r freien Wirtschaftsverfassung wirkt atomisierend,<br />
wie man - meist in ta<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>m und bedauern<strong>de</strong>m Sinn - zu sagen pflegt.<br />
Selbst Marx muß ausdrücklich erklären: „Da Käufe und Verkäufe nur<br />
zwischen einzelnen Individuen abgeschlossen wer<strong>de</strong>n, so ist es<br />
unzulässig, Beziehungen zwischen ganzen Gesellschaftsklassen darin zu<br />
suchen“. 1<br />
Faßt man die Gesamtheit jener, die sich in annähernd gleicher<br />
gesellschaftlicher Lage befin<strong>de</strong>n, unter <strong>de</strong>r Bezeichnung Gesellschaftsklasse<br />
zusammen, dann muß man <strong>de</strong>ssen einge<strong>de</strong>nk bleiben, daß damit<br />
noch nichts für die Klärung <strong>de</strong>r Frage, ob <strong>de</strong>n Klassen eine beson<strong>de</strong>re<br />
Be<strong>de</strong>utung im gesellschaftlichen Leben zukommt, getan ist. Schematisieren<br />
und Klassifizieren an sich haben noch keinen Erkenntniswert. Erst die<br />
Funktion, die die Begriffe in <strong>de</strong>n Theorien, in die sie eingefügt wer<strong>de</strong>n, zu<br />
erfüllen haben, verleiht ihnen eine Be<strong>de</strong>utung für die Wissenschaft;<br />
isoliert und außerhalb <strong>de</strong>s Zusammenhangs mit <strong>de</strong>rartigen Theorien sind<br />
sie nichts als unfruchtbares Gedankenspiel. Daher ist es noch lange kein<br />
Beweis für die Brauchbarkeit <strong>de</strong>r Klassentheorie, wenn man darauf<br />
hinweist, die Tatsache,<br />
1 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., I. Bd., S. 550. - Die ganze Stelle, <strong>de</strong>r das<br />
obenstehen<strong>de</strong> Zitat entnommen ist, war in <strong>de</strong>r ersten, 1867 veröffentlichten Auflage nicht<br />
enthalten gewesen. Marx hat sie erst <strong>de</strong>r 1873 veröffentlichten französischen Ausgabe<br />
eingefügt, von wo sie Engels in die vierte Auflage <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ausgabe<br />
herübergenommen hat. Masaryk (Die philosophischen und soziologischen Grundlagen <strong>de</strong>s<br />
Marxismus, Wien 1899, S. 299) bemerkt mit Recht, daß sie wohl im Zusammenhange mit<br />
<strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen, die Marx im III. Bd. <strong>de</strong>s „Kapital“ an seiner Theorie vorgenommen<br />
hat, stehe. Man kann sie als einen Wi<strong>de</strong>rruf <strong>de</strong>r marxistischen Klassentheorie ansehen. Es<br />
ist bezeichnend, daß <strong>de</strong>r dritte Band <strong>de</strong>s „Kapital“ in <strong>de</strong>m „Die Klassen“ überschriebenen<br />
Kapitel nach wenigen Sätzen abbricht. In <strong>de</strong>r Behandlung <strong>de</strong>s Klassenproblems ist Marx<br />
über die beweislose Aufstellung eines Dogmas nicht hinausgekommen.
317<br />
daß die Menschen sich in verschie<strong>de</strong>ner gesellschaftlicher Lage befin<strong>de</strong>n,<br />
sei evi<strong>de</strong>nt, man könne mithin <strong>de</strong>n Bestand von Gesellschaftsklassen nicht<br />
bestreiten. Nicht auf die Tatsache <strong>de</strong>r Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Stellung <strong>de</strong>r einzelnen kommt es an, son<strong>de</strong>rn darauf,<br />
welche Be<strong>de</strong>utung diese Tatsache für das gesellschaftliche<br />
Zusammenleben hat.<br />
Daß <strong>de</strong>r Gegensatz von arm und reich wie überhaupt wirtschaftliche<br />
Gegensätze jeglicher Art in <strong>de</strong>r Politik eine große Rolle spielen, war seit<br />
altersher allgemein bekannt. Nicht min<strong>de</strong>r bekannt war die Be<strong>de</strong>utung, die<br />
<strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong>- und Kastenunterschied, d. h. die Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r<br />
Rechtsstellung, die Ungleichheit vor <strong>de</strong>m Gesetz, in <strong>de</strong>r Geschichte<br />
gespielt haben. Auch die klassische Nationalökonomie hat dies nicht<br />
bestritten. Sie hat aber unternommen, zu zeigen, daß alle diese Gegensätze<br />
nur aus verkehrten politischen Einrichtungen entspringen. Zwischen <strong>de</strong>n<br />
richtig verstan<strong>de</strong>nen Interessen <strong>de</strong>r Einzelnen bestehe keine<br />
Unverträglichkeit. Die vermeintlichen Interessengegensätze, die früher<br />
eine große Rolle gespielt haben, seien auf die Unkenntnis <strong>de</strong>r<br />
Naturgesetze <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens zurückzuführen. Nun, da man<br />
die I<strong>de</strong>ntität aller richtig verstan<strong>de</strong>nen Interessen erkannt habe, wer<strong>de</strong> man<br />
sich im politischen Kampf <strong>de</strong>r alten Argumente nicht mehr bedienen<br />
können.<br />
Doch die klassische Nationalökonomie, die auf <strong>de</strong>r einen Seite die<br />
Lehre von <strong>de</strong>r Solidarität <strong>de</strong>r Interessen verkün<strong>de</strong>t, legt in ihrem System<br />
selbst <strong>de</strong>n Grundstein zu einer neuen Theorie <strong>de</strong>s Klassengegensatzes. Die<br />
Merkantilisten hatten in <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>r Sozialökonomik - als Lehre<br />
vom objektiven Reichtum betrachtet - die Güter gestellt. Die große Tat <strong>de</strong>r<br />
Klassiker ist es, neben die Güter <strong>de</strong>n wirtschaften<strong>de</strong>n Menschen zu<br />
stellen, womit sie <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Nationalökonomie, die im Mittelpunkt<br />
ihres Systems <strong>de</strong>n Menschen und seine subjektive Wertschätzung allein<br />
stehen läßt, <strong>de</strong>n Weg bereiten. Das System, in <strong>de</strong>m Mensch und Gut<br />
nebeneinan<strong>de</strong>r stehen, zerfällt aber schon äußerlich in zwei Teile, in <strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>r die Bildung, und in <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r die Verteilung <strong>de</strong>s Reichtums behan<strong>de</strong>lt.<br />
Je mehr die Nationalökonomie zur strengen Wissenschaft, zu einem<br />
System <strong>de</strong>r Katallaktik wird, <strong>de</strong>sto mehr tritt diese Auffassung von ihrem<br />
Wesen zurück, doch <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Verteilung bleibt vorerst noch stehen.<br />
Mit ihm verknüpft sich dann unwillkürlich die Vorstellung einer<br />
Trennung <strong>de</strong>s Produktions- und <strong>de</strong>s Verteilungsprozesses. Die Güter<br />
wer<strong>de</strong>n zunächst gesellschaftlich erzeugt
318<br />
und dann aufgeteilt. Die Vorstellung, daß Produktion und „Verteilung“<br />
unzertrennlich miteinan<strong>de</strong>r verknüpft sind, mag noch so klar sein, das<br />
unglückselige Wort drängt sie doch immer wie<strong>de</strong>r mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />
zurück. 1<br />
Sobald man aber einmal die Vorstellung einer Verteilung gefaßt hat<br />
und das nationalökonomische Zurechnungsproblem als Verteilungsproblem<br />
ansieht, sind Mißverständnisse kaum zu vermei<strong>de</strong>n. Denn die<br />
Zurechnungslehre o<strong>de</strong>r, um einen Ausdruck zu gebrauchen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Fassung dieses Problems durch die Klassiker besser entspricht, die<br />
Einkommenslehre muß zwischen <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Kategorien <strong>de</strong>r<br />
Produktionsfaktoren unterschei<strong>de</strong>n, mag auch für alle das gleiche<br />
Grundprinzip <strong>de</strong>r Wertbildung zur Anwendung gebracht wer<strong>de</strong>n. Für sie<br />
ist eine Trennung <strong>de</strong>r „Arbeit“ vom „Kapital“ und vom „Bo<strong>de</strong>n“ gegeben.<br />
Und nichts liegt dann näher als eine Vorstellung, die Arbeiter,<br />
Kapitalisten und Bo<strong>de</strong>nbesitzer als getrennte Klassen ansieht, wie dies<br />
zuerst von Ricardo in <strong>de</strong>r Vorre<strong>de</strong> zu seinen Principles geschieht.<br />
Geför<strong>de</strong>rt wird diese Auffassung durch <strong>de</strong>n Umstand, daß die Klassiker<br />
<strong>de</strong>n „profit“ nicht in seine Bestandteile spalten, so daß das Bild, das die<br />
Gesellschaft in drei große Klassen zerlegt sieht, nicht gestört wird.<br />
Ricardo geht aber noch weiter. In<strong>de</strong>m er aufzeigt, wie auf<br />
verschie<strong>de</strong>nen Stufen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung - „in different<br />
stages of society“ - 2 die verhältnismäßigen Anteile an <strong>de</strong>m Gesamtprodukt,<br />
die je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r drei Klassen zufallen, verschie<strong>de</strong>n sind, <strong>de</strong>hnt er<br />
<strong>de</strong>n Klassengegensatz auch auf die Dynamik aus. Darin folgen ihm die<br />
späteren nach. Und hier ist es, wo Marx mit seiner ökonomischen Theorie,<br />
die im „Kapital“ vorgetragen wird, anknüpft. In seinen älteren Schriften,<br />
vor allem in <strong>de</strong>n einleiten<strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Kommunistischen Manifests,<br />
faßt er die Begriffe Klasse und Klassengegensatz noch in <strong>de</strong>m alten Sinn<br />
eines Gegensatzes <strong>de</strong>r rechtlichen Stellung und <strong>de</strong>r Vermögensgröße auf.<br />
Die Verbindung zwischen bei<strong>de</strong>n Vorstellungen wird durch die<br />
Auffassung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Arbeitsverhältnisses als einer Herrschaft <strong>de</strong>r<br />
Besitzer über die Arbeiter hergestellt. Marx hat es unterlassen, <strong>de</strong>n Begriff<br />
<strong>de</strong>r Klasse, <strong>de</strong>r für seine Lehre von grundlegen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist, genau<br />
zu umschreiben. Er sagt nicht, was Klasse ist, son<strong>de</strong>rn beschränkt sich<br />
darauf, zu sagen, in welche „große Klassen“ die mo<strong>de</strong>rne, auf <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Produktionsweise<br />
1 Über die Geschichte <strong>de</strong>s Verteilungsbegriffes vgl. Cannan, a. a. O., S. 183 ff.<br />
2 Vgl. Ricardo (Works, a. a. O.) S. 5.
319<br />
beruhen<strong>de</strong> Gesellschaft zerfällt. 1 Dabei folgt er genau <strong>de</strong>r Einteilung<br />
Ricardos, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß für Ricardo die<br />
Unterscheidung <strong>de</strong>r Klassen lediglich in <strong>de</strong>r Katallaktik Be<strong>de</strong>utung hat.<br />
Der Erfolg, <strong>de</strong>n die marxistische Theorie <strong>de</strong>r Klassen und <strong>de</strong>s<br />
Klassenkampfes errungen hat, war ungeheuer groß. Heute ist die<br />
Unterscheidung von Klassen innerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft und <strong>de</strong>r Bestand<br />
von unüberbrückbaren Klassengegensätzen fast allgemein anerkannt.<br />
Auch die, die <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>n Klassen wünschen und anstreben,<br />
bestreiten in <strong>de</strong>r Regel nicht, daß es Klassengegensätze gebe und daß<br />
zwischen <strong>de</strong>n Klassen Kämpfe geführt wer<strong>de</strong>n. Doch <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r<br />
Klasse blieb nach wie vor unklar. Wie bei Marx selbst, so schillert er auch<br />
bei allen jenen, die ihm nachfolgten, in allen Farben.<br />
Baut man ihn, was <strong>de</strong>m System <strong>de</strong>s „Kapital“ entspricht, aus <strong>de</strong>n<br />
Produktionsfaktoren <strong>de</strong>s klassischen Systems auf, dann macht man eine<br />
Glie<strong>de</strong>rung, die allein für die Zwecke <strong>de</strong>r Katallaktik ersonnen war und<br />
nur in ihr Berechtigung hat, zur Grundlage allgemein soziologischer<br />
Erkenntnis. Man übersieht, daß die Zusammenfassung <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren<br />
in zwei, drei o<strong>de</strong>r vier große Gruppen lediglich eine Frage <strong>de</strong>s<br />
nationalökonomischen Systems ist, und daß sie allein in diesem System<br />
Geltung haben kann. Daß man gewisse Gruppen von Zurechnungspunkten<br />
für die Betrachtung zusammenfaßt, hat seinen Grund nicht etwa darin, daß<br />
zwischen ihnen untereinan<strong>de</strong>r eine engere Verwandtschaft bestün<strong>de</strong>. Der<br />
Grund <strong>de</strong>r Zusammenfassung auf <strong>de</strong>r einen und <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rung und<br />
Gegenüberstellung auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite liegt allein in <strong>de</strong>m Zweck <strong>de</strong>s<br />
Systems, <strong>de</strong>m sie dienen. Die Son<strong>de</strong>rstellung <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns ist durch die<br />
klassische Lehre von <strong>de</strong>r Grundrente gegeben. Bo<strong>de</strong>n ist im Sinne <strong>de</strong>s<br />
Systems dasjenige Gut, das unter gewissen Voraussetzungen Rente abzuwerfen<br />
vermag. Ebenso ist die Stellung <strong>de</strong>s Kapitals als <strong>de</strong>r Quelle <strong>de</strong>s<br />
Profits und <strong>de</strong>r Arbeit als <strong>de</strong>r Quelle <strong>de</strong>s Lohns durch die Beson<strong>de</strong>rheit<br />
<strong>de</strong>s klassischen Systems gegeben. Für die spätere Auffassung <strong>de</strong>s<br />
Verteilungsproblems, die <strong>de</strong>n „profit“ <strong>de</strong>r klassischen Schule in<br />
Unternehmergewinn und Kapitalzins zerlegt, war die Gruppierung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsfaktoren schon eine ganz an<strong>de</strong>re. Für das Zurechnungsproblem<br />
<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Nationalökonomie hat die Gruppierung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsfaktoren nach <strong>de</strong>m Schema <strong>de</strong>r klassischen<br />
1 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., III. Bd., II. Teil, 3. Aufl., S. 421.
320<br />
Theorie ihre alte Be<strong>de</strong>utung verloren. Das, was früher Verteilungsproblem<br />
hieß, erscheint nun als Problem <strong>de</strong>r Bildung <strong>de</strong>r Preise <strong>de</strong>r Güter höherer<br />
Ordnung. Daß man dabei die alte Einteilung weiterschleppte, hatte nur in<br />
<strong>de</strong>m zähen Konservatismus <strong>de</strong>s wissenschaftlichen Klassifizierens seinen<br />
Grund. Eine <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s Zurechnungsproblems entsprechen<strong>de</strong><br />
Gruppierung müßte von ganz an<strong>de</strong>ren Gesichtspunkten ausgehen, etwa<br />
von <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r statischen und <strong>de</strong>r dynamischen Einkommenszweige.<br />
In keinem nationalökonomischen System ist das Gemeinsame, das<br />
bestimmte Gruppen von Produktionsfaktoren als Einheit erscheinen läßt,<br />
in <strong>de</strong>ren natürlichen Eigenschaften o<strong>de</strong>r in einer Leistungsverwandtschaft<br />
gegeben. Hier setzt das schwerste Mißverständnis <strong>de</strong>r Klassentheorie ein.<br />
Sie geht naiverweise von <strong>de</strong>r Annahme einer inneren, durch die<br />
natürlichen Bedingungen <strong>de</strong>s Wirtschaftens gegebenen Zusammengehörigkeit<br />
zwischen <strong>de</strong>n von ihr zu einer Gruppe zusammengefaßten<br />
Produktionsfaktoren aus. Zu diesem Behufe konstruiert sie sich einen<br />
Einheitsbo<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st für alle Arten landwirtschaftlicher<br />
Produktion verwendbar ist, und eine Einheitsarbeit, die alles leisten kann.<br />
Es ist schon eine Konzession, <strong>de</strong>r Versuch einer Annäherung an die<br />
Wirklichkeit, wenn sie landwirtschaftlich verwendbaren Grund und<br />
Bo<strong>de</strong>n, durch Bergbau zu nutzen<strong>de</strong>n und städtischen Bo<strong>de</strong>n unterschei<strong>de</strong>t<br />
und einen Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit<br />
macht. Doch diese Einräumung macht die Sache nicht besser. Auch die<br />
qualifizierte Arbeit ist ebenso eine Abstraktion wie die Arbeit schlechthin,<br />
und <strong>de</strong>r landwirtschaftliche Bo<strong>de</strong>n ist es nicht an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n<br />
schlechthin; und was für uns hier das ausschlaggeben<strong>de</strong> ist, es sind<br />
Abstraktionen, die gera<strong>de</strong> von jenen Merkmalen absehen, die für<br />
soziologische Betrachtung entschei<strong>de</strong>nd sind. Wenn es sich um die<br />
Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Preisbildung han<strong>de</strong>lt, dann mag unter Umstän<strong>de</strong>n die<br />
Gegenüberstellung <strong>de</strong>r drei Gruppen Bo<strong>de</strong>n, Kapital und Arbeit gestattet<br />
sein. Aber damit ist durchaus noch nicht bewiesen, daß sie es auch dann<br />
ist, wenn es sich um ganz an<strong>de</strong>re Probleme han<strong>de</strong>lt.<br />
§ 2. Die Theorie <strong>de</strong>s Klassenkampfes vermengt immer wie<strong>de</strong>r die<br />
Begriffe Stand und Klasse. 1<br />
1 ) Cunow (Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie, II. Bd., Berlin<br />
1921, S. 61 ff.) sucht Marx gegen <strong>de</strong>n Vorwurf in Schutz zu nehmen, daß er die Begriffe<br />
Klasse und Stand vermengt habe. Doch gera<strong>de</strong> seine eigenen Ausführungen und die<br />
Stellen, die er aus <strong>de</strong>n Schriften von Marx und Engels anführt, zeigen, wie berechtigt<br />
dieser Vorwurf ist. Man lese z. B. die ersten sechs Absätze <strong>de</strong>s mit „Bourgeois und
321<br />
Stän<strong>de</strong> sind Rechtseinrichtungen, nicht Tatsachen <strong>de</strong>r Wirtschaftsordnung.<br />
Man wird in <strong>de</strong>n Stand hineingeboren, und man verbleibt in <strong>de</strong>r Regel in<br />
ihm, bis man stirbt. Sein Leben lang trägt man die Stan<strong>de</strong>szugehörigkeit,<br />
die Eigenschaft, Mitglied eines bestimmten Stan<strong>de</strong>s zu sein, mit sich<br />
herum. Man ist Herr o<strong>de</strong>r Knecht, Freier o<strong>de</strong>r Sklave, Grundherr o<strong>de</strong>r<br />
Grundhol<strong>de</strong>, Patrizier o<strong>de</strong>r Plebejer nicht weil man eine bestimmte<br />
Stellung im Wirtschaftsleben einnimmt; man nimmt eine bestimmte<br />
Stellung im Wirtschaftsleben ein, weil man einem bestimmten Stan<strong>de</strong><br />
angehört. Wohl ist auch die Einrichtung <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m Sinne von<br />
Anfang an eine wirtschaftliche, als sie wie je<strong>de</strong> Sozialordnung <strong>de</strong>m<br />
Bedürfnis entsprangen ist, die gesellschaftliche Kooperation sicherzustellen.<br />
Doch die Gesellschaftstheorie, die ihr zugrun<strong>de</strong>liegt, ist von <strong>de</strong>r<br />
liberalen Theorie grundsätzlich verschie<strong>de</strong>n. Ihr ist menschliche Kooperation<br />
nur <strong>de</strong>nkbar als Nehmen <strong>de</strong>r einen und Geben <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Daß sie<br />
ein wechselseitiges Geben und Nehmen sein könne, bei <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r Teil<br />
gewinnt, ist ihr völlig unfaßbar. Einer späteren Zeit, die schon für das<br />
Stän<strong>de</strong>wesen, das <strong>de</strong>m langsam aufdämmern<strong>de</strong>n liberalen Gedanken als<br />
unsozial und, weil auf einseitiger Belastung <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>ren beruhend, als<br />
„ungerecht“ zu erscheinen anfing, nach einer Rechtfertigung suchte,<br />
entstammt die künstliche Konstruktion einer Wechselseitigkeit auch in<br />
diesem Verhältnis; <strong>de</strong>r Höhere gewähre <strong>de</strong>m Nie<strong>de</strong>ren Schutz, Unterhalt,<br />
Bo<strong>de</strong>nnutzung und dgl. mehr. In dieser Lehre tritt jedoch schon <strong>de</strong>r<br />
Verfall <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong>i<strong>de</strong>ologie zutage. Der Blütezeit <strong>de</strong>r Institution waren<br />
diese Gedanken fremd. Sie sah die Dinge ungeschminkt als ein<br />
Gewaltverhältnis an, wie es in <strong>de</strong>r Urform alles Stan<strong>de</strong>sunterschie<strong>de</strong>s, im<br />
Verhältnis von Freien und Unfreien, klar zutage tritt. Daß <strong>de</strong>r Sklave<br />
selbst die Einrichtung <strong>de</strong>r Unfreiheit als eine natürliche ansieht und daß er<br />
Proletarier“ überschriebenen I. Teiles <strong>de</strong>s „Kommunistischen Manifests“ durch und man<br />
wird sich überzeugen, daß dort wenigstens die Ausdrücke Stand und Klasse ohne<br />
Unterscheidung gebraucht wer<strong>de</strong>n. Daß Marx später, als er in London das Ricardosche<br />
System näher kennen gelernt hatte, seinen Klassenbegriff vom Begriff „Stand“ loslöste<br />
und mit <strong>de</strong>n drei Produktionsfaktoren <strong>de</strong>s Ricardoschen Systems in Verbindung brachte,<br />
wur<strong>de</strong> schon oben gesagt. Diesen neuen Begriff <strong>de</strong>r Klasse hat aber Marx nie ausgeführt;<br />
auch Engels und alle an<strong>de</strong>ren Marxisten haben es nie versucht, zu zeigen, was es eigentlich<br />
sei, das die Konkurrenten - <strong>de</strong>nn das sind die Leute, die „die Dieselbigkeit <strong>de</strong>r Revenuen<br />
und Revenuequellen“ zu einer gedanklichen Einheit macht - zu einer von <strong>de</strong>n gleichen<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen beseelten Klasse gestaltet.
322<br />
sich unter <strong>de</strong>n gegebenen Umstän<strong>de</strong>n mit seinem Lose abfin<strong>de</strong>t, statt<br />
Auflehnung und Fluchtversuche so lange fortzusetzen, als er noch atmen<br />
kann, ist nicht etwa dadurch zu erklären, daß er fin<strong>de</strong>t, die Sklaverei sei<br />
eine <strong>de</strong>m Herrn wie <strong>de</strong>m Sklaven gleichmäßig Vorteil bringen<strong>de</strong> und<br />
billige Einrichtung; es ist einfach die Folge davon, daß er sein Leben nicht<br />
durch Wi<strong>de</strong>rsetzlichkeit gefähr<strong>de</strong>n will.<br />
Man hat versucht, die liberale Auffassung <strong>de</strong>r Institution <strong>de</strong>r<br />
persönlichen Unfreiheit und, insofern <strong>de</strong>r Gegensatz zwischen Freien und<br />
Unfreien die Urform aller Stan<strong>de</strong>sunterschie<strong>de</strong> ist, damit auch die liberale<br />
Auffassung <strong>de</strong>s Stän<strong>de</strong>wesens überhaupt dadurch zu wi<strong>de</strong>rlegen, daß man<br />
die geschichtliche Rolle <strong>de</strong>r Unfreiheit hervorgehoben hat. Es habe einen<br />
Fortschritt <strong>de</strong>r Kultur be<strong>de</strong>utet, daß die Knechtung <strong>de</strong>r im Kampfe<br />
Überwun<strong>de</strong>nen die Tötung verdrängt habe. Ohne Sklaverei hätte sich eine<br />
arbeitsteilige Gesellschaft, in <strong>de</strong>r die gewerbliche Arbeit von <strong>de</strong>r<br />
Urproduktion geschie<strong>de</strong>n ist, nicht eher entwickeln können, als bis aller<br />
freie Grund und Bo<strong>de</strong>n vergeben gewesen wäre, da je<strong>de</strong>r es vorgezogen<br />
hätte, freier Herr auf eigener Scholle als landloser Verarbeiter von<br />
Rohstoffen, die an<strong>de</strong>re gewinnen, o<strong>de</strong>r gar als besitzloser Arbeiter auf<br />
frem<strong>de</strong>m Acker zu sein. Da alle höhere Kultur ohne Arbeitsteilung, die<br />
einem Teile <strong>de</strong>r Bevölkerung die Möglichkeit bietet, ein von <strong>de</strong>n<br />
gemeinen Sorgen um das tägliche Brot befreites Leben <strong>de</strong>r Muße zu<br />
führen, un<strong>de</strong>nkbar sei, hätte die Unfreiheit ihre geschichtliche<br />
Berechtigung. 1<br />
Nun kann es wohl für eine <strong>de</strong>n geschichtlichen Ablauf nicht mit <strong>de</strong>n<br />
Augen eines moralisieren<strong>de</strong>n Philosophen betrachten<strong>de</strong> Auffassung gar<br />
nicht in Frage kommen, ob eine geschichtliche Institution gerechtfertigt<br />
wer<strong>de</strong>n könne o<strong>de</strong>r nicht. Daß sie in <strong>de</strong>r Geschichte aufgetreten ist, zeigt,<br />
daß Kräfte wirksam waren, um sie zu verwirklichen. Was wir allein zu<br />
prüfen vermögen, ist das, ob sie die ihr zugeschriebene Funktion<br />
tatsächlich erfüllt hat. Das müssen wir im vorliegen<strong>de</strong>n Fall schlechterdings<br />
verneinen. Die Unfreiheit hat <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r arbeitsteiligen<br />
gesellschaftlichen Produktion nicht bereitet; sie hat im Gegenteil <strong>de</strong>n Weg<br />
zu ihr versperrt. Erst als die persönliche Unfreiheit beseitigt wor<strong>de</strong>n war,<br />
konnte sich die mo<strong>de</strong>rne industrielle Gesellschaft mit ihrer weit<br />
getriebenen Arbeitsteilung entfalten. Daß noch freies herrenloses Land zur<br />
Besie<strong>de</strong>lung vorhan<strong>de</strong>n war, hat we<strong>de</strong>r die Entstehung eines beson<strong>de</strong>ren<br />
Gewerbes noch die einer Klasse freier Lohnarbeiter gehin<strong>de</strong>rt. Denn<br />
1 Vgl. Bagehot, Physics and Politics, London 1872, S. 71 ff.
323<br />
das freie Land mußte erst urbar gemacht wer<strong>de</strong>n, es bedurfte zu seiner<br />
Bewirtschaftung einer Reihe von Meliorationsarbeiten und eines<br />
Inventars, und schließlich war dieses Land seiner natürlichen Ergiebigkeit<br />
nach häufig und seiner Lage nach meist schlechter als das bereits in<br />
Bebauung befindliche. 1 Das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
ist die einzige gesellschaftliche Voraussetzung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung; es<br />
bedarf nicht <strong>de</strong>r Unfreiheit <strong>de</strong>s Arbeiters, um Arbeitsteilung zu schaffen.<br />
Für <strong>de</strong>n Stän<strong>de</strong>gegensatz sind zwei Typen charakteristisch. Die eine ist<br />
das Verhältnis zwischen Grundherr und Zinsbauer. Der Grundherr steht<br />
hier ganz außerhalb <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Prozesses. Er tritt erst auf <strong>de</strong>n<br />
Plan, bis die Ernte eingebracht und <strong>de</strong>r Produktionsprozeß durch die<br />
Herstellung <strong>de</strong>r genußreifen Frucht been<strong>de</strong>t ist. Dann nimmt er seinen<br />
Anteil. Es ist für das Wesen dieses Verhältnisses gleichgültig, ob es durch<br />
Unterwerfung früher freier Bauern o<strong>de</strong>r durch Ansiedlung von Leuten auf<br />
Herrengrund entstan<strong>de</strong>n ist. Das Charakteristische ist allein das, daß das<br />
Verhältnis außerhalb <strong>de</strong>s Produktionsprozesses liegt und daß es daher<br />
auch nicht im Wege <strong>de</strong>r Wirtschaft etwa durch Ablösung <strong>de</strong>r Rente durch<br />
<strong>de</strong>n zinspflichtigen Bauer gelöst wer<strong>de</strong>n kann. Sobald es ablösbar wird,<br />
hört es auf, ein rechtliches Abhängigkeitsverhältnis zu sein und<br />
verwan<strong>de</strong>lt sich in ein Vermögensrecht. Das an<strong>de</strong>re typische Verhältnis ist<br />
das <strong>de</strong>s Herrn zum Sklaven. Hier hat <strong>de</strong>r Herr nicht Sachgüter, son<strong>de</strong>rn<br />
Arbeit zu for<strong>de</strong>rn. Und auch hier bekommt er das, was er for<strong>de</strong>rt, ohne<br />
je<strong>de</strong> Gegenleistung an <strong>de</strong>n Verpflichteten. Denn die Gewährung von<br />
Nahrung, Kleidung und Obdach ist keine Gegenleistung, son<strong>de</strong>rn die<br />
notwendige Folge <strong>de</strong>s Umstan<strong>de</strong>s, daß er sonst die Arbeit <strong>de</strong>s Sklaven<br />
verlieren müßte. Im rein ausgebil<strong>de</strong>ten Institute wird <strong>de</strong>r Sklave auch nur<br />
so lange gefüttert, als seine Arbeit einen Überschuß über seine Unterhaltskosten<br />
einbringt.<br />
Nichts ist ungereimter, als diese bei<strong>de</strong>n Verhältnisse mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s<br />
Unternehmers und <strong>de</strong>s Arbeiters in <strong>de</strong>r freien Wirtschaft zu vergleichen.<br />
Die freie Lohnarbeit ist geschichtlich zum Teil aus <strong>de</strong>r Sklaven- und<br />
Hörigenarbeit erwachsen, und es hat lange Zeit gebraucht, bis sie alle<br />
Spuren ihres Ursprunges abgestreift hat und zu <strong>de</strong>m gewor<strong>de</strong>n ist, was sie<br />
in <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft ist.<br />
1 Auch heute gibt es noch genug herrenloses Land, das je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r will, sich aneignen<br />
kann. Und doch zieht <strong>de</strong>r europäische Proletarier nicht nach <strong>de</strong>m Innern Afrikas o<strong>de</strong>r<br />
Brasiliens, son<strong>de</strong>rn bleibt in <strong>de</strong>r Heimat Lohnarbeiter.
324<br />
Man verkennt das Wesen <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft, wenn man die<br />
freie Lohnarbeit ökonomisch in eine Linie stellt mit <strong>de</strong>r von Unfreien<br />
geleisteten Arbeit. Soziologisch kann man zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />
Arbeitssystemen Vergleiche ziehen. Bei<strong>de</strong> sind eben gesellschaftliche<br />
Arbeitsteilung, Systeme <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kooperation, und weisen<br />
daher in dieser Eigenschaft gemeinsame Züge auf. Doch auch die soziologische<br />
Betrachtung darf nicht außer acht lassen, daß <strong>de</strong>r ökonomische<br />
Charakter <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Systeme ein ganz verschie<strong>de</strong>ner ist. Völlig verfehlt<br />
ist es, wenn man gar die Deutung <strong>de</strong>s ökonomischen Charakters <strong>de</strong>r freien<br />
Lohnarbeit durch Argumente, die man aus <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>r<br />
Sklavenarbeit herholt, zu stützen sucht. Der freie Arbeiter empfängt das<br />
als Lohn, was ökonomisch seiner Arbeit zugerechnet wird. Den gleichen<br />
Betrag legt auch <strong>de</strong>r Herr aus, <strong>de</strong>r Sklaven arbeiten läßt, in<strong>de</strong>m er für <strong>de</strong>n<br />
Unterhalt <strong>de</strong>s Sklaven sorgt und <strong>de</strong>m Sklavenhändler für <strong>de</strong>n Sklaven <strong>de</strong>n<br />
Preis bezahlt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Gegenwartswert <strong>de</strong>r Beträge entspricht, um die <strong>de</strong>r<br />
Lohn freier Arbeit höher ist o<strong>de</strong>r höher wäre als die Unterhaltskosten <strong>de</strong>r<br />
Sklaven. Der Überschuß <strong>de</strong>s Arbeitslohnes über die Unterhaltskosten <strong>de</strong>s<br />
Arbeiters kommt mithin <strong>de</strong>mjenigen zugute, <strong>de</strong>r Freie in Sklaven<br />
verwan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>m Sklavenjäger, nicht aber <strong>de</strong>m Sklavenhändler und nicht<br />
<strong>de</strong>m Sklavenhalter. Diese bei<strong>de</strong>n beziehen in <strong>de</strong>r Sklavenwirtschaft kein<br />
spezifisches Einkommen. Wer daher glaubt, die Ausbeutungstheorie<br />
durch <strong>de</strong>n Hinweis auf die Verhältnisse <strong>de</strong>r Sklavenwirtschaft stützen zu<br />
können, verkennt das Wesen <strong>de</strong>s Problems, um das es sich han<strong>de</strong>lt. 1<br />
1 „Die Quelle <strong>de</strong>s Gewinns <strong>de</strong>s Sklavenbesitzers“ - sagt Lexis (in <strong>de</strong>r Besprechung von<br />
Wicksells Buch „Über Wert, Kapital und Rente“ in Schmollers Jahrbuch, XIX. Bd., S. 335<br />
f.) – „ist nicht zu verkennen, und dasselbe gilt wohl noch in betreff <strong>de</strong>s ‚sweaters’. In <strong>de</strong>m<br />
normalen Verhältnis <strong>de</strong>s Unternehmers zum Arbeiter besteht keine <strong>de</strong>rartige Ausbeutung,<br />
wohl aber eine wirtschaftliche Abhängigkeit <strong>de</strong>s Arbeiters, die unzweifelhaft auf die<br />
Verteilung <strong>de</strong>s Arbeitsertrages einwirkt. Der besitzlose Arbeiter muß sich unbedingt<br />
‚Gegenwartsgüter’ verschaffen, weil er sonst zugrun<strong>de</strong> geht; er kann seine Arbeit meistens<br />
nur verwerten, in<strong>de</strong>m er bei <strong>de</strong>r Produktion von Zukunftsgütern mitwirkt, aber das ist nicht<br />
das Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn auch wenn er, wie etwa <strong>de</strong>r Bäckergeselle, ein an <strong>de</strong>m Tag <strong>de</strong>r<br />
Herstellung zu verzehren<strong>de</strong>s Gut erzeugt, so wird sein Anteil an <strong>de</strong>m Produktionsertrag<br />
doch durch <strong>de</strong>n für ihn ungünstigen Umstand bedingt, daß er seine Arbeitskraft nicht<br />
selbständig ausnützen kann, son<strong>de</strong>rn gezwungen ist, sie unter Verzicht auf ihr Produkt<br />
gegen einen mehr o<strong>de</strong>r weniger genügen<strong>de</strong>n Lebensunterhalt zu verkaufen. Das sind<br />
triviale Sätze, aber ich glaube, sie wer<strong>de</strong>n für die meisten unbefangenen Beobachter stets<br />
eine aus ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit entspringen<strong>de</strong> überzeugen<strong>de</strong> Kraft behalten.“<br />
Man kann Böhm-Bawerk (Einige strittige Fragen <strong>de</strong>r Kapitalstheorie, Wien und Leipzig<br />
1900, S. 112) und Engels (Vorwort zum dritten Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>s „Kapital“, a. a. O., S. XII)<br />
zustimmen, daß in diesen Gedanken - die übrigens nur die in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
„Vulgärökonomie“ herrschen<strong>de</strong> Ansicht wie<strong>de</strong>rgeben - eine in vorsichtige Worte<br />
geklei<strong>de</strong>te Anerkennung <strong>de</strong>r sozialistischen Ausbeutungstheorie zu erblicken ist. Nirgends
325<br />
In <strong>de</strong>r ständisch geglie<strong>de</strong>rten Gesellschaft haben alle Angehörigen <strong>de</strong>r<br />
die volle Rechtsfähigkeit entbehren<strong>de</strong>n Stän<strong>de</strong> ein Interesse mit ihren<br />
Stan<strong>de</strong>sgenossen gemein: Sie streben die Verbesserung <strong>de</strong>r Rechtsstellung<br />
ihres Stan<strong>de</strong>s an. Alle Grundhol<strong>de</strong>n streben nach Erleichterung <strong>de</strong>r<br />
Zinslast, alle Sklaven nach Freiheit, das heißt nach einem Zustand, <strong>de</strong>r es<br />
ihnen gestatten wür<strong>de</strong>, ihre Arbeitskraft für sich zu verwerten. Dieses<br />
gemeinsame Stan<strong>de</strong>sinteresse ist um so stärker, je weniger es <strong>de</strong>m<br />
Einzelnen möglich ist, sich selbst über die Rechtssphäre seines Stan<strong>de</strong>s zu<br />
erheben. Dabei ist es nicht so sehr wichtig, ob in seltenen Ausnahmefällen<br />
einzelne ganz beson<strong>de</strong>rs Begabte und von glücklichen Zufällen Geför<strong>de</strong>rte<br />
in <strong>de</strong>r Lage sind, in höhere Stän<strong>de</strong> aufzusteigen. Aus unbefriedigten<br />
Wünschen und Hoffnungen einzelner entstehen keine Massenbewegungen.<br />
Es ist mehr das Interesse, die eigene Kraft aufzufrischen, als<br />
das, die soziale Unzufrie<strong>de</strong>nheit zu ersticken, das die bevorrechteten<br />
Stän<strong>de</strong> veranlassen muß, <strong>de</strong>m Aufstieg <strong>de</strong>r Begabten kein Hin<strong>de</strong>rnis in<br />
<strong>de</strong>n Weg zu legen. Gefährlich können die Begabten, <strong>de</strong>nen man das<br />
Aufsteigen verwehrt hat, nur dann wer<strong>de</strong>n, wenn ihrem Aufruf zum<br />
gewaltsamem Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rhall in breiten Schichten Unzufrie<strong>de</strong>ner<br />
sicher ist.<br />
§ 3. Der Ausgang aller Stän<strong>de</strong>kämpfe konnte <strong>de</strong>n Gegensatz <strong>de</strong>r<br />
Stän<strong>de</strong> nicht aufheben, solange die I<strong>de</strong>e ständischer Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft bestehen blieb. Auch wenn es <strong>de</strong>n Unterdrückten gelungen<br />
war, das Joch, das auf ihnen lastete, abzuschütteln, waren damit noch<br />
nicht alle Stan<strong>de</strong>sunterschie<strong>de</strong> beseitigt. Die grundsätzliche Überwindung<br />
<strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>sgegensatzes konnte erst erfolgen, als <strong>de</strong>r Liberalismus ihm<br />
entgegentrat. In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Liberalismus alle persönliche Unfreiheit<br />
bekämpft, weil er die freie Arbeit als ergiebiger als die unfreie ansieht,<br />
und die Freiheit <strong>de</strong>r Bewegung und <strong>de</strong>r Berufswahl als Grundfor<strong>de</strong>rungen<br />
vernünftiger Politik verkün<strong>de</strong>t, hat er, soweit <strong>de</strong>r Rationalismus reicht,<br />
allem Stän<strong>de</strong>wesen ein En<strong>de</strong> bereitet. Nichts charakterisiert besser das<br />
Unvermögen <strong>de</strong>r antiliberalen Kritik, die geschichtliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
Liberalismus zu erfassen, als das, daß sie die Tragweite dieser Tat <strong>de</strong>s<br />
Liberalismus durch <strong>de</strong>n Nachweis zu verkleinern versucht, sie sei <strong>de</strong>n<br />
„Interessen“ einzelner Gruppen entsprungen.<br />
liegen die nationalökonomischen Trugschlüsse <strong>de</strong>r Ausbeutungstheorie offener zutage als<br />
gera<strong>de</strong> in dieser Begründung, die ihr Lexis gegeben hat.
326<br />
Im Stän<strong>de</strong>kampf stehen alle Angehörigen <strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s zusammen, weil<br />
sie gleiche Ziele verfolgen. Ihre Interessen mögen im übrigen noch so<br />
weit auseinan<strong>de</strong>rgehen, in <strong>de</strong>m einen Punkte treffen sie sich. Sie wollen<br />
eine bessere Rechtsstellung ihres Stan<strong>de</strong>s erreichen. Mit <strong>de</strong>r Verbesserung<br />
<strong>de</strong>r Rechtsstellung sind in aller Regel auch ökonomische Vorteile<br />
verbun<strong>de</strong>n, da doch ökonomische Benachteiligung <strong>de</strong>r einen und<br />
Bevorzugung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>r ständischen Rechtsunterschie<strong>de</strong><br />
ist.<br />
Bei <strong>de</strong>r „Klasse“ <strong>de</strong>r antagonistischen Gesellschaftstheorie liegen die<br />
Dinge an<strong>de</strong>rs. Die Theorie <strong>de</strong>s unüberbrückbaren Klassengegensatzes ist<br />
inkonsequent, wenn sie bei <strong>de</strong>r Einteilung <strong>de</strong>r Gesellschaft in drei o<strong>de</strong>r<br />
vier große Klassen stehen bleibt. Folgerichtig durchgeführt müßte sie in<br />
<strong>de</strong>r Auflösung <strong>de</strong>r Gesellschaft in Interessentengruppen soweit gehen, bis<br />
sie zu Gruppen gelangt, <strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>r ganz dieselbe Funktion erfüllen.<br />
Es genügt nicht, die Besitzen<strong>de</strong>n in Lan<strong>de</strong>igentümer und Kapitalisten zu<br />
son<strong>de</strong>rn. Man muß so lange weiter schreiten, bis man etwa zu solchen<br />
Gruppen gelangt wie: Baumwollspinner, die die gleiche Garnnummer<br />
erzeugen, o<strong>de</strong>r Fabrikanten von schwarzem Chevreaule<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Erzeuger<br />
von hellem Bier. Solche Gruppen haben gegenüber <strong>de</strong>r Gesamtheit aller<br />
an<strong>de</strong>ren zwar ein gemeinsames Interesse: sie sind lebhaft daran interessiert,<br />
daß <strong>de</strong>r Absatz ihrer Erzeugnisse sich günstig gestalte. Doch dieses<br />
gemeinsame Interesse ist eng begrenzt. In <strong>de</strong>r freien Wirtschaft kann ein<br />
einzelner Produktionszweig auf die Dauer keinen überdurchschnittlichen<br />
Gewinn erzielen und an<strong>de</strong>rerseits auf die Dauer .auch nicht mit Verlust<br />
arbeiten. Das gemeinsame Interesse <strong>de</strong>r Branchegenossen erstreckt sich<br />
mithin nur auf die Gestaltung <strong>de</strong>r Konjunktur in einer begrenzten Spanne<br />
Zeit. Im übrigen herrscht zwischen ihnen Wettbewerb, nicht unmittelbare<br />
Interessensolidarität. Die Konkurrenz, die zwischen <strong>de</strong>n Genossen eines<br />
und <strong>de</strong>sselben Produktionszweiges besteht, wird durch Hervortreten<br />
gemeinsamer Son<strong>de</strong>rinteressen nur dort wirksam verdrängt, wo in irgen<strong>de</strong>iner<br />
Weise die Freiheit <strong>de</strong>r Wirtschaft beschränkt ist. Doch wenn das<br />
Schema seine Brauchbarkeit für die Kritik <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r Solidarität<br />
<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Klasseninteressen bewähren soll, dann müßte man <strong>de</strong>n<br />
Beweis für die Verhältnisse einer freien Verkehrswirtschaft führen. Es ist<br />
kein Beweis für die Richtigkeit <strong>de</strong>r Klassenkampftheorie, wenn man etwa<br />
auf die Gemeinsamkeit <strong>de</strong>r Interessen <strong>de</strong>r Grundbesitzer gegenüber <strong>de</strong>nen<br />
<strong>de</strong>r städtischen Bevölkerung in <strong>de</strong>r Zollpolitik o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Gegensatz von<br />
Grundbesitzern und Bürgern
327<br />
in <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r politischen Herrschaft hinweist. Daß alle staatlichen<br />
Eingriffe in die Freiheit <strong>de</strong>s Verkehrs Son<strong>de</strong>rinteressen schaffen, leugnet<br />
auch die liberale Lehre nicht. Sie leugnet auch durchaus nicht, daß<br />
einzelne Gruppen auf diese Weise für sich Son<strong>de</strong>rvorteile herauszuschlagen<br />
vermögen. Was sie sagt, ist lediglich das, daß solche<br />
Son<strong>de</strong>rbegünstigungen, wenn sie als Ausnahmeprivilegien kleiner<br />
Gruppen auftreten, zu heftigen politischen Kämpfen, zu Rebellionen <strong>de</strong>r<br />
nicht privilegierten Vielen gegen die privilegierten Wenigen führen, die<br />
durch dauern<strong>de</strong> Störung <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns die ganzer gesellschaftliche<br />
Entwicklung stören, wenn sie aber zur allgemeinen Regel erhoben<br />
wer<strong>de</strong>n, alle schädigen, in<strong>de</strong>m sie auf <strong>de</strong>r einen Seite. nehmen, was sie auf<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren geben, und als bleiben<strong>de</strong>s Ergebnis nur eine allgemeine<br />
Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit zurücklassen.<br />
Die Interessengemeinschaft <strong>de</strong>r Gruppengenossen und ihr Interessengegensatz<br />
zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gruppen sind immer nur das Ergebnis von<br />
Beschränkungen <strong>de</strong>s Eigentumsrechtes, <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>s Verkehrs und <strong>de</strong>r<br />
Berufswahl, o<strong>de</strong>r sie entspringen <strong>de</strong>r Gemeinsamkeit und Gegensätzlichkeit<br />
von Interessen in einer kurzen Übergangszeit.<br />
Wenn aber zwischen <strong>de</strong>n Gruppen, <strong>de</strong>ren Glie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Volkswirtschaft<br />
die gleiche Stellung einnehmen, keine beson<strong>de</strong>re Interessengemeinschaft<br />
besteht, die sie in Gegensatz zu allen an<strong>de</strong>ren Gruppen<br />
setzen wür<strong>de</strong>, so kann auch keine bestehen innerhalb größerer Gruppen,<br />
<strong>de</strong>ren Glie<strong>de</strong>r nicht die gleiche, son<strong>de</strong>rn bloß eine ähnliche Stellung<br />
einnehmen. Wenn zwischen <strong>de</strong>n Baumwollspinnern untereinan<strong>de</strong>r keine<br />
Gemeinschaft von Son<strong>de</strong>rinteressen besteht, dann besteht sie auch nicht<br />
zwischen <strong>de</strong>n baumwollverarbeiten<strong>de</strong>n Gewerben überhaupt o<strong>de</strong>r<br />
zwischen <strong>de</strong>n Spinnern und <strong>de</strong>n Maschinenfabrikanten. Zwischen Spinner<br />
und Weber und zwischen Maschinenbauer und Maschinenbenützer ist <strong>de</strong>r<br />
unmittelbare Interessengegensatz so ausgeprägt als er nur sein kann. Nur<br />
dort besteht Gemeinschaft <strong>de</strong>r Gruppeninteressen, wo die freie<br />
Konkurrenz ausgeschaltet ist, also etwa zwischen <strong>de</strong>n Besitzern von<br />
Bo<strong>de</strong>n bestimmter Qualität o<strong>de</strong>r Lage.<br />
Die Lehre von <strong>de</strong>r Trennung <strong>de</strong>r Bevölkerung in drei o<strong>de</strong>r vier große<br />
Interessentengruppen geht schon darin fehl, daß sie die Eigentümer <strong>de</strong>s<br />
Bo<strong>de</strong>ns als eine Klasse von einheitlichen Interessenten ansieht. Das trifft<br />
durchaus nicht zu. Die Besitzer von Ackerland, von Waldgütern, von<br />
Weinbergen, von Bergwerken o<strong>de</strong>r von städtischen Grundstücken<br />
verbin<strong>de</strong>t kein beson<strong>de</strong>res gemeinsames Interesse, es sei <strong>de</strong>nn das eine,<br />
daß sie für die Beibehaltung <strong>de</strong>s
328<br />
Son<strong>de</strong>reigentums an Grund und Bo<strong>de</strong>n eintreten. Doch das ist kein<br />
Son<strong>de</strong>rinteresse <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n. Wer die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln für die Produktivität <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Arbeit erkannt hat, muß als Mann ohne Halm und Ar<br />
und ohne sonstigen Besitz gera<strong>de</strong>so im eigenen Interesse dafür eintreten<br />
wie <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>. Echte Son<strong>de</strong>rinteressen haben die Grundbesitzer<br />
immer nur in bezug auf die die Freiheit <strong>de</strong>s Eigentums und <strong>de</strong>s Verkehrs<br />
beschränken<strong>de</strong>n Einrichtungen.<br />
Ebensowenig einheitlich sind die Verkäufer <strong>de</strong>r Arbeit. Es gibt we<strong>de</strong>r<br />
eine einheitliche gleichartige Arbeit noch auch einen Universalarbeiter.<br />
Die Arbeit <strong>de</strong>s Spinners ist eine an<strong>de</strong>re als die <strong>de</strong>s Bergmannes und eine<br />
an<strong>de</strong>re als die <strong>de</strong>s Arztes. Die Theoretiker <strong>de</strong>s Sozialismus und <strong>de</strong>s<br />
unüberwindbaren Klassengegensatzes stellen die Sache gewöhnlich so<br />
dar, als ob es eine Art abstrakter Arbeit gebe, die je<strong>de</strong>r zu leisten befähigt<br />
sei, und als ob daneben die qualifizierte Arbeit kaum in Frage käme. In<br />
Wahrheit gibt es eine solche „Arbeit“ an sich überhaupt nicht. Auch die<br />
unqualifizierte Arbeit ist nicht einheitlich. Straßenkehren ist etwas an<strong>de</strong>res<br />
als Lastentragen. Überdies ist die Rolle, die die unqualifizierte Arbeit<br />
spielt, rein zahlenmäßig genommen eine viel kleinere als die orthodoxe<br />
Klassentheorie anzunehmen pflegt.<br />
Die Zurechnungstheorie ist berechtigt, bei <strong>de</strong>r Ableitung ihrer Gesetze<br />
von „Bo<strong>de</strong>n“ und „Arbeit“ schlechthin zu sprechen. Ihr sind ja alle Güter<br />
höherer Ordnung nur als Objekte <strong>de</strong>r Wirtschaft von Be<strong>de</strong>utung. Wenn<br />
sie, die unendliche Mannigfaltigkeit <strong>de</strong>r Güter höherer Ordnung vereinfachend,<br />
sie in einige wenige große Gruppen zusammenfaßt, so ist dafür<br />
lediglich die Zweckmäßigkeit für die Herausarbeitung ihrer auf ein ganz<br />
bestimmtes Ziel hinarbeiten<strong>de</strong>n Lehre maßgebend. Man weist immer<br />
wie<strong>de</strong>r darauf hin, daß die theoretische Nationalökonomie mit Fiktionen<br />
arbeite; bis zum Überdruß wird immer wie<strong>de</strong>rholt, daß <strong>de</strong>r homo oeconomicus<br />
nur ein Gebil<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Theorie sei. Doch die, die diesen Vorwurf erheben,<br />
vergessen, daß auch die Begriffe „Arbeit“ und „Arbeiter“,<br />
„Kapital“ und „Kapitalisten“ und so fort von <strong>de</strong>rselben Art sind und<br />
scheuen sich nicht, <strong>de</strong>n „Arbeiter“ <strong>de</strong>r theoretischen Nationalökonomie<br />
ohne weiteres als lebendigen Menschen in die empirische Volkswirtschaft<br />
zu versetzen.<br />
Die Mitglie<strong>de</strong>r einer Klasse treten einan<strong>de</strong>r als Konkurrenten entgegen.<br />
Wenn die Zahl <strong>de</strong>r Arbeiter zurückgeht und <strong>de</strong>mgemäß die<br />
Grenzproduktivität <strong>de</strong>r Arbeit wächst, steigt <strong>de</strong>r Lohn und damit
329<br />
das Einkommen und die Lebenshaltung <strong>de</strong>s Arbeiters. Das können auch<br />
die Gewerkschaften nicht än<strong>de</strong>rn. In<strong>de</strong>m sie, die zum Kampf gegen die<br />
Unternehmer ins Leben gerufen wur<strong>de</strong>n, sich zunftmäßig abschließen,<br />
erkennen sie die Richtigkeit dieser Tatsache an.<br />
Der Wettbewerb innerhalb <strong>de</strong>r Klasse kommt aber auch darin zum<br />
Ausdrucke, daß die Arbeiter sich gegenseitig die gehobene Arbeiterstellung<br />
und <strong>de</strong>n Aufstieg in höhere Schichten streitig machen. Den<br />
Angehörigen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Klassen mag es gleichgültig sein, wer die<br />
Meisterstellung in <strong>de</strong>r Arbeiterschaft einnimmt und wer zu <strong>de</strong>n<br />
verhältnismäßig Wenigen gehört, die aus nie<strong>de</strong>ren Schichten in die<br />
höheren aufsteigen, wofern es nur die Tüchtigsten sind. Doch für die<br />
Arbeiter ist es eine hochwichtige Sache. Hier ist je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Konkurrent <strong>de</strong>s<br />
an<strong>de</strong>ren. Freilich ist - das ergibt sich aus <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Solidarität<br />
- je<strong>de</strong>r daran interessiert, daß alle übrigen Vorarbeiterstellen mit <strong>de</strong>n<br />
Besten und Geeignetsten besetzt wer<strong>de</strong>n. Doch daran, daß die eine Stelle,<br />
für die er in Betracht käme, ihm zufalle, auch wenn nicht er dazu <strong>de</strong>r<br />
Geeignetste sein sollte, ist je<strong>de</strong>r interessiert, da <strong>de</strong>r Vorteil, <strong>de</strong>r ihm dabei<br />
winkt, größer ist als <strong>de</strong>r Bruchteil <strong>de</strong>s allgemeinen Nachteiles, <strong>de</strong>r auf ihn<br />
zurückfällt.<br />
Läßt man die Theorie von <strong>de</strong>r Solidarität <strong>de</strong>r Interessen aller Glie<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft, die einzig mögliche Gesellschaftstheorie, die einzige, die<br />
zeigt, wie Gesellschaft möglich ist, fallen, dann löst man die gesellschaftliche<br />
Einheit nicht etwa in Klassen auf, son<strong>de</strong>rn in Individuen, die<br />
einan<strong>de</strong>r als Gegner gegenüberstehen. Der Gegensatz <strong>de</strong>r Einzelinteressen<br />
wird in <strong>de</strong>r Gesellschaft überwun<strong>de</strong>n, doch nicht in <strong>de</strong>r Klasse. Die<br />
Gesellschaft kennt keine an<strong>de</strong>ren Teile als die Individuen. Die durch<br />
Gemeinschaft von Son<strong>de</strong>rinteressen geeinte Klasse gibt es nicht; sie ist<br />
eine Erfindung einer nicht genügend durchdachten Theorie. Je<br />
komplizierter die Gesellschaft ist, je weiter in ihr die Differenzierung vorgeschritten<br />
ist, <strong>de</strong>sto mehr Gruppen gleichartig in <strong>de</strong>n gesellschaftlichen<br />
Organismus gestellter Personen gibt es, wenn auch naturgemäß im<br />
allgemeinen - das heißt im Durchschnitt - die Zahl <strong>de</strong>r Angehörigen einer<br />
Gruppe mit <strong>de</strong>r Zunahme <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r Gruppen abnimmt. Daß gewisse<br />
unmittelbare Interessen <strong>de</strong>r Angehörigen einer je<strong>de</strong>n Gruppe gleichartig<br />
sind, schafft zwischen ihnen noch nicht eine allgemeine Gleichheit <strong>de</strong>r<br />
Interessen. Durch die Gleichartigkeit <strong>de</strong>r Stellung wer<strong>de</strong>n sie Konkurrenten,<br />
nicht Gleichstreben<strong>de</strong>. Ebensowenig kann durch nicht<br />
vollständige Gleichartigkeit <strong>de</strong>r Stellung verwandter Gruppen
330<br />
Interessengemeinschaft schlechthin entstehen; gera<strong>de</strong> soweit die Gleichartigkeit<br />
<strong>de</strong>r Gruppenstellung reicht, wird sie Wettbewerb zwischen ihnen<br />
spielen lassen.<br />
Die Interessen <strong>de</strong>r Besitzer von Baumwollspinnereien mögen in<br />
gewissen Richtungen parallel laufen; soweit sind die Spinner aber<br />
untereinan<strong>de</strong>r Konkurrenten. In an<strong>de</strong>rer Richtung wie<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n nur die<br />
Besitzer von Spinnereien, die die gleiche Garnnummer erzeugen, in ihrer<br />
gesellschaftlichen Stellung gleichartig sein. Soweit wie<strong>de</strong>r sind sie<br />
untereinan<strong>de</strong>r in Wettbewerb. Wie<strong>de</strong>r in an<strong>de</strong>ren Belangen ist die<br />
Parallelität <strong>de</strong>r Interessen eine weit größere; sie kann alle Baumwollarbeiter,<br />
dann wie<strong>de</strong>r alle Baumwollproduzenten einschließlich <strong>de</strong>r<br />
Pflanzer und <strong>de</strong>r Arbeiter, dann wie<strong>de</strong>r alle Industriellen überhaupt usf.<br />
umfassen. Die Gruppierung ist immer eine an<strong>de</strong>re, je nach <strong>de</strong>m Ziel und<br />
<strong>de</strong>n Interessen, die gera<strong>de</strong> ins Auge gefaßt wer<strong>de</strong>n. Volle Gleichartigkeit<br />
kann aber kaum bestehen, und soweit sie besteht, führt sie nicht nur zu<br />
gemeinsamen Interessen Dritten gegenüber, son<strong>de</strong>rn auch zugleich zum<br />
Wettbewerb untereinan<strong>de</strong>r.<br />
Aufgabe einer Theorie, die alle gesellschaftliche Entwicklung aus<br />
Klassenkämpfen hervorgehen läßt, wäre es nun, zu zeigen, daß die<br />
Stellung je<strong>de</strong>s einzelnen im gesellschaftlichen Organismus durch seine<br />
Klassenlage, das heißt durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten<br />
Klasse und durch die Stellung dieser Klasse zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Klassen,<br />
ein<strong>de</strong>utig bestimmt ist. Daß in allen politischen Kämpfen bestimmte<br />
soziale Gruppen miteinan<strong>de</strong>r ringen, ist noch kein Beweis für diese<br />
Theorie. Sie müßte zeigen, daß die Gruppierung zum Kampfe<br />
notwendigerweise in eine bestimmte Bahn gelenkt ist und von allen von<br />
<strong>de</strong>r Klassenlage unabhängigen I<strong>de</strong>ologien nicht beeinflußt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Sie müßte zeigen, daß die Art und Weise, wie aus <strong>de</strong>n kleinsten<br />
Grüppchen größere Gruppen und aus diesen große, die ganze Gesellschaft<br />
zerfallen<strong>de</strong> Klassen sich zusammenschließen, nicht auf Kompromissen<br />
und für vorübergehen<strong>de</strong> gemeinsame Aktionen geschlossenen Bündnissen<br />
beruht, son<strong>de</strong>rn auf durch gesellschaftliche Notwendigkeiten geschaffenen<br />
Tatsachen, auf Interessengemeinschaft, die ein<strong>de</strong>utig gegeben ist.<br />
Man betrachte zum Beispiel die Zusammensetzung einer agrarischen<br />
Partei. Wenn sich in einem Land, zum Beispiel in Österreich, die<br />
Weinbauern, die Getrei<strong>de</strong>bauern und die viehzüchten<strong>de</strong>n Bauern zu einer<br />
einheitlichen Partei zusammenschließen, so kann man nicht sagen, daß<br />
dies durch die Gleichartigkeit <strong>de</strong>r Interessen
331<br />
bedingt ist. Je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r drei Gruppen hat an<strong>de</strong>re Interessen. Ihr Zusammenschluß<br />
zur Erreichung bestimmter zollpolitischer Maßnahmen ist ein<br />
Kompromiß zwischen wi<strong>de</strong>rstreiten<strong>de</strong>n Interessen. Ein solcher<br />
Kompromiß aber ist nur auf Grundlage einer I<strong>de</strong>ologie möglich, die über<br />
das Klasseninteresse hinausgeht. Das Klasseninteresse je<strong>de</strong>r dieser drei<br />
Gruppen steht <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Gruppen entgegen. Wenn sie sich fin<strong>de</strong>n,<br />
so geschieht es nur im Hinblick auf I<strong>de</strong>en, die je<strong>de</strong> einzelne Gruppe zur<br />
gänzlichen o<strong>de</strong>r teilweisen Zurückstellung bestimmter Son<strong>de</strong>rinteressen<br />
veranlassen, geschehe es auch nur zu <strong>de</strong>m En<strong>de</strong>, um an<strong>de</strong>re<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen um so erfolgreicher verfechten zu können.<br />
Nicht an<strong>de</strong>rs liegt es bei <strong>de</strong>n Arbeitern in ihrem Gegensatz zu <strong>de</strong>n<br />
Besitzern <strong>de</strong>r Produktionsmittel. Auch die beson<strong>de</strong>ren Interessen <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Arbeitergruppen sind nicht einheitlich. Je nach <strong>de</strong>n Fähigkeiten<br />
und Kenntnissen ihrer Glie<strong>de</strong>r haben sie ganz verschie<strong>de</strong>ne Interessen.<br />
Das Proletariat ist nicht durch seine Klassenlage jene homogene Klasse,<br />
als welche es die sozial<strong>de</strong>mokratische Partei ausgibt. Erst die<br />
sozialistische I<strong>de</strong>ologie, die je<strong>de</strong>n einzelnen und je<strong>de</strong> Gruppe zur Aufgabe<br />
ihrer beson<strong>de</strong>ren Interessen veranlaßt, macht es dazu. Die Kleinarbeit <strong>de</strong>r<br />
gewerkschaftlichen Tätigkeit besteht hauptsächlich darin, über diese<br />
Gegensätze von Tag zu Tag durch Vergleiche hinwegzukommen. 1<br />
Immer sind auch an<strong>de</strong>re Koalitionen und Allianzen von Gruppeninteressen<br />
möglich als die gera<strong>de</strong> wirksamen. Welche wirklich eingegangen<br />
wer<strong>de</strong>n, hängt nicht von <strong>de</strong>r Klassenlage, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>ologie ab. Der Klassenzusammenhalt beruht nicht auf <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>r<br />
Klasseninteressen, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>r politischen Zielsetzung. Die Gemeinsamkeit<br />
<strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rinteressen ist stets nur auf ein enges Feld beschränkt<br />
und wird von <strong>de</strong>r Gegensätzlichkeit an<strong>de</strong>rer Son<strong>de</strong>rinteressen aufgehoben<br />
o<strong>de</strong>r überwogen, wenn nicht eine bestimmte I<strong>de</strong>ologie die Interessengemeinschaft<br />
als stärker ansehen läßt als die Gegensätzlichkeit <strong>de</strong>r<br />
Interessen.<br />
Die Gemeinsamkeit <strong>de</strong>r Klasseninteressen ist nicht etwas, was<br />
unabhängig von <strong>de</strong>m Klassenbewußtsein vorhan<strong>de</strong>n ist. Das Klassenbewußtsein<br />
tritt nicht zu einer schon gegebenen Gemeinsamkeit <strong>de</strong>r<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen hinzu; es schafft erst diese Gemeinsamkeit <strong>de</strong>r<br />
1 Selbst das Kommunistische Manifest muß zugeben: „Die Organisation <strong>de</strong>r Proletarier<br />
zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird je<strong>de</strong>n Augenblick wie<strong>de</strong>r gesprengt<br />
durch die Konkurrenz unter <strong>de</strong>n Arbeitern selbst“ (a. a. O., S. 30).
332<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen. Die Proletarier sind keine beson<strong>de</strong>re Gruppe im<br />
Rahmen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft, <strong>de</strong>ren Haltung durch ihre<br />
Klassenlage ein<strong>de</strong>utig gegeben wäre. Bestimmte Individuen wer<strong>de</strong>n erst<br />
durch die sozialistische I<strong>de</strong>ologie zu gemeinsamem politischen Han<strong>de</strong>ln<br />
zusammengeführt; die Einheit <strong>de</strong>s Proletariats ist nicht durch seine<br />
Klassenlage, son<strong>de</strong>rn durch seine I<strong>de</strong>ologie gegeben. Das Proletariat als<br />
Klasse war nicht vor <strong>de</strong>m Sozialismus da, und <strong>de</strong>r Sozialismus ist nicht<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>s Proletariats adäquate politische Gedanke; <strong>de</strong>r<br />
sozialistische Gedanke hat erst die Proletarierklasse geschaffen, in<strong>de</strong>m er<br />
bestimmte Individuen zur Erreichung eines bestimmten politischen Ziels<br />
zusammenschloß.<br />
Es ist mit <strong>de</strong>r Klasseni<strong>de</strong>ologie nicht an<strong>de</strong>rs als mit <strong>de</strong>r nationalen.<br />
Auch zwischen <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r einzelnen Völker und Stämme bestehen<br />
keine Gegensätze. Erst die nationalistische I<strong>de</strong>ologie erzeugt <strong>de</strong>n Glauben<br />
an sie und schließt die Völker zu Son<strong>de</strong>rgruppen zusammen, die sich<br />
gegenseitig bekämpfen. Die nationalistische I<strong>de</strong>ologie zerreißt die<br />
Gesellschaft in vertikaler, die sozialistische in horizontaler Richtung. Die<br />
bei<strong>de</strong>n schließen sich gegenseitig aus. Bald hat die eine, bald die an<strong>de</strong>re<br />
die Oberhand. 1914 hat in Deutschland die nationalistische I<strong>de</strong>ologie die<br />
sozialistische in <strong>de</strong>n Hintergrund gedrängt. Da gab es auf einmal eine<br />
nationalistische Einheitsfront. 1918 wie<strong>de</strong>r siegte die sozialistische<br />
I<strong>de</strong>ologie über die nationalistische.<br />
In <strong>de</strong>r freien Gesellschaft gibt es keine Klassen, die durch<br />
unüberbrückbare Interessengegensätze geschie<strong>de</strong>n sind. Gesellschaft ist<br />
Solidarität <strong>de</strong>r Interessen. Der Zusammenschluß von Son<strong>de</strong>rgruppen hat<br />
immer nur <strong>de</strong>n Zweck, <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sprengen.<br />
Sein Ziel und sein Wesen sind antisozial. Die beson<strong>de</strong>re Gemeinsamkeit<br />
<strong>de</strong>r Interessen <strong>de</strong>r Proletarier reicht nur so weit, als sie alle ein Ziel<br />
verfolgen: die Gesellschaft zu sprengen; und nicht an<strong>de</strong>rs ist es mit <strong>de</strong>r<br />
beson<strong>de</strong>ren Gemeinsamkeit <strong>de</strong>r Interessen <strong>de</strong>r Angehörigen eines Volkes.<br />
Der Umstand, daß die marxistische Theorie <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Klasse<br />
nicht näher umschrieben hat, hat es ermöglicht, daß er in <strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>nsten Auffassungen verwen<strong>de</strong>t wird. Wenn man einmal <strong>de</strong>n<br />
Gegensatz von Besitzen<strong>de</strong>n und Nichtbesitzen<strong>de</strong>n, dann wie<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n<br />
Stadt- und Landinteressen, dann wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n von Bürgern, Bauern und<br />
Arbeitern als <strong>de</strong>n ausschlaggeben<strong>de</strong>n hinstellt, wenn man von <strong>de</strong>n<br />
Interessen <strong>de</strong>s Rüstungskapitals, <strong>de</strong>s Alkoholkapitals,
333<br />
<strong>de</strong>s Finanzkapitals spricht, 1 wenn man einmal von <strong>de</strong>r gol<strong>de</strong>nen<br />
Internationale spricht, dann aber wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Imperialismus aus <strong>de</strong>n<br />
Gegensätzen <strong>de</strong>s Kapitals heraus erklärt, so sieht man gleich, daß es sich<br />
nur um Schlagwörter für <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>s Demagogen han<strong>de</strong>lt, nicht<br />
aber um Ausführungen irgendwelcher soziologischer Erkenntnis. Der<br />
Marxismus hat sich im wichtigsten Punkte seiner Lehre über das Niveau<br />
einer Parteidoktrin für die Gasse nie erhoben. 2<br />
§ 4. Die Zerfällung <strong>de</strong>s gesamten Nationalproduktes in Arbeitslohn,<br />
Grundrente, Kapitalzins und Unternehmergewinn erfolgt durch die<br />
Zurechnung <strong>de</strong>s Ertrages. Daß darüber nicht die außerwirtschaftliche<br />
Machtstellung <strong>de</strong>r einzelnen Klassen, son<strong>de</strong>rn die Be<strong>de</strong>utung, die die<br />
Wirtschaftsrechnung notwendigerweise <strong>de</strong>n einzelnen Produktionsfaktoren<br />
beilegen muß, entschei<strong>de</strong>t, gilt je<strong>de</strong>r nationalökonomischen Theorie<br />
für ausgemacht. Die klassische Nationalökonomie und die mo<strong>de</strong>rne<br />
Grenznutzenlehre stimmen darin vollkommen überein. Auch die marxistische<br />
Theorie, die ihre Verteilungslehre aus <strong>de</strong>r spätklassischen Theorie<br />
entlehnt hat, macht keine Ausnahme davon. In<strong>de</strong>m sie die Gesetze<br />
ableitet, nach <strong>de</strong>nen sich <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Arbeit, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeitskraft und <strong>de</strong>r<br />
Mehrwert bil<strong>de</strong>n, stellt auch sie eine Verteilungstheorie auf, die sich als<br />
allein durch ökonomische Momente bestimmt gibt. Die marxistische<br />
Verteilungstheorie erscheint uns voll von Wi<strong>de</strong>rsprüchen und Ungereimtheiten.<br />
Doch sie ist je<strong>de</strong>nfalls ein Versuch, eine rein ökonomische Erklärung<br />
für die Bildung <strong>de</strong>r Preise <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren aufzustellen.<br />
Wohl hat Marx selbst später, da er sich aus politischen Grün<strong>de</strong>n veranlaßt<br />
sah, die Vorteile <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen Bestrebungen für die Arbeiter<br />
anzuerkennen, in diesem Punkte gewisse Einräumungen gemacht. Die<br />
Tatsache, daß er an seinem System <strong>de</strong>r Ökonomie festhielt, zeigt, daß es<br />
sich ihm dabei nur um eine Konzession han<strong>de</strong>lte, die seine grundsätzlichen<br />
Anschauungen unberührt ließ.<br />
Will man das, was die Parteien auf <strong>de</strong>m Markte unternehmen, um für<br />
sich <strong>de</strong>n besten unter <strong>de</strong>n gegebenen Umstän<strong>de</strong>n erzielbaren<br />
1 Wobei man - inkonsequent genug - das Produzenteninteresse <strong>de</strong>r Arbeiter mit<br />
Stillschweigen übergeht.<br />
2 Selbst Cunow (a. a. O., II. Bd., S. 58) muß in seiner unkritischen Marx-Apologie<br />
zugeben, daß Marx und Engels in ihren politischen Schriften nicht nur von <strong>de</strong>n drei<br />
Hauptklassen sprechen, son<strong>de</strong>rn eine ganze Reihe Unter- und Nebenklassen unterschei<strong>de</strong>n.
334<br />
Preis herauszuschlagen, als Kampf bezeichnen, dann herrscht in <strong>de</strong>r<br />
Volkswirtschaft ein beständiger Kampf aller gegen alle, keineswegs aber<br />
ein Klassenkampf. Nicht Klasse gegen Klasse steht dann gegenüber,<br />
son<strong>de</strong>rn je<strong>de</strong>s Wirtschaftssubjekt allen an<strong>de</strong>ren. Auch wenn sich Gruppen<br />
von Konkurrenten zu gemeinschaftlichem Vorgehen zusammenschließen,<br />
steht nicht Klasse gegen Klasse, son<strong>de</strong>rn Gruppe gegen Gruppe. Das, was<br />
eine einzelne Arbeitergruppe für sich herausgeschlagen hat, kommt nicht<br />
<strong>de</strong>r Gesamtheit <strong>de</strong>r Arbeiter zugute; die Interessen <strong>de</strong>r Arbeiter verschie<strong>de</strong>ner<br />
Produktionszweige sind ebenso entgegengesetzt wie die <strong>de</strong>r<br />
Unternehmer und <strong>de</strong>r Arbeiter.<br />
Diese Gegensätzlichkeit <strong>de</strong>r Interessen von Käufer und Verkäufer auf<br />
<strong>de</strong>m Markte kann die Lehre nicht im Auge haben, wenn sie vom<br />
Klassenkampf spricht. 1 Das, was sie unter Klassenkampf versteht, spielt<br />
sich, wenn auch aus wirtschaftlichen Beweggrün<strong>de</strong>n entspringend,<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Wirtschaft ab. Wenn sie <strong>de</strong>n Klassenkampf als <strong>de</strong>m<br />
ständischen Kampf analog behan<strong>de</strong>lt, dann kann sie nichts an<strong>de</strong>res meinen<br />
als politischen und außerhalb <strong>de</strong>s Marktes sich abspielen<strong>de</strong>n Kampf.<br />
An<strong>de</strong>res kann es ja zwischen Herren und Sklaven, zwischen Grundherren<br />
und Grundhol<strong>de</strong>n gar nicht gegeben haben; auf <strong>de</strong>m Markt haben die<br />
nichts miteinan<strong>de</strong>r zu tun. Der Marxismus setzt als selbstverständlich<br />
voraus, daß die Besitzen<strong>de</strong>n allein an <strong>de</strong>r Erhaltung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln interessiert sind, daß die Proletarier das<br />
entgegengesetzte Interesse haben, und daß bei<strong>de</strong> ihre Interessen kennen<br />
und <strong>de</strong>mentsprechend han<strong>de</strong>ln. Daß diese Auffassung nur dann als richtig<br />
angesehen wer<strong>de</strong>n kann, wenn man alle marxistischen Theoreme als<br />
bewiesen hinnehmen wollte, wur<strong>de</strong> schon gezeigt. Die Einrichtung <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln liegt nicht nur im Interesse<br />
<strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong> so auch in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Nichtbesitzen<strong>de</strong>n.<br />
Davon, daß diese bei<strong>de</strong>n großen Klassen, in die sich die Gesellschaft<br />
spalten soll, ihr Interesse im Klassenkampf von selbst kennen, ist keine<br />
Re<strong>de</strong>. Es hat die Marxisten genug Mühe gekostet, das Klassenbewußtsein<br />
<strong>de</strong>r Arbeiter zu wecken, das heißt, sie zu Anhängern ihrer auf die<br />
Vergesellschaftung <strong>de</strong>s Eigentums gerichteten Pläne zu machen. Es ist die<br />
Theorie von <strong>de</strong>n unüberwindbaren Gegensätzen <strong>de</strong>r Klasseninteressen, die<br />
die Arbeiter zum gemeinsamen Han<strong>de</strong>ln gegen die bürgerliche Klasse<br />
zusammenschließt.<br />
1 Vgl. die auf Seite 317 zitierten Worte von Marx.
335<br />
Es ist das durch die I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>s Klassengegensatzes geschaffene<br />
Bewußtsein, daß das Sein <strong>de</strong>s Klassenkampfes macht, und nicht<br />
umgekehrt. Die I<strong>de</strong>e schuf die Klasse, nicht die Klasse die I<strong>de</strong>e.<br />
Außerwirtschaftlich wie Ursprung und Ziele, sind auch die Mittel <strong>de</strong>s<br />
Klassenkampfes. Arbeitseinstellungen, Sabotage, Gewalttätigkeiten und<br />
Terror je<strong>de</strong>r Art sind keine wirtschaftlichen Mittel. Sie sind Zerstörungsmittel,<br />
die <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Lebens unterbrechen sollen, sie<br />
sind Kampfmittel, die zum Untergang <strong>de</strong>r Gesellschaft führen müssen.<br />
§ 5. Aus <strong>de</strong>r Lehre vom Klassenkampf folgt für <strong>de</strong>n Marxismus, daß<br />
die sozialistische Gesellschaftsordnung die unentrinnbare Notwendigkeit<br />
<strong>de</strong>r menschlichen Zukunft bil<strong>de</strong>t. In je<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum<br />
beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung muß notwendigerweise ein unversöhnlicher<br />
Gegensatz zwischen <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r einzelnen Klassen<br />
bestehen; Unterdrücker stehen gegen Unterdrückte. Durch diesen Interessengegensatz<br />
wird die geschichtliche Stellung <strong>de</strong>r Klassen bestimmt; er<br />
schreibt ihnen die Politik vor, die sie befolgen müssen. So wird die<br />
Geschichte zu einer Kette von Klassenkämpfen, bis schließlich in <strong>de</strong>m<br />
mo<strong>de</strong>rnen Proletariat eine Klasse auftritt, die sich von <strong>de</strong>r Klassenherrschaft<br />
nur dadurch zu befreien vermag, daß sie alle Klassengegensätze<br />
und alle Unterdrückung als solche aufhebt.<br />
Die marxistische Klassenkampftheorie hat ihren Einfluß weit über die<br />
Kreise <strong>de</strong>r Sozialisten hinaus geübt. Daß die liberale Lehre von <strong>de</strong>r<br />
Solidarität <strong>de</strong>r letzten Interessen aller Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft in <strong>de</strong>n<br />
Hintergrund gedrängt wur<strong>de</strong>, ist freilich nicht nur auf sie zurückzuführen,<br />
son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>m gleichen Maße auf das Wie<strong>de</strong>rerwachen <strong>de</strong>r<br />
imperialistischen und protektionistischen I<strong>de</strong>en. Je mehr aber <strong>de</strong>r liberale<br />
Gedanke verblaßte, <strong>de</strong>sto stärker mußte die Anziehungskraft <strong>de</strong>r<br />
marxistischen Verheißung wer<strong>de</strong>n. Denn sie hat eines mit <strong>de</strong>r liberalen<br />
Theorie gemein, was <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren antiliberalen Theorien fehlt: sie bejaht<br />
die Möglichkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens. Alle an<strong>de</strong>ren<br />
Lehren, die die Harmonie <strong>de</strong>r Interessen leugnen, streiten damit auch <strong>de</strong>m<br />
gesellschaftlichen Zusammenleben die Existenzmöglichkeit ab. Wer nach<br />
Art <strong>de</strong>r Nationalisten, Rassentheoretiker o<strong>de</strong>r auch nur <strong>de</strong>r Schutzzöllner<br />
<strong>de</strong>r Meinung ist, daß die Interessengegensätze zwischen <strong>de</strong>n Völkern nicht<br />
zu überbrücken seien, leugnet damit die Möglichkeit eines gesellschaftlichen,<br />
d. i. friedlichen Zusammenlebens <strong>de</strong>r Völker. Wer
336<br />
nach Art <strong>de</strong>r unentwegten Vertreter bäuerlicher o<strong>de</strong>r kleinbürgerlicher<br />
Interessen die Berechtigung <strong>de</strong>s ausschließlichen Interessenstandpunktes<br />
in <strong>de</strong>r Politik vertritt, müßte, wenn er folgerichtig <strong>de</strong>nkt, zur Verneinung<br />
<strong>de</strong>r Ersprießlichkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt<br />
gelangen. Gegenüber diesen Theorien, die in ihrer Konsequenz zum<br />
schwersten Pessimismus über die ,Zukunft <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Entwicklung führen, stellt sich <strong>de</strong>r ,Sozialismus insofern als optimistische<br />
Lehre dar, als er wenigstens für die angestrebte zukünftige Gesellschaftsordnung<br />
die Solidarität <strong>de</strong>r Interessen aller Glie<strong>de</strong>r zugibt. Das Bedürfnis<br />
nach einer Gesellschaftsphilosophie, die <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Zusammenlebens doch nicht ganz verneint, ist so groß, daß es viele in die<br />
Arme <strong>de</strong>s Sozialismus treibt, die ihm sonst ferngeblieben wären. Aus <strong>de</strong>r<br />
Trostlosigkeit <strong>de</strong>r übrigen antiliberalen Theorien wissen sie keine an<strong>de</strong>re<br />
Flucht als die zum Sozialismus.<br />
Man übersieht über dieser Bereitwilligkeit, das marxistische Dogma<br />
anzunehmen, daß seine Verkündigung einer klassenlosen Zukunftsgesellschaft<br />
ganz auf <strong>de</strong>m als unwi<strong>de</strong>rleglich hingestellten Satze von <strong>de</strong>r<br />
höheren, ja von <strong>de</strong>r grenzenlosen Produktivität <strong>de</strong>r sozialistisch organisierten<br />
Arbeit beruht. „Die Möglichkeit, vermittels <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Produktion allen Gesellschaftsglie<strong>de</strong>rn eine Existenz zu sichern, die nicht<br />
nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher<br />
wird, son<strong>de</strong>rn die ihnen auch die vollständige freie Ausbildung und<br />
Betätigung ihrer körperlichen und geistigen Anlagen garantiert, diese<br />
Möglichkeit ist jetzt zum erstenmal da, aber sie ist da“. 1 Das einzige<br />
Hin<strong>de</strong>rnis, das uns von diesem Wohlstand für alle verheißen<strong>de</strong>n Zustand<br />
trennt, ist das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln, das aus einer<br />
„Entwicklungsform <strong>de</strong>r Produktivkräfte“ zu ihrer „Fessel“ umgeschlagen<br />
ist. 2 Die Befreiung <strong>de</strong>r Produktivkräfte aus <strong>de</strong>n Ban<strong>de</strong>n, die ihnen die<br />
kapitalistische Produktionsweise angelegt hat, ist „die einzige Vorbedingung<br />
einer ununterbrochenen, stets rascher fortschreiten<strong>de</strong>n Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung<br />
<strong>de</strong>r Produktion selbst“. 3 „In<strong>de</strong>m<br />
1 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 305.<br />
2 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie, herg. von Kautsky, Stuttgart 1897,<br />
S. XI.<br />
3 Vgl. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung <strong>de</strong>r Wissenschaft, a. a. O., S. 304.
337<br />
die Entwicklung <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Technik bereits die reale Möglichkeit einer<br />
genügen<strong>de</strong>n und sogar reichlichen Bedürfnisbefriedigung <strong>de</strong>r Gesamtheit<br />
gestattet, vorausgesetzt, daß die Produktion ökonomisch von <strong>de</strong>r Gesamtheit<br />
und für sie geleitet wird, erscheint, jetzt zum erstenmal <strong>de</strong>r Klassengegensatz<br />
nicht mehr als eine Bedingung gesellschaftlicher Entwicklung,<br />
son<strong>de</strong>rn im Gegenteil als die Schranke ihrer bewußten und planmäßigen<br />
Organisation. So wird im Lichte dieser Erkenntnis das Klasseninteresse<br />
<strong>de</strong>r unterdrückten Klasse <strong>de</strong>s Proletariats auf die Beseitigung jeglicher<br />
Klasseninteressen überhaupt und auf die Herstellung einer klassenlosen<br />
Gesellschaft gerichtet. Das alte, ewig scheinen<strong>de</strong> Gesetz <strong>de</strong>s Klassenkampfes<br />
treibt gera<strong>de</strong> durch seine eigene Konsequenz, durch das<br />
Eigeninteresse <strong>de</strong>r letzten und zahlreichsten Klasse, <strong>de</strong>s Proletariats, zur<br />
Aufhebung aller Klassengegensätze, zur endlichen Konstituierung einer<br />
einheitlich interessierten, menschlich solidarischen Gesellschaft“. 1 Die<br />
Beweisführung <strong>de</strong>s Marxismus ist mithin schließlich die: Der Sozialismus<br />
muß kommen, weil die sozialistische Produktionsweise rationeller ist als<br />
die kapitalistische. Daß die behauptete Überlegenheit <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Produktionsweise bestehe, wird von ihm aber als selbstverständlich<br />
angenommen: er versucht kaum, es an<strong>de</strong>rs als durch ein paar nebenbei<br />
hingeworfene Bemerkungen zu beweisen. 2<br />
Nimmt man aber schon an, daß die sozialistische Produktionsweise<br />
ergiebiger sei als je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re, wie kommt man dann dazu, diese<br />
Behauptung wie<strong>de</strong>r dahin einzuschränken, daß sie es erst unter bestimmten<br />
geschichtlichen Bedingungen gewor<strong>de</strong>n und nicht schon immer<br />
gewesen sei? Warum muß die Zeit für <strong>de</strong>n Sozialismus erst reif wer<strong>de</strong>n?<br />
Man könnte es wohl verstehen, wenn die Marxisten erklären wollten,<br />
warum die Menschen nicht schon vor <strong>de</strong>m neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt auf<br />
<strong>de</strong>n glücklichen Gedanken, zur ergiebigeren sozialistischen Produktionsweise<br />
überzugehen, verfallen konnten, und warum dieser Gedanke, wenn<br />
er etwa schon früher gefaßt wor<strong>de</strong>n wäre, nicht eher hätte verwirklicht<br />
wer<strong>de</strong>n können. Warum aber muß ein Volk, um zum Sozialismus zu<br />
gelangen, auch dann noch alle Entwicklungsstufen durchlaufen, wenn es<br />
mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s. Sozialismus schon vertraut ist? Es ist zu begreifen, wenn<br />
man annehmen will, „ein Volk sei zum Sozialismus noch nicht reif,<br />
solange die Mehrheit <strong>de</strong>r Volksmasse <strong>de</strong>m Sozialismus feindlich<br />
gegenübersteht,<br />
1 Vgl. Max Adler, Marx als Denker, 2. Aufl., Wien 1921, S. 68.<br />
2 Über Kautskys Beweise vgl. oben S. 170 ff.
338<br />
von ihm nichts wissen will“. Doch warum „läßt sich nicht bestimmt<br />
sagen“, <strong>de</strong>r Zeitpunkt <strong>de</strong>r Reife sei schon da, „wenn das Proletariat die<br />
Mehrheit im Volke bil<strong>de</strong>t und dieses in seiner Mehrheit <strong>de</strong>n Willen zum<br />
Sozialismus bekun<strong>de</strong>t?“ 1 Ist es nicht ganz und gar inkonsequent, zu<br />
behaupten, daß <strong>de</strong>r Weltkrieg uns in <strong>de</strong>r Entwicklung zurückgeworfen<br />
habe und daß daher die Zeit <strong>de</strong>r Reife für <strong>de</strong>n Sozialismus durch ihn eher<br />
noch hinausgeschoben wor<strong>de</strong>n sei? „Der Sozialismus, d. h. allgemeiner<br />
Wohlstand innerhalb <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Kultur, wird nur möglich durch die<br />
gewaltige Entwicklung <strong>de</strong>r Produktivkräfte, die <strong>de</strong>r Kapitalismus mit sich<br />
bringt, durch die enormen Reichtümer, die er schuf und die sich in <strong>de</strong>n<br />
Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r kapitalistischen Klasse konzentrieren. Ein Staatswesen, das<br />
diese Reichtümer durch eine unsinnige Politik, etwa einen erfolglosen<br />
Krieg, vergeu<strong>de</strong>t hat, bietet von vornherein keinen günstigen Ausgangspunkt<br />
für die rascheste Verbreitung von Wohlstand in allen Schichten“. 2<br />
Wer von <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise eine Vervielfältigung <strong>de</strong>r<br />
Produktivität erwartet, <strong>de</strong>r müßte doch eigentlich gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m Umstand,<br />
daß wir durch <strong>de</strong>n Krieg ärmer gewor<strong>de</strong>n sind, einen Grund mehr für die<br />
Beschleunigung <strong>de</strong>r Sozialisierung erblicken.<br />
Marx antwortet darauf: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter,<br />
bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und<br />
neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die<br />
materiellen Existenzbedingungen <strong>de</strong>rselben im Schoß <strong>de</strong>r alten<br />
Gesellschaft selbst ausgebrütet wor<strong>de</strong>n sind“. 3 Doch diese Antwort nimmt<br />
das bereits als bewiesen an, was erst zu beweisen wäre, sowohl die höhere<br />
Produktivität <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise als auch die Klassifikation<br />
<strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise als einer „höheren“, d. i. einer<br />
höheren Stufe <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung zugehören<strong>de</strong>n.<br />
§ 6. Es ist heute so ziemlich die herrschen<strong>de</strong> Meinung, daß <strong>de</strong>r Weg<br />
<strong>de</strong>r Geschichte zum Sozialismus hinführe. Vom Feudalismus über <strong>de</strong>n<br />
Kapitalismus zum Sozialismus, von <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>lsherrschaft über die<br />
Herrschaft <strong>de</strong>s Bürgertums zur proletarischen Demokratie, so ungefähr<br />
stellt man sich die notwendige Entwicklung <strong>de</strong>r Dinge vor. Daß <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus das unentrinnbare Schicksal unserer Zukunft ist, wird von<br />
vielen mit Freu<strong>de</strong>n begrüßt, an<strong>de</strong>re bedauern<br />
1 Vgl. Kautsky, Die Diktatur <strong>de</strong>s Proletariats, 2. Aufl., Wien 1918, S. 12<br />
2 Ebendort S. 40.<br />
3 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie, a. a. O., S. XII
339<br />
es, aber nur wenige wagen es zu bezweifeln. Dieses Schema <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung ist schon vor Marx bekannt gewesen; doch es verdankt seine<br />
Herausarbeitung und seine Volkstümlichkeit durchaus seinen Werken. Es<br />
verdankt Marx vor allem auch seine Einfügung in <strong>de</strong>n Zusammenhang<br />
eines philosophischen Systems.<br />
Von <strong>de</strong>n großen Systemen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen i<strong>de</strong>alistischen Philosophie<br />
haben allein die von Schelling und Hegel unmittelbar nachhaltigen<br />
Einfluß auf die Gestaltung <strong>de</strong>r Einzelwissenschaften genommen. Aus<br />
Schellings Naturphilosophie erwuchs eine spekulative Schule, <strong>de</strong>ren aus<br />
<strong>de</strong>r „intellektuellen Anschauung“ frei geschöpfte Konstruktionen, einst<br />
bewun<strong>de</strong>rt und gepriesen, längst <strong>de</strong>r Vergessenheit anheimgefallen sind.<br />
Hegel’s Geschichtsphilosophie zwang die <strong>de</strong>utsche Historik eines<br />
Menschenalters in ihren Bann; man schrieb Allgemeine Geschichte,<br />
Philosophiegeschichte, Religionsgeschichte, Rechtsgeschichte, Kunstgeschichte,<br />
Literaturgeschichte nach Hegelscher Art. Auch diese willkürlichen<br />
und mitunter recht schrullenhaften Entwicklungshypothesen sind<br />
verschollen. Die Mißachtung, in die die Schulen Schellings und Hegels<br />
die Philosophie gebracht hatten, führte dahin, daß die Naturwissenschaft<br />
alles, was über das Experimentieren und Analysieren im Laboratorium<br />
hinausgeht, und die Geisteswissenschaft alles, was nicht Sammeln und<br />
Sichten von Quellen ist, ablehnte. Die Wissenschaft blieb auf das<br />
„Faktische“ beschränkt, alle Synthese wur<strong>de</strong> als unwissenschaftlich<br />
verworfen. Der Anstoß zu neuer Durchdringung <strong>de</strong>r Wissenschaft mit<br />
philosophischem Geiste mußte von an<strong>de</strong>rswo herkommen: von <strong>de</strong>r<br />
Biologie und von <strong>de</strong>r Soziologie.<br />
Von allen Konstruktionen <strong>de</strong>r Hegel’schen Schule war nur einer eine<br />
längere Lebensdauer beschie<strong>de</strong>n: <strong>de</strong>r marxistischen Gesellschaftstheorie.<br />
Doch sie blieb ohne Zusammenhang mit <strong>de</strong>n Einzelwissenschaften. Die<br />
marxistischen I<strong>de</strong>en haben sich als Richtschnur für geschichtliche<br />
Untersuchungen ganz unbrauchbar erwiesen. Alle Versuche marxistischer<br />
Geschichtsschreibung haben zu kläglichen Mißerfolgen geführt. Die<br />
geschichtlichen Arbeiten <strong>de</strong>r orthodoxen Marxisten wie Kautsky und<br />
Mehring sind überhaupt nicht bis zu selbständiger Verarbeitung und<br />
geistiger Durchdringung <strong>de</strong>r Quellen vorgeschritten; sie bringen nichts als<br />
auf <strong>de</strong>n Forschungen an<strong>de</strong>rer beruhen<strong>de</strong> Darstellungen, an <strong>de</strong>nen allein<br />
das Bestreben originell ist, alles durch die Brille <strong>de</strong>r marxistischen<br />
Auffassung zu sehen. Der Einfluß <strong>de</strong>r marxistischen I<strong>de</strong>en reicht<br />
allerdings über <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r orthodoxen Jünger weit hinaus; mancher<br />
Historiker, <strong>de</strong>r politisch durchaus nicht zum marxistischen Sozialismus<br />
gerechnet wer<strong>de</strong>n darf,
340<br />
kommt ihnen in seinen geschichtswissenschaftlichen Anschauungen sehr<br />
nahe. Doch gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Arbeiten dieser Forscher ist <strong>de</strong>r marxistische<br />
Einschlag nur ein stören<strong>de</strong>s Element. Der Gebrauch von Ausdrücken, die<br />
so unbestimmt sind wie Ausbeutung, Verwertungsstreben <strong>de</strong>s Kapitals,<br />
Proletariat trübt <strong>de</strong>n Blick für die unbefangene Beurteilung <strong>de</strong>s Stoffes,<br />
und die Vorstellung, daß alle Geschichte nur Vorstufe zur sozialistischen<br />
Gesellschaft sei, nötigt .zu gewaltsamer Auslegung <strong>de</strong>r Quellen.<br />
Der Gedanke, daß die Herrschaft <strong>de</strong>r Bourgeoisie durch die <strong>de</strong>s<br />
Proletariates abgelöst wer<strong>de</strong>n müsse, stützt sich zum guten Teil auf die<br />
seit <strong>de</strong>r französischen Revolution allgemein eingebürgerte Nummerierung<br />
<strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> und Klassen. Man bezeichnet die französische Revolution und<br />
die durch sie in <strong>de</strong>n Staaten Europas und Amerikas eingeleitete Bewegung<br />
als die Emanzipation <strong>de</strong>s dritten Stan<strong>de</strong>s und meint, nun müsse die<br />
Emanzipation <strong>de</strong>s vierten Stan<strong>de</strong>s an die Reihe kommen. Es sei ganz<br />
davon abgesehen, daß die Auffassung <strong>de</strong>s Sieges <strong>de</strong>r liberalen I<strong>de</strong>en als<br />
eines Klassenerfolges <strong>de</strong>r Bourgeoisie und <strong>de</strong>r Freihan<strong>de</strong>lsära als einer<br />
Epoche <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Bourgeoisie bereits alle Elemente <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaftstheorie als bewiesen voraussetzt. Denn eine<br />
an<strong>de</strong>re Frage muß sich gleich aufdrängen: muß <strong>de</strong>r vierte Stand, <strong>de</strong>r nun<br />
an <strong>de</strong>r Reihe ist, gera<strong>de</strong> im Proletariat gesucht wer<strong>de</strong>n? Könnte man ihn<br />
nicht mit <strong>de</strong>m gleichen o<strong>de</strong>r mit größerem Recht im Bauerntum suchen?<br />
Für Marx konnte darüber freilich kein Zweifel bestehen. Für ihn ist es<br />
ausgemacht, daß auch in <strong>de</strong>r Landwirtschaft <strong>de</strong>r Großbetrieb <strong>de</strong>n Kleinbetrieb<br />
verdrängen, daß <strong>de</strong>r Bauer <strong>de</strong>m landlosen Arbeiter <strong>de</strong>r Latifundien<br />
<strong>de</strong>n Platz räumen müsse. Nun, da die Theorie von <strong>de</strong>r Konkurrenzunfähigkeit<br />
<strong>de</strong>s landwirtschaftlichen Mittel- und Kleinbetriebes längst<br />
begraben ist, entsteht hier eine Frage, auf die eine Antwort im<br />
marxistischen Sinne nicht gegeben wer<strong>de</strong>n kann. Die Entwicklung, die<br />
wir um uns herum sehen, wür<strong>de</strong> noch eher die Annahme eines<br />
Überganges <strong>de</strong>r Herrschaft an die Bauern als die Annahme eines<br />
Überganges an die Proletarier gestatten. 1<br />
Das entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Moment liegt aber auch hier in <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r<br />
Wirkungen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnungen, <strong>de</strong>r kapitalistischen und<br />
<strong>de</strong>r sozialistischen. Wenn <strong>de</strong>r Kapitalismus nicht jene Ausgeburt <strong>de</strong>r Hölle<br />
ist, als die ihn das sozialistische Zerrbild darstellt, und wenn <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus nicht jene i<strong>de</strong>ale Ordnung <strong>de</strong>r<br />
1<br />
Vgl. Gerhard Hil<strong>de</strong>brand, Die Erschütterung <strong>de</strong>r Industrieherrschaft und <strong>de</strong>s<br />
Industriesozialismus, Jena 1910, S. 213 ff.
341<br />
Dinge ist, als die ihn die Sozialisten preisen, fällt die ganze Konstruktion<br />
zusammen. Immer wie<strong>de</strong>r kehrt die Erörterung zu <strong>de</strong>mselben Punkte<br />
zurück; die Grundfrage ist stets nur die, ob die sozialistische Gesellschaftsordnung<br />
höhere Produktivität <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Arbeit<br />
verspricht als die kapitalistische.<br />
§ 7. Rasse, Nationalität, Staatszugehörigkeit, Stan<strong>de</strong>srecht sind im<br />
Leben direkt wirksam. Es kommt nicht darauf an, ob eine Parteii<strong>de</strong>ologie<br />
alle Angehörigen <strong>de</strong>rselben Rasse o<strong>de</strong>r Nation, <strong>de</strong>sselben Staats o<strong>de</strong>r<br />
Stan<strong>de</strong>s zu gemeinsamem Han<strong>de</strong>ln zusammenfaßt o<strong>de</strong>r nicht. Die<br />
Tatsache, daß es Rassen, Nationen, Staaten und Stän<strong>de</strong> gibt, bestimmt das<br />
menschliche Han<strong>de</strong>ln auch dann, wenn keine I<strong>de</strong>ologie die Menschen<br />
veranlaßt, sich durch die Zugehörigkeit zu einer <strong>de</strong>rartigen Gruppe in<br />
ihrem Han<strong>de</strong>ln in einem bestimmten Sinne leiten zu lassen. Des<br />
Deutschen Denken und Han<strong>de</strong>ln ist durch die Geistesbildung, die er mit<br />
<strong>de</strong>m Eintritt in die <strong>de</strong>utsche Sprachgemeinschaft übernommen hat,<br />
beeinflußt; ob er unter <strong>de</strong>r Einwirkung einer nationalistischen Parteii<strong>de</strong>ologie<br />
steht o<strong>de</strong>r davon frei ist, ist dabei ganz gleichgültig. Er <strong>de</strong>nkt und<br />
han<strong>de</strong>lt als Deutscher an<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r Rumäne, <strong>de</strong>ssen Denken durch die<br />
Geschichte <strong>de</strong>r rumänischen Sprache und nicht durch die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
bestimmt ist.<br />
Die Parteii<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>s Nationalismus ist ein von <strong>de</strong>r Tatsache <strong>de</strong>r<br />
Zugehörigkeit zu einer Nation ganz unabhängiger Faktor. Es können<br />
verschie<strong>de</strong>ne einan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong> nationalistische Parteii<strong>de</strong>ologien<br />
nebeneinan<strong>de</strong>r bestehen und um die Seele <strong>de</strong>s einzelnen kämpfen; es kann<br />
aber auch je<strong>de</strong> Art nationalistischer Parteii<strong>de</strong>ologie fehlen. Die Parteii<strong>de</strong>ologie<br />
ist immer etwas, was zu <strong>de</strong>r Gegebenheit <strong>de</strong>s Zugehörens zu einer<br />
bestimmten gesellschaftlichen Gruppe noch beson<strong>de</strong>rs hinzutritt und dann<br />
eine beson<strong>de</strong>re Quelle <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns bil<strong>de</strong>t. Das gesellschaftliche Sein<br />
erzeugt keine adäquate Parteidoktrin in <strong>de</strong>n Köpfen. Die Parteistellung<br />
entspringt stets einer Theorie über das, was frommt und nicht frommt. Das<br />
gesellschaftliche Sein mag unter Umstän<strong>de</strong>n zur Annahme einer<br />
bestimmten I<strong>de</strong>ologie prädisponieren; die Parteidoktrinen wer<strong>de</strong>n mitunter<br />
schon so gestaltet, daß sie <strong>de</strong>n Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen<br />
Gruppe beson<strong>de</strong>rs anziehend erscheinen. Doch die I<strong>de</strong>ologie<br />
ist stets von <strong>de</strong>r Gegebenheit <strong>de</strong>s gesellschaftlichen und <strong>de</strong>s natürlichen<br />
Seins zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Das gesellschaftliche Sein selbst ist ein i<strong>de</strong>ologisches Moment,<br />
insofern Gesellschaft ein Produkt menschlichen Wollens und daher
342<br />
auch menschlichen Denkens ist. Die materialistische Geschichtsauffassung<br />
ruft heillose Begriffsverwirrung hervor, wenn sie das gesellschaftliche<br />
Sein als vom Denken unabhängig ansieht.<br />
Bezeichnet man die Stellung, die <strong>de</strong>m einzelnen Menschen im<br />
Kooperationsorganismus <strong>de</strong>r Wirtschaft zukommt, als seine Klassenlage,<br />
dann gilt das oben Gesagte auch von <strong>de</strong>r Klasse. Dann muß man auch hier<br />
zwischen <strong>de</strong>n Einflüssen unterschei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r einzelne durch seine<br />
Klassenlage ausgesetzt ist, und zwischen <strong>de</strong>n parteipolitischen I<strong>de</strong>ologien,<br />
die auf ihn einwirken. Der Bankangestellte steht unter <strong>de</strong>m Einflusse <strong>de</strong>r<br />
Tatsache, daß er gera<strong>de</strong> diese Stellung in <strong>de</strong>r Gesellschaft einnimmt. Ob<br />
er daraus <strong>de</strong>n Schluß zieht, daß er für kapitalistische o<strong>de</strong>r für<br />
sozialistische Politik eintreten müsse, hängt von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en ab, die ihn<br />
beherrschen.<br />
Faßt man aber <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Klasse in <strong>de</strong>m marxistischen Sinne einer<br />
Dreiteilung <strong>de</strong>r Gesellschaft in Kapitalisten, Grundherren ,und Arbeiter<br />
auf, dann verliert er je<strong>de</strong> Bestimmtheit. Dann ist er nichts als eine Fiktion,<br />
die <strong>de</strong>r Begründung einer konkreten parteipolitischen I<strong>de</strong>ologie dienen<br />
soll. So sind die Begriffe Bourgeoisie, Arbeiterklasse, Proletariat<br />
Fiktionen, <strong>de</strong>ren Brauchbarkeit für die Erkenntnis von <strong>de</strong>r Theorie, in <strong>de</strong>r<br />
sie Verwendung fin<strong>de</strong>n, abhängt. Diese Theorie ist die marxistische Lehre<br />
von <strong>de</strong>r Unüberbrückbarkeit <strong>de</strong>r Klassengegensätze. Wenn man diese<br />
Theorie nicht als brauchbar ansieht, dann bestehen keine Klassenunterschie<strong>de</strong><br />
und keine Klassengegensätze im marxistischen Sinne. Ist<br />
nachgewiesen, daß zwischen <strong>de</strong>n richtig verstan<strong>de</strong>nen Interessen aller<br />
Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft letztlich kein Gegensatz besteht, dann ist damit<br />
nicht nur klargestellt, daß die marxistische Auffassung von <strong>de</strong>r<br />
Gegensätzlichkeit <strong>de</strong>r Interessen nicht zu halten ist; auch <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r<br />
Klasse, in <strong>de</strong>m Sinne, wie ihn die sozialistische Lehre verwen<strong>de</strong>t, ist dann<br />
als wertlos abgetan. Denn nur im Rahmen dieser Theorie hat die<br />
Zusammenfassung <strong>de</strong>r Kapitalisten, <strong>de</strong>r Grundbesitzer, <strong>de</strong>r Arbeiter zu<br />
gedanklichen Einheiten einen Sinn. Außerhalb dieser Theorie ist die<br />
Zusammenfassung ebenso zwecklos wie es etwa die Zusammenfassung<br />
aller blon<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r brünetten Menschen zu einer Einheit ist, wenn man<br />
nicht - wie etwa bestimmte Rassentheorien - <strong>de</strong>r Haarfarbe, sei es als<br />
äußeres Merkmal, sei es als konstitutives Moment, eine beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung<br />
beizulegen weiß.<br />
Durch die Stellung, die <strong>de</strong>r einzelne im arbeitsteiligen gesellschaftlichen<br />
Produktionsprozeß einnimmt, wird seine ganze Lebensführung,<br />
sein Denken und seine Einstellung zur Welt in entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r
343<br />
Weise beeinflußt. Das gilt in mancher Hinsicht auch von <strong>de</strong>r Verschie<strong>de</strong>nheit<br />
<strong>de</strong>r Stellung, die <strong>de</strong>m einzelnen in <strong>de</strong>r Ausführung <strong>de</strong>r<br />
Produktion zukommt. Unternehmer und Arbeiter <strong>de</strong>nken an<strong>de</strong>rs, weil die<br />
Gewohnheit <strong>de</strong>r täglichen Arbeit <strong>de</strong>n Blick an<strong>de</strong>rs einstellt. Der<br />
Unternehmer sieht immer das Große und Ganze, <strong>de</strong>r Arbeiter nur das<br />
Nächste und Kleine. 1 Jener wird großzügig, dieser bleibt am Kleinen<br />
haften. Das sind gewiß Dinge, die von großer Wichtigkeit für die<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Doch damit ist noch<br />
nicht gesagt, daß es darum schon zweckmäßig wäre, <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r<br />
Klasse in <strong>de</strong>m Sinne, in <strong>de</strong>m ihn die sozialistische Theorie verwen<strong>de</strong>t,<br />
einzuführen. Denn diese Unterscheidungsmerkmale haften nicht an und<br />
für sich schon an <strong>de</strong>r Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Stellung im Produktionsprozeß.<br />
Der kleine Unternehmer steht in seinem Denken <strong>de</strong>m Arbeiter näher als<br />
<strong>de</strong>m großen Unternehmer, <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong> Angestellte großer Unternehmungen<br />
ist wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Unternehmer enger verwandt als <strong>de</strong>m Arbeiter. In<br />
vieler Hinsicht ist die Unterscheidung von arm und reich für die<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Zustän<strong>de</strong>, die wir hier im Auge haben,<br />
wichtiger als die von Unternehmer und Arbeiter. Die Lebenshaltung und<br />
Lebensführung wird mehr durch die Höhe <strong>de</strong>s Einkommens bestimmt als<br />
durch die Stellung zu <strong>de</strong>n Produktionsfaktoren; diese kommt dafür nur<br />
soweit in Betracht, als sie sich in <strong>de</strong>r Abstufung <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s<br />
Einkommens ausdrückt.<br />
V.<br />
Die materialistische Geschichtsauffassung.<br />
§ 1. Feuerbach hatte verkün<strong>de</strong>t: „das Denken ist aus <strong>de</strong>m Sein, aber das<br />
Sein nicht aus <strong>de</strong>m Denken“. 2 Was hier nur die Abkehr vom I<strong>de</strong>alismus<br />
<strong>de</strong>r Hegel’schen Richtung ausdrücken sollte, wird in <strong>de</strong>m berühmt<br />
gewor<strong>de</strong>nen Ausspruch: „Der Mensch ist, was er ißt“ 3 zum Losungswort<br />
<strong>de</strong>s Materialismus, wie ihn Büchner und Moleschott vertreten haben. Vogt<br />
gibt <strong>de</strong>r materialistischen These die schärfste Prägung, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Satz<br />
verteidigt, „daß die Gedanken<br />
1 Vgl. Ehrenberg, Der Gesichtskreis eines <strong>de</strong>utschen Fabrikarbeiters (Thünen-Archiv,<br />
I. Bd.), S. 820 ff.<br />
2 Vgl. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform <strong>de</strong>r Philosophie, 1842 (Sämtliche<br />
Werke, a. a. O., II. Bd., Stuttgart 1904, S. 239).<br />
3 Vgl. Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, 1850 (a. a. O., X. Bd.,<br />
Stuttgart 1911, S. 22).
344<br />
etwa in <strong>de</strong>mselben Verhältnis zum Gehirn stehen wie die Galle zu <strong>de</strong>r<br />
Leber o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Urin zu <strong>de</strong>n Nieren“. 1 Derselbe naive Materialismus, <strong>de</strong>r<br />
ohne Ahnung von <strong>de</strong>r Schwierigkeit <strong>de</strong>r Probleme die philosophische<br />
Grundfrage durch Zurückführung alles Geistigen auf Körperliches einfach<br />
und vollständig zu lösen vermeint, tritt auch in <strong>de</strong>r ökonomischen<br />
Geschichtsauffassung von Marx und Engels zutage. Die Bezeichnung materialistische<br />
Geschichtsauffassung, die sie trägt, entspricht ihrem Wesen,<br />
als er ihre und <strong>de</strong>s zeitgenössischen Materialismus erkenntnistheoretische<br />
Gleichartigkeit treffend und im Sinne ihrer Begrün<strong>de</strong>r hervorhebt. 2<br />
Die materialistische Geschichtsauffassung trägt die Lehre von <strong>de</strong>r<br />
Abhängigkeit <strong>de</strong>s Denkens vom gesellschaftlichen Sein in zwei verschie<strong>de</strong>nen,<br />
einan<strong>de</strong>r im Grun<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>n Gestalten vor. Nach <strong>de</strong>r<br />
einen ist das Denken einfach unmittelbar aus <strong>de</strong>r ökonomischen Umwelt,<br />
aus <strong>de</strong>n Produktionsverhältnissen, unter <strong>de</strong>nen die Menschen leben,<br />
heraus zu erklären. Es gibt keine Geschichte <strong>de</strong>r Wissenschaft und keine<br />
Geschichte <strong>de</strong>r einzelnen Wissenschaften als selbständige Entwicklungsreihen,<br />
da die Problemstellungen und Problemlösungen nicht einen<br />
fortschreiten<strong>de</strong>n geistigen Prozeß darstellen, son<strong>de</strong>rn die jeweiligen<br />
gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse wi<strong>de</strong>rspiegeln. Descartes,<br />
meint Marx, hat das Tier für eine Maschine angesehen, <strong>de</strong>nn er „sieht mit<br />
<strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Manufakturperio<strong>de</strong> im Unterschied zum Mittelalter, <strong>de</strong>m<br />
das Tier als Gehilfe <strong>de</strong>s Menschen <strong>galt</strong>, wie später wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Herrn v.<br />
Haller in seiner Restauration <strong>de</strong>r Staatswissenschaft“. 3 Die gesellschaftlichen<br />
Produktionsverhältnisse wer<strong>de</strong>n dabei als vom menschlichen<br />
Denken unabhängige Tatsachen angesehen. Sie „entsprechen“ jeweils<br />
„einer bestimmten Entwicklungsstufe“ <strong>de</strong>r „materiellen Produktivkräfte“ 4<br />
o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs ausgedrückt „einer gewissen Stufe <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Produktions- und Verkehrsmittel“. 5 Die Produktivkraft, das<br />
1 Vgl. Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft, 2. Aufl., Gießen 1855, S. 32.<br />
2 Max Adler, <strong>de</strong>r sich bemüht, <strong>de</strong>n Marxismus mit <strong>de</strong>m Neukritizismus zu versöhnen,<br />
sucht vergebens nachzuweisen, daß Marxismus und philosophischer Materialismus nichts<br />
gemein hätten (vgl. beson<strong>de</strong>rs Marxistische Probleme, Stuttgart 1913, S. 60 ff., 216 ff.),<br />
womit er in schroffen Wi<strong>de</strong>rspruch zu an<strong>de</strong>ren Marxisten tritt (z. B. zu Plechanow,<br />
Grundprobleme <strong>de</strong>s Marxismus, Stuttgart 1910).<br />
3 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., I. Bd., S. 354 Anm. - Doch zwischen Descartes und<br />
Haller steht <strong>de</strong> la Mettrie mit seinem homme machine, <strong>de</strong>ssen Philosophie genetisch zu<br />
<strong>de</strong>uten, Marx lei<strong>de</strong>r unterlassen hat.<br />
4 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>r politischen Ökonomie, a. a. O., S. XI.<br />
5 Marx und Engels, Das Kommunistische Manifest, a. a. O., S. 27.
345<br />
Arbeitsmittel, „ergibt“ eine bestimmte Gesellschaftsordnung. 1 „Die<br />
Technologie enthüllt das aktive Verhalten <strong>de</strong>s Menschen zur Natur, <strong>de</strong>n<br />
unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen<br />
Lebensverhältnisse und <strong>de</strong>r ihnen entquellen<strong>de</strong>n geistigen<br />
Vorstellungen“. 2 Auf <strong>de</strong>n Einwand, daß die Produktivkräfte selbst ein<br />
Produkt menschlichen Denkens sind, und daß man sich daher im Kreise<br />
bewegt, wenn man das Denken aus ihrem Sein zu erklären versucht, ist<br />
Marx nicht gekommen. Er stand ganz im Bann <strong>de</strong>s Wortfetisch „materielle<br />
Produktion“. Materiell, materialistisch und Materialismus waren die<br />
philosophischen Mo<strong>de</strong>wörter seiner Tage, <strong>de</strong>ren Einfluß er sich nicht zu<br />
entziehen vermochte. „Die Mängel <strong>de</strong>s abstrakt naturwissenschaftlichen<br />
Materialismus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n geschichtlichen Prozeß ausschließt“, diese Mängel,<br />
die er „schon aus <strong>de</strong>n abstrakten und i<strong>de</strong>ologischen Vorstellungen seiner<br />
Wortführer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen“ ersehen<br />
wollte, zu beheben, hielt er für seine vornehmste philosophische Aufgabe.<br />
Und darum nannte er sein Verfahren „die einzig materialistische und<br />
daher wissenschaftliche Metho<strong>de</strong>“. 3<br />
Nach <strong>de</strong>r zweiten Gestalt <strong>de</strong>r materialistischen Geschichtsauffassung<br />
ist das Denken durch das Klasseninteresse bestimmt. Von Locke sagt<br />
Marx, daß er „die neue Bourgeoisie in allen Formen vertrat, die Industriellen<br />
gegen die Arbeiterklassen und die Paupers, die Kommerziellen gegen<br />
die altmodischen Wucherer, die Finanzaristokraten gegen die Staatsschuldner,<br />
und in einem eigenen Werke sogar <strong>de</strong>n bürgerlichen Verstand<br />
als menschlichen Normalverstand nachwies“. 3 Für Mehring, <strong>de</strong>n<br />
fruchtbarsten <strong>de</strong>r marxistischen Geschichtsschreiber, ist Schopenhauer<br />
„<strong>de</strong>r Philosoph <strong>de</strong>s geängstigten Spießbürgertums, . . . in seiner<br />
duckmäuserigen, eigensüchtigen und lästern<strong>de</strong>n Weise doch recht das<br />
geistige Abbild <strong>de</strong>s Bürgertums, das, erschreckt durch <strong>de</strong>n Lärm <strong>de</strong>r<br />
Waffen, sich zitternd wie Espenlaub auf seine Rente zurückzog und die<br />
I<strong>de</strong>ale seiner Zeit<br />
1 Vgl. Marx, Das Elend <strong>de</strong>r Philosophie, a. a. O., S. 91. - Siehe auch oben S. 289.<br />
2 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., I. Bd., S. 336.<br />
3 Vgl. Marx, Zur Kritik <strong>de</strong>r Politischen Ökonomie, a. a. O., S. 62. - Barth (a. a. O., I.<br />
Bd., S 658 f.) meint mit Recht, daß <strong>de</strong>r Vergleich <strong>de</strong>r angeborenen Vorrechte <strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls<br />
mit <strong>de</strong>n vermeintlich angeborenen I<strong>de</strong>en höchstens als Witz aufgefaßt wer<strong>de</strong>n könne. Doch<br />
<strong>de</strong>r erste Teil <strong>de</strong>r Marxschen Charakteristik Lockes ist nicht weniger unhaltbar als <strong>de</strong>r<br />
zweite.<br />
3 Ebendort.
346<br />
wie die Pest verschwor“. 1 In Nietzsche sieht er „<strong>de</strong>n Philosophen <strong>de</strong>s<br />
Großkapitals“. 2<br />
Am schärfsten wird dieser Standpunkt in <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r<br />
Nationalökonomie vertreten. Marx hat die Scheidung <strong>de</strong>r Nationalökonomen<br />
in bürgerliche und proletarische aufgebracht, eine Auffassung,<br />
die sich dann die etatistische Nationalökonomie zu eigen gemacht hat.<br />
Held erklärt Ricardo’s Grundrententheorie als „einfach von <strong>de</strong>m Haß <strong>de</strong>s<br />
Geldkapitalisten gegen <strong>de</strong>n Grundbesitzerstand diktiert“ und meint, daß<br />
man seine ganze Wertlehre unmöglich für etwas an<strong>de</strong>res ansehen könne,<br />
„als für <strong>de</strong>n Versuch, die Herrschaft und <strong>de</strong>n Gewinn <strong>de</strong>s Kapitals unter<br />
<strong>de</strong>m Schein <strong>de</strong>s Strebens nach naturrechtlicher Gerechtigkeit zu<br />
rechtfertigen“. 3 Durch nichts läßt sich diese Auffassung besser wi<strong>de</strong>rlegen<br />
als durch <strong>de</strong>n Hinweis darauf, daß Marxens nationalökonomische Theorie<br />
nichts an<strong>de</strong>res ist als ein Erzeugnis <strong>de</strong>r Schule Ricardo’s. Alle ihre<br />
wesentlichen Elemente sind <strong>de</strong>m System Ricardo’s entnommen. Ihm<br />
entstammt auch <strong>de</strong>r methodologische Grundsatz <strong>de</strong>r grundsätzlichen<br />
Trennung von Theorie und Politik und <strong>de</strong>r Ausscheidung <strong>de</strong>r ethischen<br />
Betrachtungsweise. 4 Das System <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie wur<strong>de</strong><br />
sowohl zur Verteidigung als auch zur Bekämpfung <strong>de</strong>s Kapitalismus,<br />
sowohl zur Befürwortung als auch zur Zurückweisung <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
mit gleichem Erfolg mißbraucht.<br />
Nicht an<strong>de</strong>rs steht es mit <strong>de</strong>m Gedankensystem <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
subjektivistischen Nationalökonomie. Der Marxismus, unfähig, ihr auch<br />
nur ein Wort halbwegs vernünftiger Kritik entgegenzusetzen, sucht sie<br />
einfach damit abzutun, daß er sie als „bürgerliche Ökonomie“ an <strong>de</strong>n<br />
Pranger stellt. 5 Doch es genügt wohl darauf hinzuweisen, daß es<br />
Sozialisten gibt, die ganz auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Grenznutzentheorie stehen,<br />
um zu zeigen, daß die subjektivistische<br />
1 Vgl. Mehring, Die Lessing-Legen<strong>de</strong>, 3. Aufl., Stuttgart 1909, S. 422.<br />
2 Ebendort S. 423.<br />
3 Vgl. Held, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands, Leipzig 1881, S. 176,<br />
183.<br />
4 Vgl. Schumpeter, Epochen <strong>de</strong>r Dogmen- und Metho<strong>de</strong>ngeschichte (Grundriß <strong>de</strong>r<br />
Sozialökonomik, I. Abt., Tübingen 1914) S. 81 ff.<br />
5 Vgl. Hilferding, Böhm-Bawerks Marx-Kritik, Wien 1904, S. 1, 61. - Für <strong>de</strong>n katholischen<br />
Marxisten Hohoff (Warenwert und Kapitalprofit, Pa<strong>de</strong>rborn 1902, S. 57) ist Böhm-<br />
Bawerk „ein, allerdings gut begabter, Vulgärökonom, <strong>de</strong>r sich über die kapitalistischen<br />
Vorurteile, in <strong>de</strong>nen er groß gewor<strong>de</strong>n, nicht zu erheben vermochte“.
347<br />
Nationalökonomie nicht „kapitalistische Apologetik“ ist. 1 Die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Nationalökonomie als Wissenschaft ist ein geistiger Prozeß,<br />
<strong>de</strong>r von vermeintlichen Klasseninteressen <strong>de</strong>r Nationalökonomen unabhängig<br />
ist und mit Befürwortung o<strong>de</strong>r Verwerfung bestimmter<br />
gesellschaftlicher Einrichtungen nichts zu tun hat. Je<strong>de</strong> wissenschaftliche<br />
Theorie läßt sich übrigens für je<strong>de</strong>n politischen Zweck mißbrauchen, so<br />
daß <strong>de</strong>r Parteimann gar nicht erst das Bedürfnis hat, die Theorie für die<br />
beson<strong>de</strong>ren Ziele, die er verfolgt, einzurichten. 2 Die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
Sozialismus sind nicht Proletarierköpfen entsprungen; sie haben<br />
Intellektuelle, Söhne <strong>de</strong>r Bourgeoisie, nicht Lohnarbeiter zu ihren<br />
Urhebern. 3 Der Sozialismus hat nicht nur die Arbeiterschaft ergriffen; er<br />
zählt offen und versteckt auch unter <strong>de</strong>n Besitzen<strong>de</strong>n Anhänger.<br />
§ 2. Das theoretische Denken ist von <strong>de</strong>n Wünschen, die <strong>de</strong>r Denker<br />
liegt, und von <strong>de</strong>n Zielen, <strong>de</strong>nen er zustrebt, unabhängig. 4 Diese<br />
Unabhängigkeit qualifiziert es erst als Denken. Wünsche und<br />
Zielsetzungen regeln das Han<strong>de</strong>ln, nicht das reine Denken. Wenn man<br />
meint, die Wirtschaft beeinflusse das Denken, so kehrt man <strong>de</strong>n<br />
1 Vgl. z. B. Shaw, Die ökonomische Entwicklung (Englische Sozialreformer, eine<br />
Sammlung „Fabian Essays“, a. a. O.) S. 16 ff. - In ähnlicher Weise haben auf <strong>de</strong>m Gebiete<br />
<strong>de</strong>r Soziologie und <strong>de</strong>r Staatslehre Naturrecht und Vertragstheorie sowohl zur<br />
Befürwortung als auch zur Bekämpfung <strong>de</strong>s Absolutismus gedient.<br />
2 Wenn man es <strong>de</strong>r materialistischen Geschichtsauffassung als Verdienst anrechnen<br />
wollte, daß sie mit Nachdruck auf die Abhängigkeit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
von <strong>de</strong>n natürlichen Lebens- und Produktionsbedingungen hingewiesen habe, so ist zu<br />
beachten, daß dies nur <strong>de</strong>n Ausschreitungen <strong>de</strong>r im Hegelschen Geiste arbeiten<strong>de</strong>n<br />
Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung gegenüber als ein beson<strong>de</strong>rer Vorzug<br />
erscheinen kann. Die liberale Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie und die<br />
Geschichtsschreibung seit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s achtzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts (und zwar auch die<br />
<strong>de</strong>utsche, vgl. Below, Die <strong>de</strong>utsche Geschichtsschreibung von <strong>de</strong>n Befreiungskriegen bis<br />
zu unseren Tagen, Leipzig 1916, S. 124 ff.) waren in dieser Erkenntnis schon<br />
vorangegangen.<br />
3 Von <strong>de</strong>n Hauptvertretern <strong>de</strong>s französischen und italienischen Syndikalismus sagt<br />
Sombart (Sozialismus und soziale Bewegung, a. a. O., S. 110): „Soweit ich sie persönlich<br />
kenne: liebenswürdige, feine, gebil<strong>de</strong>te Leute. Kulturmenschen mit reiner Wäsche, guten<br />
Manieren und eleganten Frauen, mit <strong>de</strong>nen man gern wie mit seinesgleichen verkehrt und<br />
<strong>de</strong>nen man ganz gewiß nicht ansehen wür<strong>de</strong>, daß sie eine Richtung vertreten, die vor allem<br />
sich gegen die Verbürgerlichung <strong>de</strong>s Sozialismus wen<strong>de</strong>t, die <strong>de</strong>r schwieligen Faust, <strong>de</strong>m<br />
echten und wahren Nur-Handarbeitertum zu ihrem Rechte verhelfen will.“<br />
4 Der Wunsch ist <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s Gedankens, sagt eine Re<strong>de</strong>nsart. Doch das, was sie<br />
meint, ist: <strong>de</strong>r Wunsch ist <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s Glaubens.
348<br />
Sachverhalt gera<strong>de</strong> um. Die Wirtschaft als rationales Han<strong>de</strong>ln ist vom<br />
Denken, nicht das Denken von <strong>de</strong>r Wirtschaft abhängig.<br />
Selbst wenn man zugeben wollte, daß das Klasseninteresse <strong>de</strong>m<br />
Denken <strong>de</strong>n Weg weise, so könnte dies doch wohl nur so verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n, daß das erkannte Klasseninteresse dabei in Frage kommt. Die<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>s Klasseninteresses aber ist bereits ein Erzeugnis <strong>de</strong>s<br />
Denkprozesses. Ob dieser Denkprozeß ergibt, daß beson<strong>de</strong>re Klasseninteressen<br />
bestehen o<strong>de</strong>r daß die Interessen aller Klassen in <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft letzten En<strong>de</strong>s harmonieren, liegt mithin je<strong>de</strong>nfalls vor <strong>de</strong>m<br />
klassenmäßig <strong>de</strong>terminierten Denken.<br />
Für das proletarische Denken nimmt <strong>de</strong>r Marxismus freilich bereits<br />
einen über alle Klassenabhängigkeit erhabenen Wahrheits- und<br />
Ewigkeitswert an. So wie das Proletariat selbst zwar noch Klasse sei, aber<br />
doch in seinem Han<strong>de</strong>ln notwendigerweise bereits über seine bloße<br />
Klasseninteressen hinausgreifend die <strong>de</strong>r Menschheit wahren müsse,<br />
in<strong>de</strong>m es die Spaltung <strong>de</strong>r Gesellschaft in Klassen aufheben muß, so sei<br />
im proletarischen Denken schon statt <strong>de</strong>r Relativität <strong>de</strong>s klassenmäßig<br />
bestimmten Denkens <strong>de</strong>r absolute Wahrheitsgehalt <strong>de</strong>r eigentlich erst <strong>de</strong>r<br />
künftigen sozialistischen Gesellschaft vorbehaltenen reinen Wissenschaft<br />
zu fin<strong>de</strong>n. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: <strong>de</strong>r Marxismus allein ist Wissenschaft.<br />
Was geschichtlich hinter Marx zurückliegt, kann zur Vorgeschichte <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaft gerechnet wer<strong>de</strong>n; dabei wird <strong>de</strong>n Philosophen vor Hegel<br />
ungefähr die Stellung eingeräumt, die das Christentum <strong>de</strong>n Propheten, und<br />
Hegel die Stellung, die das Christentum <strong>de</strong>m Täufer im Verhältnis zum<br />
Erlöser zuweist. Seit <strong>de</strong>m Auftreten von Marx aber gibt es Wahrheit nur<br />
bei <strong>de</strong>n Marxisten; alles an<strong>de</strong>re ist Lug und Trug, kapitalistische<br />
Apologetik.<br />
Das ist eine sehr einfache und klare Philosophie, und sie wird unter<br />
<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Nachfolger von Marx nur noch einfacher und klarer.<br />
Wissenschaft und marxistischer Sozialismus sind ihnen i<strong>de</strong>ntisch.<br />
Wissenschaft ist die Exegese <strong>de</strong>r Worte von Marx und Engels; man führt<br />
Beweise durch Zitieren und durch Auslegung <strong>de</strong>r Worte, man wirft sich<br />
gegenseitig Unkenntnis <strong>de</strong>r „Schrift“ vor. Dabei wird ein wahrer Kultus<br />
mit <strong>de</strong>m Proletariate getrieben. „Nur bei <strong>de</strong>r Arbeiterklasse“ - sagt schon<br />
Engels – „besteht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche theoretische Sinn unverkümmert fort. Hier<br />
ist er nicht auszurotten; hier fin<strong>de</strong>n keine Rücksichten statt auf Carrière,<br />
auf Profitmacherei, auf gnädige Protektion von oben; im Gegenteil, je<br />
rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, <strong>de</strong>sto
349<br />
mehr befin<strong>de</strong>t sie sich im Einklang mit <strong>de</strong>n Interessen und Strebungen <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter“. 1 . . . „Nur das Proletariat, d. h. <strong>de</strong>ssen literarische Wortführer<br />
und Spitzen“ bekennt sich „grundsätzlich . . . zur wissenschaftlichen<br />
Weltanschauung in allen ihren Konsequenzen“. 2<br />
Es genügt, an die Haltung zu erinnern, die <strong>de</strong>r Sozialismus gegenüber<br />
allen wissenschaftlichen Leistungen <strong>de</strong>r letzten Jahrzehnte eingenommen<br />
hat, um diese verwegenen Behauptungen ins rechte Licht zu setzen. Als<br />
vor ungefähr einem Vierteljahrhun<strong>de</strong>rt eine Anzahl von marxistischen<br />
Schriftstellern <strong>de</strong>n Versuch machte, die Parteilehre von <strong>de</strong>n gröbsten<br />
Irrtümern zu befreien, wur<strong>de</strong> eine Ketzerverfolgung eingeleitet, um die<br />
Reinheit <strong>de</strong>s Systems zu wahren. Der Revisionismus ist <strong>de</strong>r Orthodoxie<br />
unterlegen. Innerhalb <strong>de</strong>s Marxismus ist kein Raum für freies Denken.<br />
§ 3. Warum, ist zu fragen, sollte das Proletariat <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung notwendigerweise sozialistisch <strong>de</strong>nken müssen? Es<br />
ist leicht zu erklären, warum <strong>de</strong>r sozialistische Gedanke nicht aufkommen<br />
konnte, ehe es Großbetrieb in <strong>de</strong>r Industrie, im Verkehrswesen und im<br />
Bergbau gab. Solange man an eine Aufteilung <strong>de</strong>r Besitztümer <strong>de</strong>r<br />
Reichen <strong>de</strong>nken konnte, fiel es niemand ein, die Bestrebungen zur<br />
Herstellung <strong>de</strong>r Einkommensgleichheit an<strong>de</strong>rs verwirklichen zu wollen.<br />
Erst als die Entwicklung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kooperation <strong>de</strong>n<br />
Großbetrieb geschaffen hatte, <strong>de</strong>ssen Unteilbarkeit nicht zu verkennen<br />
war, mußte man auf die sozialistische Lösung <strong>de</strong>s Gleichheitsproblems<br />
verfallen. Doch das erklärt nur, warum in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
nicht mehr vom „Teilen“ die Re<strong>de</strong> sein kann, keineswegs<br />
aber auch schon, warum in ihr <strong>de</strong>r Sozialismus die gegebene Politik <strong>de</strong>s<br />
Proletariates sein müßte.<br />
Unsere Zeit hält es freilich für selbstverständlich, daß <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
sozialistisch <strong>de</strong>nken und han<strong>de</strong>ln müsse. Doch zu dieser Auffassung<br />
gelangt sie nur auf die Weise, daß sie annimmt, die sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung sei entwe<strong>de</strong>r die <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>s Proletariates am<br />
Besten entsprechen<strong>de</strong> Gestalt <strong>de</strong>s menschlichen Zusammenlebens o<strong>de</strong>r es<br />
scheine zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>m Proletariate, daß sie es sei. Was von jenem zu<br />
halten sei, ist schon genügend erörtert wor<strong>de</strong>n. Dann bleibt also,<br />
angesichts <strong>de</strong>r nicht zu bezweifeln<strong>de</strong>n Tatsache, daß <strong>de</strong>r Sozialismus, mag<br />
er auch in an<strong>de</strong>ren<br />
1 Vgl. Engels, Ludwig Feuerbach und <strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>r klassischen <strong>de</strong>utschen<br />
Philosophie, 5. Aufl., Stuttgart 1910, S. 58.<br />
2 Vgl. Tönnies, Der Nietzsche-Kultus, Leipzig 1897, S. 6.
350<br />
Schichten zahlreiche Anhänger zählen, vor allem unter <strong>de</strong>n Arbeitern<br />
verbreitet ist, die Frage zu erörtern, warum <strong>de</strong>r Arbeiter vermöge <strong>de</strong>r<br />
Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Stellung, die er im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß<br />
einnimmt, zu Auffassungen neigt, die ihn für die sozialistische I<strong>de</strong>ologie<br />
empfänglich machen.<br />
Die <strong>de</strong>magogische Liebdienerei <strong>de</strong>r sozialistischen Parteien preist <strong>de</strong>n<br />
Arbeiter <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Kapitalismus als ein Wesen, das durch alle<br />
Vorzüge <strong>de</strong>s Geistes und <strong>de</strong>s Charakters ausgezeichnet ist. Eine nüchterne<br />
und weniger voreingenommene Betrachtung wird vielleicht zu ganz<br />
an<strong>de</strong>ren Ergebnissen gelangen. Doch man mag Untersuchungen dieser Art<br />
ruhig <strong>de</strong>n Parteiliteraten <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Richtungen überlassen. Für die<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Zustän<strong>de</strong> im allgemeinen und <strong>de</strong>r<br />
Soziologie <strong>de</strong>s Parteiwesens im beson<strong>de</strong>ren sind sie ganz wertlos. Die<br />
Frage ist hier allein die, wieso <strong>de</strong>n Arbeiter die Stellung, die er im<br />
Produktionsprozeß einnimmt, leicht zur Auffassung führen kann, daß die<br />
sozialistische Produktionsweise nicht nur überhaupt möglich, son<strong>de</strong>rn<br />
sogar rationeller sei als die kapitalistische.<br />
Die Antwort darauf kann nicht schwer fallen. Der Arbeiter <strong>de</strong>s<br />
kapitalistischen Groß- und Mittelbetriebes sieht und weiß nichts vom<br />
geistigen Band, das die einzelnen Teile <strong>de</strong>r Arbeit zu <strong>de</strong>m sinnvollen<br />
Ganzen <strong>de</strong>r Wirtschaft verbin<strong>de</strong>t. Sein Gesichtskreis als Arbeiter und<br />
Produzent reicht nicht über <strong>de</strong>n Teilprozeß, <strong>de</strong>r ihm obliegt, hinaus. Er<br />
hält sich allein für ein produktives Glied <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft<br />
und sieht in je<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r nicht gleich ihm an <strong>de</strong>r Maschine steht o<strong>de</strong>r Lasten<br />
schleppt, nicht nur im Unternehmer, son<strong>de</strong>rn auch im Ingenieur und im<br />
Werkmeister einen Parasiten. Selbst <strong>de</strong>r Bankangestellte glaubt, daß er<br />
allein im Bankbetriebe produktiv tätig sei und <strong>de</strong>n Gewinn <strong>de</strong>s<br />
Unternehmens erarbeite, und daß <strong>de</strong>r Direktor, <strong>de</strong>r die Geschäfte<br />
abschließt, nur ein überflüssiger Faulenzer sei, <strong>de</strong>n man ohne Scha<strong>de</strong>n<br />
durch einen beliebigen Menschen ersetzen könnte. Die Erkenntnis <strong>de</strong>s<br />
wahren Zusammenhanges <strong>de</strong>r Dinge kann <strong>de</strong>m Arbeiter aus seiner<br />
Stellung unmöglich kommen. Er könnte sie allenfalls durch Nach<strong>de</strong>nken<br />
mit Hilfe von Büchern erlangen, niemals aber kann er sie aus <strong>de</strong>m, was<br />
ihm seine eigene Tätigkeit an Tatsachenmaterial zuführt, erschließen. So<br />
wenig <strong>de</strong>r Durchschnittsmensch aus <strong>de</strong>m, was ihm die tägliche Erfahrung<br />
zuführt, zu einer an<strong>de</strong>ren Auffassung gelangen kann als zu <strong>de</strong>r, daß die<br />
Er<strong>de</strong> still steht und daß die Sonne täglich im Bogen von Ost nach West<br />
zieht, so wenig kann <strong>de</strong>r Arbeiter aus seiner
351<br />
eigenen Erfahrung heraus zur Erkenntnis <strong>de</strong>s Wesens und <strong>de</strong>s Getriebes<br />
<strong>de</strong>r Wirtschaft gelangen.<br />
Vor diesen wirtschaftsfrem<strong>de</strong>n Mann tritt nun die sozialistische<br />
I<strong>de</strong>ologie und ruft ihm zu:<br />
Mann <strong>de</strong>r Arbeit, aufgewacht!<br />
und erkenne Deine Macht!<br />
Alle Rä<strong>de</strong>r stehen still,<br />
wenn Dein starker Arm es will. (Herwegh.)<br />
Was Wun<strong>de</strong>r, wenn er vom Machtrausch umnebelt, dieser Auffor<strong>de</strong>rung<br />
Folge leistet. Der Sozialismus ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeiterseele entsprechen<strong>de</strong><br />
Ausdruck <strong>de</strong>s Gewaltprinzips wie <strong>de</strong>r Imperialismus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Soldatenund<br />
Beamtenseele entsprechen<strong>de</strong> ist.<br />
Nicht, weil es ihren Interessen tatsächlich entspricht, son<strong>de</strong>rn weil sie<br />
glauben, daß es ihren Interessen entspricht, neigen die Massen zum<br />
Sozialismus.<br />
II. Abschnitt.<br />
Kapitalskonzentration und Monopolbildung als<br />
Vorstufe <strong>de</strong>s Sozialismus.<br />
I.<br />
Die Problemstellung.<br />
§ 1. Eine ökonomische Begründung <strong>de</strong>r These von <strong>de</strong>r Unentrinnbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Entwicklung zum Sozialismus meint Marx mit <strong>de</strong>m<br />
Nachweis <strong>de</strong>r fortschreiten<strong>de</strong>n Kapitalskonzentration zu erbringen. Die<br />
kapitalistische Produktionsweise hat das Privateigentum <strong>de</strong>s Arbeiters an<br />
seinen Produktionsmitteln beseitigt; sie hat „die Expropriation <strong>de</strong>r<br />
unmittelbaren Produzenten“ vollbracht. Sobald dieser Prozeß vollen<strong>de</strong>t ist<br />
„gewinnt die weitere Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Arbeit und weitere<br />
Verwandlung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und an<strong>de</strong>rer Produktionsmittel in gesellschaftlich<br />
ausgebeutete, also gemeinschaftliche Produktionsmittel, daher die weitere<br />
Expropriation <strong>de</strong>r Privateigentümer, eine neue Form. Was jetzt zu<br />
expropriieren, ist nicht länger <strong>de</strong>r selbstwirtschaften<strong>de</strong> Arbeiter, son<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>r viele Arbeiter exploitieren<strong>de</strong> Kapitalist. Diese Expropriation vollzieht<br />
sich durch das Spiel <strong>de</strong>r immanenten Gesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Produktion selbst, durch die Zentralisation <strong>de</strong>r Kapitale. Je ein Kapitalist<br />
schlägt viele tot.“ Hand in Hand damit geht die Vergesellschaftung
352<br />
<strong>de</strong>r Produktion. Die Zahl <strong>de</strong>r „Kapitalmagnaten“ nimmt beständig ab.<br />
„Die Zentralisation <strong>de</strong>r Produktionsmittel und die Vergesellschaftung <strong>de</strong>r<br />
Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich wer<strong>de</strong>n mit ihrer<br />
kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s kapitalistischen<br />
Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs wer<strong>de</strong>n expropriiert.“ Das ist<br />
die „Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse“ durch<br />
„Verwandlung <strong>de</strong>s tatsächlich bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb<br />
beruhen<strong>de</strong>n kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches“, ein<br />
Prozeß, <strong>de</strong>r ungleich weniger „langwierig, hart und schwierig“ ist als es<br />
seinerzeit <strong>de</strong>r Prozeß war, durch <strong>de</strong>n das auf eigener Arbeit <strong>de</strong>r Individuen<br />
beruhen<strong>de</strong> zersplitterte Privateigentum in kapitalistisches umgewan<strong>de</strong>lt<br />
wur<strong>de</strong>. 1<br />
Marx umhüllt seine Aufstellung mit einer dialektischen Phrase. „Das<br />
kapitalistische Privateigentum ist die erste Negation <strong>de</strong>s individuellen, auf<br />
eigene Arbeit gegrün<strong>de</strong>ten Privateigentums. Aber die kapitalistische<br />
Produktion erzeugt mit <strong>de</strong>r Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre<br />
eigene Negation. Es ist die Negation <strong>de</strong>r Negation. Diese stellt nicht das<br />
Privateigentum wie<strong>de</strong>r her, wohl aber das individuelle Eigentum auf<br />
Grundlage <strong>de</strong>r Errungenschaft <strong>de</strong>r kapitalistischen Ära: <strong>de</strong>r Kooperation<br />
und <strong>de</strong>s Gemeinbesitzes <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r durch die Arbeit selbst<br />
produzierten Produktionsmittel“. 2 Befreit man diese Ausführungen von<br />
<strong>de</strong>m dialektischen Beiwerk, dann bleibt stehen, daß die Konzentration <strong>de</strong>r<br />
Betriebe, <strong>de</strong>r Unternehmungen und <strong>de</strong>r Vermögen - Marx unterschei<strong>de</strong>t<br />
nicht zwischen <strong>de</strong>n drei Prozessen und hält sie offenbar für i<strong>de</strong>ntisch -<br />
unvermeidlich ist. Sie führt zum Sozialismus einmal dadurch, daß sie die<br />
Welt in ein einziges Riesenunternehmen verwan<strong>de</strong>lt, das dann mühelos<br />
von <strong>de</strong>r Gesellschaft übernommen wird; bevor es aber noch soweit<br />
gekommen ist, durch „die Empörung <strong>de</strong>r stets anschwellen<strong>de</strong>n und durch<br />
<strong>de</strong>n Mechanismus <strong>de</strong>s kapitalistischen Produktionsprozesses selbst<br />
geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse“. 3<br />
Für Kautsky ist „klar, daß die Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Produktionsweise dahin geht, die Produktionsmittel, welche das Monopol<br />
<strong>de</strong>r Kapitalistenklasse gewor<strong>de</strong>n sind, in immer weniger und weniger<br />
Hän<strong>de</strong>n zu vereinigen. Diese Entwicklung läuft<br />
1 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., I. Bd., s. 726 ff.<br />
2 Ebendort S. 728 f.<br />
3 Ebendort S. 728.
353<br />
schließlich darauf hinaus, daß die gesamten Produktionsmittel einer<br />
Nation, ja <strong>de</strong>r ganzen Weltwirtschaft, das Privateigentum einer einzelnen<br />
Person o<strong>de</strong>r Aktiengesellschaft wer<strong>de</strong>n, die darüber nach Willkür verfügt;<br />
daß das ganze wirtschaftliche Getriebe zu einem einzigen ungeheuren<br />
Betrieb zusammengefaßt wird, in <strong>de</strong>m alles einem einzigen Herrn zu<br />
dienen hat, einem einzigen Herrn gehört Das Privateigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln führt in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaft dahin, daß<br />
alle besitzlos sind, einen einzigen ausgenommen. Es führt also zu seiner<br />
eigenen Aufhebung, zur Besitzlosigkeit aller und zur Versklavung aller.“<br />
Das ist <strong>de</strong>r Zustand, <strong>de</strong>m wir rasch entgegensteuern, „rascher als die<br />
meisten glauben“. Es wird allerdings nicht soweit kommen. „Denn die<br />
bloße Annäherung an diesen Zustand muß die Lei<strong>de</strong>n, Gegensätze und<br />
Wi<strong>de</strong>rsprüche in <strong>de</strong>r Gesellschaft zu einer solchen Höhe treiben, daß sie<br />
unerträglich wer<strong>de</strong>n, daß die Gesellschaft aus ihren Fugen geht und<br />
zusammenbricht, wenn <strong>de</strong>r Entwicklung nicht schon früher eine an<strong>de</strong>re<br />
Richtung gegeben wird“. 1<br />
Man muß genau beachten, daß nach dieser Auffassung <strong>de</strong>r<br />
Umschwung <strong>de</strong>r Dinge, <strong>de</strong>r Übergang vom Hochkapitalismus zum Sozialismus<br />
nicht an<strong>de</strong>rs bewirkt wer<strong>de</strong>n soll als durch das zielbewußte<br />
Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Massen. Die Massen glauben Mißstän<strong>de</strong> feststellen können,<br />
die sie <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln zu Last rechnen,<br />
und meinen, daß die sozialistische Produktionsweise geeignet sei,<br />
befriedigen<strong>de</strong>re Zustän<strong>de</strong> herbeizuführen. Es ist mithin die theoretische<br />
Einsicht, die sie leitet. Diese Theorie muß im Sinne <strong>de</strong>r materialistischen<br />
Geschichtsauffassung freilich notwendige Ergebnis einer bestimmten<br />
Gestaltung <strong>de</strong>r Produktionsverhältnisse sein. Wir sehen hier wie<strong>de</strong>r, wie<br />
sich <strong>de</strong>r Marxismus mit seine Beweisführung im Kreise bewegt. Ein<br />
bestimmter Zustand muß kommen, weil die Entwicklung dahin führt; die<br />
Entwicklung führt hin, weil das Denken es verlangt; das Denken aber ist<br />
durch das Sein bestimmt. Dieses Sein aber kann doch wohl kein an<strong>de</strong>res<br />
sein als das <strong>de</strong>s schon vorhan<strong>de</strong>nen Zustan<strong>de</strong>s. Aus <strong>de</strong>m durch <strong>de</strong>n<br />
bestehen<strong>de</strong>n Zustand bestimmten Denken folgt die Notwendigkeit eines<br />
an<strong>de</strong>ren Zustan<strong>de</strong>s. Diese ganze Ableitung ist gegen zwei Einwän<strong>de</strong><br />
wehrlos. Sie ist nicht imstan<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n zu wi<strong>de</strong>rlegen, <strong>de</strong>r im übrigen ganz in<br />
<strong>de</strong>r gleichen Weise argumentierend, das Denken als das Primäre, das<br />
gesellschaftliche Sein als das Verursachte<br />
1 Vgl. Kautsky, Das Erfurter Programm, a. a. O., S. 83 f.
354<br />
ansehen wollte. Und sie kann nichts gegen <strong>de</strong>n vorbringen, <strong>de</strong>r die Frage<br />
aufwirft, ob das Denken eines besseren künftigen Zustan<strong>de</strong>s nicht auch in<br />
die Irre gehen könne, so daß das, was angestrebt wird, eine noch weniger<br />
erträgliche Lage schaffen müßte. Damit aber wird die Erörterung <strong>de</strong>r<br />
Vorteile und Nachteile gedachter und bestehen<strong>de</strong>r Gesellschaftsordnungen,<br />
die <strong>de</strong>r Marxismus zum Schweigen bringen wollte, neu<br />
eröffnet.<br />
Will man die marxistischen Lehren über die geschichtliche Ten<strong>de</strong>nz<br />
<strong>de</strong>r kapitalistischen Akkumulation selbst prüfen, dann darf man es sich<br />
nicht so leicht machen, daß man einfach die Statistik <strong>de</strong>r Betriebe, <strong>de</strong>r<br />
Einkommen und <strong>de</strong>r Vermögen zu Rate zieht. Die Einkommens- und die<br />
Vermögensstatistik wi<strong>de</strong>rsprechen durchaus <strong>de</strong>r Konzentrationstheorie;<br />
das kann, trotz aller Mängel, die <strong>de</strong>r Erfassung <strong>de</strong>r Verhältnisse anhaften,<br />
und trotz <strong>de</strong>r großen Schwierigkeiten, die die Geldwertschwankungen <strong>de</strong>r<br />
Verwertung <strong>de</strong>s Materials entgegenstellen, mit Bestimmtheit behauptet<br />
wer<strong>de</strong>n; und ebenso kann es auch als ausgemacht gelten, daß das<br />
Gegenstück <strong>de</strong>r Konzentrationstheorie, die viel berufene Verelendungstheorie,<br />
an <strong>de</strong>r kaum noch die orthodoxen Marxisten festhalten, durch die<br />
Statistik wi<strong>de</strong>rlegt wird. 1 Auch die Statistik <strong>de</strong>r landwirtschaftlichen<br />
Betriebe wi<strong>de</strong>rspricht <strong>de</strong>r Annahme <strong>de</strong>r Marxisten; dagegen scheint ihnen<br />
die Statistik <strong>de</strong>r Betriebe in Gewerbe, Bergbau und Verkehr durchaus<br />
recht zu geben. Doch die zahlenmäßige Erfassung <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
während einer bestimmten kurzen Zeitperio<strong>de</strong> kann nicht beweiskräftig<br />
sein. Es könnte sein, daß die Entwicklung gera<strong>de</strong> in dieser Spanne in einer<br />
bestimmten Richtung verläuft, die <strong>de</strong>m Zuge <strong>de</strong>r großen Entwicklung<br />
entgegen ist. Man sollte daher die Statistik besser aus <strong>de</strong>m Spiele lassen<br />
und darauf verzichten, sie für o<strong>de</strong>r gegen die Theorie ins Treffen zu<br />
führen. Denn es darf nicht übersehen wer<strong>de</strong>n, daß in je<strong>de</strong>m statistischen<br />
Beweis schon Theorie enthalten ist. Mit <strong>de</strong>m Zusammentragen von<br />
statistischen Angaben wird an sich nichts bewiesen o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rlegt. Erst<br />
die Schlüsse, die aus <strong>de</strong>m gesammelten Material gezogen wer<strong>de</strong>n, können<br />
beweisen o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rlegen; die aber sind theoretische Überlegung.<br />
§ 2. Tiefer als die marxistische Konzentrationstheorie dringt die<br />
Monopoltheorie. Danach wird <strong>de</strong>r freie Wettbewerb, <strong>de</strong>r das Lebenselement<br />
<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n<br />
Gesellschaftsordnung bil<strong>de</strong>t, durch die fortschreiten<strong>de</strong><br />
1 Vgl. Wolf, Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung, Stuttgart 1892, S.<br />
149 ff.
355<br />
Entwicklung zum Monopol untergraben. Die Nachteile, die die schrankenlose<br />
Herrschaft privater Monopole in <strong>de</strong>r Volkswirtschaft auslöse, seien<br />
aber so groß, daß es keinen an<strong>de</strong>ren Ausweg gebe, als durch<br />
Verstaatlichung das Monopol <strong>de</strong>r Privaten in ein Staatsmonopol<br />
umzuwan<strong>de</strong>ln. Der Sozialismus möge ein noch so großes Übel sein, er sei<br />
doch das kleinere Übel, wenn man ihn mit <strong>de</strong>n Schä<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Monopolismus vergleicht. Sollte es sich als unmöglich erweisen, <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung, die zur Bildung von Monopolen auf <strong>de</strong>n wichtigsten o<strong>de</strong>r<br />
gar auf allen Gebieten <strong>de</strong>r Produktion hinzuführen scheine, wirksam<br />
entgegenzutreten, so habe die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln geschlagen. 1<br />
Es ist klar, daß die Beurteilung dieser Lehre nicht an<strong>de</strong>rs erfolgen kann<br />
als auf Grund einer eingehen<strong>de</strong>n Untersuchung einmal darüber, ob die<br />
Entwicklung wirklich zur Monopolherrschaft führe, und dann darüber,<br />
welche volkswirtschaftlichen Wirkungen das Monopol auslöse. Man wird<br />
dabei mit beson<strong>de</strong>rer Behutsamkeit vorzugehen haben. Die Zeit, in <strong>de</strong>r<br />
unsere Lehre aufgekommen ist, war im allgemeinen theoretischen<br />
Untersuchungen von Problemen dieser Art nicht günstig. An Stelle kühler<br />
Prüfung <strong>de</strong>r Zusammenhänge hat gefühlsmäßige Beurteilung von Äußerlichkeiten<br />
vorgewaltet. Selbst durch die Ausführungen eines Nationalökonomen<br />
vom Range Clark’s zieht sich viel von <strong>de</strong>r volkstümlichen<br />
Gegnerschaft gegen die Trusts. Wie es unter solchen Umstän<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n<br />
Äußerungen <strong>de</strong>r Politiker bestellt ist, zeigt <strong>de</strong>r Bericht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Sozialisierungskommission vom 15. Februar 1919, <strong>de</strong>r erklärt, es könne<br />
als „unbestritten“ gelten, daß die monopolistische Stellung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
Kohlenindustrie „ein Herrschaftsverhältnis konstituiert, das mit <strong>de</strong>m<br />
Wesen <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Staates, nicht nur <strong>de</strong>s sozialistischen, unvereinbar<br />
ist“. Es erscheine „unnötig, von neuem die Frage zu erörtern, ob und in<br />
welchem Maße dieses Herrschaftsverhältnis zum Scha<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r übrigen<br />
Volksgenossen, Weiterverarbeiter, Konsumenten, Arbeiter mißbraucht<br />
wor<strong>de</strong>n ist; es genügt sein Bestehen, um die Notwendigkeit seiner<br />
völligen Aufhebung evi<strong>de</strong>nt zu machen“. 2<br />
1 Vgl. Clark, Essentials of Economic Theory, a. a. O., S. 374 ff., 397.<br />
2 Vgl. Bericht <strong>de</strong>r Sozialisierungskommission über die Frage <strong>de</strong>r Sozialisierung <strong>de</strong>s<br />
Kohlenbergbaues vom 31. Juli 1920 (Anhang: Vorläufiger Bericht vom 15. Februar 1919)<br />
a. a. O., S. 32.
356<br />
II.<br />
Die Konzentration <strong>de</strong>r Betriebe.<br />
§ 1. Die Konzentration <strong>de</strong>r Betriebe ist mit <strong>de</strong>r Arbeitsteilung gegeben.<br />
Die Schusterwerkstätte ist die Vereinigung <strong>de</strong>r früher in <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Wirtschaften betriebenen Herstellung von Schuhwerk in einem Betrieb.<br />
Das Schuhmacherdorf, die Schuhmanufaktur vereinigen die Schuherzeugung<br />
für ein größeres Gebiet. Die Schuhfabrik, die für die Erzeugung<br />
großer Mengen von Schuhwaren eingerichtet ist, stellt eine noch<br />
weitergehen<strong>de</strong> Betriebsvereinigung dar; und in ihrem Innern ist in <strong>de</strong>n<br />
einzelnen Abteilungen ebenso wie die Arbeitsteilung auch ihr<br />
Gegenstück, die Vereinigung gleichartiger Tätigkeit, Grundprinzip. Kurz,<br />
je weiter die Arbeitszerlegung geht, <strong>de</strong>sto mehr müssen auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Seite gleichartige Arbeitsprozesse zusammengezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
Aus <strong>de</strong>n Ergebnissen <strong>de</strong>r Betriebszählungen, die in verschie<strong>de</strong>nen<br />
Län<strong>de</strong>rn eigens zum Zwecke <strong>de</strong>r Überprüfung <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r<br />
Betriebskonzentration vorgenommen wur<strong>de</strong>n, und aus <strong>de</strong>n sonstigen<br />
statistischen Materialien, die über die Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r<br />
Betriebe zur Verfügung stehen, kann man über die Tatsache <strong>de</strong>r<br />
Betriebskonzentration und über ihren Stand nicht alles erfahren. Denn das,<br />
was für diese Zählungen als Betrieb erscheint, ist immer schon in einem<br />
bestimmten Sinn Unternehmungseinheit und nicht Betriebseinheit.<br />
Betriebe, die bei örtlicher Vereinigung innerhalb eines Unternehmens<br />
geson<strong>de</strong>rt geführt wer<strong>de</strong>n, sind in solchen Aufnahmen nur unter<br />
bestimmten Voraussetzungen beson<strong>de</strong>rs gezählt. Die Abgrenzung <strong>de</strong>r<br />
Betriebe ist nach an<strong>de</strong>ren Gesichtspunkten vorzunehmen, als es jene sind,<br />
die die Gewerbestatistik zugrun<strong>de</strong> legt.<br />
Die höhere Produktivität <strong>de</strong>r Arbeitsteilung beruht vor allem darauf,<br />
daß sie die Möglichkeit bietet, die Hilfsmittel <strong>de</strong>r Arbeit zu spezialisieren.<br />
Je öfter <strong>de</strong>r gleiche Vorgang wie<strong>de</strong>rholt wer<strong>de</strong>n muß, <strong>de</strong>sto eher lohnt sich<br />
die Einstellung eines für ihn beson<strong>de</strong>rs geeigneten Werkzeuges, das für<br />
an<strong>de</strong>re Zwecke nicht in gleicher Weise o<strong>de</strong>r gar nicht verwendbar ist. Die<br />
Zerlegung <strong>de</strong>r Arbeit geht weiter als die Spezialisierung <strong>de</strong>r Berufe,<br />
zumin<strong>de</strong>st weiter als die Spezialisierung <strong>de</strong>r Unternehmungen. In <strong>de</strong>r<br />
Schuhfabrik wer<strong>de</strong>n die Schuhe in verschie<strong>de</strong>nen Teilprozessen erzeugt.<br />
Es wäre auch <strong>de</strong>nkbar, daß je<strong>de</strong>r dieser Teilprozesse in einem beson<strong>de</strong>ren<br />
Betrieb und in einem beson<strong>de</strong>ren Unternehmen vollzogen wird; es gibt in<br />
<strong>de</strong>r Tat auch Fabriken, die sich mit <strong>de</strong>r Herstellung einzelner<br />
Schuhbestandteile
357<br />
befassen, um sie an Schuhfabriken zu liefern. Wir pflegen <strong>de</strong>nnoch die in<br />
einer Schuhfabrik, die alle Schuhbestandteile selbst erzeugt, zu einer<br />
Einheit verbun<strong>de</strong>ne Summe von Teilprozessen als einen Betrieb<br />
anzusehen. Glie<strong>de</strong>rt sich die Schuhfabrik auch noch eine Le<strong>de</strong>rfabrik o<strong>de</strong>r<br />
eine Abteilung, in <strong>de</strong>r die Schachteln zum Verpacken <strong>de</strong>r Schuhe erzeugt<br />
wer<strong>de</strong>n, an, so sprechen wir von einer Vereinigung mehrerer Betriebe zu<br />
gemeinsamer Unternehmung. Diese Unterscheidung ist nur geschichtlich<br />
gegeben. Sie kann we<strong>de</strong>r durch die technische Beson<strong>de</strong>rheit noch durch<br />
die Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s Unternehmens ganz erklärt wer<strong>de</strong>n.<br />
Sehen wir als Betrieb die Gesamtheit <strong>de</strong>r einer wirtschaftlichen<br />
Betätigung dienen<strong>de</strong>n Einrichtungen an, die <strong>de</strong>r Verkehr als eine Einheit<br />
anzusehen pflegt, dann müssen wir uns vor Augen halten, daß es sich hier<br />
keineswegs um ein Individuum han<strong>de</strong>lt. Je<strong>de</strong>r Betrieb setzt sich aus<br />
Apparaturen zusammen, je<strong>de</strong>r ist bereits eine Verbindung von<br />
Apparaturen in horizontaler und in vertikaler Richtung. Der<br />
Betriebsbegriff ist kein technischer, son<strong>de</strong>rn ein wirtschaftlicher. Wie weit<br />
im einzelnen Falle ein einheitlicher Betrieb anzunehmen ist, wird durch<br />
wirtschaftliche, nicht durch technische Erwägungen bestimmt.<br />
Das Gesetz, unter <strong>de</strong>m die Betriebsgröße in <strong>de</strong>r Statik steht, ist das <strong>de</strong>r<br />
Komplementarität <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren. Es wird die optimale<br />
Verbindung <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren angestrebt, das ist jene, bei <strong>de</strong>r das<br />
Höchstmaß von Ertrag herausgewirtschaftet wer<strong>de</strong>n kann. Dynamisch<br />
treibt die Entwicklung zu immer weitergehen<strong>de</strong>r Arbeitszerlegung und<br />
damit zur Erweiterung <strong>de</strong>r Betriebsgröße bei gleichzeitiger Einschränkung<br />
<strong>de</strong>s Betriebsumfanges. Aus <strong>de</strong>m Zusammenwirken dieser bei<strong>de</strong>n Antriebe<br />
ergibt sich die Gestaltung <strong>de</strong>r konkreten Größenverhältnisse <strong>de</strong>r Betriebe.<br />
§ 2. Das Gesetz <strong>de</strong>r Proportionalität in <strong>de</strong>r Vereinigung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsfaktoren wur<strong>de</strong> zuerst für die laudwirtschaftliche Produktion<br />
als Gesetz vom abnehmen<strong>de</strong>n Ertrag ent<strong>de</strong>ckt. Man hat lange seinen<br />
allgemein wirtschaftlichen Charakter verkannt und es für ein Gesetz <strong>de</strong>r<br />
landwirtschaftlichen Technik angesehen; man stellte es in Gegensatz zu<br />
einem Gesetz <strong>de</strong>s zunehmen<strong>de</strong>n Ertrages, das, wie man dachte, für die<br />
gewerbliche Produktion Geltung haben sollte. Diese Irrtümer sind heute<br />
überwun<strong>de</strong>n. 1<br />
1 Vgl. Vogelstein, Die finanzielle Organisation <strong>de</strong>r kapitalistischen Industrie und die<br />
Monopolbildungen (Grundriß <strong>de</strong>r Sozialökonomik, VI. Abteilung, Tübingen 1914), S. 203<br />
ff.; Weiß, Art. „Abnehmen<strong>de</strong>r Ertrag“ im „Handwörterbuch <strong>de</strong>r Staatswissenschaften“, IV.<br />
Aufl., I. Bd., S. 11 ff.
358<br />
Auf das Problem <strong>de</strong>r Betriebsgröße angewen<strong>de</strong>t, zeigt das Gesetz <strong>de</strong>r<br />
optimalen Vereinigung <strong>de</strong>r Produktionsfaktoren die rentabelste Größe <strong>de</strong>s<br />
Betriebes. Je besser die Betriebsgröße restlose Ausnützung aller<br />
verwen<strong>de</strong>ten Produktionsfaktoren gestattet, <strong>de</strong>sto größer ist <strong>de</strong>r<br />
Reinertrag. Darin allein ist bei <strong>de</strong>m jeweils gegebenen Stan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Produktionstechnik die durch die Größe begrün<strong>de</strong>te Überlegenheit eines<br />
Betriebes gegenüber einem an<strong>de</strong>ren zu suchen. Es war ein Irrtum, wenn<br />
man - wie es trotz gelegentlicher Bemerkungen, die die Erkenntnis <strong>de</strong>s<br />
richtigen Sachverhaltes durchscheinen lassen, Marx und, ihm folgend,<br />
seine Schule machten - gemeint hat, daß die Vergrößerung <strong>de</strong>s<br />
industriellen Betriebes stets zu einer Kostenersparnis führe. Es gibt auch<br />
hier eine Grenze, über die hinaus durch Vergrößerung <strong>de</strong>s Betriebsumfanges<br />
keine bessere Ausnutzung <strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>ten Produktionsfaktoren<br />
möglich ist. Die Dinge liegen in <strong>de</strong>r Urproduktion und im verarbeiten<strong>de</strong>n<br />
Gewerbe grundsätzlich gleich; nur die konkreten Daten sind verschie<strong>de</strong>n.<br />
Lediglich die Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r für die landwirtschaftliche Produktion<br />
gegebenen Bedingungen veranlaßt uns, das Gesetz <strong>de</strong>s abnehmen<strong>de</strong>n<br />
Ertrages vorzüglich als Bo<strong>de</strong>ngesetz anzusprechen.<br />
Betriebskonzentration ist vor allem auch örtliche Vereinigung. Da <strong>de</strong>r<br />
land- und forstwirtschaftlich nutzbare Bo<strong>de</strong>n im Raum verteilt ist, ist mit<br />
je<strong>de</strong>r Erweiterung <strong>de</strong>s Betriebsumfanges eine Zunahme <strong>de</strong>r<br />
Schwierigkeiten verbun<strong>de</strong>n, die die Entfernung bereitet. Die Größe <strong>de</strong>s<br />
landwirtschaftlichen Betriebes wird dadurch nach obenhin begrenzt. Weil<br />
Land- und Forstwirtschaft sich im Raum aus<strong>de</strong>hnen, ist Betriebskonzentration<br />
nur bis zu einem bestimmten Punkte möglich. Es ist<br />
überflüssig, auf die bekannte und gera<strong>de</strong> im Zusammenhange mit <strong>de</strong>m<br />
Problem, mit <strong>de</strong>m wir uns befassen, viel erörterte Frage einzugehen, ob<br />
<strong>de</strong>r Groß- o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kleinbetrieb in <strong>de</strong>r Landwirtschaft die wirtschaftlich<br />
überlegenere Betriebsweise darstellt. Mit <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>r Betriebskonzentration<br />
hat dies nichts zu tun. Auch wenn man annimmt, daß <strong>de</strong>r<br />
Großbetrieb in <strong>de</strong>r Landwirtschaft die überlegenere Betriebsform darstellt,<br />
kann man nicht leugnen, daß von einem Gesetz <strong>de</strong>r Betriebskonzentration<br />
in <strong>de</strong>r Land- und Forstwirtschaft nicht die Re<strong>de</strong> sein kann. Auch <strong>de</strong>r<br />
Latifundienbesitz be<strong>de</strong>utet nicht Latifundienbetrieb. Die großen Domänen<br />
setzen sich immer aus zahlreichen Betrieben zusammen.<br />
Noch schärfer tritt dies in einem an<strong>de</strong>ren Zweig <strong>de</strong>r Urproduktion<br />
zutage, im Bergbau. Der Bergbau ist an die Fundorte gebun<strong>de</strong>n. Die<br />
Betriebe sind so groß, als es die einzelnen Fundstätten zulassen.
359<br />
Konzentration <strong>de</strong>r Betriebsstätten kann nur soweit stattfin<strong>de</strong>n, als die<br />
örtliche Lage <strong>de</strong>r einzelnen Vorkommen es rentabel erscheinen läßt.<br />
Kurz: In <strong>de</strong>r Urproduktion kann man nirgends eine Ten<strong>de</strong>nz zur<br />
Konzentration <strong>de</strong>r Betriebe feststellen. Nicht an<strong>de</strong>rs liegt es im<br />
Verkehrswesen.<br />
§ 3. Die gewerbliche Verarbeitung <strong>de</strong>r Rohstoffe als solche ist vom<br />
Bo<strong>de</strong>n und mithin vom Raum bis zu einem gewissen Grad unabhängig.<br />
Der Betrieb <strong>de</strong>r Baumwollpflanzungen kann nicht konzentriert wer<strong>de</strong>n; in<br />
<strong>de</strong>r Spinnerei und Weberei ist <strong>de</strong>r Betrieb im großen durchaus möglich.<br />
Aber auch hier wäre es voreilig, aus <strong>de</strong>r Tatsache, daß <strong>de</strong>r größere Betrieb<br />
sich <strong>de</strong>m kleineren gegenüber in <strong>de</strong>r Regel als überlegen erweist, ohne<br />
weiteres auf ein Gesetz <strong>de</strong>r Betriebskonzentration zu schließen.<br />
Denn abgesehen davon, daß caeteris paribus, also bei einem gegebenen<br />
Stand <strong>de</strong>r Arbeitsteilung, die höhere Wirtschaftlichkeit <strong>de</strong>s größeren<br />
Betriebes nur soweit gegeben ist, als das Gesetz <strong>de</strong>r optimalen Verbindung<br />
<strong>de</strong>r Produktionsfaktoren es verlangt, so daß eine Vergrößerung <strong>de</strong>s<br />
Betriebes über jenes Maß hinaus, das die beste Ausnutzung <strong>de</strong>s<br />
Betriebsapparates for<strong>de</strong>rt, wirtschaftlich nicht mehr von Vorteil ist, äußern<br />
sich auch im Gewerbe die Wirkungen <strong>de</strong>s Raumes. Je<strong>de</strong> Produktion hat<br />
einen natürlichen Standort, <strong>de</strong>r in letzter Linie von <strong>de</strong>r örtlichen<br />
Verteilung <strong>de</strong>r Urproduktion abhängt. Daß in dieser Konzentration <strong>de</strong>r<br />
Betriebe nicht möglich ist, muß auch auf die verarbeiten<strong>de</strong> Produktion<br />
einwirken. Diese Einwirkung hat je nach <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>r<br />
Transportbewegung <strong>de</strong>r Rohstoffe und <strong>de</strong>r Fertigfabrikate zukommt, bei<br />
<strong>de</strong>n einzelnen Zweigen <strong>de</strong>r Produktion verschie<strong>de</strong>ne Stärke.<br />
Ein Gesetz <strong>de</strong>r Betriebskonzentration kann nur soweit als bestehend<br />
erkannt wer<strong>de</strong>n, als die Arbeitsteilung zu fortgesetzter Zerfällung <strong>de</strong>r<br />
Produktion in neue Zweige führt. Die Betriebskonzentration ist nichts<br />
an<strong>de</strong>res als die Kehrseite <strong>de</strong>r Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung führt<br />
dazu, daß an Stelle zahlreicher gleichartiger Betriebe, in <strong>de</strong>ren Innerm<br />
verschie<strong>de</strong>ne Produktionsprozesse durchgeführt wer<strong>de</strong>n, zahlreiche<br />
ungleichartige Betriebe treten, in <strong>de</strong>ren Innerm mehr Gleichartigkeit<br />
herrscht. Sie führt dazu, daß die Zahl <strong>de</strong>r gleichartigen Betriebe immer<br />
kleiner wird, wobei <strong>de</strong>r Kreis <strong>de</strong>r Personen, für <strong>de</strong>ren Bedarf sie mittelbar<br />
o<strong>de</strong>r unmittelbar arbeiten, wächst. Es wür<strong>de</strong> schließlich für je<strong>de</strong>n Zweig<br />
<strong>de</strong>r Produktion nur ein Betrieb bestehen, wenn nicht die örtliche<br />
Gebun<strong>de</strong>nbeit <strong>de</strong>r Rohstofferzeugung entgegenwirken wür<strong>de</strong>. 1<br />
1 Die übrigen Standortsfaktoren (vgl. Alfred Weber, Industrielle Standortslehre im<br />
„Grundriß <strong>de</strong>r Sozialökonomik“, VI. Abt., Tübingen 1914, S. 54 ff.) können beiseite
360<br />
III.<br />
Die Konzentration <strong>de</strong>r Unternehmungen.<br />
§ 1. Die Vereinigung mehrerer selbständiger Betriebe gleicher Art zu<br />
einem einheitlichen Unternehmen kann man in Anlehnung an einen in <strong>de</strong>r<br />
Kartelliteratur üblichen Ausdruck, <strong>de</strong>ssen Gebrauch sich dort mit unserem<br />
freilich nicht ganz <strong>de</strong>ckt, als horizontale Konzentration <strong>de</strong>r Unternehmungen<br />
bezeichnen. Behalten die einzelnen Betriebe nicht ihre volle<br />
Selbständigkeit, wird zum Beispiel die Betriebsleitung vereinigt o<strong>de</strong>r<br />
erfolgt etwa die Zusammenlegung einzelner Kontore o<strong>de</strong>r Betriebsabteilungen,<br />
dann liegt ein Fall von Betriebskonzentration vor. Nur wenn die<br />
einzelnen Betriebe in allem, abgesehen von <strong>de</strong>r Fassung <strong>de</strong>r<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n wirtschaftlichen Beschlüsse, selbständig bleiben, liegt<br />
lediglich Unternehmungskonzentration vor. Der typische Fall hierfür ist<br />
die Bildung eines Kartells o<strong>de</strong>r eines Syndikats. Alles bleibt, wie es<br />
gewesen, nur die Entschlüsse über Käufe und Verkäufe (je nach<strong>de</strong>m, ob<br />
es sich um Einkaufs- o<strong>de</strong>r Verkaufskartelle o<strong>de</strong>r um solche, die bei<strong>de</strong>s<br />
sind, han<strong>de</strong>lt) wer<strong>de</strong>n nun einheitlich gefaßt.<br />
Zweck dieser Zusammenschlüsse ist, wenn sie nicht lediglich Vorstufe<br />
zur Betriebszusammenlegung sind, die monopolartige Beherrschung <strong>de</strong>s<br />
Marktes. Nur <strong>de</strong>m Streben <strong>de</strong>r einzelnen Unternehmer, sich jene Vorteile<br />
zu sichern, die <strong>de</strong>r Monopolist unter bestimmten Voraussetzungen<br />
genießen kann, verdankt die Ten<strong>de</strong>nz zur horizontalen Konzentration <strong>de</strong>r<br />
Unternehmungen ihre Entstehung.<br />
§ 2. Die Vereinigung von selbständigen Unternehmungen, von <strong>de</strong>nen<br />
die eine die Erzeugnisse <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren im Betriebe verwen<strong>de</strong>t, zu einem<br />
einheitlichen Unternehmen, wollen wir im Anschluß an <strong>de</strong>n<br />
Sprachgebrauch <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen volkswirtschaftspolitischen Literatur als<br />
vertikale Konzentration bezeichnen. Beispiele sind die Webereien, die mit<br />
Spinnereien und mit Bleichereien und Färbereien verbun<strong>de</strong>n sind, die<br />
Druckerei, <strong>de</strong>r eine Papierfabrik und ein Zeitungsunternehmen<br />
angeglie<strong>de</strong>rt sind, die gemischten Werke <strong>de</strong>r Eisenindustrie und <strong>de</strong>s<br />
Kohlenbergbaus usf.<br />
Je<strong>de</strong>r Betrieb ist eine vertikale Konzentration von Teiloperationen und<br />
von Apparaturen. Die Einheit <strong>de</strong>s Betriebes wird dadurch hergestellt, daß<br />
ein Teil <strong>de</strong>r Betriebsmittel - z. B. Maschinen, Gebäu<strong>de</strong>,<br />
gelassen wer<strong>de</strong>n, da sie in letzter Linie durch die gegenwärtige o<strong>de</strong>r durch die<br />
geschichtlich überkommene Verteilung <strong>de</strong>r Urproduktion bestimmt sind.
361<br />
die Einrichtung <strong>de</strong>r Werkleitung - gemeinsam sind. Solche Gemeinschaft<br />
fehlt im vertikalen Verband von Unternehmungen. Ihre Einheit wird durch<br />
<strong>de</strong>n Unternehmer und durch seinen Willen, die eine Unternehmung <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren dienen zu lassen, hergestellt. Fehlt diese Absicht, dann vermag<br />
auch die Gemeinsamkeit <strong>de</strong>s Eigentümers zwischen zwei Unternehmungen<br />
keine Beziehung herzustellen. Wenn ein Schokola<strong>de</strong>fabrikant<br />
gleichzeitig auch ein Eisenwerk besitzt, dann liegt keine vertikale<br />
Konzentration vor.<br />
Man pflegt als Zweck <strong>de</strong>r vertikalen Konzentration gewöhnlich die<br />
Sicherung <strong>de</strong>s Absatzes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Bezuges von Rohstoffen und<br />
Halbfabrikaten zu bezeichnen. Das ist die Antwort, die man von<br />
Unternehmern erhält, wenn man sie nach <strong>de</strong>n Vorteilen solcher Verbindungen<br />
fragt. Die Verfasser von Doktorarbeiten geben sich damit<br />
zufrie<strong>de</strong>n. Die Aussagen <strong>de</strong>r im Wirtschaftsleben stehen<strong>de</strong>n „Praktiker“<br />
weiter zu untersuchen, scheinen sie nicht für ihre Aufgabe zu halten; sie<br />
nehmen sie als letzte Wahrheit hin und unterziehen sie dann einer<br />
Beurteilung vom ethischen Standpunkt. Doch auch wenn sie gar nicht<br />
weiter über die Dinge nachgedacht hätten, hätten sie genauere<br />
Nachforschungen auf die richtige Spur führen müssen. Von <strong>de</strong>n Leitern<br />
<strong>de</strong>r einzelnen Betriebe, die von <strong>de</strong>r vertikalen Bindung umfaßt wer<strong>de</strong>n,<br />
kann man nämlich mancherlei Klagen vernehmen. Ich könnte, sagt <strong>de</strong>r<br />
Leiter <strong>de</strong>r Papiermühle, mein Papier viel besser verwerten, wenn ich es<br />
nicht an unsere Druckerei liefern müßte. Und <strong>de</strong>r Weber sagt: Wäre ich<br />
nicht genötigt, das Garn von unserer Spinnerei zu beziehen, dann könnte<br />
ich es mir billiger beschaffen. Solche Beschwer<strong>de</strong>n stehen an <strong>de</strong>r<br />
Tagesordnung. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum sie die<br />
Begleiterscheinung je<strong>de</strong>r vertikalen Konzentration sein müssen.<br />
Wären die zusammengeschlossenen Betriebe so leistungsfähig, daß sie<br />
<strong>de</strong>n Wettbewerb <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren nicht zu scheuen brauchen, dann hätte die<br />
vertikale Konzentration keinen beson<strong>de</strong>ren Zweck. Eine Papierfabrik, die<br />
vollkommen auf <strong>de</strong>r Höhe steht, muß sich nicht <strong>de</strong>n Absatz sichern. Eine<br />
Druckerei, die vollkommen konkurrenzfähig ist, braucht keine Sicherung<br />
<strong>de</strong>s Papierbezuges. Das leistungsfähige Unternehmen verkauft dorthin, wo<br />
es die besten Preise erzielt, und kauft dort, wo es am wirtschaftlichsten<br />
einkaufen kann. Sind zwei Unternehmungen, die verschie<strong>de</strong>nen Stufen<br />
<strong>de</strong>sselben Produktionszweiges angehören, in einer Hand vereinigt, so muß<br />
zwischen ihnen noch keine Verbindung zu vertikaler Konzentration<br />
erfolgen. Erst wenn das eine o<strong>de</strong>r das an<strong>de</strong>re Unternehmen sich als<br />
weniger
362<br />
geeignet erweist, <strong>de</strong>n freien Wettbewerb auszuhalten, tritt <strong>de</strong>r Gedanke<br />
auf, es durch Bindung an das an<strong>de</strong>re zu stützen. In <strong>de</strong>m Ertrag <strong>de</strong>s besser<br />
gehen<strong>de</strong>n Unternehmens sucht man einen Fonds, aus <strong>de</strong>m die<br />
Ertragsausfälle <strong>de</strong>s schlechter gehen<strong>de</strong>n zu <strong>de</strong>cken wären. Von steuerrechtlichen<br />
Vorteilen und von an<strong>de</strong>ren beson<strong>de</strong>ren Vorteilen, wie es etwa<br />
die waren, die die gemischten Werke im <strong>de</strong>utschen Eisengewerbe aus <strong>de</strong>n<br />
Kartellvereinbarungen ziehen konnten, abgesehen, ergibt sich mithin aus<br />
<strong>de</strong>r Vereinigung nichts als ein Scheingewinn <strong>de</strong>s einen und ein<br />
Scheinverlust <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Unternehmens.<br />
Man überschätzt die Häufigkeit und die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r vertikalen<br />
Konzentration von Unternehmungen ganz außeror<strong>de</strong>ntlich. Im<br />
kapitalistischen Wirtschaftsleben bil<strong>de</strong>n sich im Gegenteil immer neue<br />
Unternehmungszweige, spalten sich immer wie<strong>de</strong>r Teile von Unternehmungen<br />
ab, um selbständig zu wer<strong>de</strong>n. Die weitgehen<strong>de</strong> Spezialisierung<br />
<strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Industrie zeigt, daß die Richtung <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
durchaus <strong>de</strong>r vertikalen Konzentration entgegengesetzt ist. Diese ist,<br />
abgesehen von <strong>de</strong>n Fällen, wo sie aus produktionstechnischen Grün<strong>de</strong>n<br />
geboten erscheint, immer eine Ausnahmeerscheinung, die meist durch<br />
Rücksichten auf die Lage <strong>de</strong>r gesetzlichen und sonstigen politischen<br />
Produktionsbedingungen erklärt wer<strong>de</strong>n kann. Und immer wie<strong>de</strong>r sehen<br />
wir, daß die Bindungen, die sie knüpft, wie<strong>de</strong>r gelöst wer<strong>de</strong>n, und daß die<br />
Selbständigkeit <strong>de</strong>r einzelnen Teile wie<strong>de</strong>r hergestellt wird.<br />
IV.<br />
Die Konzentration <strong>de</strong>r Vermögen.<br />
§ 1. Eine Ten<strong>de</strong>nz zur Konzentration <strong>de</strong>r Betriebe o<strong>de</strong>r eine Ten<strong>de</strong>nz<br />
zur Konzentration <strong>de</strong>r Unternehmungen wür<strong>de</strong> durchaus noch nicht<br />
gleichbe<strong>de</strong>utend sein mit einer Ten<strong>de</strong>nz zur Konzentration <strong>de</strong>r Vermögen.<br />
Die mo<strong>de</strong>rne Volkswirtschaft hat in <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m die Betriebe und<br />
die Unternehmungen gewachsen sind, Unternehmungsformen herausgebil<strong>de</strong>t,<br />
die es ermöglichen, daß große Geschäfte von Leuten mit kleinen<br />
Vermögen unternommen wer<strong>de</strong>n. Daß diese Formen entstehen konnten<br />
und daß sie eine von Tag zu Tag wachsen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung in <strong>de</strong>r<br />
Volkswirtschaft gewonnen haben, daß ihnen gegenüber die Einzelunternehmung<br />
auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r Großindustrie, <strong>de</strong>s Bergbaues und <strong>de</strong>s<br />
Verkehrswesens nahezu verschwun<strong>de</strong>n ist, beweist, daß eine Ten<strong>de</strong>nz zur<br />
Konzentration <strong>de</strong>r Vermögen nicht
363<br />
besteht. Die Geschichte <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Unternehmungsformen -<br />
von <strong>de</strong>r societas unius acti angefangen bis zur mo<strong>de</strong>rnen Aktiengesellschaft<br />
- ist ein einziger Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die von Marx leichtfertig<br />
aufgestellte Lehre von <strong>de</strong>r Konzentration <strong>de</strong>s Kapitals.<br />
Wenn man <strong>de</strong>n Satz, daß die Armen immer zahlreicher und ärmer und<br />
die Reichen immer weniger zahlreich und reicher wer<strong>de</strong>n, beweisen will,<br />
genügt es nicht, darauf hinzuweisen, daß in einer fernen Urzeit, über die<br />
sich <strong>de</strong>r Beweisführer ähnlichen Täuschungen hingibt wie Ovid und<br />
Vergil über das „gol<strong>de</strong>ne“ Zeitalter, die Vermögensunterschie<strong>de</strong> weniger<br />
kraß gewesen seien als heute. Was bewiesen wer<strong>de</strong>n müßte, ist das<br />
Bestehen eines ökonomischen Grun<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r zur Konzentration <strong>de</strong>r<br />
Vermögen hintreibt. Das ist nicht einmal versucht wor<strong>de</strong>n. Das<br />
marxistische Schema, das gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>m kapitalistischen Zeitalter eine<br />
beson<strong>de</strong>re Ten<strong>de</strong>nz zur Vermögenskonzentration zuschreibt, ist völlig aus<br />
<strong>de</strong>r Luft gegriffen. Schon <strong>de</strong>r Versuch, es nur irgendwie historisch zu<br />
fundieren, ist von vorneherein aussichtslos. Gera<strong>de</strong> das Gegenteil von<br />
<strong>de</strong>m, was Marx behauptet, kann bewiesen wer<strong>de</strong>n.<br />
§ 2. Das Streben nach Vergrößerung <strong>de</strong>s Vermögens kann im<br />
Tauschverkehr o<strong>de</strong>r außerhalb <strong>de</strong>s Tauschverkehrs befriedigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Jene ist die Metho<strong>de</strong>, die in <strong>de</strong>r kapitalistischen Volkswirtschaft allein<br />
möglich ist. Diese ist die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r militaristischen Gesellschaftsordnung.<br />
In ihr gibt es nur zwei Wege <strong>de</strong>s Erwerbes: Gewalt und Bitten.<br />
Mit Gewalt erwirbt <strong>de</strong>r Mächtige, mit Bitten <strong>de</strong>r Schwache. Jener Besitz<br />
hält so lange, als die Macht, ihn zu halten, vorhan<strong>de</strong>n ist. Der Besitz <strong>de</strong>r<br />
Schwachen ist immer prekär; durch die Gna<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Mächtigen gewonnen,<br />
hängt er auch stets von ihr ab. Ohne Rechtsschutz sitzt <strong>de</strong>r Schwache auf<br />
seiner Scholle. So gibt es <strong>de</strong>nn auch in <strong>de</strong>r militaristischen Gesellschaftsordnung<br />
nichts, was die Ausbreitung <strong>de</strong>s Besitzes <strong>de</strong>s Mächtigen hin<strong>de</strong>rn<br />
könnte als die Macht. Solange ihm kein Stärkerer entgegentritt, kann er<br />
seinen Besitz aus<strong>de</strong>hnen.<br />
Großgrun<strong>de</strong>igentum und Latifundienbesitz sind nirgends und niemals<br />
aus <strong>de</strong>m freien Verkehr hervorgegangen. Sie sind das Ergebnis<br />
militärischer und politischer Bestrebungen. Durch Gewalt begrün<strong>de</strong>t,<br />
konnten sie auch stets nur durch Gewalt aufrechterhalten wer<strong>de</strong>n. Sowie<br />
<strong>de</strong>r Großgrundbesitz in <strong>de</strong>n Tauschverkehr <strong>de</strong>s Marktes einbezogen wird,<br />
fängt er an abzubröckeln, bis er sich schließlich ganz auflöst.<br />
Wirtschaftliche Grün<strong>de</strong> haben we<strong>de</strong>r bei seiner Entstehung noch bei<br />
seiner Erhaltung mitgespielt. Die großen Latifundienvermögen
364<br />
sind nicht aus <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Überlegenheit <strong>de</strong>s Großbesitzes<br />
entstan<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn durch gewaltsame Aneignung außerhalb <strong>de</strong>s Tauschverkehres.<br />
„Begehren sie Fel<strong>de</strong>r“ klagt <strong>de</strong>r Prophet Micha, „so reißen sie<br />
sie an sich, o<strong>de</strong>r Häuser, so nehmen sie sie weg“. 1 So entsteht in Palästina<br />
<strong>de</strong>r Besitz jener, die, wie Jesaja sagt, „ein Haus an das an<strong>de</strong>re ziehen und<br />
einen Acker zum an<strong>de</strong>ren bringen, bis daß sie allein das Land besitzen“. 2<br />
Daß die Enteignung in <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Fälle an <strong>de</strong>r Betriebsweise<br />
nichts än<strong>de</strong>rt, daß <strong>de</strong>r frühere Eigentümer unter geän<strong>de</strong>rtem Rechtstitel<br />
weiter auf <strong>de</strong>r Scholle verbleibt und <strong>de</strong>n Betrieb fortführt, charakterisiert<br />
beson<strong>de</strong>rs scharf die außerökonomische Entstehung <strong>de</strong>r Latifundien.<br />
Doch auch durch Schenkung kann Latifundienbesitz begrün<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n. Durch Schenkungen war <strong>de</strong>r große Besitz <strong>de</strong>r Kirche im fränkischen<br />
Reich entstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r dann spätestens im Laufe <strong>de</strong>s achten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts an <strong>de</strong>n A<strong>de</strong>l überging, durch Säkularisationen Karl Martell’s<br />
und seiner Nachfolger, wie die ältere Theorie annahm, durch eine<br />
„Offensive <strong>de</strong>r Laienaristokraten“, wie die neuere Forschung anzunehmen<br />
bereit ist. 3<br />
Wie wenig es angängig erscheint, Latifundienbesitz im freien Verkehr<br />
<strong>de</strong>r Tauschwirtschaft auch nur zu erhalten, zeigt <strong>de</strong>r legislative Grund, <strong>de</strong>r<br />
zur Einführung <strong>de</strong>r Familienfi<strong>de</strong>ikommisse und <strong>de</strong>r verwandten<br />
Rechtsinstitute - wie <strong>de</strong>s englischen entail - geführt hat. Durch das Fi<strong>de</strong>ikommißband<br />
soll <strong>de</strong>r Großgrundbesitz erhalten wer<strong>de</strong>n, weil er an<strong>de</strong>rs<br />
nicht zusammenhalten kann. Das Erbrecht wird geän<strong>de</strong>rt, Verschuldung<br />
und Veräußerung unmöglich gemacht und <strong>de</strong>r Staat zum Wächter <strong>de</strong>r<br />
Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit <strong>de</strong>s Besitzes bestellt, damit <strong>de</strong>r<br />
Glanz <strong>de</strong>r Familie nicht erlösche. Läge in <strong>de</strong>r ökonomischen Kraft <strong>de</strong>s<br />
Latifundieneigentums selbst etwas, was zur fortgesetzten Konzentration<br />
<strong>de</strong>s Grun<strong>de</strong>igentums führen muß, dann wären solche Gesetze überflüssig<br />
gewesen. Dann hätten wir eher eine Gesetzgebung gegen die Bildung von<br />
Latifundien statt einer solchen zu ihrem Schutz. Davon weiß aber die<br />
Rechtsgeschichte nichts. Die Bestimmungen gegen das Bauernlegen,<br />
gegen die Einziehung von Ackerland u. dgl. in. wen<strong>de</strong>n sich gegen<br />
Vorgänge, die außerhalb <strong>de</strong>s Tauschverkehres liegen,<br />
1 Vgl. Micha, 2, 2.<br />
2 Vgl. Jesaja, 5, 8.<br />
3 Vgl. Schrö<strong>de</strong>r, a. a. O., S. 159 ff.; Dopsch, a. a. O., II. Teil, Wien 1920, S. 289, 309<br />
ff.
365<br />
gegen die gewaltsame, durch politisch-militärische Macht betriebene<br />
Bildung von Großgrun<strong>de</strong>igentum. Ähnlich steht es mit <strong>de</strong>n gesetzlichen<br />
Beschränkungen <strong>de</strong>r toten Hand. Die Güter <strong>de</strong>r toten Hand, die übrigens<br />
unter einem ähnlichen Rechtsschutz wie die Fi<strong>de</strong>ikommisse stehen,<br />
mehren sich nicht durch die Kraft <strong>de</strong>r ökonomischen Entwicklung,<br />
son<strong>de</strong>rn durch Schenkungen.<br />
Gera<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r landwirtschaftlichen Produktion, wo die<br />
Betriebskonzentration unmöglich und die Unternehmungskonzentration<br />
ökonomisch zwecklos ist, wo <strong>de</strong>r Riesenbesitz <strong>de</strong>m mittleren und<br />
kleineren Besitz gegenüber wirtschaftlich unterlegen erscheint und ihm im<br />
freien Wettbewerb nicht standzuhalten vermag, sehen wir die höchste<br />
Konzentration <strong>de</strong>s Vermögens. Nie war <strong>de</strong>r Besitz an Produktionsmitteln<br />
stärker konzentriert als zur Zeit <strong>de</strong>s Plinius, da die Hälfte <strong>de</strong>r<br />
afrikanischen Provinz sich im Eigentum von sechs Personen befand, o<strong>de</strong>r<br />
als zur Zeit <strong>de</strong>r Merovinger, da die Kirche in Frankreich <strong>de</strong>n größeren Teil<br />
allen Bo<strong>de</strong>ns besessen hat. Und nirgends gibt es verhältnismäßig weniger<br />
Großgrun<strong>de</strong>igentum als im hochkapitalistischen Nordamerika.<br />
§ 3. Die Behauptung, daß auf <strong>de</strong>r einen Seite <strong>de</strong>r Reichtum immer<br />
mehr und mehr zunehme, während auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite die Armut immer<br />
größer wer<strong>de</strong>, wur<strong>de</strong> zuerst ohne je<strong>de</strong> bewußte Verbindung mit einer<br />
nationalökonomischen Theorie aufgestellt. Sie gibt <strong>de</strong>n Eindruck wie<strong>de</strong>r,<br />
<strong>de</strong>n Beobachter aus <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
gewonnen zu haben glauben. Doch das Urteil <strong>de</strong>s Beobachters ist nicht<br />
unbeeinflußt von <strong>de</strong>r Vorstellung, daß die Summe <strong>de</strong>s Reichtums in einer<br />
Gesellschaft eine gegebene Größe sei, so daß, wenn einige mehr besitzen<br />
als das Durchschnittsmaß, an<strong>de</strong>re weniger besitzen müssen. 1 Da man nun<br />
in je<strong>de</strong>r Gesellschaft immer neuen Reichtum und neue Armut auffällig<br />
entstehen sieht, während das langsame Nie<strong>de</strong>rsinken alten Reichtums und<br />
das langsame Aufsteigen min<strong>de</strong>rbemittelter Schichten zu Wohlstand <strong>de</strong>m<br />
Auge <strong>de</strong>s weniger aufmerksamen Beobachters leicht entgehen, liegt es<br />
nahe, voreilig <strong>de</strong>n Schluß zu ziehen, <strong>de</strong>n die sozialistische Theorie unter<br />
<strong>de</strong>m Schlagwort the rich richer, the poor poorer zusammenfaßt.<br />
Es bedarf keiner langen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung, um zu zeigen, daß die<br />
Stützen dieser Behauptung durchaus nicht tragfähig sind. Es ist eine ganz<br />
unbegrün<strong>de</strong>te Annahme, daß in <strong>de</strong>r arbeitsteiligen Gesellschaft <strong>de</strong>r Reichtum<br />
<strong>de</strong>r einen die Armut <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren bedinge.<br />
1 Vgl. Michels, Dogmengeschichtliche Beiträge zur Verelendungstheorie (Archiv für<br />
Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 47. Bd.) S. 125.
366<br />
Das gilt unter gewissen Voraussetzungen von <strong>de</strong>n Verhältnissen<br />
militaristischer Gesellschaften, in <strong>de</strong>nen keine Arbeitsteilung besteht; es<br />
gilt aber nicht von <strong>de</strong>n Verhältnissen einer liberalen Gesellschaft.<br />
Ebensowenig kann man das Urteil, das auf Grund von flüchtigen<br />
Beobachtungen jenes engen Ausschnittes <strong>de</strong>r Gesellschaft gefaßt wur<strong>de</strong>,<br />
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r einzelne durch persönliche Beziehungen kennen lernt, als<br />
genügen<strong>de</strong>n Beweis für die Konzentrationstheorie ansehen.<br />
Der Frem<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r mit guten Empfehlungen ausgestattet, England<br />
besucht, fin<strong>de</strong>t Gelegenheit, das Leben vornehmer und reicher englischer<br />
Häuser kennen zu lernen. Will er mehr sehen o<strong>de</strong>r soll er mehr sehen, weil<br />
sein Vater die Reise nicht bloß als Vergnügungsfahrt angesehen haben<br />
will, dann läßt man ihn einen flüchtigen Blick in die Werkstätten großer<br />
Unternehmungen werfen. Das bietet für <strong>de</strong>n Laien nichts beson<strong>de</strong>rs<br />
Anziehen<strong>de</strong>s; <strong>de</strong>r Lärm, das Getriebe und die Geschäftigkeit eines solchen<br />
Werkes überwältigen zunächst <strong>de</strong>n Besucher; hat er aber zwei o<strong>de</strong>r drei<br />
Betriebe gesehen, dann erscheinen ihm die Dinge, die er zu sehen<br />
bekommt, eintönig. Da ist das Studium <strong>de</strong>r sozialen Verhältnisse, wie es<br />
<strong>de</strong>r zu kurzem Besuch in England Weilen<strong>de</strong> betreiben kann, anregen<strong>de</strong>r.<br />
Ein Gang durch die Elendsviertel von London o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer englischer<br />
Großstädte bringt mehr Sensationen und wirkt auf das Gemüt <strong>de</strong>s Reisen<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>r im übrigen von einer Vergnügung zur an<strong>de</strong>ren eilt, doppelt<br />
stark. Das Aufsuchen <strong>de</strong>r Quartiere <strong>de</strong>s Elends und <strong>de</strong>s Verbrechens<br />
wur<strong>de</strong> so zu einem beliebten Programmpunkt <strong>de</strong>r obligaten Englandfahrt<br />
<strong>de</strong>s Kontinentalbürgers. Hier sammelte <strong>de</strong>r zukünftige Staatsmann und<br />
Volkswirt die Eindrücke von <strong>de</strong>n Wirkungen <strong>de</strong>r Industrie auf die<br />
Massen, auf die er dann sein ganzes Leben lang seine sozialen<br />
Anschauungen aufbaute. Von hier brachte er die Meinung nach Hause,<br />
daß die Industrie auf <strong>de</strong>r einen Seite wenige reich, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />
viele arm mache. Schrieb o<strong>de</strong>r sprach er fortan über industrielle<br />
Verhältnisse, dann unterließ er es nie, das Elend, das er in <strong>de</strong>n Slums<br />
gefun<strong>de</strong>n, mit peinlichster Einzelausführung und nicht selten auch mit<br />
mehr o<strong>de</strong>r weniger bewußter Übertreibung auszumalen. Doch mehr als<br />
das, daß es Reiche und Arme gibt, können wir aus diesen Schil<strong>de</strong>rungen<br />
nicht entnehmen. Dazu aber brauchen wir nicht erst die Berichte von<br />
Leuten, die es mit eigenen Augen gesehen haben. Daß <strong>de</strong>r Kapitalismus<br />
noch nicht alles Elend aus <strong>de</strong>r Welt geschafft hatte, wußte man schon<br />
früher. Was zu beweisen wäre, ist das, daß die Zahl <strong>de</strong>r Reichen immer<br />
mehr und mehr abnimmt, daß <strong>de</strong>r einzelne Reiche aber reicher wird,
367<br />
und daß an<strong>de</strong>rerseits die Zahl <strong>de</strong>r Armen und die Armut <strong>de</strong>s einzelnen<br />
Armen immer mehr wachsen. Das könnte man aber nicht an<strong>de</strong>rs als durch<br />
eine ökonomische Entwicklungstheorie beweisen.<br />
Nicht besser als mit diesen gefühlsmäßigen Beweisen steht es mit <strong>de</strong>n<br />
Versuchen, durch statistische Erhebungen <strong>de</strong>n Nachweis für die fortschreiten<strong>de</strong><br />
Verelendung <strong>de</strong>r Masse und das Anwachsen <strong>de</strong>s Reichtums<br />
einer an Zahl immer mehr abnehmen<strong>de</strong>n Klasse von Reichen zu<br />
erbringen. Die Geldausdrücke, die für eine <strong>de</strong>rartige Ermittlung zur<br />
Verfügung stehen, sind unbrauchbar, weil die Kaufkraft <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s<br />
Verän<strong>de</strong>rungen unterworfen ist. Damit aber ist schon gesagt, daß je<strong>de</strong><br />
Grundlage für die rechnerische Vergleichung <strong>de</strong>r Einkommensgestaltung<br />
im Ablauf <strong>de</strong>r Jahre fehlt. Denn sobald es nicht möglich ist, die<br />
verschie<strong>de</strong>nen Sachgüter und Dienstleistungen, aus <strong>de</strong>nen sich die<br />
Einkommen und Vermögen zusammensetzen, auf einen gemeinsamen<br />
Ausdruck zurückzuführen, kann man aus <strong>de</strong>r Einkommens- und<br />
Vermögensstatistik keine Reihen für die geschichtliche Vergleichung<br />
bil<strong>de</strong>n.<br />
Die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Soziologen ist schon oft auf die Tatsache<br />
gelenkt wor<strong>de</strong>n, daß bürgerlicher Reichtum, das heißt Reichtum, <strong>de</strong>r nicht<br />
in Grundbesitz und Bergwerkseigentum festgelegt ist, sich selten längere<br />
Zeit in einer Familie erhält. Die bürgerlichen Geschlechter steigen aus <strong>de</strong>r<br />
Tiefe plötzlich zu Reichtum auf, mitunter so rasch, daß wenige Jahre<br />
genügen, um aus einem armen, mit <strong>de</strong>r Not kämpfen<strong>de</strong>n Menschen einen<br />
<strong>de</strong>r reichsten seiner Zeit zu machen. Die Geschichte <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
Vermögen ist voll von Erzählungen von Betteljungen, die es zu Besitzern<br />
vieler Millionen gebracht haben. Von <strong>de</strong>m Vermögensverfall <strong>de</strong>r<br />
Wohlhaben<strong>de</strong>n wird wenig gere<strong>de</strong>t. Er vollzieht sich nicht so auffällig<br />
rasch, daß er auch <strong>de</strong>m Auge <strong>de</strong>s oberflächlichen Beobachters sichtbar<br />
wer<strong>de</strong>n könnte. Wer aber genauer zusieht, wird ihn überall bemerken.<br />
Selten nur erhält sich bürgerlicher Reichtum länger als zwei o<strong>de</strong>r drei<br />
Generationen in einer Familie, es sei <strong>de</strong>nn, daß er rechtzeitig seinen<br />
Charakter gewan<strong>de</strong>lt hat und durch Anlage in Grund und Bo<strong>de</strong>n aufgehört<br />
hat, bürgerlicher Reichtum zu sein. 1 Dann aber ist er Grundbesitz<br />
gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m, wie gezeigt wur<strong>de</strong>, keine weitere werben<strong>de</strong> Kraft mehr<br />
innewohnt.<br />
Vermögen, die in Kapital angelegt sind, stellen keine ewig fließen<strong>de</strong><br />
Rentenquelle dar, wie sich dies die naive Wirtschaftsphilosophie<br />
1 Vgl. Hansen, Die drei Bevölkerungsstufen, München 1889, S. 181 f.
368<br />
<strong>de</strong>s gemeinen Mannes <strong>de</strong>nkt. Daß das Kapital Ertrag abwirft, ja daß es<br />
überhaupt nur erhalten bleibt, ist nicht eine selbstverständliche Sache, die<br />
sich schon aus <strong>de</strong>r Tatsache seiner Existenz erklärt. Die Kapitalgüter, aus<br />
<strong>de</strong>nen sich das Kapital konkret zusammensetzt, gehen in <strong>de</strong>r Produktion<br />
unter; an ihre Stelle treten an<strong>de</strong>re Güter, in letzter Linie Genußgüter, aus<br />
<strong>de</strong>ren Wert <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Kapitalsmasse wie<strong>de</strong>r hergestellt wer<strong>de</strong>n muß.<br />
Das ist nur möglich, wenn die Produktion erfolgreich verlaufen ist, das<br />
heißt, wenn durch sie mehr an Wert erzeugt wur<strong>de</strong> als in sie<br />
hineingesteckt wor<strong>de</strong>n war. Nicht nur <strong>de</strong>r Kapitalgewinn, auch die<br />
Reproduktion <strong>de</strong>s Kapitals hat <strong>de</strong>n erfolgreichen Produktionsprozeß zur<br />
Voraussetzung. Kapitalsertrag und Kapitalserhaltung sind stets das<br />
Ergebnis einer glücklich verlaufenen Spekulation. Schlägt sie fehl, dann<br />
bleibt nicht nur <strong>de</strong>r Kapitalertrag aus, auch die Kapitalssubstanz wird mit<br />
hergenommen. Man beachte genau <strong>de</strong>n Unterschied <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>n<br />
Kapitalgütern und <strong>de</strong>m Produktionsfaktor „Natur“ besteht. In <strong>de</strong>r Landund<br />
Forstwirtschaft bleibt die im Grund und Bo<strong>de</strong>n stecken<strong>de</strong> Naturkraft<br />
bei einem Mißerfolg <strong>de</strong>r Produktion erhalten. Die Bo<strong>de</strong>nkräfte können<br />
nicht verwirtschaftet wer<strong>de</strong>n. Sie können wohl wertlos wer<strong>de</strong>n durch<br />
Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Bedarfes, aber sie können in <strong>de</strong>r Produktion selbst keine<br />
Werteinbuße erlei<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rs in <strong>de</strong>r verarbeiten<strong>de</strong>n Produktion. Da kann<br />
alles verloren gehen, Früchte und Stamm. Das Kapital muß in <strong>de</strong>r<br />
Produktion immer wie<strong>de</strong>r neu geschaffen wer<strong>de</strong>n. Die einzelnen Kapitalgüter,<br />
aus <strong>de</strong>nen es sich zusammensetzt, haben ein zeitlich beschränktes<br />
Dasein; dauern<strong>de</strong>n Bestand gewinnt das Kapital nur durch die Art und<br />
Weise, in <strong>de</strong>r es <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>s Eigners in <strong>de</strong>r Produktion einsetzt. Wer<br />
Kapitalvermögen besitzen will muß es täglich immer wie<strong>de</strong>r neu<br />
erwerben. Kapitalvermögen ist keine Quelle von Rentenbezug, <strong>de</strong>r auf die<br />
Dauer in Trägheit genossen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Es wäre verfehlt, diese Ausführungen mit <strong>de</strong>m Hinweis auf <strong>de</strong>n<br />
ständigen Ertrag, <strong>de</strong>n „gute“ Kapitalsanlagen abwerfen, zu bekämpfen.<br />
Die Kapitalsanlagen müssen eben „gut“ sein, und das sind sie stets nur als<br />
Ergebnis einer erfolgreichen Spekulation. Rechenmeister haben ermittelt,<br />
zu welchem Betrag ein Heller, <strong>de</strong>r zu Christi Zeiten angelegt wur<strong>de</strong>, mit<br />
Zins und Zinseszins bis heute angewachsen wäre. Ihre Schlußfolgerungen<br />
klingen so bestechend, daß man sich nur fragen muß, warum <strong>de</strong>nn<br />
niemand so klug gewesen war, diesen Weg zum Reichtum einzuschlagen.<br />
Doch ganz abgesehen von allen an<strong>de</strong>ren Schwierigkeiten, die die Wahl<br />
dieses Weges zum
369<br />
Reichtum unmöglich machen müssen, stün<strong>de</strong> ihr schon <strong>de</strong>r Unistand entgegen,<br />
daß je<strong>de</strong> Kapitalsinvestition mit <strong>de</strong>m Risiko <strong>de</strong>s völligen o<strong>de</strong>r<br />
teilweisen Verlustes <strong>de</strong>r Kapitalssubstanz verbun<strong>de</strong>n ist. Das gilt nicht nur<br />
von <strong>de</strong>r Investition <strong>de</strong>s Unternehmers, son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s an<br />
Unternehmer leihen<strong>de</strong>n Kapitalisten. Denn naturgemäß ist ja <strong>de</strong>ssen<br />
Investition ganz und gar von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Unternehmers abhängig. Sein Risiko<br />
ist ein geringeres, weil ihm gegenüber <strong>de</strong>r Unternehmer auch mit seinem<br />
übrigen, außerhalb <strong>de</strong>r Unternehmung befindlichen Vermögen haftbar ist;<br />
doch es ist qualitativ von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Unternehmers nicht verschie<strong>de</strong>n. Auch<br />
<strong>de</strong>r Geldgeber kann sein Geld verlieren und verliert es oft. 1<br />
Es gibt so wenig eine ewige Kapitalsanlage wie es eine sichere gibt.<br />
Je<strong>de</strong> Kapitalsanlage ist ein spekulatives Wagnis, <strong>de</strong>ssen Erfolg im vorhinein<br />
nicht mit Bestimmtheit abzusehen ist. Nicht einmal die Vorstellung<br />
„ewigen und sicheren“ Kapitalsertrages hätte entstehen können, wenn<br />
man die Begriffe über Kapitalsanlage stets aus <strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>s Kapitals<br />
und <strong>de</strong>r Unternehmung hergenommen hätte. Die Ewigkeits- und<br />
Sicherheitsvorstellungen kommen von <strong>de</strong>r auf Grun<strong>de</strong>igentum sichergestellten<br />
Rente und von <strong>de</strong>r ihr verwandten Staatsrente her. Es entspricht<br />
ganz <strong>de</strong>n tatsächlichen Verhältnissen, wenn das Recht als mün<strong>de</strong>lsichere<br />
Anlage nur die anerkennt, die in Grundbesitz besteht o<strong>de</strong>r in Geldrente,<br />
die auf Grundbesitz sichergestellt o<strong>de</strong>r vom Staat und an<strong>de</strong>ren<br />
Körperschaften <strong>de</strong>s öffentlichen Rechts geleistet wird. Im kapitalistischen<br />
Unternehmen gibt es kein sicheres Einkommen und keine Sicherheit <strong>de</strong>s<br />
Vermögens. Man <strong>de</strong>nke daran, wie unsinnig die Vorstellung eines<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Land- und Forstwirtschaft und <strong>de</strong>s Bergbaues in<br />
Unternehmungen angelegten Familienfi<strong>de</strong>ikommisses wäre.<br />
Wenn nun aber Kapitalien nicht von selbst anwachsen, wenn zu ihrer<br />
bloßen Erhaltung, geschweige <strong>de</strong>nn zu ihrer Fruchtbarmachung und<br />
Mehrung beständiges Eingreifen erfolgreicher Spekulation erfor<strong>de</strong>rlich<br />
ist, dann kann von einer Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Vermögen, immer mehr und mehr<br />
anzuwachsen, nicht die Re<strong>de</strong> sein. Vermögen können überhaupt nicht<br />
wachsen, sie wer<strong>de</strong>n gemehrt. 2 Dazu bedarf<br />
1 Dabei wird von <strong>de</strong>r Einwirkung von Gel<strong>de</strong>ntwertungen ganz abgesehen.<br />
2 Consi<strong>de</strong>rant sucht die Konzentrationstheorie durch ein <strong>de</strong>r Mechanik entlehntes Bild<br />
zu beweisen: „Les capitaux suivent aujourd’hui sans contrepoids la loi <strong>de</strong> leur propre<br />
gravitation; c’est que, s’attirant en raison <strong>de</strong> leurs masses, les richesses sociales se<br />
concentrent <strong>de</strong> plus en plus entre les mains <strong>de</strong>s grands possesseurs.“ (Zit. bei<br />
Tugan-Baranowsky, Der mo<strong>de</strong>rne Sozialismus in seiner geschichtlichen Entwicklung, a. a.<br />
O., S. 62.) Das ist ein Spiel mit Worten, weiter nichts.
370<br />
es aber erfolgreicher Unternehmertätigkeit. Nur solange die Wirkungen<br />
einer erfolgreichen glücklichen Anlage anhalten, wird das Kapital<br />
reproduziert, trägt es Früchte, mehrt es sich. Je schneller sich die<br />
Bedingungen <strong>de</strong>r Wirtschaft än<strong>de</strong>rn, je schneller und nachhaltiger die<br />
dynamischen Faktoren wirken, <strong>de</strong>sto kürzer ist die Dauer ihrer Güte. Zu<br />
neuen Anlagen, zu Umstellungen <strong>de</strong>r Produktion, zu Neuerungen bedarf<br />
es aber immer wie<strong>de</strong>r jener Fähigkeiten und Begabungen, die nur wenigen<br />
eigen sind. Vererben sie sich ausnahmsweise von Geschlecht zu<br />
Geschlecht, dann gelingt es <strong>de</strong>n Nachkommen, das von ihren Voreltern<br />
überkommene Vermögen zu erhalten, vielleicht es selbst, trotz <strong>de</strong>r<br />
Erbteilung, noch zu mehren. Entsprechen, was wohl die Regel sein wird,<br />
die Nachkommen nicht <strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen, die das Leben an einen<br />
Unternehmer stellt, dann schwin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r ererbte Wohlstand schnell.<br />
Wenn reich gewor<strong>de</strong>ne Unternehmer ihren Reichtum in <strong>de</strong>r Familie<br />
verewigen wollen, dann flüchten sie in <strong>de</strong>n Grundbesitz. Die Nachkommen<br />
<strong>de</strong>r Fugger und <strong>de</strong>r Welser leben noch heute in beträchtlichem<br />
Wohlstand, ja Reichtum; doch sie haben schon längst aufgehört,<br />
Kaufleute zu sein, und haben ihr Vermögen in Landbesitz umgewan<strong>de</strong>lt.<br />
Sie wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsche A<strong>de</strong>lsgeschlechter, die sich in keiner Weise von<br />
an<strong>de</strong>ren süd<strong>de</strong>utschen A<strong>de</strong>lsgeschlechtern unterschei<strong>de</strong>n. Die gleiche<br />
Entwicklung haben in allen Län<strong>de</strong>rn zahlreiche Kaufmannsgeschlechter<br />
genommen; reich gewor<strong>de</strong>n im Han<strong>de</strong>l und im Gewerbe, haben sie<br />
aufgehört, Händler und Unternehmer zu sein, und wur<strong>de</strong>n Grundbesitzer,<br />
nicht um das Vermögen zu mehren und immer größeren Reichtum<br />
anzuhäufen, son<strong>de</strong>rn um es zu erhalten und auf Kin<strong>de</strong>r und Kin<strong>de</strong>skin<strong>de</strong>r<br />
zu vererben. Die Familien, die es an<strong>de</strong>rs gehalten haben, sind bald im<br />
Dunkel <strong>de</strong>r Armut verschwun<strong>de</strong>n. Es gibt nur ganz wenige Bankiersfamilien,<br />
<strong>de</strong>ren Geschäft seit hun<strong>de</strong>rt Jahren o<strong>de</strong>r mehr besteht; sieht man<br />
aber genauer zu, so fin<strong>de</strong>t man, daß auch bei diesen die geschäftliche<br />
Tätigkeit sich im allgemeinen auf die Verwaltung von in Grundbesitz und<br />
in Bergbau festgelegten Vermögen beschränkt. Alte Vermögen, die in<br />
<strong>de</strong>m Sinne werbend wären, daß sie sich immerfort vergrößern, gibt es<br />
nicht.<br />
§ 4. Die Verelendungstheorie ist die Krone wie <strong>de</strong>r älteren sozialistischen<br />
Lehren so auch <strong>de</strong>s ökonomischen Marxismus. Der Akkumulation<br />
von Kapital entspricht die Akkumulation von Elend.
371<br />
Es ist <strong>de</strong>r „antagonistische Charakter <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion“, daß<br />
„die Akkumulation von Reichtum auf <strong>de</strong>m einen Pol“ zugleich<br />
„Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung<br />
und moralischer Degeneration auf <strong>de</strong>m Gegenpol“ ist. 1 Das ist die<br />
Theorie von <strong>de</strong>r absoluten Verelendung <strong>de</strong>r Massen. Man braucht sich mit<br />
ihr, die auf nichts weiter gestützt wer<strong>de</strong>n kann als auf die krausen<br />
Gedankengänge eines abstrusen Systems, um so weniger zu beschäftigen,<br />
als sie allmählich auch in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>r orthodoxen Marxjünger und in<br />
<strong>de</strong>n offiziellen Programmen <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Parteien in <strong>de</strong>n<br />
Hintergrund zu treten beginnt. Selbst Kautsky hat sich im Revisionismusstreit<br />
dazu bequemen müssen, zuzugeben, daß alle Tatsachen darauf<br />
hinweisen, daß gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n fortgeschrittensten kapitalistischen Län<strong>de</strong>rn<br />
das physische Elend im Rückschreiten begriffen ist und daß die Lebenshaltung<br />
<strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Klassen eine höhere ist als sie vor fünfzig Jahren<br />
gewesen war. 2 Nur <strong>de</strong>r Wirkung zuliebe, die die Verelendungstheorie auf<br />
die Menge zu üben pflegt, hält man in <strong>de</strong>r Werbearbeit an ihr noch ebenso<br />
fest wie einst in <strong>de</strong>r Jugendzeit <strong>de</strong>r nun alt gewor<strong>de</strong>nen Partei.<br />
An die Stelle <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r absoluten Verelendung ist die <strong>de</strong>r<br />
relativen Verelendung getreten. Sie ist von Rodbertus entwickelt wor<strong>de</strong>n.<br />
„Armut“, meint Rodbertus, „ist ein gesellschaftlicher, d. h. relativer<br />
Begriff. Nun behaupte ich, daß <strong>de</strong>r berechtigten Bedürfnisse <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n<br />
Klassen, seit<strong>de</strong>m diese im übrigen eine höhere gesellschaftliche<br />
Stellung eingenommen haben, be<strong>de</strong>utend mehrere gewor<strong>de</strong>n sind, und daß<br />
es ebenso unrichtig sein wür<strong>de</strong>, heute, wo sie diese höhere Stellung<br />
eingenommen haben, selbst bei gleichgebliebenem Lohne, nicht von einer<br />
Verschlimmerung ihrer materiellen Lage zu sprechen, als es unrichtig<br />
gewesen sein wür<strong>de</strong>, früher, wo sie jene Stellung noch nicht innehatten,<br />
nicht von einer solchen zu sprechen, wenn ihr Lohn gefallen wäre“. 3 Das<br />
ist ganz aus <strong>de</strong>m Geiste <strong>de</strong>s Staatssozialismus heraus gedacht. Die<br />
Arbeiter sollten mehr Einkommen beziehen, weil <strong>de</strong>r Etatist dies für „berechtigt“<br />
ansieht, weil er ihnen in <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Rangordnung<br />
1 Vgl. Marx, Das Kapital, a. a. O., I. Bd., S. 611.<br />
2 Vgl. Kautsky, Bernstein und das Sozial<strong>de</strong>mokratische Programm, Stuttgart 1899, S.<br />
116.<br />
3 Vgl. Rodbertus, Erster sozialer Brief an v. Kirchmann (Ausgabe von Zeller, Zur<br />
Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustän<strong>de</strong>, 2. Aufl., Berlin 1885), S. 273, Anm.
372<br />
eine „höhere Stellung“ zuweist. Mit <strong>de</strong>r Willkürlichkeit dieses Werturteils<br />
gibt es natürlich keine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung.<br />
Die Marxisten haben die Lehre von <strong>de</strong>r relativen Verelendung<br />
übernommen. „Wenn es <strong>de</strong>r Gang <strong>de</strong>r Entwicklung mit sich bringt, daß<br />
<strong>de</strong>r Enkel eines mit seinem Gesellen zusammenwohnen<strong>de</strong>n kleinen<br />
Webermeisters in einer schloßartigen, prächtig ausgestatteten Villa wohnt,<br />
während <strong>de</strong>r Enkel <strong>de</strong>s Gesellen in einer Mietwohnung haust, die viel<br />
besser sein mag als die Bo<strong>de</strong>nkammer, in <strong>de</strong>r sein Ahne bei <strong>de</strong>m Webermeister<br />
untergebracht war, so ist doch <strong>de</strong>r gesellschaftliche Abstand<br />
unendlich größer gewor<strong>de</strong>n. Und <strong>de</strong>r Enkel <strong>de</strong>s Webergesellen wird das<br />
Elend, worin er sich befin<strong>de</strong>t, um so mehr fühlen, je mehr er beobachten<br />
kann, welche Lebensgenüsse auch sonst seinem Arbeitgeber zur<br />
Verfügung stehen. Seine Lage ist besser als die seines Vorfahren, die<br />
Lebenshaltung hat sich gehoben, aber relativ ist eine Verschlechterung<br />
eingetreten. Das soziale Elend ist größer gewor<strong>de</strong>n . . . Relativ verelen<strong>de</strong>n<br />
die Arbeiter“. 1 Angenommen selbst, dies wäre wahr, so wür<strong>de</strong> es doch<br />
nichts gegen das kapitalistische System besagen. Wenn <strong>de</strong>r Kapitalismus<br />
die wirtschaftliche Lage aller bessert, dann ist es gleichgültig, daß nicht<br />
alle in <strong>de</strong>m gleichen Maße durch ihn gehoben wer<strong>de</strong>n. Eine<br />
Gesellschaftsordnung ist darum noch nicht schlecht, weil sie <strong>de</strong>m einen<br />
mehr nützt als <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Wenn es mir immer besser geht, was kann es<br />
mir machen, wenn es an<strong>de</strong>ren noch besser geht als mir? Muß man die<br />
kapitalistische Gesellschaftsordnung, die allen immer bessere Bedürfnisbefriedigung<br />
bringt, zerstören, weil einige reich und manche sehr reich<br />
wer<strong>de</strong>n? Es ist daher nicht zu verstehen, wie man es als „logisch<br />
unbestreitbar“ hinstellen kann, daß „eine relative Verelendung <strong>de</strong>r Massen<br />
. . . letzten En<strong>de</strong>s in eine Katastrophe ausmün<strong>de</strong>n müßte“. 2<br />
Kautsky will die marxistische Verelendungstheorie an<strong>de</strong>rs auffassen<br />
als es alle nicht voreingenommenen Leser <strong>de</strong>s „Kapital“ tun müssen. „Das<br />
Wort Elend“, meint er, „kann physisches Elend be<strong>de</strong>uten, es kann aber<br />
auch soziales Elend be<strong>de</strong>uten. Das Elend in ersterem Sinne wird an <strong>de</strong>n<br />
physiologischen Bedürfnissen <strong>de</strong>r Menschen gemessen, die allerdings<br />
nicht überall und zu allen Zeiten dieselben sind, aber doch bei weitem<br />
nicht so große Unterschie<strong>de</strong> aufweisen, wie die sozialen Bedürfnisse,<br />
<strong>de</strong>ren<br />
1 Vgl. Hermann Müller, Karl Marx und die Gewerkschaften, Berlin 1918, S. 82 f.<br />
2 Wie es Ballod, Der Zukunftsstaat, 2. Aufl., Stuttgart 1919, S. 12, macht.
373<br />
Nichtbefriedigung soziales Elend erzeugt. Faßt man das Wort im<br />
physiologischen Sinne auf, dann dürfte allerdings <strong>de</strong>r Marx’sche<br />
Ausspruch unhaltbar sein.“ Doch Marx habe das soziale Elend im Auge<br />
gehabt. 1 Diese Auslegung ist angesichts <strong>de</strong>r Klarheit und Schärfe <strong>de</strong>r<br />
Ausdrucksweise von Marx ein Meisterstück sophistischer Verdrehung; sie<br />
wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n Revisionisten auch entsprechend zurückgewiesen. Dem,<br />
<strong>de</strong>r Marx’ Worte nicht als Offenbarung nimmt, mag es im übrigen<br />
gleichgültig sein, ob die Theorie <strong>de</strong>r sozialen Verelendung schon im<br />
ersten Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>s „Kapital“ enthalten ist, ob sie von Engels herrührt o<strong>de</strong>r<br />
erst von <strong>de</strong>n Neomarxisten aufgestellt wur<strong>de</strong>. Die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Fragen<br />
sind allein die, ob sie haltbar ist und welche Schlußfolgerungen sich aus<br />
ihr ergeben.<br />
Kautsky meint, das Wachstum <strong>de</strong>s Elends im sozialen Sinne wer<strong>de</strong><br />
„von <strong>de</strong>n Bourgeois selbst bezeugt, nur haben sie <strong>de</strong>r Sache einen an<strong>de</strong>ren<br />
Namen gegeben; sie benennen sie Begehrlichkeit. . . . Das Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
ist die Tatsache, daß <strong>de</strong>r Gegensatz zwischen <strong>de</strong>n Bedürfnissen <strong>de</strong>r<br />
Lohnarbeiter und <strong>de</strong>r Möglichkeit, sie aus ihrem Lohne zu befriedigen,<br />
damit aber auch <strong>de</strong>r Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital immer<br />
mehr und mehr wächst“. 2 Doch Begehrlichkeit hat es immer gegeben; sie<br />
ist keine neue Erscheinung. Man kann auch zugeben, daß sie heute größer<br />
ist als zuvor; das allgemeine Streben nach Besserung <strong>de</strong>r wirtschaftlichen<br />
Lage ist gera<strong>de</strong> ein charakteristisches Merkmal <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaft. Es ist aber nicht einzusehen, wie man daraus schließen kann,<br />
daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung notwendig in die<br />
sozialistische umschlagen muß.<br />
In <strong>de</strong>r Tat ist die Lehre von <strong>de</strong>r relativen und sozialen Verelendung<br />
nichts an<strong>de</strong>res als ein Versuch, <strong>de</strong>r Ressentiment-Politik <strong>de</strong>r Massen eine<br />
nationalökonomische Verbrämung zu geben. Soziale Verelendung hat<br />
nichts an<strong>de</strong>res zu be<strong>de</strong>uten als Wachstum <strong>de</strong>s Nei<strong>de</strong>s. Zwei <strong>de</strong>r besten<br />
Kenner <strong>de</strong>r menschlichen Seele, Man<strong>de</strong>ville und Hume, haben aber<br />
beobachtet, daß die Stärke <strong>de</strong>s Nei<strong>de</strong>s von <strong>de</strong>m Abstan<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Nei<strong>de</strong>rs zum<br />
Benei<strong>de</strong>ten abhängt. Wenn <strong>de</strong>r Abstand zu groß ist, dann entstehe kein<br />
Neid, weil man sich mit <strong>de</strong>m Bevorzugten überhaupt nicht vergleiche. Je<br />
geringer <strong>de</strong>r Abstand, <strong>de</strong>sto stärker <strong>de</strong>r Neid. 3 So ergibt sich, daß gera<strong>de</strong><br />
aus <strong>de</strong>m<br />
1 Vgl. Kautsky, Bernstein und das Sozial<strong>de</strong>mokratische Programm, a. a. O., S. 116.<br />
2 Ebendort, S. 120.<br />
3 Vgl. Hume, A Treatise of Human Nature (Philosophical Works, ed. by Green and<br />
Grose, London 1874), Vol. II, S. 162 f.; Man<strong>de</strong>ville, Bienenfabel, herg. v. Bobertag,<br />
München 1914, S. 123. - Schatz (L’Individualisme économique et social, Paris 1907, S.
374<br />
Anwachsen <strong>de</strong>r Ressentiment-Gefühle in <strong>de</strong>n Massen auf die Vermin<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Einkommensunterschie<strong>de</strong> geschlossen wer<strong>de</strong>n kann. Die<br />
steigen<strong>de</strong> „Begehrlichkeit“ ist nicht, wie Kautsky meint, ein Beweis für<br />
die relative Verelendung; sie zeigt im Gegenteil, daß <strong>de</strong>r ökonomische<br />
Abstand zwischen <strong>de</strong>n Schichten abnimmt.<br />
V.<br />
Das Monopol und seine Wirkungen.<br />
§ 1. Kein an<strong>de</strong>rer Teil <strong>de</strong>r Katallaktik ist so sehr mißverstan<strong>de</strong>n<br />
wor<strong>de</strong>n wie die Lehre vom Monopol. Schon die bloße Nennung <strong>de</strong>s<br />
Wortes Monopol pflegt Empfindungen auszulösen, die je<strong>de</strong> klare Erwägung<br />
unmöglich machen und an Stelle nationalökonomischer Gedankengänge<br />
die üblichen ethischen Ausführungen <strong>de</strong>r etatistischen und<br />
sonstigen antikapitalistischen Literatur treten lassen. Selbst in <strong>de</strong>n<br />
Vereinigten Staaten hat <strong>de</strong>r Kampf, <strong>de</strong>r um das Trustproblem tobt, es<br />
vermocht, die ruhige Erörterung <strong>de</strong>s Monopolproblems zu stören.<br />
Die weit verbreitete Auffassung, daß es <strong>de</strong>m Monopolisten freistehe,<br />
die Preise nach Belieben festzusetzen, daß er, wie man sich auszudrücken<br />
pflegt, die Preise diktieren könne, ist ebenso unrichtig wie die daraus<br />
gezogene Schlußfolgerung, daß <strong>de</strong>r Monopolist damit eine Macht in<br />
Hän<strong>de</strong>n habe, mit <strong>de</strong>r er alles, was er will, erreichen könne. In dieser<br />
Stellung wür<strong>de</strong> sich <strong>de</strong>r Monopolist nur dann befin<strong>de</strong>n, wenn das<br />
Monopolgut seiner ganzen Art nach aus <strong>de</strong>m Kreise <strong>de</strong>r übrigen Güter<br />
herausfiele. Wer die atmosphärische Luft o<strong>de</strong>r das genießbare Wasser<br />
monopolisieren wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r könnte freilich damit alle an<strong>de</strong>ren Menschen<br />
zu allem und zu je<strong>de</strong>m zwingen. Einem solchen Monopol gegenüber<br />
wür<strong>de</strong> es überhaupt keinen Tauschverkehr und kein Wirtschaften geben.<br />
Sein Inhaber wür<strong>de</strong> über das Leben und über allen Besitz seiner<br />
Mitmenschen frei verfügen können. Doch solche Monopole kommen für<br />
unsere Monopollehre nicht in Betracht. Wasser und Luft sind überhaupt<br />
freie Güter, und wo sie es nicht sind - wie das Wasser auf <strong>de</strong>m Gipfel<br />
eines Berges - könnte man sich <strong>de</strong>r Monopolwirkung durch Ortswechsel<br />
entziehen.<br />
73, Anm. 2) nennt diese Erkenntnis eine „idée fondamentale pour bien comprendre la<br />
cause profon<strong>de</strong> <strong>de</strong>s antagonismes sociaux“.
375<br />
Vielleicht hat die Verwaltung <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>nmittel <strong>de</strong>r mittelalterlichen<br />
Kirche <strong>de</strong>n Gläubigen gegenüber die Stellung eines solchen Monopolisten<br />
verschafft. Für <strong>de</strong>n Gläubigen waren Exkommunikation und Interdikt<br />
nicht weniger fürchterlich als Tod durch Verdursten o<strong>de</strong>r Ersticken. Im<br />
sozialistischen Gemeinwesen wür<strong>de</strong> ein <strong>de</strong>rartiges Monopol <strong>de</strong>r<br />
organisierten Gesellschaft, <strong>de</strong>s Staates, bestehen. Da hier alle wirtschaftlichen<br />
Güter in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Staates vereinigt sind, wür<strong>de</strong> er die Macht<br />
haben, vom Bürger alles, was er will, zu erzwingen. Den Einzelnen wür<strong>de</strong><br />
das Gebot <strong>de</strong>s Staates vor die Wahl stellen können, entwe<strong>de</strong>r zu<br />
gehorchen o<strong>de</strong>r zu verhungern.<br />
Die Monopole, mit <strong>de</strong>nen wir es hier allein zu tun haben, sind<br />
Monopole <strong>de</strong>s Tauschverkehrs. Sie betreffen nur wirtschaftliche Güter,<br />
die, mögen sie noch so wichtig und unentbehrlich scheinen, doch nicht für<br />
sich allein über das menschliche Leben entschei<strong>de</strong>n. Wenn ein Gut, von<br />
<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>rmann, <strong>de</strong>r das Leben bewahren will, eine bestimmte<br />
Min<strong>de</strong>stmenge besitzen muß, einem Monopol unterliegt, dann treten in<br />
<strong>de</strong>r Tat alle jene Folgen ein, die die volkstümliche Monopoltheorie bei<br />
je<strong>de</strong>m Monopol als gegeben ansieht. Wir aber haben gera<strong>de</strong> davon nicht<br />
zu sprechen, weil dieser Fall, <strong>de</strong>r ganz aus <strong>de</strong>m Rahmen <strong>de</strong>r Wirtschaft<br />
und mithin auch <strong>de</strong>r Preistheorie herausfällt - von <strong>de</strong>m Falle <strong>de</strong>s<br />
Arbeiterausstan<strong>de</strong>s in bestimmten Betrieben abgesehen - keine praktische<br />
Be<strong>de</strong>utung hat. Man pflegt zwar bei <strong>de</strong>r Besprechung <strong>de</strong>r Wirkungen <strong>de</strong>s<br />
Monopols mitunter die lebenswichtigen und die nicht lebenswichtigen<br />
Güter zu son<strong>de</strong>rn. Doch diese vermeintlich unentbehrlichen und<br />
lebenswichtigen Güter, um die es sich hier han<strong>de</strong>lt, sind eben strenggenommen<br />
nicht lebenswichtig und unentbehrlich. Auf die Strenge <strong>de</strong>s<br />
Begriffs <strong>de</strong>r Unentbehrlichkeit kommt es aber hier, wo alles weitere auf<br />
ihm aufgebaut ist, vor allem an. In Wahrheit sind die Güter, mit <strong>de</strong>nen wir<br />
es zu tun haben, Güter, die entbehrlich sind, sei es, weil man auf <strong>de</strong>n<br />
Genuß, <strong>de</strong>n sie gewähren, überhaupt verzichten kann, sei es, weil man<br />
sich ihn auch durch ein an<strong>de</strong>res Gut vermitteln kann. Brot ist gewiß ein<br />
wichtiges Gut. Doch man kann auch ohne Brot leben, man kann sich zum<br />
Beispiel von Kartoffeln o<strong>de</strong>r von Maiskuchen nähren. Die Kohle ist heute<br />
so wichtig, daß man sie das Brot <strong>de</strong>r Industrie nennen könnte. Doch<br />
unentbehrlich im strengen Sinne <strong>de</strong>s Wortes ist sie nicht; man kann Kraft<br />
und Wärme auch ohne Kohle erzeugen. Und das ist es, worauf alles<br />
ankommt. Der Monopolbegriff, wie wir ihn in <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s<br />
Monopolpreises allein ins Auge zu fassen haben und
376<br />
wie er allein für die praktische Verwertung zur Erkenntnis <strong>de</strong>r volkswirtschaftlichen<br />
Zustän<strong>de</strong> verwendbar ist, schließt eben die Unentbehrlichkeit,<br />
Einzigartigkeit und Nichtsurrogierbarkeit <strong>de</strong>s Monopolgutes nicht<br />
ein. Er verlangt nur das Fehlen <strong>de</strong>s Wettbewerbes auf <strong>de</strong>r Angebotseite. 1<br />
Von jener unzutreffen<strong>de</strong>n Vorstellung über das Wesen <strong>de</strong>s Monopols<br />
ausgehend, glaubt man schon durch <strong>de</strong>n Hinweis auf das Bestehen eines<br />
Monopolverhältnisses die Preiserscheinungen erklären zu können, ohne<br />
sich erst auf eine weitere Untersuchung einlassen zu müssen. Nach<strong>de</strong>m<br />
man einmal festgestellt hat, daß <strong>de</strong>r Monopolist die Preise „diktiere“, daß<br />
er in <strong>de</strong>m Bestreben, die Preise so hoch als möglich hinaufzusetzen, nur<br />
durch eine „Macht“ beschränkt wer<strong>de</strong>n könne, die ihm, von außen her auf<br />
<strong>de</strong>n Markt wirkend, gegenübertritt, <strong>de</strong>hnt man <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Monopols<br />
durch Einbeziehung aller nicht vermehrbaren o<strong>de</strong>r nur mit steigen<strong>de</strong>n<br />
Kosten vermehrbaren Güter soweit aus, daß die Mehrzahl <strong>de</strong>r Preiserscheinungen<br />
darunter fällt, und glaubt sich dann <strong>de</strong>r Notwendigkeit, eine<br />
Preistheorie auszuarbeiten, enthoben. So glauben viele, von einem Bo<strong>de</strong>nmonopol<br />
<strong>de</strong>r Grundbesitzer sprechen zu dürfen, und meinen, durch <strong>de</strong>n<br />
Hinweis auf das Bestehen dieses Monopolverhältnisses das Problem <strong>de</strong>r<br />
Grundrente gelöst zu haben. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>r gehen noch weiter und wollen<br />
auch Zins, Unternehmergewinn, ja selbst <strong>de</strong>n Arbeitslohn als Monopolpreise<br />
und Monopolgewinne erklären. Ganz abgesehen von allen an<strong>de</strong>ren<br />
Mängeln, die diesen „Erklärungen“ anhaften, fehlt ihnen die Erkenntnis,<br />
daß mit <strong>de</strong>m Hinweis auf ein angeblich bestehen<strong>de</strong>s Monopol noch nichts<br />
über das Wesen <strong>de</strong>r Preisbildung gesagt ist, daß daher das Schlagwort<br />
Monopol noch keinen Ersatz für eine ausgearbeitete Preistheorie darstellt. 2<br />
Die Gesetze, unter <strong>de</strong>nen die Bildung <strong>de</strong>r Monopolpreise steht, sind<br />
von <strong>de</strong>nen, die die Bildung an<strong>de</strong>rer Preise bestimmen, nicht verschie<strong>de</strong>n.<br />
Auch <strong>de</strong>r Monopolist kann nicht nach Belieben je<strong>de</strong>n Preis for<strong>de</strong>rn. Auch<br />
die Preisfor<strong>de</strong>rungen, mit <strong>de</strong>nen er <strong>de</strong>n Markt betritt, wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n<br />
Nachfragen<strong>de</strong>n durch ein bestimmtes Verhalten<br />
1 Da es sich bei diesen Ausfübrungen nicht darum han<strong>de</strong>ln kann, eine Theorie <strong>de</strong>s<br />
Monopolpreises zu geben, wird allein das Angebotsmonopol untersucht.<br />
2 Vgl. Ely, Monopolies and Trusts, New York 1900, S. 11 ff. - Auch Vogelstein (a. a.<br />
O., S. 231) und ihm folgend die Deutsche Sozialisierungskommission (a. a. O., S. 31 f.)<br />
gehen von einem Begriff <strong>de</strong>s Monopols aus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n von Ely kritisierten und von <strong>de</strong>r<br />
Preistheorie <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Schule allgemein aufgegebenen Anschauungen sehr nahe<br />
kommt.
377<br />
erwi<strong>de</strong>rt; auch ihnen gegenüber sinkt o<strong>de</strong>r steigt die Nachfrage. Darauf<br />
muß <strong>de</strong>r Monopolist Rücksicht nehmen, gera<strong>de</strong>so wie es an<strong>de</strong>re Verkäufer<br />
beachten müssen. Das Beson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>s Monopols ist allein das, daß unter<br />
bestimmten Voraussetzungen - bei einer bestimmten Gestaltung <strong>de</strong>r<br />
Nachfragekurve - das Maximum an Reingewinn bei einem höheren Preis<br />
liegt als bei jenem, <strong>de</strong>r sich beim Wettbewerb <strong>de</strong>r Verkäufer<br />
herausgebil<strong>de</strong>t hätte. Das allein und nichts an<strong>de</strong>res ist das Beson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>s<br />
Monopolpreises. 1<br />
Sind diese Voraussetzungen gegeben und ist es <strong>de</strong>m Monopolisten<br />
nicht möglich, zu verschie<strong>de</strong>nen Preisen zu verkaufen, so daß er die<br />
verschie<strong>de</strong>ne Kaufkraft je<strong>de</strong>r einzelnen Käuferschichte ausnützen kann,<br />
dann ist für ihn <strong>de</strong>r Verkauf zu <strong>de</strong>m höheren Monopolpreis lohnen<strong>de</strong>r als<br />
<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m niedrigeren Konkurrenzpreis, wenn auch <strong>de</strong>r Absatz dadurch<br />
vermin<strong>de</strong>rt wird. Die Wirkung <strong>de</strong>s Monopols ist somit unter Zutreffen <strong>de</strong>r<br />
erwähnten Voraussetzung eine dreifache: Der Marktpreis ist höher, <strong>de</strong>r<br />
Verkauf bringt einen höheren Gewinn, <strong>de</strong>r Absatz und mithin auch <strong>de</strong>r<br />
Verbrauch sind geringer, als es bei freier Konkurrenz gewesen wäre.<br />
Von diesen Wirkungen <strong>de</strong>s Monopols muß zunächst die letztgenannte<br />
noch genauer umschrieben wer<strong>de</strong>n. Sind vom Monopolgut mehr Einheiten<br />
vorhan<strong>de</strong>n, als zum Monopolpreis abgesetzt wer<strong>de</strong>n können, dann muß<br />
<strong>de</strong>r Monopolist so viele davon vom Markte fernhalten - sei es, daß er sie<br />
einsperrt, sei es, daß er sie vernichtet - daß die zum Verkaufe gelangen<strong>de</strong><br />
Menge noch zum Monopolpreis abgesetzt wer<strong>de</strong>n kann. So hat die<br />
nie<strong>de</strong>rländisch-ostindische Kompagnie, die im 17. Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>n<br />
europäischen Kaffeemarkt monopolisierte, Kaffeevorräte vernichten lassen;<br />
so haben Monopolisten immer gehan<strong>de</strong>lt, z. B. auch die griechische<br />
Regierung, die Korinthen vernichten ließ, um <strong>de</strong>n Korinthenpreis erhöhen<br />
zu können. Über die volkswirtschaftliche Beurteilung dieser Vorgänge<br />
kann es nur eine Meinung geben: sie vermin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bedürfnisbefriedigung<br />
dienen<strong>de</strong>n Vorrat, sie erzeugen Wohlstandsabnahme,<br />
Verschlechterung <strong>de</strong>r Versorgung. Daß Güter, die Bedürfnisse hätten<br />
befriedigen können, vernichtet wer<strong>de</strong>n, daß Nahrungsmittel, die <strong>de</strong>n<br />
Hunger Vieler hätten stillen können, <strong>de</strong>m Untergang überliefert wer<strong>de</strong>n,<br />
kann man nur in einer Weise beurteilen, und die volkstümliche Verurteilung<br />
dieses Vorganges <strong>de</strong>ckt sich hier ausnahmsweise einmal mit <strong>de</strong>r<br />
Einsicht <strong>de</strong>s Nationalökonomen.<br />
1 Vgl. Carl Menger, Grundsätze <strong>de</strong>r Volkswirtschaftslehre, Wien 1871, 8. 195 ff.;<br />
ferner Forchheimer, Theoretisches zum unvollständigen Monopole (Schmoller’s Jahrbuch,<br />
XXXII) S. 3 ff.
378<br />
Doch die Zerstörung von wirtschaftlichen Gütern ist auch im<br />
Geschäfte <strong>de</strong>r Monopolisten nur ein seltener Fall. Der rechnen<strong>de</strong><br />
Monopolist erzeugt nicht Güter, um sie nachher zu zerstören. Er drosselt<br />
schon rechtzeitig die Erzeugung, wenn er weniger Waren abzusetzen<br />
gewillt ist. Nicht unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkte <strong>de</strong>r Zerstörung von Gütern,<br />
son<strong>de</strong>rn unter <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Einschränkung <strong>de</strong>r Produktion ist das<br />
Monopolproblem zu betrachten.<br />
§ 2. Ob <strong>de</strong>r Monopolist seine Stellung überhaupt ausnützen kann,<br />
hängt von <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Nachfragekurve <strong>de</strong>s Monopolgutes und von<br />
<strong>de</strong>n Kosten ab, die mit <strong>de</strong>r Erzeugung einer Einheit <strong>de</strong>s Monopolgutes bei<br />
<strong>de</strong>m jeweils in Frage kommen<strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>r Produktion verbun<strong>de</strong>n<br />
sind. Nur wenn diese Bedingungen so gestaltet sind, daß <strong>de</strong>r Absatz eines<br />
kleineren Quantums zu höheren Preisen mehr Reingewinn bringt als <strong>de</strong>r<br />
Absatz eines größeren zu niedrigeren Preisen, ist die Möglichkeit <strong>de</strong>r<br />
Anwendung <strong>de</strong>s spezifischen Monopolistengrundsatzes gegeben. Doch er<br />
gelangt nur dann zur Anwendung, wenn es <strong>de</strong>m Monopolisten nicht<br />
möglich ist, einen an<strong>de</strong>ren Weg einzuschlagen, <strong>de</strong>r ihm noch höhere<br />
Gewinne in Aussicht stellt. Kann <strong>de</strong>r Monopolist die Nachfragen<strong>de</strong>n nach<br />
ihrer Kaufkraft in Schichten son<strong>de</strong>rn, so daß er unter Ausnützung <strong>de</strong>r<br />
Kaufkraft je<strong>de</strong>r einzelnen Schichte von ihren Mitglie<strong>de</strong>rn die höchsten<br />
erzielbaren Preise for<strong>de</strong>rt, so entspricht dies seinem Interesse am besten.<br />
In dieser Lage sind die Eisenbahnen und an<strong>de</strong>re Verkehrsanstalten, die<br />
ihre Tarife nach <strong>de</strong>r Belastungsfähigkeit <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen zur<br />
Beför<strong>de</strong>rung gelangen<strong>de</strong>n Waren abstufen. Wür<strong>de</strong>n sie nach sonstiger<br />
Monopolistenart alle Verfrächter einheitlich behan<strong>de</strong>ln, dann wür<strong>de</strong>n die<br />
weniger belastungsfähigen Güter von <strong>de</strong>r Beför<strong>de</strong>rung überhaupt<br />
ausgeschlossen wer<strong>de</strong>n, während für die höhere Belastung vertragen<strong>de</strong><br />
Güter die Beför<strong>de</strong>rung verbilligt wür<strong>de</strong>. Es ist klar, wie dies auf die<br />
örtliche Verteilung <strong>de</strong>r Industrie wirken müßte; unter <strong>de</strong>n Elementen, die<br />
<strong>de</strong>n natürlichen Standort <strong>de</strong>r einzelnen Gewerbe bestimmen, wür<strong>de</strong>n die<br />
<strong>de</strong>r Transportorientierung in an<strong>de</strong>rer Weise zur Geltung kommen.<br />
Um die volkswirtschaftlichen Wirkungen <strong>de</strong>s Monopols zu untersuchen,<br />
hat man sich auf jenen Fall zu beschränken, in <strong>de</strong>m eine<br />
Einschränkung <strong>de</strong>r Erzeugung <strong>de</strong>s Monopolgutes stattfin<strong>de</strong>t. Die Folgen<br />
dieser Einschränkung <strong>de</strong>r Erzeugung eines bestimmten wirtschaftlichen<br />
Gutes ist nun natürlich nicht die, daß überhaupt weniger erzeugt wird.<br />
Kapital und Arbeit, die durch die Einschränkung <strong>de</strong>r Erzeugung frei<br />
wer<strong>de</strong>n, müssen in an<strong>de</strong>rer Produktion Verwendung
379<br />
fin<strong>de</strong>n. Denn in <strong>de</strong>r statischen Wirtschaft gibt es we<strong>de</strong>r unbeschäftigte<br />
Kapitalien noch unbeschäftigte Arbeitskraft. Der Min<strong>de</strong>rerzeugung <strong>de</strong>s<br />
Monopolgutes steht mithin die Mehrerzeugung an<strong>de</strong>rer Güter gegenüber.<br />
Nur freilich: das sind weniger wichtige Güter, sie wür<strong>de</strong>n nicht erzeugt<br />
und verwen<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n sein, wenn man das dringen<strong>de</strong>re Bedürfnis nach<br />
weiteren Einheiten <strong>de</strong>s Monopolgutes hätte befriedigen können. Die<br />
Differenz zwischen <strong>de</strong>m Werte dieser Güter und <strong>de</strong>m höheren <strong>de</strong>r<br />
nichterzeugten Menge <strong>de</strong>s Monopolgutes stellt die Wohlstandseinbuße<br />
dar, die die Volkswirtschaft durch das Monopol erlei<strong>de</strong>t. Hier fallen<br />
privatwirtschaftliche Rentabilität und volkswirtschaftliche Produktivität<br />
nicht zusammen. Eine sozialistische Gesellschaftsordnung wür<strong>de</strong> an<strong>de</strong>rs<br />
verfahren, als es in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaft geschieht.<br />
Man hat mitunter darauf hingewiesen, daß, wenn das Monopol auch so<br />
auf <strong>de</strong>r einen Seite zum Nachteil <strong>de</strong>s Verbrauchers ausschlägt, es auf <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren Seite doch auch für ihn von Vorteil sein könne. Das Monopol<br />
könne billiger produzieren, weil bei ihm alle Spesen, die mit <strong>de</strong>m<br />
Wettbewerb verbun<strong>de</strong>n sind, wegfallen, und weil es als spezialisierte<br />
Produktion im größten Maßstabe, <strong>de</strong>r für die Erzeugung möglich ist, alle<br />
Vorteile <strong>de</strong>r Arbeitsteilung im höchsten Maße genießt. Doch das än<strong>de</strong>rt<br />
nichts an <strong>de</strong>r Tatsache, daß die Produktion von wichtigeren auf min<strong>de</strong>rwichtige<br />
Produkte gelenkt wird. Es mag vielleicht zutreffen, wie von <strong>de</strong>n<br />
Verteidigern <strong>de</strong>r Trusts immer wie<strong>de</strong>r ins Treffen geführt wird, daß <strong>de</strong>r<br />
Monopolist, <strong>de</strong>r seinen Gewinn an<strong>de</strong>rs nicht mehr erhöhen kann, sein<br />
Augenmerk auf die Verbesserung <strong>de</strong>r Produktionstechnik lenken wird,<br />
wenngleich nicht einzusehen ist, warum <strong>de</strong>r Anreiz dazu bei ihm größer<br />
sein sollte als bei <strong>de</strong>m im Wettbewerb stehen<strong>de</strong>n Produzenten. Doch mit<br />
allen diesen Feststellungen wer<strong>de</strong>n die Behauptungen über die statischen<br />
Wirkungen <strong>de</strong>s Monopols nicht berührt.<br />
§ 3. Die Möglichkeit, <strong>de</strong>n Markt zu monopolisieren, ist bei <strong>de</strong>n<br />
einzelnen Waren durchaus verschie<strong>de</strong>n. Auch wer konkurrenzlos als<br />
einziger Verkäufer dasteht, muß darum noch nicht in <strong>de</strong>r Lage sein, zu<br />
Monopolpreisen zu verkaufen und Monopolgewinne zu erzielen. Wenn<br />
<strong>de</strong>r Absatz <strong>de</strong>r Ware, die er zu verkaufen hat, mit <strong>de</strong>m Steigen <strong>de</strong>r Preise<br />
so schnell sinkt, daß <strong>de</strong>r beim Verkauf erzielte Mehrerlös nicht hinreicht,<br />
um <strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Rückgang <strong>de</strong>s Absatzes entstehen<strong>de</strong>n Ausfall zu<br />
<strong>de</strong>cken, dann ist <strong>de</strong>r Monopolist genötigt, sich mit <strong>de</strong>m Preise zu<br />
begnügen, <strong>de</strong>r sich beim Wettbewerb <strong>de</strong>r Verkäufer gebil<strong>de</strong>t hätte.
380<br />
Ein Monopol kann - von <strong>de</strong>r künstlichen, durch gesellschaftliche<br />
Verhältnisse, wie zum Beispiel durch staatliche Privilegien bewirkten<br />
Monopolisierung abgesehen - in <strong>de</strong>r Regel nur durch die ausschließliche<br />
Verfügung über natürliche Produktionsfaktoren bestimmter Art begrün<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n. Die ausschließliche Verfügung über produzierte und reproduzierbare<br />
Produktionsmittel bestimmter Art kann in <strong>de</strong>r Regel nicht zur<br />
dauern<strong>de</strong>n Monopolisierung <strong>de</strong>s Marktes führen. Es können immer neue<br />
Unternehmungen auftauchen. Die fortschreiten<strong>de</strong> Arbeitsteilung strebt,<br />
wie schon gezeigt wur<strong>de</strong>, einem Zustand zu, in <strong>de</strong>m bei höchster<br />
Spezialisierung <strong>de</strong>r Erzeugung je<strong>de</strong>rmann alleiniger Erzeuger eines o<strong>de</strong>r<br />
einer Anzahl von Artikeln wird. Doch damit wäre noch lange nicht ein<br />
Zustand hergestellt, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Markt aller dieser Artikel monopolisiert<br />
wer<strong>de</strong>n könnte. Die Versuche <strong>de</strong>r verarbeiten<strong>de</strong>n Unternehmungen,<br />
Monopolpreise zu for<strong>de</strong>rn, wür<strong>de</strong>n, ganz abgesehen von an<strong>de</strong>ren<br />
Umstän<strong>de</strong>n schon daran scheitern, daß neue Konkurrenten auf <strong>de</strong>n Plan zu<br />
treten vermögen.<br />
Die Erfahrungen, die man im letzten Menschenalter mit Kartellen und<br />
Trusts gemacht hat, bestätigen dies durchaus. Alle dauern<strong>de</strong>n monopolistischen<br />
Gebil<strong>de</strong> sind auf <strong>de</strong>r monopolistischen Verfügung über<br />
Bo<strong>de</strong>nschätze o<strong>de</strong>r über Bo<strong>de</strong>n bestimmter Lage aufgebaut. Wer ohne die<br />
Grundlage eines Bo<strong>de</strong>nmonopols Monopolist wer<strong>de</strong>n wollte, mußte -<br />
wenn ihm nicht Rechtsverhältnisse beson<strong>de</strong>rer Art wie Zölle, Patente u.<br />
dgl. in irgen<strong>de</strong>iner Weise zu Hilfe kamen - zu Kunstgriffen aller Art seine<br />
Zuflucht nehmen, um sich auch nur für vorübergehen<strong>de</strong> Zeit eine<br />
monopolartige Stellung zu sichern. Die Beschwer<strong>de</strong>n, die gegen die<br />
Kartelle und gegen die Trusts vorgebracht wer<strong>de</strong>n und die bän<strong>de</strong>reichen<br />
Untersuchungen <strong>de</strong>r Enquetekommissionen beschäftigen, betreffen fast<br />
durchwegs diese Praktiken und Kniffe, durch die künstlich Monopole<br />
geschaffen wer<strong>de</strong>n sollten, wo <strong>de</strong>r freie Verkehr die Voraussetzungen<br />
dazu nicht bot.<br />
Ohne monopolistische Verfügung über Bo<strong>de</strong>nschätze o<strong>de</strong>r über Bo<strong>de</strong>n<br />
bestimmter Lage könnten Monopole nur dort entstehen, wo die zur<br />
Errichtung eines Konkurrenzunternehmens erfor<strong>de</strong>rlichen Kapitalien nicht<br />
auf entsprechen<strong>de</strong> Rentabilität rechnen können. Eine Eisenbahnunternehmung<br />
kann eine Monopolstellung erlangen, wenn die Errichtung einer<br />
konkurrieren<strong>de</strong>n Linie nicht rentabel erscheint, weil <strong>de</strong>r Verkehr nicht<br />
groß genug ist, um zwei Linien rentabel erscheinen zu lassen. Ähnlich<br />
können die Dinge auch in an<strong>de</strong>ren Fällen liegen. Doch das be<strong>de</strong>utet nur,<br />
daß einzelne Monopole solcher Art möglich sind; es be<strong>de</strong>utet durchaus<br />
nicht, daß eine allgemeine Ten<strong>de</strong>nz zur Monopolbildung besteht.
381<br />
Wo diese Voraussetzung zutrifft, wo also eine Eisenbahngesellschaft<br />
o<strong>de</strong>r ein elektrisches Kraftwerk eine Monopolstellung erlangt, äußert sich<br />
die Wirkung darin, daß es diesem Monopolisten je nach <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren<br />
Umstän<strong>de</strong>n gelingen kann, einen größeren o<strong>de</strong>r kleineren Teil <strong>de</strong>r<br />
Grundrente <strong>de</strong>r anliegen<strong>de</strong>n Grundstücke an sich zu ziehen. Das mag<br />
Verschiebungen <strong>de</strong>r Einkommens- und Vermögensverhältnisse zur Folge<br />
haben, die - zumin<strong>de</strong>st von <strong>de</strong>n davon unmittelbar Betroffenen – unliebsam<br />
empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
§ 4. Das Gebiet, das <strong>de</strong>m Monopol in einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsordnung offen steht, ist<br />
das <strong>de</strong>r spezifischen Urproduktion. Monopole bestimmter Zweige <strong>de</strong>r<br />
Urproduktion sind möglich. Der Bergbau (im weitesten Sinne <strong>de</strong>s Wortes)<br />
ist die eigentliche Domäne <strong>de</strong>s Monopols. Wo wir heute Monopolgebil<strong>de</strong><br />
kennen, die nicht <strong>de</strong>r staatlichen Einmischung ihren Bestand verdanken,<br />
han<strong>de</strong>lt es sich - wenn wir von <strong>de</strong>m eben an <strong>de</strong>m Beispiel einer Eisenbahn<br />
o<strong>de</strong>r eines Kraftwerkes erörterten Fall absehen - immer um Organisationen,<br />
die auf <strong>de</strong>r alleinigen Verfügung über Bo<strong>de</strong>nschätze bestimmter Art<br />
aufgebaut sind. Nur in <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung von Bo<strong>de</strong>nschätzen, die nur an<br />
verhältnismäßig wenigen Orten vorkommen, können Monopole entstehen.<br />
Ein Weltmonopol <strong>de</strong>r Kartoffelbauern o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Milchproduzenten ist<br />
un<strong>de</strong>nkbar; 1 <strong>de</strong>nn auf <strong>de</strong>m größten Teil <strong>de</strong>r Erdoberfläche kann man<br />
Kartoffel und Milch o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st Ersatzstoffe erzeugen. Weltmonopole<br />
<strong>de</strong>s Erdöls, <strong>de</strong>s Quecksilbers, <strong>de</strong>s Zinks, <strong>de</strong>s Nickels u. a. Stoffe sind<br />
durch Zusammenschluß <strong>de</strong>r Besitzer <strong>de</strong>r seltenen Fundstätten leicht<br />
herzustellen; die Geschichte <strong>de</strong>r letzten Zeit bietet dafür genug Beispiele.<br />
Entsteht nun ein <strong>de</strong>rartiges Monopol, dann tritt an Stelle <strong>de</strong>s<br />
Konkurrenzpreises <strong>de</strong>r höhere Monopolpreis. Das Einkommen <strong>de</strong>r<br />
Besitzer <strong>de</strong>r Bergwerke steigt, Produktion und Konsum ihres Erzeugnisses<br />
sinken. Eine Menge von Kapital und Arbeit, die sonst in diesem Zweige<br />
<strong>de</strong>r Produktion tätig gewesen wäre, wird an<strong>de</strong>ren Produktionen zugeführt.<br />
Betrachtet man die Wirkungen <strong>de</strong>s Monopols vom Standpunkte <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Weltwirtschaft, dann sieht man nur die Erhöhung<br />
<strong>de</strong>s Einkommens <strong>de</strong>r Monopolisten und die ihm gegenüberstehen<strong>de</strong><br />
Verringerung <strong>de</strong>s Einkommens aller übrigen Glie<strong>de</strong>r. Betrachtet man sie<br />
jedoch vom Standpunkte <strong>de</strong>r Weltwirtschaft und sub specie aeternitatis,<br />
dann ent<strong>de</strong>ckt man, daß<br />
1<br />
An<strong>de</strong>rs liegt es schon bei landwirtschaftlichen Produktionen, die nur auf<br />
verhältnismäßig beschränktem Bo<strong>de</strong>n ge<strong>de</strong>ihen, zum Beispiel beim Kaffeebau.
382<br />
sie sparsamen Verbrauch <strong>de</strong>r nicht ersetzbaren Naturschätze bewirken.<br />
Daß im Bergbau Monopolpreise vielfach an Stelle <strong>de</strong>r Konkurrenzpreise<br />
treten, hat zur Folge, daß man mit <strong>de</strong>n kostbaren Bo<strong>de</strong>nschätzen<br />
ökonomischer umgeht. Die Monopole drängen die Menschen dazu, sich<br />
weniger mit <strong>de</strong>r Gewinnung von Bo<strong>de</strong>nschätzen und mehr mit ihrer<br />
Verarbeitung zu befassen. Je<strong>de</strong>r Bergwerkbetrieb ist ein Aufzehren von<br />
nicht zu ersetzen<strong>de</strong>n Teilen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Menschen von <strong>de</strong>r Natur<br />
mitgegebenen Ausstattung; je weniger die Menschen diesen Vorrat<br />
angreifen, <strong>de</strong>sto besser sorgen sie für die Wirtschaft <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n<br />
Geschlechter. Wir erkennen nun, was es zu be<strong>de</strong>uten hat, wenn man in<br />
<strong>de</strong>m Falle <strong>de</strong>s Monopols einen Gegensatz zwischen volkswirtschaftlicher<br />
Produktivität und privatwirtschaftlicher Rentabilität erblickt. Es ist richtig,<br />
daß eine sozialistische <strong>Gemeinwirtschaft</strong> keine Veranlassung hätte, die<br />
Produktion bestimmter Artikel in <strong>de</strong>r Weise einzuschränken, in <strong>de</strong>r es die<br />
kapitalistische Gesellschaftsordnung unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>r Monopolbildung<br />
tut. Doch das wür<strong>de</strong> eben nichts an<strong>de</strong>res be<strong>de</strong>uten als das, daß sie<br />
mit <strong>de</strong>n unersetzlichen Naturschätzen weniger sparsam umgehen wür<strong>de</strong><br />
als die kapitalistische Gesellschaft, daß sie die Zukunft <strong>de</strong>r Gegenwart<br />
opfern wür<strong>de</strong>.<br />
Wenn wir feststellen, daß das Monopol einen Gegensatz von<br />
Rentabilität und Produktivität entstehen läßt, <strong>de</strong>r sonst nirgends zu<br />
ent<strong>de</strong>cken ist, so ist damit noch nicht gesagt, daß das Monopol unwirtschaftlich<br />
sei. Die naive Annahme, als ob das Verhalten <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
<strong>Gemeinwirtschaft</strong> - <strong>de</strong>nn das ist die Richtschnur, die <strong>de</strong>r Vorstellung<br />
<strong>de</strong>r Produktivität zugrun<strong>de</strong> liegt - das absolut Gute wäre, ist durchaus<br />
willkürlich. Wir haben keinen Maßstab, <strong>de</strong>r uns ermöglichen wür<strong>de</strong>,<br />
darüber, was hier gut und schlecht ist, eine allgemein gültige Entscheidung<br />
zu treffen.<br />
Betrachtet man in dieser Weise die Wirkungen <strong>de</strong>s Monopols ohne die<br />
Voreingenommenheit <strong>de</strong>r volkstümlichen Kartell- und Trustliteratur, so<br />
vermag man nichts zu ent<strong>de</strong>cken, was die Behauptung rechtfertigen<br />
könnte, daß fortschreiten<strong>de</strong> Monopolbildung das kapitalistische System<br />
unmöglich mache. Der Spielraum, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Monopol in <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r<br />
Einmischung <strong>de</strong>s Staates freien kapitalistischen Wirtschaft bleibt, ist viel<br />
enger als jene Literatur anzunehmen pflegt, und die sozialwirtschaftlichen<br />
Folgen <strong>de</strong>r Monopole sind wohl ganz an<strong>de</strong>rs zu beurteilen als es die<br />
Schlagwörter vom Preisdiktat und von <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Trustmagnaten<br />
tun.
IV. Teil.<br />
Der Sozialismus als sittliche<br />
For<strong>de</strong>rung.<br />
I.<br />
Sozialismus und Ethik.<br />
§ 1. Dem reinen Marxismus ist <strong>de</strong>r Sozialismus kein politischer<br />
Programmpunkt. Er for<strong>de</strong>rt ebensowenig die Überführung <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaftsordnung in die sozialistische Form, wie er die liberale<br />
Gesellschaftsordnung verurteilt. Er gibt sich als wissenschaftliche<br />
Theorie, die in <strong>de</strong>n Bewegungsgesetzen <strong>de</strong>r geschichtlichen Entwicklung<br />
die Ten<strong>de</strong>nz zur Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel ent<strong>de</strong>ckt haben<br />
will. Ihm zuzumuten, daß er sich für <strong>de</strong>n Sozialismus ausspricht, daß er<br />
sein Kommen herbeiwünscht o<strong>de</strong>r herbeiführen will, ist ebenso<br />
wi<strong>de</strong>rsinnig als es wäre, <strong>de</strong>r Astronomie zuzumuten, sie wolle eine<br />
Sonnenfinsternis, die sie vorausgesagt hat, herbeiführen o<strong>de</strong>r erachte sie<br />
für wünschenswert. Es ist bekannt, daß das Leben und selbst viele<br />
Schriften und Aussprüche von Marx in schroffem Wi<strong>de</strong>rspruch mit dieser<br />
theoretischen Auffassung stehen, und daß <strong>de</strong>r ethische Ressentiment-<br />
Sozialismus bei ihm immer wie<strong>de</strong>r durchbricht. Seine Anhänger haben<br />
zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r praktischen Politik längst vergessen, was sie <strong>de</strong>r strengen<br />
Lehre schuldig sind. Die Worte und Taten <strong>de</strong>r marxistischen Parteien<br />
gehen weit über das hinaus, was die „Geburtshelfer-Theorie“ noch als<br />
zulässig erscheinen läßt. 1 Doch das ist für unsere Betrachtung, die es hier<br />
mit <strong>de</strong>r<br />
1 Wie wenig die Sozial<strong>de</strong>mokraten sich diese Grundlehre <strong>de</strong>s Marxismus zu eigen<br />
gemacht haben, zeigt schon ein Blick auf ihre Literatur. Kurz und bündig bekennt ein<br />
Führer <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sozial<strong>de</strong>mokratie, <strong>de</strong>r ehemalige <strong>de</strong>utsche Reichswirtschaftsminister<br />
Wissell: „Ich bin Sozialist und wer<strong>de</strong> Sozialist bleiben, <strong>de</strong>nn ich sehe in <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Wirtschaftsverfassung mit ihrer Unterordnung <strong>de</strong>n Einzelnen unter das Ganze <strong>de</strong>n<br />
Ausdruck eines höheren sittlichen Prinzips, als <strong>de</strong>r Individualwirtschaft zugrun<strong>de</strong> liegt“.<br />
(Praktische Wirtschaftspolitik, Berlin 1919, S. 53.)
384<br />
reinen Lehre und nicht mit ihrer Entartung in <strong>de</strong>r Politik <strong>de</strong>s Alltags zu<br />
tun hat, zunächst nebensächlich.<br />
Sieht man von <strong>de</strong>r rein marxistischen Auffassung, nach <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus mit zwingen<strong>de</strong>r Notwendigkeit kommen muß, ab, dann fin<strong>de</strong>t<br />
man zwei Motive, die die Vorkämpfer kommunistischer Gesellschaftsordnung<br />
leiten. Sie sind Sozialisten entwe<strong>de</strong>r, weil sie von <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaftsordnung eine höhere Ergiebigkeit <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Arbeit erwarten, o<strong>de</strong>r weil sie die sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung für gerechter halten. Während es aber für <strong>de</strong>n reinen<br />
Marxismus keine Versöhnung mit <strong>de</strong>m ethischen Sozialismus geben kann,<br />
ist sein Verhältnis zum ökonomisch-rationalistischen Sozialismus ein<br />
an<strong>de</strong>res; man könnte die materialistische Geschichtsauffassung in <strong>de</strong>m<br />
Sinne verstehen, daß die Selbstbewegung <strong>de</strong>s Wirtschaftlichen zur<br />
höchsten Wirtschaftlichkeit hinführt, die im Sozialismus gegeben<br />
erscheint. Der Mehrzahl <strong>de</strong>r Marxisten liegt diese Auffassung freilich<br />
fern. Sie sind für <strong>de</strong>n Sozialismus einmal, weil er ohnehin kommen muß,<br />
dann, weil er sittlich höher steht, und schließlich, weil er rationellere<br />
Wirtschaft bringt.<br />
Die bei<strong>de</strong>n Motive <strong>de</strong>s nichtmarxistischen Sozialismus schließen<br />
einan<strong>de</strong>r aus. Wer für <strong>de</strong>n Sozialismus eintritt, weil er von <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Gesellschaftsordnung eine höhere Ergiebigkeit <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Arbeit erwartet, braucht seine For<strong>de</strong>rung nicht erst<br />
beson<strong>de</strong>rs auf eine höhere sittliche Wertung <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung zu stützen. Tut er das doch, dann bleibt die .Frage<br />
offen, ob er für <strong>de</strong>n Sozialismus auch dann einzutreten bereit wäre, wenn<br />
<strong>de</strong>r Sozialismus in seinen Augen nicht die sittlich vollkommenere<br />
Gesellschaftsordnung wäre. Umgekehrt ist es klar, daß <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r für<br />
sozialistische Gesellschaftsordnung aus ethischen Rücksichten eintreten<br />
will, dies auch dann tun müßte, wenn er <strong>de</strong>r Überzeugung wäre, daß die<br />
auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong><br />
Gesellschaftsordnung größere Ergiebigkeit <strong>de</strong>r Arbeit gewährleistet.<br />
§ 2. Für die eudämonistisch-rationalistische Betrachtungsweise <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Erscheinungen ist schon die Problemstellung <strong>de</strong>s<br />
ethischen Sozialismus unbefriedigend. Wenn man sich Ethik und<br />
„Wirtschaft“ nicht als zwei Objektivationssysteme <strong>de</strong>nkt, die miteinan<strong>de</strong>r<br />
nichts zu tun haben, dann können ethische und wirtschaftliche Wertung<br />
und Beurteilung nicht als voneinan<strong>de</strong>r unabhängige Faktoren erscheinen.<br />
Alle ethische Zielsetzung ist nur ein Teil <strong>de</strong>r menschlichen Zielsetzung<br />
überhaupt. Das soll sagen, daß
385<br />
sie auf <strong>de</strong>r einen Seite <strong>de</strong>m allgemeinen menschlichen Streben nach<br />
Glückseligkeit gegenüber als Mittel erscheint, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aber<br />
von <strong>de</strong>mselben Wertungsprozeß erfaßt wird, <strong>de</strong>r alle Zwischenziele in<br />
einer einheitlichen Wertskala vereinigt und <strong>de</strong>r Wichtigkeit nach abstuft.<br />
Die Vorstellung von ethischen absoluten Werten, die <strong>de</strong>n wirtschaftlichen<br />
Werten entgegengestellt wer<strong>de</strong>n können, ist danach nicht aufrecht zu<br />
halten.<br />
Mit <strong>de</strong>m ethischen Apriorismus und Intuitionismus gibt es freilich über<br />
diesen Punkt keine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung. Wer das Sittliche als letzte<br />
Tatsache hinstellt und die wissenschaftliche Prüfung seiner Elemente<br />
durch <strong>de</strong>n Hinweis auf einen transzen<strong>de</strong>nten Ursprung abschnei<strong>de</strong>t, mit<br />
<strong>de</strong>m kann man nie ins Reine kommen, wenn man auch das Gerechte in<br />
<strong>de</strong>n Staub <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Analyse herabzieht. Gegenüber <strong>de</strong>m<br />
Befehle <strong>de</strong>r Ethik <strong>de</strong>s Pflichtgedankens und <strong>de</strong>s Gewissens gibt es nur<br />
blin<strong>de</strong> Unterwerfung. 1 Die aprioristische Ethik tritt mit ihren unbedingte<br />
Geltung beanspruchen<strong>de</strong>n Normen von außen her an alle irdischen<br />
Verhältnisse heran, um sie unbekümmert um alle Folgen, in ihrem Sinne<br />
umzugestalten. „Fiat iustitia, pereat mundus“ ist ihre Devise, und es ist<br />
ehrliche Entrüstung, wenn sie sich über <strong>de</strong>n ewig mißverstan<strong>de</strong>nen Satz:<br />
„Der Zweck heiligt das Mittel“, empört.<br />
Der isoliert gedachte Mensch setzt alle seine Ziele nach seinem<br />
eigenen Gesetz. Er sieht und kennt nichts an<strong>de</strong>res als sich und richtet sein<br />
Han<strong>de</strong>ln danach ein. Der in Gesellschaft leben<strong>de</strong> Mensch muß in seinem<br />
Han<strong>de</strong>ln aber stets zugleich darauf Bedacht nehmen, daß er in Gesellschaft<br />
lebt, und daß er in seinem Han<strong>de</strong>ln notwendigerweise auch <strong>de</strong>n<br />
Bestand und die Fortentwicklung <strong>de</strong>r Gesellschaft bejahen muß. Aus <strong>de</strong>m<br />
Grundgesetz <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenlebens folgt, daß er dies<br />
nicht etwa tat, um Ziele, die außerhalb <strong>de</strong>s Zwecksystems seiner eigenen<br />
Person liegen, zu erreichen. In<strong>de</strong>m er die gesellschaftlichen Zwecke zu<br />
seinen eigenen macht, ordnet er nicht seine Persönlichkeit und seine<br />
Wünsche einer an<strong>de</strong>ren, über ihm stehen<strong>de</strong>n höheren Persönlichkeit unter,<br />
verzichtet er nicht auf Erfüllung irgendwelcher eigener Wünsche<br />
zugunsten <strong>de</strong>r Wünsche einer mystischen Allgemeinheit. Denn die gesellschaftlichen<br />
Ziele sind, vom Standpunkte seiner eigenen Wertung aus<br />
gesehen, nicht Endziele, son<strong>de</strong>rn Zwischenziele in seiner eigenen Rangordnung<br />
<strong>de</strong>r Ziele. Er muß die Gesellschaft bejahen, weil das<br />
1 Vgl. Jodl, Geschichte <strong>de</strong>r Ethik als philosophischer Wissenschaft, 2. Aufl., II. Bd.,<br />
Stuttgart 1912, S. 450.
386<br />
gesellschaftliche Zusammenleben ihm selbst eine bessere Erfüllung seiner<br />
eigenen Wünsche gewährleistet. Wür<strong>de</strong> er sie verneinen, so wür<strong>de</strong> er sich<br />
nur vorübergehen<strong>de</strong> Vorteile schaffen können, in letzter Linie wür<strong>de</strong> er<br />
durch die Zerstörung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Körpers auch sich selbst<br />
treffen.<br />
Der Dualismus <strong>de</strong>r Motivation, <strong>de</strong>n die Mehrzahl <strong>de</strong>r ethischen<br />
Theorien annimmt, wenn sie zwischen egoistischen und altruistischen<br />
Beweggrün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n unterschei<strong>de</strong>t, ist nicht aufrecht zu halten.<br />
Die Gegenüberstellung von egoistischem und altruistischem Han<strong>de</strong>ln<br />
entspringt einer Auffassung, die das Wesen <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verknüpfung<br />
zwischen <strong>de</strong>n Individuen verkennt. Es ist - wenn man will, mag<br />
man sagen: glücklicherweise - nicht so, daß ich die Wahl habe, durch<br />
mein Tun und Lassen entwe<strong>de</strong>r mir o<strong>de</strong>r meinen Mitmenschen zu dienen.<br />
Wäre <strong>de</strong>m so, dann wäre menschliche Gesellschaft nicht möglich. Die<br />
Grundtatsache <strong>de</strong>s Gesellschaftslebens, die auf <strong>de</strong>r Wirkung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung<br />
beruhen<strong>de</strong> Interessenharmonie <strong>de</strong>r Menschen macht, daß zwischen<br />
Han<strong>de</strong>ln zu meinen Gunsten und Han<strong>de</strong>ln zugunsten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren in letzter<br />
Linie kein Gegensatz besteht, so daß die Interessen <strong>de</strong>r Einzelnen endlich<br />
zusammenfließen. Daher <strong>de</strong>nn auch jener berühmte wissenschaftliche<br />
Streit über die Möglichkeit, die altruistischen Motive <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns aus<br />
<strong>de</strong>n egoistischen abzuleiten, als abgetan gelten kann.<br />
Zwischen Pflicht und Interesse gibt es keinen Gegensatz. Was <strong>de</strong>r<br />
Einzelne <strong>de</strong>r Gesellschaft gibt, um sie als Gesellschaft zu erhalten, gibt er<br />
nicht um frem<strong>de</strong>r Ziele willen, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>r eigenen. 1 Der Einzelne,<br />
<strong>de</strong>r nicht nur als <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>s, wollen<strong>de</strong>s und fühlen<strong>de</strong>s Wesen, also als<br />
Mensch, son<strong>de</strong>rn auch als Lebewesen überhaupt Produkt <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
ist, kann die Gesellschaft nicht verneinen, ohne auch sein eigenes Selbst<br />
zu verneinen.<br />
Für die Vernunft <strong>de</strong>s Einzelnen, die es ihm ermöglicht, seine eigenen<br />
Interessen richtig zu erkennen, leuchtet diese Stellung <strong>de</strong>r Sozialzwecke in<br />
<strong>de</strong>m System <strong>de</strong>r individuellen Zwecke ein. Die Gesellschaft kann sich<br />
jedoch nicht darauf verlassen, daß <strong>de</strong>r Einzelne seine Interessen auch<br />
immer richtig erfaßt. Denn sie wür<strong>de</strong> dadurch je<strong>de</strong>m Einzelnen die<br />
Möglichkeit geben, das Bestehen <strong>de</strong>r Gesellschaft in Frage zu stellen, sie<br />
wür<strong>de</strong> die Gesellschaft je<strong>de</strong>m Vernunftlosen, Kranken und Willensschwachen<br />
schutzlos preisgeben, und so die Kontinuität <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Entwicklung gefähr<strong>de</strong>n.<br />
1 Vgl. Izoulet, a. a. O., S. 413 ff.
387<br />
Das ist <strong>de</strong>r Ursprung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Zwangsmächte, die <strong>de</strong>m<br />
Einzelnen gegenüber als äußere Mächte auftreten, weil sie Befolgung<br />
ihrer Gesetze imperativ heischen. Das ist die soziale Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
Staates und <strong>de</strong>r Rechtsnormen. Sie sind nichts Frem<strong>de</strong>s, sie for<strong>de</strong>rn vom<br />
einzelnen nichts, was seinen eigenen Interessen zuwi<strong>de</strong>rläuft. Sie zwingen<br />
das Individuum nicht in <strong>de</strong>n Dienst frem<strong>de</strong>r Zwecke, sie verhin<strong>de</strong>rn nur,<br />
daß das irregeleitete, asoziale Individuum, sein eigenes Interesse verkennend,<br />
sich gegen die gesellschaftliche Ordnung aufbäumt und damit auch<br />
die übrigen Menschen schädigt.<br />
Darum ist es auch töricht, zu behaupten, Liberalismus, Utilitarismus,<br />
Eudämonismus wären „staatsfeindlich“. Sie lehnen die Staatsi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Etatismus ab, die unter <strong>de</strong>m Namen „Staat“ ein geheimnisvolles, <strong>de</strong>m<br />
menschlichen Verstan<strong>de</strong> nicht begreifbares Wesen als Gott verehrt. Sie<br />
wen<strong>de</strong>n sich gegen Hegel, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Staat „göttlicher Wille“ ist; sie wen<strong>de</strong>n<br />
sich gegen <strong>de</strong>n Hegelianer Marx und seine Schule, die <strong>de</strong>n Kultus <strong>de</strong>r<br />
„Gesellschaft“ an die Stelle <strong>de</strong>s Kultus <strong>de</strong>s „Staates“ gesetzt haben. Sie<br />
bekämpfen alle jene, die <strong>de</strong>m „Staat“ o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „Gesellschaft“ an<strong>de</strong>re<br />
Aufgaben zuweisen wollen als die, welche <strong>de</strong>r Gesellschaftsordnung<br />
entsprechen, die sie selbst für die zweckentsprechendste halten. Weil sie<br />
für die Aufrechterhaltung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
sind, verlangen sie, daß <strong>de</strong>r staatliche Zwangsapparat auf diesen Grundsatz<br />
eingestellt wer<strong>de</strong>, und lehnen alle Vorschläge ab, die zur Einschränkung<br />
o<strong>de</strong>r Aufhebung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums führen. Es fällt ihnen<br />
nicht ein, „<strong>de</strong>n Staat abzuschaffen“. Im Gesellschaftsbild <strong>de</strong>s Liberalismus<br />
fehlt <strong>de</strong>r Staatsapparat durchaus nicht; ihm ist die Aufgabe zugewiesen,<br />
für Sicherheit <strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>s Eigentums Sorge zu tragen. Man muß<br />
schon tief in die (im Sinne <strong>de</strong>r Scholastik) realistische Auffassung <strong>de</strong>s<br />
Staates verstrickt sein, um die Tatsache, daß jemand gegen Staatsbahnen,<br />
Staatstheater o<strong>de</strong>r Staatsmolkereien auftritt, als Staatsfeindschaft zu<br />
bezeichnen.<br />
Die Gesellschaft kann sich <strong>de</strong>m Einzelnen gegenüber unter Umstän<strong>de</strong>n<br />
auch ohne Zwangsgewalt durchsetzen. Nicht je<strong>de</strong> soziale Norm bedarf zu<br />
ihrer Durchsetzung gleich <strong>de</strong>r äußersten Mittel <strong>de</strong>s staatlichen Vollzuges.<br />
In vieler Hinsicht kann die Anerkennung <strong>de</strong>r sozialen Zwecke vom<br />
Einzelnen auch ohne das Richtschwert durch Moral und Sitte erzwungen<br />
wer<strong>de</strong>n. Moral und Sitte gehen über das Gesetz <strong>de</strong>s Staates insoweit<br />
hinaus, als sie weitere soziale Zwecke schützen. Zwischen ihnen vermag<br />
in dieser Hinsicht eine
388<br />
Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Aus<strong>de</strong>hnung, aber keine Unvereinbarkeit <strong>de</strong>r<br />
Prinzipien zu bestehen. Wesensgegensätze zwischen <strong>de</strong>r Rechtsordnung<br />
und <strong>de</strong>n Moralgesetzen kommen nur dort vor, wo die bei<strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>nen Anschauungen über die gesellschaftliche Ordnung entspringen,<br />
also verschie<strong>de</strong>nen Gesellschaftssystemen angehören. Der<br />
Gegensatz ist dann dynamischer, nicht statischer Natur.<br />
Die ethische Wertung „gut“ o<strong>de</strong>r „böse“ kann nur im Hinblick auf das<br />
Ziel, <strong>de</strong>m das Han<strong>de</strong>ln zustrebt, gesetzt wer<strong>de</strong>n. Άδιχία ού χαθ, sagt schon<br />
Epikur. Brächte das Laster keine schädlichen Folgen, so wäre es kein<br />
Laster. 1 Wer eine Handlung als gut o<strong>de</strong>r böse bezeichnet, tut dies, da<br />
Han<strong>de</strong>ln nie Selbstzweck, vielmehr immer Mittel zur Erreichung<br />
bestimmter Zwecke ist, stets nur mit Rücksicht auf die Folgen <strong>de</strong>r Handlung.<br />
Die Handlung wird nach <strong>de</strong>r Stellung beurteilt, die sie im Kausalsystem<br />
von Ursache und Wirkung hat. Sie wird als Mittel gewertet. Für<br />
<strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s Mittels ist die Wertung <strong>de</strong>s Zweckes ausschlaggebend. Die<br />
ethische Wertung geht wie alle Wertung von <strong>de</strong>r Wertung <strong>de</strong>r Zwecke, <strong>de</strong>r<br />
Güter, aus. Der Wert <strong>de</strong>r Handlung ist vom Wert <strong>de</strong>s Zweckes, <strong>de</strong>m sie<br />
dient, abgeleitet. Gesinnung wie<strong>de</strong>r hat Wert, insofern sie zum Han<strong>de</strong>ln<br />
fährt.<br />
Einheit <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns kann es nur geben, wenn alle letzten Werte in<br />
eine einheitliche Wertskala gebracht wer<strong>de</strong>n können. Wäre das nicht<br />
möglich, dann müßte <strong>de</strong>r Mensch immer wie<strong>de</strong>r in Lagen kommen, in<br />
<strong>de</strong>nen er nicht han<strong>de</strong>ln, d. i. zielbewußt auf einen Zweck hinarbeiten<br />
könnte, son<strong>de</strong>rn untätig <strong>de</strong>n Ausgang ohne sein Zutun walten<strong>de</strong>n Mächten<br />
überlassen müßte. Je<strong>de</strong>m menschlichen Han<strong>de</strong>ln geht eine Entscheidung<br />
über die Rangordnung <strong>de</strong>r Werte voraus. Wer han<strong>de</strong>lt, um das Ziel A zu<br />
erreichen, während er auf die Erreichung <strong>de</strong>r Ziele B, C, D usf. verzichtet,<br />
hat entschie<strong>de</strong>n, daß ihm unter <strong>de</strong>n gegebenen Umstän<strong>de</strong>n die Erreichung<br />
von A wertvoller ist als die Erreichung von B, C, D usf.<br />
Darüber, was dieses letzte Gut ist, hat es in <strong>de</strong>r Philosophie lange Streit<br />
gegeben. Die mo<strong>de</strong>rne Philosophie hat diesen Streit entschie<strong>de</strong>n. Der<br />
Eudämonismus kann heute nicht mehr angegriffen wer<strong>de</strong>n. Alles, was<br />
noch die Philosophen von Kant bis Hegel dagegen vorzubringen<br />
vermochten, hat die Begriffe Sittlichkeit und Glückseligkeit auf die Dauer<br />
nicht trennen können. Nie in <strong>de</strong>r Geschichte ist mehr Geist und Scharfsinn<br />
aufgewen<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n, um<br />
1 Vgl. Guyau, Die englische Ethik <strong>de</strong>r Gegenwart, Übers. v. Peusner, Leipzig 1914, S.<br />
20.
389<br />
eine unhaltbare Stellung zu verteidigen. Mit Bewun<strong>de</strong>rung stehen wir vor<br />
<strong>de</strong>r großartigen Leistung, die die Philosophie hier vollbracht hat. Fast<br />
könnte man sagen, daß das, was sie geleistet hat, um das Unmögliche zu<br />
beweisen, uns mehr Hochachtung abnötigt als die Leistungen <strong>de</strong>r großen<br />
Denker und Soziologen, die <strong>de</strong>n Eudämonismus und Utilitarismus zum<br />
unverlierbaren Besitzstand <strong>de</strong>s menschlichen Geistes gemacht haben.<br />
Sicher ist, daß ihre Bemühungen nicht vergebens waren. Es bedurfte<br />
dieser großen Anstrengungen zugunsten <strong>de</strong>r antieudämonistischen Ethik,<br />
um noch einmal das Problem in seiner Größe aufzurollen und seine<br />
endgültige Lösung zu ermöglichen.<br />
Die grundsätzliche Ablehnung <strong>de</strong>r Betrachtungsweise <strong>de</strong>r<br />
intuitionistischen Ethik, die mit <strong>de</strong>n wissenschaftlichen Metho<strong>de</strong>n in<br />
unvereinbarem Wi<strong>de</strong>rspruch steht, überhebt <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n eudämonistischen<br />
Charakter aller ethischen Wertung erkennt, <strong>de</strong>r weiteren<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m ethischen Sozialismus. Für ihn steht das<br />
Sittliche nicht außerhalb <strong>de</strong>r Wertskala, die alle Lebenswerte umfaßt. Für<br />
ihn gibt es kein Sittliches, das an und für sich gilt, ohne daß wir das<br />
Warum seiner Geltung zu prüfen befähigt und berechtigt wären. Nie kann<br />
er es zugeben, daß das, was als zuträglich und vernünftig erkannt wur<strong>de</strong>,<br />
nicht sein darf, weil eine Norm, die uns von einer dunklen, unbekannten<br />
Macht gesetzt wur<strong>de</strong>, ohne daß wir über ihren Sinn und Zweck auch nur<br />
nachzu<strong>de</strong>nken befugt wären, es als unsittlich erklärt. 1 Sein Grundsatz<br />
lautet nicht „Fiat iustitia, pereat mundus“, son<strong>de</strong>rn „fiat iustitia, ne pereat<br />
mundus“.<br />
Wenn es nichts<strong>de</strong>stoweniger nicht ganz überflüssig erscheint, sich mit<br />
<strong>de</strong>n einzelnen Argumenten <strong>de</strong>s ethischen Sozialismus auseinan<strong>de</strong>rzusetzen,<br />
so liegt dies nicht nur daran, daß diese Gedankengänge viele<br />
Anhänger zählen. Weit wichtiger ist, daß sich dabei Gelegenheit bietet, zu<br />
zeigen, wie hinter je<strong>de</strong>m Gedankengang <strong>de</strong>r aprioristisch-intuitiven Ethik<br />
doch wie<strong>de</strong>r eudämonistische I<strong>de</strong>en versteckt sind und wie sie sich in<br />
je<strong>de</strong>r einzelnen ihrer Äußerungen immer wie<strong>de</strong>r auf unhaltbare<br />
Vorstellungen vom Wirtschaften und vom gesellschaftlichen<br />
Zusammenleben <strong>de</strong>r Menschen zurückführen läßt. So wie jedwe<strong>de</strong>s auf<br />
<strong>de</strong>m Pflichtgedanken aufgebaute ethische System, auch wenn es sich so<br />
streng gebär<strong>de</strong>n mag wie das Kant’s, schließlich doch genötigt ist, <strong>de</strong>m<br />
Eudämonismus mehr zuzugestehen,<br />
1 Vgl. Bentham, Deontology or the Science of Morality, ed. by Bowring, London 1834,<br />
I. Bd., S. 8 ff.
390<br />
als mit <strong>de</strong>r Aufrechthaltung seiner Grundsätze vereinbar ist, 1 so trägt auch<br />
je<strong>de</strong> einzelne For<strong>de</strong>rung dieser Ethik in letzter Linie eudämonistischen<br />
Charakter.<br />
§ 3. Die formalistische Ethik macht sich <strong>de</strong>n Kampf gegen <strong>de</strong>n<br />
Eudämonismus allzuleicht, wenn sie die Glückseligkeit, von <strong>de</strong>r dieser<br />
re<strong>de</strong>t, als Befriedigung sinnlicher Begier<strong>de</strong>n auffaßt. Sie unterschiebt<br />
mehr o<strong>de</strong>r weniger bewußt <strong>de</strong>m Eudämonismus die Behauptung, es wäre<br />
alles menschliche Streben nur darauf gerichtet, <strong>de</strong>n Wanst zu füllen und<br />
Sinnesgenüsse niedrigster Art zu erraffen. Daß vieler, sehr vieler<br />
Menschen einziges Sinnen und Trachten darauf gerichtet ist, kann man<br />
freilich nicht verkennen. Doch wenn die Gesellschaftswissenschaft<br />
feststellt, daß <strong>de</strong>m so ist, darf <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>m solches Tun nicht gefällt, nicht ihr<br />
<strong>de</strong>n Vorwurf machen. Der Eudämonismus empfiehlt nicht, nach<br />
Glückseligkeit zu streben; er zeigt nur, daß <strong>de</strong>r Menschen Streben danach<br />
gerichtet sein muß. Und Glückseligkeit liegt nicht nur im Geschlechtsgenuß<br />
und in ungestörter Verdauung.<br />
Wenn die energistische Auffassung <strong>de</strong>s Sittlichen im Ausleben, 2 im<br />
vollen Betätigen seiner eigenen Kräfte das höchste Gut erblickt, so kann<br />
man dies allenfalls als einen an<strong>de</strong>ren Ausdruck für das hinnehmen, was<br />
die Eudämonisten im Auge haben, wenn sie von Glückseligkeit sprechen.<br />
Das Glück <strong>de</strong>s Starken und Gesun<strong>de</strong>n liegt gewiß nicht in trägem<br />
Hindämmern. Doch wenn sich diese Auffassung in einen Gegensatz zum<br />
Eudämonismus begibt, wird sie unhaltbar. Was soll es heißen, wenn<br />
Guyau meint: „Leben heißt nicht rechnen, son<strong>de</strong>rn han<strong>de</strong>ln. In je<strong>de</strong>m<br />
leben<strong>de</strong>n Wesen ist ein Kraftvorrat, ein Energieüberschuß, <strong>de</strong>r sich<br />
ausgeben will, nicht um <strong>de</strong>r begleiten<strong>de</strong>n Lustgefühle willen, son<strong>de</strong>rn weil<br />
er sich ausgeben muß. . . . Pflicht leitet sich aus Kraft ab, die notwendig<br />
zur Tat drängt“? 3 Han<strong>de</strong>ln heißt zielbewußt, also auf Grund von<br />
Überlegung und Rechnung wirken. Es ist nichts als ein Rückfall in <strong>de</strong>n<br />
Intuitionismus, <strong>de</strong>n Guyau sonst ablehnt, wenn man einen dunklen Drang<br />
als Führer <strong>de</strong>s sittlichen Han<strong>de</strong>lns hinstellt. In <strong>de</strong>n Krafti<strong>de</strong>en<br />
(idées-forces) von Fouillée tritt das intuitionistische Element noch klarer<br />
zutage. 4 Was gedacht wur<strong>de</strong>,<br />
*1)<br />
1 Vgl. Jodl, a. a. O., II. Bd., S. 36.<br />
2 „Ausleben“ nicht in <strong>de</strong>m Sinne, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Ausdruck heute als Mo<strong>de</strong>wort in<br />
Gebrauch ist.<br />
3 Vgl. Guyau, Sittlichkeit ohne „Pflicht“, a. a. O., S. 272 f.<br />
4 Vgl. Fouillée, a. a. O., S. 157 ff.
391<br />
soll danach drängen verwirklicht zu wer<strong>de</strong>n. Doch wohl nur dann, wenn<br />
das Ziel, <strong>de</strong>m die Handlung dient, als erstrebenswert erscheint; auf die<br />
Frage, warum ein Ziel gut o<strong>de</strong>r böse erscheint, bleibt aber Fouillée die<br />
Antwort schuldig.<br />
Es hilft nichts, wenn sich <strong>de</strong>r Morallehrer eine Ethik konstruiert, wie<br />
sie sein sollte, ohne auf das Rücksicht zu nehmen, was <strong>de</strong>m Wesen <strong>de</strong>s<br />
Menschen und seines Lebens entspricht. Die Deklamationen <strong>de</strong>r Philosophen<br />
können nichts daran än<strong>de</strong>rn, daß Leben sich auszuleben strebt, daß<br />
das Lebewesen Lust sucht und Unlust mei<strong>de</strong>t. Alle Be<strong>de</strong>nken, die man<br />
hegte, dies als das Grundgesetz <strong>de</strong>s menschlichen Han<strong>de</strong>lns zu erkennen,<br />
fallen fort, sobald man einmal die Erkenntnis <strong>de</strong>s Grundprinzips<br />
gesellschaftlichen Zusammenwirkens erlangt hat. Daß je<strong>de</strong>r zunächst sich<br />
selbst lebt und leben will, stört nicht nur nicht das Zusammenleben,<br />
son<strong>de</strong>rn för<strong>de</strong>rt es gera<strong>de</strong>, da die höchste Auswirkung <strong>de</strong>s Einzellebens<br />
nur in <strong>de</strong>r Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist. Das ist <strong>de</strong>r<br />
wahre Sinn jener Lehre, die <strong>de</strong>n Egoismus als Grundgesetz <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft erklärt hat.<br />
Die höchste Anfor<strong>de</strong>rung, die die Gesellschaft an <strong>de</strong>n einzelnen stellt,<br />
ist die, das Leben hinzugeben. Wenn man auch alle an<strong>de</strong>ren Einschränkungen,<br />
die sich <strong>de</strong>r einzelne in seinem Han<strong>de</strong>ln durch die Gesellschaft<br />
gefallen lassen muß, als in letzter Linie in seinem eigenen Interesse<br />
gelegen erachten mag, so lasse sich doch dies eine, meint die antieudämonistische<br />
Ethik, in keiner Weise auf eine Art erklären, die die<br />
Kollision zwischen Son<strong>de</strong>rinteresse und Gesamtinteresse, zwischen<br />
Egoismus und Altruismus zu überbrücken vermag. Der Hel<strong>de</strong>ntod mag<br />
<strong>de</strong>r Gesamtheit noch nützlich sein, <strong>de</strong>m Gefallenen helfe das wenig. Über<br />
diese Schwierigkeit könne nur eine Ethik hinweghelfen, die von <strong>de</strong>r<br />
Pflicht ausgeht. Doch wenn wir näher zusehen, erkennen wir unschwer,<br />
daß man auch diesen Einwand leicht zu wi<strong>de</strong>rlegen vermag. Wenn die<br />
Existenz <strong>de</strong>r Gesellschaft bedroht ist, muß je<strong>de</strong>r einzelne sein Bestes<br />
einsetzen, um ihren Untergang abzuwehren. Auch die Aussicht, im<br />
Kampfe zu fallen, kann ihn dann nicht mehr schrecken. Denn es ist dann<br />
nicht etwa so, daß auf <strong>de</strong>r einen Seite die Möglichkeit steht, das Leben so<br />
fortzuführen, wie es bisher ging, und auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>r Opfertod<br />
für das Vaterland, für die Gesellschaft, für die Überzeugung. Vielmehr<br />
steht auf <strong>de</strong>r einen Seite die Gewißheit, Tod, Knechtschaft o<strong>de</strong>r<br />
unerträgliche Armut zu fin<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite die Chance, aus <strong>de</strong>m<br />
Kampf gesund als Sieger hervorzugehen.
392<br />
Der Krieg, <strong>de</strong>r pro aris et focis geführt wird, verlangt vom Einzelnen kein<br />
Opfer. In diesen Krieg zieht man nicht, um für an<strong>de</strong>re die Kastanien aus<br />
<strong>de</strong>m Feuer zu holen, son<strong>de</strong>rn um die eigene Existenz zu retten. Das gilt<br />
freilich nur für Kriege, in <strong>de</strong>nen es sich um Sein o<strong>de</strong>r Nichtsein je<strong>de</strong>s<br />
Einzelnen han<strong>de</strong>lt. Es gilt nicht für <strong>de</strong>n Krieg, <strong>de</strong>r bloß als Mittel <strong>de</strong>r<br />
Bereicherung betrachtet wird. Es gilt daher nicht für die Feh<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Feudalherren und für die Kabinettskriege <strong>de</strong>r Fürsten. Und darum kann<br />
<strong>de</strong>r ewig eroberungslüsterne Imperialismus einer Ethik nicht entraten, die<br />
vom einzelnen „Aufopferung“ für das „Wohl <strong>de</strong>s Staates“ heischt.<br />
Der Kampf, <strong>de</strong>n die Ethiker seit altersher gegen die naheliegen<strong>de</strong><br />
eudämonistische Erklärung <strong>de</strong>s Sittlichen geführt haben, fin<strong>de</strong>t sein<br />
Gegenstück in <strong>de</strong>m Bemühen <strong>de</strong>r Nationalökonomen, das Problem <strong>de</strong>s<br />
wirtschaftlichen Wertes an<strong>de</strong>rs als durch Zurückführung auf die Brauchbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Genußgüter zu lösen. Nichts lag für die Nationalökonomie<br />
näher als <strong>de</strong>r Gedanke, <strong>de</strong>n Wert als die Be<strong>de</strong>utung von Gütern für die<br />
menschliche Wohlfahrt anzusehen. Wenn man nichts<strong>de</strong>stoweniger <strong>de</strong>n<br />
Versuch, mit Hilfe dieser Auffassung <strong>de</strong>m Wertproblem beizukommen,<br />
immer wie<strong>de</strong>r aufgegeben und sich stets von neuem bemüht hat, zu<br />
an<strong>de</strong>ren Werttheorien zu gelangen, so lag dies an jenen Schwierigkeiten,<br />
die das Problem <strong>de</strong>r Wertgröße bot. Man verstand es nicht, über <strong>de</strong>n<br />
scheinbaren Wi<strong>de</strong>rspruch hinwegzukommen, daß E<strong>de</strong>lsteine, die vornehmlich<br />
<strong>de</strong>r Befriedigung eines offenbar min<strong>de</strong>rwichtigen Bedürfnisses<br />
dienen, einen höheren Wert besitzen als Brot, das <strong>de</strong>r Befriedigung eines<br />
<strong>de</strong>r wichtigsten Bedürfnisse dient, und daß atmosphärische Luft und<br />
Trinkwasser, ohne die <strong>de</strong>r Mensch schlechterdings nicht leben kann, im<br />
allgemeinen wertlos sind. Erst als es gelangen war, die Rangordnung <strong>de</strong>r<br />
Bedürfnisgattungen von jener <strong>de</strong>r konkreten Bedürfnisregungen<br />
begrifflich zu schei<strong>de</strong>n, und zu erkennen, daß die Skala, nach <strong>de</strong>r die<br />
Wichtigkeit <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Verfügung über die Güter abhängigen<br />
Bedürfnisse bemessen wird, die <strong>de</strong>r konkreten Bedürfnisregungen ist, war<br />
die Grundlage zu <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Nützlichkeit <strong>de</strong>r Güter aufzurichten<strong>de</strong>n<br />
Theorie <strong>de</strong>s Wertes gelegt. 1<br />
Die Schwierigkeit, die sich <strong>de</strong>r utilitaristisch-eudämonistischen<br />
Erklärung <strong>de</strong>s Sittlichen entgegenstellte, war nicht geringer als die, mit<br />
<strong>de</strong>r die Katallaktik zu kämpfen hatte, um <strong>de</strong>n wirtschaftlichen Wert auf<br />
die Nützlichkeit zurückzuführen. Man fand nicht <strong>de</strong>n<br />
1 Vgl. Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, 3. Aufl., II. Abt., Innsbruck 1909, S.<br />
233 ff.
393<br />
Ausweg, um die eudämonistische Lehre mit <strong>de</strong>r Tatsache in Einklang zu<br />
bringen, daß das sittliche Han<strong>de</strong>ln offenbar gera<strong>de</strong> darin besteht, daß <strong>de</strong>r<br />
Einzelne Handlungen, die unmittelbar als ihm nützlich erscheinen,<br />
unterläßt, und Handlungen setzt, die unmittelbar als ihm schädlich<br />
anzusehen sind. Erst <strong>de</strong>r liberalen Sozialphilosophie glückte es, die<br />
Lösung zu fin<strong>de</strong>n. Sie zeigte, daß die Aufrechterhaltung und Fortentwicklung<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verknüpfung <strong>de</strong>r Individuen im höchsten<br />
Interesse je<strong>de</strong>s Einzelnen gelegen ist, so daß das Opfer, das <strong>de</strong>r Einzelne<br />
bringt, um gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen, nur ein<br />
vorläufiges ist; ein kleinerer unmittelbarer Vorteil wird hingegeben, um<br />
einen unverhältnismäßig größeren mittelbaren Vorteil dafür einzutauschen.<br />
So fallen Pflicht und Interesse zusammen. 1 Das ist <strong>de</strong>r Sinn <strong>de</strong>r<br />
Interessenharmonie, von <strong>de</strong>r die liberale Gesellschaftslehre spricht.<br />
II.<br />
Sozialismus als Ausfluß asketischer Lebensführung.<br />
§ 1. Weltflucht und Lebensverneinung sind, auch wenn man sie vom<br />
religiösen Standpunkt betrachtet, nicht letztes Ziel, das um seiner selbst<br />
willen angestrebt wird, son<strong>de</strong>rn Mittel zur Erreichung bestimmter<br />
überirdischer Heilszwecke. Doch wenn sie auch insoferne in <strong>de</strong>r Heilsökonomie<br />
<strong>de</strong>s Gläubigen als Mittel erscheinen, so sind sie doch für je<strong>de</strong><br />
Betrachtung, die über das für <strong>de</strong>n Menschen durch die Erfahrung<br />
Gegebene nicht hinauszugehen und die Wirkung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns nur soweit<br />
zu verfolgen vermag, als es in diesem Leben erkennbar ist, als letzte Ziele<br />
anzusehen. Die Askese, die sich vom Standpunkt <strong>de</strong>r Weltanschauung<br />
o<strong>de</strong>r aus sonstigen religiösen Motiven empfiehlt, wollen wir weiterhin<br />
allein als Askese bezeichnen; sie ist für uns unter diesen Einschränkungen<br />
als Askese an sich Gegenstand <strong>de</strong>r Betrachtung. Sie darf nicht verwechselt<br />
wer<strong>de</strong>n mit je<strong>de</strong>r Art asketischer Lebensführung, die nur als Mittel zur<br />
Erreichung bestimmter irdischer Zwecke dient. Wer sich, von <strong>de</strong>r<br />
Giftwirkung <strong>de</strong>r geistigen Getränke überzeugt, ihres Genusses enthält, sei<br />
es, weil er im allgemeinen seine Gesundheit nicht gefähr<strong>de</strong>n will, sei es,<br />
weil er seine Kraft für eine beson<strong>de</strong>re Leistung stählen will, ist in diesem<br />
Sinne kein Asket.<br />
1 Vgl. Bentham, Deontology, a. a. O., I. Bd., S. 87 ff.
394<br />
Nirgends trat die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Weltflucht und Lebensverneinung<br />
folgerichtiger und geschlossener zutage als in <strong>de</strong>r indischen Religion <strong>de</strong>s<br />
Jainismus, die auf eine Geschichte von mehr als zweieinhalb Jahrtausen<strong>de</strong>n<br />
zurückblicken kann. „Hauslosigkeit“, sagt Max Weber, ist <strong>de</strong>r<br />
grundlegen<strong>de</strong> Heilsbegriff <strong>de</strong>s Jainismus. „Sie be<strong>de</strong>utet Abbruch aller<br />
Weltbeziehungen, also vor allem Indifferenz gegen Sinneseindrücke und<br />
Vermeidung alles Han<strong>de</strong>lns nach weltlichen Motiven, aufhören überhaupt<br />
zu ‚han<strong>de</strong>ln’, zu hoffen und zu wünschen. Ein Mann, <strong>de</strong>r nur noch fühlt<br />
und <strong>de</strong>nkt ‚Ich bin ich’ ist ‚hauslos' in diesem Sinne. Er sehnt sich we<strong>de</strong>r<br />
nach <strong>de</strong>m Leben noch nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> - weil bei<strong>de</strong>s ‚Begier<strong>de</strong>’ wäre, die<br />
Karman wecken kann - hat we<strong>de</strong>r Freun<strong>de</strong> noch verhält er sich ablehnend<br />
zu Handlungen an<strong>de</strong>rer ihm gegenüber (zum Beispiel zu <strong>de</strong>r üblichen<br />
Fußwaschung, die <strong>de</strong>r Fromme am Heiligen vollzieht). Er han<strong>de</strong>lt nach<br />
<strong>de</strong>m Grundsatz, daß man <strong>de</strong>m Übel nicht wi<strong>de</strong>rstehen soll und daß sich<br />
<strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>nstand <strong>de</strong>s Einzelnen im Leben im Ertragen von Mühsal und<br />
Schmerz zu bewähren habe“. 1 Der Jainismus verbietet auf das strengste<br />
je<strong>de</strong> Tötung leben<strong>de</strong>r Wesen. „Korrekte Jaina brennen in <strong>de</strong>r dunkeln<br />
Jahreszeit kein Licht, weil es Motten verbrennt, zün<strong>de</strong>n kein Feuer an,<br />
weil es Insekten töten wür<strong>de</strong>, sieben das Wasser, ehe sie es kochen, tragen<br />
einen Mund- und Nasenschleier, um das Einatmen von Insekten zu<br />
hin<strong>de</strong>rn. Die höchste Frömmigkeit ist, sich von Insekten peinigen zu<br />
lassen, ohne sie zu verscheuchen“. 2<br />
Das I<strong>de</strong>al asketischer Lebensführung läßt sich nur für einen Teil <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Gesellschaft verwirklichen. Denn <strong>de</strong>r Asket kann nicht<br />
Arbeiter sein. Alles, was <strong>de</strong>r durch Bußübungen und Kasteiungen<br />
erschöpfte Leib vermag, ist, in untätiger Beschaulichkeit die Dinge an sich<br />
herankommen zu lassen o<strong>de</strong>r in ekstatischer Verzückung <strong>de</strong>n Rest seiner<br />
Kraft zu verbrauchen und so das En<strong>de</strong> zu beschleunigen. Der Asket, <strong>de</strong>r<br />
zu arbeiten und zu wirtschaften beginnt, um sich auch nur das geringste<br />
Maß an Gütern zur Stillung seiner dringendsten Bedürfnisse zu erwerben,<br />
gibt seine Grundsätze preis. Das zeigt die Geschichte <strong>de</strong>s Mönchtums,<br />
nicht nur <strong>de</strong>s christlichen allein. Aus Stätten <strong>de</strong>r Askese sind die Klöster<br />
mitunter selbst zum Sitze eines verfeinerten Lebensgenusses gewor<strong>de</strong>n.<br />
1 Vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, II. Bd.,<br />
S. 206.<br />
2 Vgl. ebendort S. 211.
395<br />
Der nicht arbeiten<strong>de</strong> Asket kann nur bestehen, wenn die Askese nicht<br />
als allgemeiner, für alle verbindlicher Grundsatz <strong>de</strong>s Lebens gilt. Da er<br />
sich nur von <strong>de</strong>r Arbeit an<strong>de</strong>rer ernähren kann, müssen Arbeiter vorhan<strong>de</strong>n<br />
sein, von <strong>de</strong>ren Abgaben er zehrt. Je<strong>de</strong>r Asket braucht Laien als<br />
Tributquellen. 1 Die geschlechtliche Enthaltsamkeit <strong>de</strong>r Asketen verlangt<br />
Laien, die Nachkommenschaft zur Welt bringen. Fehlt diese notwendige<br />
Ergänzung, dann stirbt das Geschlecht <strong>de</strong>r Asketen schnell aus. Die<br />
Askese als allgemeines Gesetz <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns be<strong>de</strong>utet Selbstvernichtung<br />
<strong>de</strong>s Menschengeschlechtes. Überwindung <strong>de</strong>s Lebens ist das Ziel, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
einzelne Asket zustrebt, und wenn diese Norm auch nicht in <strong>de</strong>m Sinne<br />
aufgefaßt wer<strong>de</strong>n muß, daß die Herbeiführung eines vorzeitigen Lebensen<strong>de</strong>s<br />
durch Unterlassen aller zur Erhaltung <strong>de</strong>s Lebens notwendigen<br />
Handlungen als ihr letzter und höchster Ausfluß erscheint, so schließt sie<br />
doch mit <strong>de</strong>r Unterdrückung <strong>de</strong>s Geschlechtstriebes <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft ein. Das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Askese ist das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s freiwilligen To<strong>de</strong>s.<br />
Daß es keine Gesellschaft gibt, die auf <strong>de</strong>m Grundsatz allgemeiner Askese<br />
aufgebaut ist, braucht nicht erst näher erklärt zu wer<strong>de</strong>n. Die Askese wirkt<br />
gesellschafts- und lebenvernichtend.<br />
Man konnte das nur darum übersehen, weil das asketische I<strong>de</strong>al nur<br />
selten folgerichtig bis ans En<strong>de</strong> gedacht und noch seltener folgerichtig bis<br />
ans En<strong>de</strong> durchgeführt wird. Nur <strong>de</strong>r Asket, <strong>de</strong>r im Wal<strong>de</strong> lebt und sich<br />
gleich <strong>de</strong>n Tieren von Wurzeln und Kräutern nährt, zieht aus seiner<br />
Lebensanschauung die notwendigen Schlußfolgerungen, lebt und han<strong>de</strong>lt,<br />
wie es seinen Grundsätzen entspricht. Doch diese strenge Folgerichtigkeit<br />
ist selten; es gibt doch nicht allzuviel Menschen, die leichten Herzens auf<br />
die Errungenschaften <strong>de</strong>r Kultur, mögen sie sie auch in Gedanken noch so<br />
sehr verachten und mit Worten noch so sehr schmähen, verzichten und<br />
ohne weiteres bereit sind, zur Lebensweise <strong>de</strong>r Rehe und <strong>de</strong>r Hirsche<br />
zurückzukehren. Der hl. Aegidius, einer <strong>de</strong>r eifrigsten Gefährten <strong>de</strong>s hl.<br />
Franz von Assisi, setzte an <strong>de</strong>n Ameisen aus, daß sie allzusehr besorgt<br />
seien, sich Vorräte anzusammeln; nur die Vögel unter <strong>de</strong>m Himmel<br />
fan<strong>de</strong>n sein Wohlgefallen, weil sie nicht in Scheunen sammeln. Denn die<br />
Vögel unter <strong>de</strong>m Himmel, die Tiere auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und die Fische im Meere<br />
sind zufrie<strong>de</strong>n, wenn sie ihre ausreichen<strong>de</strong> Nahrung haben. Er selbst<br />
glaubte, diesem Lebensi<strong>de</strong>ale<br />
1 Vgl. Weber, a. a. O., I. Bd., S. 262.
396<br />
zu entsprechen, wenn er sich von seiner Hän<strong>de</strong> Arbeit und vom<br />
Almosensammeln ernährte. Wenn man ihm, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Weise an<strong>de</strong>rer<br />
Armer auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn zur Erntezeit Ähren sammelte, mehr geben wollte,<br />
wies er es mit <strong>de</strong>n Worten zurück: „Ich habe keine Scheune, wohin ich<br />
sammle, ich will keine haben.“ Und doch hat auch dieser Heilige von<br />
jener Wirtschaftsordnung, die er verdammte, Vorteil gezogen. Auch das<br />
Leben in Armut, das er geführt hat, war nur in ihr und durch sie möglich;<br />
auch dieses Leben stand unendlich hoch über <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Fische und <strong>de</strong>r<br />
Vögel, <strong>de</strong>nen er nachzuleben glaubte. Den Lohn, <strong>de</strong>n ihm seine Arbeit<br />
eintrug, empfing er aus <strong>de</strong>n Vorräten einer geordneten Wirtschaftsführung.<br />
Hätten an<strong>de</strong>re nicht in Scheunen gesammelt, dann hätte <strong>de</strong>r<br />
Heilige hungern müssen; hätten alle sich die Fische zum Vorbild<br />
genommen, dann hätte auch er wie ein Fisch leben müssen. Das haben<br />
<strong>de</strong>nn auch bereits die kritischer veranlagten Zeitgenossen erkannt. Der<br />
englische Benediktiner Matthäus Paris berichtet, Papst Innocenz III. habe<br />
<strong>de</strong>m hl. Franziskus nach Anhörung seiner Regel geraten, zu <strong>de</strong>n<br />
Schweinen zu gehen, <strong>de</strong>nen er ähnlicher sehe als <strong>de</strong>n Menschen, sich mit<br />
ihnen im Kote zu wälzen und ihnen seine Regel zu geben. 1<br />
Asketische Moral kann nie zum allgemein verbindlichen Grundsatz <strong>de</strong>s<br />
Lebens erhoben wer<strong>de</strong>n. Der Asket, <strong>de</strong>r folgerichtig han<strong>de</strong>lt, schei<strong>de</strong>t<br />
freiwillig in wahrem Sinne <strong>de</strong>s Wortes aus <strong>de</strong>r Welt. Askese, die sich auf<br />
Er<strong>de</strong>n behaupten will, führt ihren Grundsatz nicht bis zur letzten<br />
Konsequenz durch; sie macht an einem bestimmten Punkt Halt. Durch<br />
welche Spitzfindigkeit sie dies zu erklären versucht, ist gleichgültig;<br />
genug, daß sie es tut und daß sie es tun muß. Weiter aber wird sie<br />
genötigt, Nichtasketen min<strong>de</strong>stens zu dul<strong>de</strong>n. In<strong>de</strong>m sie so eine doppelte<br />
Moral ausbil<strong>de</strong>t, die eine für Heilige, die an<strong>de</strong>re für Weltkin<strong>de</strong>r, spaltet sie<br />
die Ethik. Das Leben <strong>de</strong>r Laien erscheint als ein immerhin noch zu<br />
dul<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s und gedul<strong>de</strong>tes, aber auch nicht als mehr; wahrhaft sittlich ist<br />
nur das <strong>de</strong>r Mönche o<strong>de</strong>r wie sie sonst heißen mögen, die durch Askese<br />
zur Vollkommenheit streben. Mit dieser Zweiteilung <strong>de</strong>r Moral verzichtet<br />
die Askese darauf, das Leben zu beherrschen. Sie dankt als Gesellschaftsethik<br />
ab. Der einzige Anspruch, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>n Laien gegenüber noch zu<br />
erheben wagt, ist <strong>de</strong>r, durch mil<strong>de</strong> Gaben <strong>de</strong>n Heiligen die Fortfristung<br />
<strong>de</strong>s Daseins zu ermöglichen.<br />
Das reine I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Askese kennt überhaupt keine Bedürfnis-<br />
1 Vgl. Glaser, Die franziskanische Bewegung, Stuttgart und Berlin 1903, S. 53 f., 59.
397<br />
befriedigung. Es ist daher im buchstäblichen Sinne <strong>de</strong>s Wortes<br />
wirtschaftslos. Das abgeschwächte, verblaßte I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Askese, das <strong>de</strong>n<br />
Laien einer Gesellschaft, die die Askese bei <strong>de</strong>n Vollkommenen ehrt, o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n zu einer Produktions- und Konsumgemeinschaft vereinigten Mönchen<br />
vorsch<strong>web</strong>t, mag Gemeinschaft <strong>de</strong>r genußreifen Güter for<strong>de</strong>rn, stellt sich<br />
aber <strong>de</strong>r höchsten Rationalisierung <strong>de</strong>r Produktion durchaus nicht<br />
entgegen; im Gegenteil, es for<strong>de</strong>rt sie sogar. Denn, wenn alle Beschäftigung<br />
mit <strong>de</strong>m Irdischen vom allein wertvollen und sittlich zu billigen<strong>de</strong>n<br />
Lebenswan<strong>de</strong>l abhält und überhaupt nur zu dul<strong>de</strong>n ist, weil sie Mittel zu<br />
einem lei<strong>de</strong>r nicht ausschaltbaren Zwischenzweck ist, dann muß es im<br />
höchsten Maße erwünscht sein, in diesem unheiligen Tun möglichst<br />
wirtschaftlich zu sein, um es auf das Min<strong>de</strong>stmaß herabzusetzen. Die<br />
Rationalisierung, <strong>de</strong>ren Erwünschtheit sich für das Weltkind aus <strong>de</strong>m Bestreben<br />
ergibt, die Unlustgefühle herabzusetzen und die Lustgefühle zu<br />
mehren, wird <strong>de</strong>m asketischen I<strong>de</strong>alen Ergebenen, <strong>de</strong>m die Unlustgefühle,<br />
die die Arbeit und das Entbehren erwecken, als Kasteiungen wertvoll<br />
wer<strong>de</strong>n, und <strong>de</strong>r die Lustgefühle <strong>de</strong>s Freiseins von Arbeit und <strong>de</strong>r<br />
Bedürfnisbefriedigung als sündhaft mei<strong>de</strong>n soll, durch die Pflicht<br />
auferlegt, sich <strong>de</strong>m Vergänglichen nicht länger zu widmen, als unumgänglich<br />
notwendig ist.<br />
Auch vom asketischen Standpunkt kann man daher sozialistische<br />
Produktionsweise nicht über kapitalistische stellen, wenn man sie nicht für<br />
die rationellere hält. Die Askese mag Beschränkung <strong>de</strong>r Tätigkeit zur<br />
Bedürfnisbefriedigung empfehlen, weil sie allzu behagliche Lebensweise<br />
verabscheut. Doch sie kann innerhalb <strong>de</strong>r Grenzen, die sie <strong>de</strong>r<br />
Bedürfnisbefriedigung läßt, nichts an<strong>de</strong>res für richtig ansehen als das, was<br />
die rationelle Wirtschaft for<strong>de</strong>rt.<br />
§ 2. Die sozialistische Heilsverkündigung ist ursprünglich aller<br />
asketischen Anschauung abhold gewesen. Sie hat in schroffer Ablehnung<br />
je<strong>de</strong>r Vertröstung auf ein Leben nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> schon auf Er<strong>de</strong>n für<br />
je<strong>de</strong>rmann ein Paradies schaffen wollen. Sie will vom Jenseits und von<br />
allen übrigen religiösen Versprechungen nichts wissen. Sie hat nur ein<br />
Ziel vor Augen: je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>n höchsten erreichbaren Wohlstand zu<br />
verbürgen. Nicht Entbehren, Genießen lautet ihr Programm. Die<br />
sozialistischen Führer haben sich stets mit Entschie<strong>de</strong>nheit gegen alle jene<br />
gewen<strong>de</strong>t, die <strong>de</strong>r Vermehrung <strong>de</strong>r Produkte gleichgültig gegenüberstan<strong>de</strong>n.<br />
Sie haben immer wie<strong>de</strong>r darauf hingewiesen, daß alles darauf<br />
ankomme, die Ergiebigkeit <strong>de</strong>r menschlichen Arbeit zu vervielfältigen,<br />
um die Qual <strong>de</strong>r Arbeit zu
398<br />
min<strong>de</strong>rn und die Lust <strong>de</strong>s Genusses zu mehren. Sie haben kein Verständnis<br />
gezeigt für die großartige Geste, mit <strong>de</strong>r die entarteten Sprößlinge im<br />
Wohlstan<strong>de</strong> leben<strong>de</strong>r Geschlechter die Reize <strong>de</strong>r Armut und <strong>de</strong>r einfachen<br />
Lebensführung preisen.<br />
Doch wer genauer zusieht, wird bemerken können, daß sich darin<br />
allmählich eine Än<strong>de</strong>rung anzubahnen beginnt. In <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m die<br />
Unwirtschaftlichkeit <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise <strong>de</strong>utlicher<br />
zutage tritt, bereitet sich auch in <strong>de</strong>r Auffassung <strong>de</strong>r Sozialisten über die<br />
Ersprießlichkeit reichlicherer Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ein<br />
Wan<strong>de</strong>l vor. Nun fangen auch viele Sozialisten an, Verständnis zu bezeigen<br />
für die Ausführungen <strong>de</strong>r das Mittelalter preisen<strong>de</strong>n Schriftsteller, die<br />
mit Geringschätzung auf die Bereicherung <strong>de</strong>s äußeren Lebens durch <strong>de</strong>n<br />
Kapitalismus blicken. 1<br />
Nun, wenn jemand kommt, um zu behaupten, daß man auch mit<br />
weniger Gütern glücklich o<strong>de</strong>r gar glücklicher wer<strong>de</strong>n könne, so kann<br />
man ihn ebensowenig wi<strong>de</strong>rlegen als er imstan<strong>de</strong> ist, seinen Satz zu<br />
beweisen. Die meisten Menschen freilich sind <strong>de</strong>r Meinung, daß sie an<br />
äußeren Gütern noch nicht genug haben, und weil sie die Mehrung <strong>de</strong>s<br />
Wohlbefin<strong>de</strong>ns durch stärkere Anspannung <strong>de</strong>r Kräfte höher schätzen als<br />
die Muße, die sie durch Verzicht auf <strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Mehrarbeit zu<br />
erwarten<strong>de</strong>n Gewinn dafür eintauschen könnten, plagen sie sich in<br />
mühsamen Gewerben. Doch selbst wenn man die Behauptung jener<br />
Halbasketen als richtig anerkennen wollte, so wäre damit noch lange nicht<br />
zugegeben, daß man die sozialistische Produktionsweise <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
vorziehen könne o<strong>de</strong>r müsse. Angenommen, es wür<strong>de</strong>n im<br />
Kapitalismus zuviel Güter erzeugt; dann könnte man ja <strong>de</strong>r Sache am<br />
einfachsten dadurch abhelfen, daß man die Summe <strong>de</strong>r geleisteten Arbeit<br />
herabsetzt. Der Beweis dafür, daß man die Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit durch<br />
Übergang zu einer weniger ergiebigen Produktionsweise herabsetzen soll,<br />
müßte erst beson<strong>de</strong>rs und auf an<strong>de</strong>rem Wege erbracht wer<strong>de</strong>n.<br />
III.<br />
Christentum und Sozialismus.<br />
§ 1. Nicht nur als Kirche, auch als Weltanschauung ist Religion ebenso<br />
ein Erzeugnis <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenwirkens <strong>de</strong>r Menschen<br />
wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Tatsache <strong>de</strong>s geistigen Lebens. Wie<br />
f.<br />
1 Vgl. z. B. Heichen, Sozialismus und Ethik (Die Neue Zeit, 38. Jahrg., 1. Bd.) S. 312
399<br />
unser Denken sich keineswegs als ein Individuelles, von allen gesellschaftlichen<br />
Beziehungen und Überlieferungen Unabhängiges darstellt,<br />
son<strong>de</strong>rn schon dadurch allein, daß es in <strong>de</strong>n Denkmetho<strong>de</strong>n vor sich<br />
geht, die in Jahrtausen<strong>de</strong>n durch das Zusammenwirken von ungezählten<br />
Scharen herausgebil<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, und die wir wie<strong>de</strong>r nur als Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft haben übernehmen können, sozialen Charakter hat, so ist<br />
auch das Religiöse als isolierte Erscheinung nicht vorstellbar. Auch <strong>de</strong>r<br />
Ekstatiker, <strong>de</strong>r in schauervoller Verzückung alle Umwelt vergessend,<br />
seinen Gott erlebt, ist zu seiner Religion nicht allein gekommen. Die<br />
Denkformen, die ihn zu ihr führen, sind nicht sein individuelles<br />
Erzeugnis, sie gehören <strong>de</strong>r Gesellschaft. Ein Kaspar Hauser kann nicht<br />
ohne frem<strong>de</strong> Hilfe Religion entwickeln. Auch die Religion ist ein<br />
geschichtlich Gewor<strong>de</strong>nes und im steten Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s Gesellschaftlichen<br />
Befindliches.<br />
Die Religion ist aber auch in <strong>de</strong>m Sinne ein sozialer Faktor, daß sie die<br />
gesellschaftlichen Beziehungen unter einem bestimmten Gesichtswinkel<br />
betrachtet und danach Regeln für das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Menschen in <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft aufstellt. Sie kann nicht darauf verzichten, in <strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>r<br />
Sozialethik Farbe zu bekennen. Keine Religion, die <strong>de</strong>m Gläubigen<br />
Antwort auf die Rätsel <strong>de</strong>s Lebens geben und ihn dort trösten will, wo er<br />
<strong>de</strong>s Trostes am bedürftigsten ist, darf sich damit begnügen, das Verhältnis<br />
<strong>de</strong>s Menschen zur Natur, zum Wer<strong>de</strong>n und Vergehen, zu <strong>de</strong>uten. Läßt sie<br />
das Verhältnis von Mensch zu Mensch außerhalb ihrer Betrachtung, dann<br />
vermag sie auch keine Regel für <strong>de</strong>n irdischen Lebenswan<strong>de</strong>l zu geben,<br />
und läßt <strong>de</strong>n Gläubigen allein, wenn er anfängt, über die Unzulänglichkeit<br />
<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Verhältnisse nachzu<strong>de</strong>nken. Wenn er wissen will,<br />
warum es Arme und Reiche, Gewalt und Gericht, Krieg und Frie<strong>de</strong>n gibt,<br />
muß ihm die Religion eine Antwort geben können, o<strong>de</strong>r sie nötigt ihn,<br />
sich an<strong>de</strong>rswo Antwort zu holen. Dann aber gibt sie <strong>de</strong>n Menschen frei<br />
und verliert die Macht über die Geister. Religion ohne Sozialethik ist tot.<br />
Tote Religionen sind heute Islam und Ju<strong>de</strong>ntum. Sie bieten ihren<br />
Anhängern nichts mehr als Ritualregeln. Beten und Fasten, bestimmte<br />
Speisen zu mei<strong>de</strong>n, die Vorhaut zu beschnei<strong>de</strong>n, solche und viele an<strong>de</strong>re<br />
Vorschriften wissen sie zu machen. Das ist aber auch alles. Dem Geiste<br />
bieten sie nichts. Sie sind durchaus entgeistigt; alles, was sie lehren und<br />
verkün<strong>de</strong>n, ist Rechtsform und äußere Vorschrift. Sie sperren <strong>de</strong>n Bekenner<br />
in einen Käfig von traditionellen Bräuchen und Lebensregeln ein, in<br />
<strong>de</strong>m er oft kaum
400<br />
Luft zum Atmen fin<strong>de</strong>t, doch seinem inneren Drang geben sie keine<br />
Befriedigung. Sie unterdrücken die Seele, doch sie erheben und retten sie<br />
nicht. Seit vielen Jahrhun<strong>de</strong>rten hat es im Islam, seit bald zwei<br />
Jahrtausen<strong>de</strong>n im Ju<strong>de</strong>ntum keine religiöse Bewegung gegeben. Die<br />
Religion <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n ist heute noch dieselbe wie in <strong>de</strong>n Tagen, da <strong>de</strong>r<br />
Talmud entstand, die <strong>de</strong>s Islam noch dieselbe wie in <strong>de</strong>n Tagen <strong>de</strong>r<br />
arabischen Eroberungen. Ihre Literatur, ihre Schulweisheit wie<strong>de</strong>rholen<br />
unaufhörlich dasselbe und dringen nicht über <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r Theologen<br />
hinaus. Vergebens sucht man bei ihnen nach Männern und Bewegungen,<br />
wie sie das abendländische Christentum in je<strong>de</strong>m Jahrhun<strong>de</strong>rt hervorgebracht<br />
hat. Das, was sie allein zusammenhält, ist die Ablehnung <strong>de</strong>s<br />
Frem<strong>de</strong>n und An<strong>de</strong>rsartigen, sind Tradition und Konservatismus. Nur im<br />
Haß gegen das Frem<strong>de</strong> leben sie noch, raffen sie sich immer wie<strong>de</strong>r zu<br />
großen Taten auf. Alle Sektenbildung, ja alle neuen Lehren, die bei ihnen<br />
aufkommen, sind nichts als Formen dieses Kampfes gegen das Frem<strong>de</strong>,<br />
gegen das Neue, gegen die Ungläubigen. Auf das geistige Leben <strong>de</strong>s<br />
einzelnen, soweit sich unter <strong>de</strong>m dumpfen Drucke <strong>de</strong>s starren<br />
Traditionalismus ein solches überhaupt entfalten kann, hat die Religion<br />
keinen Einfluß. Am charakteristischesten tritt dies in <strong>de</strong>r Einflußlosigkeit<br />
<strong>de</strong>s Klerus zutage. Seine Stellung ist nur äußerlich geachtet. Von <strong>de</strong>m<br />
tiefen Einfluß, <strong>de</strong>n er in <strong>de</strong>n abendländischen Kirchen - in je<strong>de</strong>r von ihr in<br />
an<strong>de</strong>rer Gestalt; man <strong>de</strong>nke an <strong>de</strong>n Jesuiten, an <strong>de</strong>n Bischof <strong>de</strong>utscher<br />
Katholiken und an <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen protestantischen Pfarrer - ausübt, ist hier<br />
keine Re<strong>de</strong>. Nicht an<strong>de</strong>rs war es in <strong>de</strong>n polytheistischen Religionen <strong>de</strong>s<br />
Altertums und nicht an<strong>de</strong>rs ist es in <strong>de</strong>r morgenländischen Kirche. Auch<br />
die griechische Kirche ist seit mehr als tausend Jahren tot. 1 Sie hat erst in<br />
<strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts wie<strong>de</strong>r einen Mann<br />
hervorgebracht, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Glaube und die Hoffnung als flammen<strong>de</strong>s<br />
Feuer lo<strong>de</strong>rten. Doch Tolstoi’s Christentum, so sehr es auch eine<br />
spezifisch morgenländische und russische Färbung hat, wurzelt in letzter<br />
Linie in abendländischer Auffassung, wie es <strong>de</strong>nn auch beson<strong>de</strong>rs<br />
charakteristisch ist, daß dieser große Verkün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Evangeliums nicht<br />
aus <strong>de</strong>r Tiefe <strong>de</strong>s Volkes wie etwa <strong>de</strong>r italienische Kaufmannssohn Franz<br />
von Assisi o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Bergmannssohn Martin Luther herkam,<br />
son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>n vornehmen Schichten, die durch Bildung und Lektüre<br />
ganz Abendlän<strong>de</strong>r gewor<strong>de</strong>n waren. Die russische<br />
1 Man vgl. die Charakteristik, die Harnack (Das Mönchtum, 7. Aufl., Gießen 1907, S.<br />
32 ff.) von <strong>de</strong>r morgenländischen Kirche gibt.
401<br />
Kirche selbst hat höchstens Männer wie Joan von Kronstadt o<strong>de</strong>r Rasputin<br />
hervorgebracht.<br />
Diesen toten Kirchen fehlt die beson<strong>de</strong>re Sozialethik. Von <strong>de</strong>r<br />
griechischen Kirche sagt Harnack: „Das eigentliche Gebiet, das durch <strong>de</strong>n<br />
Glauben zu regeln<strong>de</strong> sittliche Berufsleben, fällt außerhalb ihrer direkten<br />
Beobachtung. Es wird <strong>de</strong>m Staate und <strong>de</strong>m Volkstum überlassen“. 1 Doch<br />
in <strong>de</strong>r lebendigen Kirche <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s ist das ganz an<strong>de</strong>rs. Hier, wo<br />
<strong>de</strong>r Glaube noch nicht erloschen ist, wo er nicht nur äußere Form ist,<br />
hinter <strong>de</strong>r sich nichts verbirgt als <strong>de</strong>r Priester sinnlos gewor<strong>de</strong>nes Tun, wo<br />
er <strong>de</strong>n Menschen ganz erfaßt, wird unablässig um eine Sozialethik<br />
gerungen. Und immer wie<strong>de</strong>r greifen die Gläubigen auf das Evangelium<br />
zurück, um das Leben im Herrn und in seiner Botschaft zu erneuern.<br />
§ 2. Dem Gläubigen erscheint die Heilige Schrift als Nie<strong>de</strong>rschlag<br />
göttlicher Offenbarung, als Wort Gottes an die Menschheit, das auf immer<br />
die unerschütterliche Grundlage aller Religion und alles von ihr zu<br />
leiten<strong>de</strong>n Verhaltens bleiben muß. Das gilt nicht nur für <strong>de</strong>n Protestanten,<br />
<strong>de</strong>r auch alles Kirchenwesen nur so weit gelten läßt, als es sich auf die<br />
Schrift zu stützen vermag, son<strong>de</strong>rn auch für <strong>de</strong>n Katholiken, <strong>de</strong>r zwar<br />
einerseits die Autorität <strong>de</strong>r Schrift von <strong>de</strong>r Kirche herleitet, aber doch<br />
an<strong>de</strong>rerseits <strong>de</strong>r Schrift selbst göttlichen Ursprung zuerkennt, da sie unter<br />
Mitwirkung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes zustan<strong>de</strong> gekommen sei, ein Dualismus,<br />
<strong>de</strong>r dadurch überwun<strong>de</strong>n wird, daß <strong>de</strong>r Kirche allein das Recht <strong>de</strong>r<br />
endgültigen authentischen - unfehlbaren - Auslegung <strong>de</strong>r Schrift zusteht.<br />
Dabei wird die logische und systematische Einheit <strong>de</strong>r ganzen Schrift<br />
vorausgesetzt; die Überbrückung <strong>de</strong>r Schwierigkeiten, die sich aus dieser<br />
Annahme ergeben, ist dann eine <strong>de</strong>r wichtigsten Aufgaben <strong>de</strong>r Kirchenlehre<br />
und Wissenschaft.<br />
Die wissenschaftliche Forschung sieht in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>s Alten und<br />
<strong>de</strong>s Neuen Testaments geschichtliche Denkmäler, an die sie in <strong>de</strong>rselben<br />
Weise herantritt wie an alle Urkun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Geschichte. Sie löst die Einheit<br />
<strong>de</strong>r Bibel auf und sucht je<strong>de</strong>m Stück seine Stellung in <strong>de</strong>r<br />
Literaturgeschichte zuzuweisen. Mit <strong>de</strong>r Theologie ist diese mo<strong>de</strong>rne<br />
wissenschaftliche Bibelforschung ganz unvereinbar, was die katholische<br />
Kirche richtig erkannt hat, während die protestantische Kirche sich<br />
darüber hinwegzutäuschen bestrebt ist. Es hat keinen Sinn, die Gestalt <strong>de</strong>s<br />
geschichtlichen<br />
1 Vgl. Harnack, Das Mönchtum, a. a. O., S. 33.
402<br />
Jesus zu rekonstruieren, um Glaubens- und Sittenlehre auf <strong>de</strong>m Ergebnis<br />
dieser Studien aufzubauen. Solche Bemühungen stören nicht nur die<br />
wissenschaftliche Quellenforschung, die sie von ihrem eigentlichen Ziel<br />
ablenken und <strong>de</strong>r sie Aufgaben zuweisen, <strong>de</strong>nen sie nicht ohne<br />
Hineintragen von mo<strong>de</strong>rnen Wertmaßstäben nachzukommen vermag. Sie<br />
sind schon in sich selbst wi<strong>de</strong>rspruchsvoll, wenn sie auf <strong>de</strong>r einen Seite<br />
Christum und <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s Christentums geschichtlich begreifen<br />
wollen, an<strong>de</strong>rerseits aber doch diese geschichtlichen Erscheinungen als<br />
unverrückbaren Bo<strong>de</strong>n ansehen, von <strong>de</strong>m aus alles kirchliche Leben, auch<br />
das <strong>de</strong>r so ganz an<strong>de</strong>rs gearteten Gegenwart seine Norm zu empfangen<br />
hat. Es ist ein Wi<strong>de</strong>rspruch, das Christentum mit <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s<br />
Geschichtsforschers zu betrachten, und dann das Ergebnis <strong>de</strong>r geschichtlichen<br />
Studien für das Heute wirksam machen zu wollen. Das, was die<br />
Geschichte festzustellen vermag, ist nicht das Christentum in seiner<br />
„reinen Gestalt“, son<strong>de</strong>rn nur das Christentum in seiner „Urgestalt“. Wer<br />
bei<strong>de</strong>s verwechselt, verschließt die Augen vor einer bald zweitausendjährigen<br />
Entwicklung. 1 Der Fehler, in <strong>de</strong>n manche protestantische<br />
Theologen dabei verfallen sind, ist <strong>de</strong>rselbe, <strong>de</strong>n ein Teil <strong>de</strong>r historischen<br />
Rechtsschule begangen hat, wenn er die Ergebnisse <strong>de</strong>r rechtsgeschichtlichen<br />
Arbeiten für die Gesetzgebung und Rechtsprechung <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart nutzbar machen wollte. Das ist in Wahrheit nicht Historismus,<br />
son<strong>de</strong>rn Verneinung aller Entwicklung und aller Entwicklungsmöglichkeiten.<br />
Dem Absolutismus dieses Standpunktes gegenüber erscheint <strong>de</strong>r<br />
Absolutismus <strong>de</strong>r viel gescholtenen „seichten“ Rationalisten <strong>de</strong>s achtzehnten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts, die gera<strong>de</strong> das Fortschritts- und Entwicklungsmoment<br />
entschei<strong>de</strong>nd betonten, als eine wahrhaft geschichtliche Auffassung.<br />
Das Verhältnis <strong>de</strong>r christlichen Ethik zum Problem <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
darf man daher keineswegs mit <strong>de</strong>n Augen jener protestantischen<br />
Theologen betrachten, <strong>de</strong>ren Arbeit auf die Erforschung <strong>de</strong>s als<br />
unverän<strong>de</strong>rlich und unwan<strong>de</strong>lbar gedachten „Wesens“ <strong>de</strong>s Christentums<br />
gerichtet ist. Wenn man das Christentum als ein lebendiges und sich daher<br />
ständig verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>s Phänomen ansieht - eine Auffassung, die mit <strong>de</strong>m<br />
Standpunkt <strong>de</strong>r katholischen Kirche nicht so unvereinbar ist, wie es auf<br />
<strong>de</strong>n ersten Blick scheinen mag - dann muß man es von vornherein<br />
ablehnen, zu prüfen, ob Sozialismus o<strong>de</strong>r ob Son<strong>de</strong>reigentum seiner I<strong>de</strong>e<br />
besser entspricht. Man<br />
1 Vgl. Troeltsch, Gesammelte Schriften, II. Bd., Tübingen 1913, S.386 ff.
403<br />
kann nichts an<strong>de</strong>res tun, als die Geschichte <strong>de</strong>s Christentums an sich<br />
vorüberziehen lassen und prüfen, ob es durch sie in irgen<strong>de</strong>iner Weise für<br />
diese o<strong>de</strong>r jene Form <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenschlusses<br />
präjudiziert sei. Die Beachtung, die dabei <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>s Alten und <strong>de</strong>s<br />
Neuen Testaments gewidmet wird, ist durch die Be<strong>de</strong>utung gegeben, die<br />
sie als Quellen <strong>de</strong>r Kirchenlehre auch noch heute einnehmen müssen,<br />
nicht aber durch die Vermutung, daß man aus ihnen allein herauslesen<br />
könne, was Christentum sei.<br />
Das Endziel solcher Untersuchungen kann nur das sein, festzustellen,<br />
ob das Christentum notwendigerweise heute und in <strong>de</strong>r Zukunft eine auf<br />
<strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong> Wirtschaftsordnung<br />
ablehnen muß. Diese Frage ist noch nicht damit beantwortet, daß<br />
festgestellt wird - was ja allgemein bekannt ist - daß das Christentum in<br />
<strong>de</strong>n bald zweitausend Jahren seines Bestan<strong>de</strong>s sich mit <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum abzufin<strong>de</strong>n gewußt hat. Denn es könnte sein, daß die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Christentums o<strong>de</strong>r die <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums einen Punkt<br />
erreicht haben, an <strong>de</strong>m die Verträglichkeit <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n, auch wenn sie<br />
früher bestan<strong>de</strong>n hätte, nicht länger fortzubestehen vermag.<br />
§ 3. Das Urchristentum war nicht asketisch. In freudiger<br />
Lebensbejahung drängt es eher bewußt und <strong>de</strong>utlich die asketischen I<strong>de</strong>en,<br />
von <strong>de</strong>nen zahlreiche zeitgenössische Sekten erfüllt waren - als Asket<br />
lebte auch <strong>de</strong>r Täufer - in <strong>de</strong>n Hintergrund. Der asketische Zug wur<strong>de</strong> in<br />
das Christentum erst im dritten und vierten Jahrhun<strong>de</strong>rt hineingetragen;<br />
aus jener Zeit stammt die asketische Um<strong>de</strong>utung und Umformung <strong>de</strong>r<br />
evangelischen Lehre. Der Christus <strong>de</strong>s Evangeliums genießt im Kreise<br />
seiner Jünger das Leben, erquickt sich an Speise und Trank und feiert<br />
Feste <strong>de</strong>s Volkes mit; er ist gleich weit entfernt von Ausschweifung und<br />
Prasserei wie von Weltflucht und Askese. 1 Nur seine Auffassung <strong>de</strong>s<br />
Verhältnisses <strong>de</strong>r Geschlechter mutet uns asketisch an. Aber auch sie<br />
fin<strong>de</strong>t ihre Erklärung wie alle an<strong>de</strong>ren praktischen Lehren <strong>de</strong>s<br />
Evangeliums - und an<strong>de</strong>re als praktische Lebensregeln bringt das<br />
Evangelium nicht - aus <strong>de</strong>r Grundauffassung, von <strong>de</strong>r das ganze Auftreten<br />
Jesu getragen wird, aus <strong>de</strong>r Messiasi<strong>de</strong>e.<br />
„Die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut<br />
Buße und glaubet an das Evangelium!“, das sind die Worte,<br />
1 Vgl. Harnack, Das Wesen <strong>de</strong>s Christentums, 55. Tausend, Leipzig 1907, S. 50 ff.
404<br />
mit <strong>de</strong>nen das Evangelium <strong>de</strong>s Marcus <strong>de</strong>n Erlöser auftreten läßt. 1 Jesus<br />
hält sich für <strong>de</strong>n Verkün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s nahen<strong>de</strong>n Gottesreiches, jenes Reiches,<br />
das nach <strong>de</strong>r Weissagung <strong>de</strong>r Propheten die Erlösung von je<strong>de</strong>r irdischen<br />
Unzulänglichkeit, also auch von allen wirtschaftlichen Sorgen bringen<br />
soll. Die ihm nachfolgen, haben nichts an<strong>de</strong>res zu tun, als sich auf diesen<br />
Tag vorzubereiten. Jetzt heißt es nicht mehr, sich um irdische Dinge Sorge<br />
machen, <strong>de</strong>nn jetzt ist in Erwartung <strong>de</strong>s Reiches Wichtigeres zu besorgen.<br />
Jesus bringt keine Lebensregeln für irdisches Tun und Streben, sein Reich<br />
ist nicht von dieser Welt; was er seinen Anhängern an Verhaltungsmaßregeln<br />
gibt, hat nur Gültigkeit für die kurze Spanne Zeit, die noch in<br />
Erwartung <strong>de</strong>r großen kommen<strong>de</strong>n Dinge zu verleben ist. Im Reich Gottes<br />
wird es keine wirtschaftlichen Sorgen mehr geben. Dort wer<strong>de</strong>n die<br />
Frommen am Tische <strong>de</strong>s Herrn essen und trinken. 2 Für jenes Reich wären<br />
daher alle wirtschaftspolitischen Verfügungen sinnlos. Die Anordnungen,<br />
die Jesus trifft, sind nur als Übergangsbestimmungen aufzufassen. 3<br />
So nur kann man es verstehen, daß Jesus in <strong>de</strong>r Bergpredigt <strong>de</strong>n Seinen<br />
befiehlt, nicht Sorge zu tragen um Speise, Trank und Kleidung, daß er sie<br />
ermahnt, nicht zu säen, nicht zu ernten, nicht in die Scheunen zu sammeln,<br />
nicht zu arbeiten und nicht zu spinnen. Nur so vermag man seinen und<br />
seiner ersten Jünger „Kommunismus“ zu begreifen. Dieser „Kommunismus“<br />
ist kein Sozialismus, kein Produzieren mit Produktionsmitteln, die<br />
<strong>de</strong>r Gemeinschaft gehören. Er ist nichts als eine Verteilung von Konsumgütern<br />
unter die Angehörigen <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>, „nach <strong>de</strong>m Bedürfnis, das<br />
ein je<strong>de</strong>r hatte“. 4 Es ist ein Kommunismus <strong>de</strong>r Genußgüter, nicht <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel; es ist eine Gemeinschaft <strong>de</strong>s Verzehrens, nicht <strong>de</strong>s<br />
Erzeugens. Erzeugt, gearbeitet und gesammelt wird von <strong>de</strong>n Urchristen<br />
überhaupt nichts. Sie leben davon, daß die Neubekehrten ihr Hab und Gut<br />
veräußern und <strong>de</strong>n Erlös mit <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn und Schwestern teilen. Solche<br />
Zustän<strong>de</strong> sind auf die Dauer unhaltbar. Sie können nur als vorläufige<br />
Ordnung <strong>de</strong>r Dinge angesehen wer<strong>de</strong>n; und so war es<br />
1 Marc. 1, 15.<br />
2 Luc. 22, 30.<br />
3 Vgl. Harnack, Aus Wissenschaft und Leben, II. Bd., Gießen 1911, S. 257 ff.;<br />
Troeltsch, Die Soziallehren <strong>de</strong>r christlichen Kirchen und Gruppen, a. a. O., S. 31 ff.<br />
4 Apostelg. 4, 35.
405<br />
auch. Der Jünger Christi lebt in Erwartung <strong>de</strong>s Heils, das je<strong>de</strong>n Tag<br />
kommen muß.<br />
Die urchristliche Grundi<strong>de</strong>e von <strong>de</strong>m unmittelbaren Bevorstehen <strong>de</strong>r<br />
Erfüllung wan<strong>de</strong>lt sich dann allmählich in jene Vorstellung von <strong>de</strong>m<br />
jüngsten Gericht um, die <strong>de</strong>r Lehre aller jener kirchlichen Richtungen<br />
zugrun<strong>de</strong> liegt, die es zu länger währen<strong>de</strong>m Bestand gebracht haben. Hand<br />
in Hand mit diesem Wan<strong>de</strong>l mußten auch die Lebensregeln <strong>de</strong>s<br />
Christentums eine vollständige Umformung erfahren. Sie konnten nicht<br />
länger auf <strong>de</strong>r Erwartung <strong>de</strong>s unmittelbaren Eintretens <strong>de</strong>s Gottesreiches<br />
aufgebaut bleiben. Wenn die Gemein<strong>de</strong>n sich auf längeren Bestand<br />
einrichten wollten, dann mußten sie aufhören, von ihren Angehörigen<br />
Enthaltung von jeglicher Arbeit und beschauliches, nur <strong>de</strong>r Vorbereitung<br />
auf das Gottesreich gewidmetes Leben zu for<strong>de</strong>rn. Sie mußten es nicht nur<br />
dul<strong>de</strong>n, daß die Brü<strong>de</strong>r im Erwerbsleben verblieben, sie mußten es gera<strong>de</strong>zu<br />
verlangen, weil sie an<strong>de</strong>rs die Existenzbedingungen <strong>de</strong>s Christentums<br />
vernichtet hätten. Es begann <strong>de</strong>r Prozeß <strong>de</strong>r Anpassung <strong>de</strong>r Kirche an die<br />
Gesellschaftsordnung <strong>de</strong>s römischen Reiches, <strong>de</strong>r bald dazu führte, daß<br />
das Christentum, das von <strong>de</strong>r vollständigen Gleichgültigkeit gegenüber<br />
allen sozialen Verhältnissen ausgegangen war, die Gesellschaftsordnung<br />
<strong>de</strong>s sinken<strong>de</strong>n Römerreiches gera<strong>de</strong>zu kanonisierte.<br />
Nur mit Unrecht hat man von Soziallehren <strong>de</strong>s Urchristentums<br />
gesprochen. Der geschichtliche Christus und seine Lehren, so wie sie in<br />
<strong>de</strong>n ältesten Denkmälern <strong>de</strong>s Neuen Testaments dargestellt wer<strong>de</strong>n, sind<br />
allem Gesellschaftlichem überhaupt völlig gleichgültig gegenüber<br />
gestan<strong>de</strong>n. Sie haben wohl schärfste Kritik am Bestehen<strong>de</strong>n geübt, doch<br />
sie haben es nicht <strong>de</strong>r Mühe wert erachtet, sich um die Verbesserung <strong>de</strong>r<br />
geta<strong>de</strong>lten Zustän<strong>de</strong> irgendwie zu bekümmern, ja darüber auch nur<br />
nachzu<strong>de</strong>nken. Das alles ist Gottes Sache, <strong>de</strong>r sein Reich, <strong>de</strong>ssen Kommen<br />
unmittelbar bevorsteht, schon selbst in aller Herrlichkeit und<br />
Fehlerlosigkeit aufrichten wird. Wie dieses Reich aussehen wird, weiß<br />
man nicht, aber man weiß sehr genau, daß man darin sorglos leben wird.<br />
Jesus unterläßt es, darauf allzu genau einzugehen. Das war auch gar nicht<br />
nötig, <strong>de</strong>nn darüber, daß es im Gottesreich herrlich sein wird zu leben,<br />
bestand bei <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n seiner Zeit kein Zweifel. Die Propheten hatten es<br />
verkün<strong>de</strong>t, und ihre Worte lebten im Bewußtsein <strong>de</strong>s Volkes fort, bil<strong>de</strong>ten<br />
<strong>de</strong>n wesentlichsten Inhalt seines religiösen Denkens.<br />
Die Erwartung einer alsbald durch Gott selbst vorzunehmen<strong>de</strong>n
406<br />
Neuordnung aller Dinge, die ausschließliche Einstellung alles Tuns und<br />
Denkens auf das künftige Gottesreich macht die Lehre Jesu zu einer<br />
durchaus negativen. Er verneint alles Bestehen<strong>de</strong>, ohne etwas an<strong>de</strong>res an<br />
seine Stelle zu setzen. Alle bestehen<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Bindungen will<br />
er lösen. Nicht nur nicht für seinen Unterhalt sorgen soll sein Jünger, nicht<br />
nur nicht arbeiten und sich aller Habe entäußern; er soll auch Vater,<br />
Mutter, Weib, Kin<strong>de</strong>r, Brü<strong>de</strong>r, Schwestern, ja sein eigenes Leben hassen. 1<br />
Die Duldung, die Jesus <strong>de</strong>n weltlichen Gesetzen <strong>de</strong>s römischen Reiches<br />
und <strong>de</strong>n Vorschriften <strong>de</strong>s jüdischen Gesetzes wi<strong>de</strong>rfahren läßt, ist von<br />
Gleichgültigkeit und von Geringschätzung ihrer Be<strong>de</strong>utung, die doch nur<br />
eine zeitlich eng beschränkte sein könne, getragen, nicht aber von <strong>de</strong>r<br />
Anerkennung ihres Wertes. In <strong>de</strong>m Eifer <strong>de</strong>r Zerstörung aller bestehen<strong>de</strong>n<br />
gesellschaftlichen Bindungen kennt er keine Grenzen. Die Reinheit und<br />
die Kraft dieser vollständigen Negation wird von ekstatischer Inspiration,<br />
von begeistertem Hoffen auf eine neue Welt getragen. Daraus schöpft sie<br />
die Lei<strong>de</strong>nschaft, mit <strong>de</strong>r sie alles Bestehen<strong>de</strong> angreift. Sie kann alles<br />
zerstören, weil die Bausteine <strong>de</strong>r künftigen Ordnung von Gott in seiner<br />
Allmacht ganz neu gefügt wer<strong>de</strong>n sollen. Sie braucht nicht danach zu<br />
forschen, ob man irgend etwas vom Bestehen<strong>de</strong>n hinübernehmen könnte<br />
in das neue Reich, weil dieses ohne menschliches Zutun erstehen wird.<br />
Sie for<strong>de</strong>rt daher vom Anhänger keinerlei Ethik, kein bestimmtes<br />
Verhalten in positiver Richtung. Der Glaube allein und nichts als <strong>de</strong>r<br />
Glaube, die Hoffnung, die Erwartung, das ist alles, was er seinerseits zu<br />
leisten hat. Zum positiven Aufbau <strong>de</strong>r Zukunft hat er nichts beizutragen,<br />
das wird Gott schon allein besorgen. Am klarsten wird dieser auf die<br />
vollkommene Verneinung <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n beschränkte Charakter <strong>de</strong>r<br />
urchristlichen Lehre durch <strong>de</strong>n Vergleich mit <strong>de</strong>m Bolschewismus. Auch<br />
die Bolschewiken wollen alles Bestehen<strong>de</strong> zerstören, weil sie es für<br />
hoffnungslos schlecht halten. Doch sie haben, wenn auch sehr un<strong>de</strong>utlich<br />
und voll logischer Wi<strong>de</strong>rsprüche, ein bestimmtes Bild einer künftigen<br />
Gesellschaftsordnung im Kopfe; sie stellen an ihre Anhänger nicht nur das<br />
Ansinnen, alles, was ist, zu vernichten; sie for<strong>de</strong>rn darüber hinaus auch<br />
ein bestimmtes Verhalten, wie es <strong>de</strong>m von ihnen erträumten Zukunftsreich<br />
entspricht. Die Lehre Jesu aber ist nur verneinend. 2<br />
Gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Umstand, daß Jesus kein Sozialreformer war, daß<br />
1 Luc. 14, 26.<br />
2 Vgl. Pflei<strong>de</strong>rer, a. a. O., I. Bd., S. 649 ff.
407<br />
seine Lehren frei von je<strong>de</strong>r für das irdische Leben anwendbaren Moral<br />
sind, daß alles, was er seinen Jüngern empfiehlt, nur Sinn hat, wenn man<br />
mit umgürteten Len<strong>de</strong>n und brennen<strong>de</strong>n Lichtern <strong>de</strong>n Herrn erwartet, um<br />
ihm alsbald zu öffnen, wenn er kommt und anklopft, 1 hat das Christentum<br />
befähigt, <strong>de</strong>n Siegeslauf durch die Welt anzutreten. Nur weil es<br />
vollkommen asozial und amoralisch ist, konnte es durch die Jahrhun<strong>de</strong>rte<br />
schreiten, ohne von <strong>de</strong>n gewaltigen Umwälzungen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Lebens vernichtet zu wer<strong>de</strong>n. Nur so konnte es die Religion römischer<br />
Kaiser und angelsächsischer Unternehmer, afrikanischer Neger und<br />
europäischer Germanen, mittelalterlicher Feudalherren und mo<strong>de</strong>rner<br />
Industriearbeiter sein. Weil es nichts enthält, was es an eine bestimmte<br />
Sozialordnung gebun<strong>de</strong>n hätte, weil es zeitlos und parteilos ist, konnte<br />
je<strong>de</strong> Zeit und je<strong>de</strong> Partei daraus das verwerten, was sie wollte.<br />
§ 4. Je<strong>de</strong> Zeit hat aus <strong>de</strong>n Evangelien das herausgelesen, was sie aus<br />
ihnen herauslesen wollte, und das übersehen, was sie übersehen wollte.<br />
Man kann das durch nichts besser belegen als durch <strong>de</strong>n Hinweis auf die<br />
überragen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>r Wucherlehre viele Jahrhun<strong>de</strong>rte lang in<br />
<strong>de</strong>r kirchlichen Sozialethik zugekommen ist. 2 In <strong>de</strong>n Evangelien und in<br />
<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Schriften <strong>de</strong>s Neuen Testaments wer<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n Jünger<br />
Christi ganz an<strong>de</strong>re For<strong>de</strong>rungen gestellt als die, auf die Zinsen von<br />
ausgeliehenen Kapitalien zu verzichten. Das kanonische Zinsverbot ist ein<br />
Erzeugnis <strong>de</strong>r mittelalterlichen Gesellschafts- und Verkehrsdoktrin und<br />
hatte mit <strong>de</strong>m Christentum und seinen Lehren zunächst nichts zu tun. Die<br />
sittliche Verurteilung <strong>de</strong>s Wuchers und das Zinsverbot gingen voran; sie<br />
wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Schriftstellern und von <strong>de</strong>r Gesetzgebung <strong>de</strong>s Altertums<br />
übernommen und in <strong>de</strong>m Maße ausgestaltet, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Kampf gegen <strong>de</strong>n<br />
wirtschaftlichen Rationalismus an Stärke zunahm; dann erst suchte man<br />
sie auch durch Belege aus <strong>de</strong>r Heiligen Schrift zu stützen. Das<br />
Zinsnehmen wur<strong>de</strong> nicht bekämpft, weil das Christentum es for<strong>de</strong>rte; weil<br />
<strong>de</strong>r Wucher bekämpft wur<strong>de</strong>, las man auch<br />
1 Luc. 12, 35-36.<br />
2 „Die Lehre <strong>de</strong>s mittelalterlichen Verkehrsrechts wurzelt in <strong>de</strong>m kanonischen Dogma<br />
von <strong>de</strong>r Unfruchtbarkeit <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>r daraus hervorgehen<strong>de</strong>n Summe von Folgesätzen,<br />
welche unter <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>r Wucherlehre zu begreifen sind. . . . Die<br />
Rechtshistorie <strong>de</strong>s Verkehrsrechts jener Zeiten kann nichts an<strong>de</strong>res sein als die Geschichte<br />
<strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Wucherlehre in <strong>de</strong>r Rechtslehre.“ (En<strong>de</strong>mann, Studien in <strong>de</strong>r romanischkanonistischen<br />
Wirtschafts- und Rechtslehre bis gegen En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s siebzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts,<br />
Berlin 1874/83, I. Bd., S. 2.)
408<br />
aus <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>s Christentums seine Verurteilung heraus. Da das<br />
Neue Testament dafür nicht zu brauchen war, mußte man das Alte<br />
Testament heranziehen. Jahrhun<strong>de</strong>rtelang kam man nicht auf <strong>de</strong>n<br />
Gedanken, auch aus <strong>de</strong>m Neuen Testament eine Stelle zur Stützung <strong>de</strong>s<br />
Zinsverbots heranzuziehen. Erst spät gelang es scholastischer<br />
Interpretationskunst, im Evangelium <strong>de</strong>s Lukas jene vielberufene Stelle 1<br />
so auszulegen, daß man auf sie das Zinsverbot aufzubauen vermochte.<br />
Das geschah erst am Ausgang <strong>de</strong>s zwölften Jahrhun<strong>de</strong>rts; erst seit Urbans<br />
III. Dekretale Consuluit wird jene Stelle als Beweis für das Zinsverbot<br />
angeführt. 2 Doch die Deutung, die man dabei <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s<br />
Evangelisten Lukas unterschob, war durchaus unhaltbar; sie sprechen<br />
bestimmt nicht vom Zinsnehmen. Μηδέν άπελπίζοντες mag in <strong>de</strong>m<br />
Zusammenhang <strong>de</strong>r Stelle heißen: rechnet nicht auf Rückerstattung <strong>de</strong>s<br />
Geliehenen, o<strong>de</strong>r noch wahrscheinlicher: ihr sollt nicht nur <strong>de</strong>m<br />
Vermögen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r euch wie<strong>de</strong>r einmal borgen kann, leihen, son<strong>de</strong>rn auch<br />
<strong>de</strong>m, von <strong>de</strong>m das nicht in Aussicht steht, <strong>de</strong>m Armen. 3<br />
Von <strong>de</strong>r großen Be<strong>de</strong>utung, die man dieser Stelle <strong>de</strong>r Schrift beilegte,<br />
sticht die Nichtbeachtung an<strong>de</strong>rer evangelischer Gebote und Verbote kraß<br />
ab. Die Kirche <strong>de</strong>s Mittelalters war emsig darauf bedacht, das Wucherverbot<br />
bis in seine letzten Konsequenzen herauszuarbeiten und zur<br />
Geltung zu bringen. Sie hat es aber geflissentlich unterlassen, vielen<br />
klaren und unzwei<strong>de</strong>utigen Bestimmungen <strong>de</strong>r Evangelien auch nur mit<br />
einem kleinen Bruchteil jenes Aufwan<strong>de</strong>s an Kraft, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>r<br />
Durchsetzung <strong>de</strong>s Zinsverbotes widmete, Gehorsam zu verschaffen. In<br />
<strong>de</strong>mselben Kapitel <strong>de</strong>s Evangeliums <strong>de</strong>s Lukas, in <strong>de</strong>m sich das<br />
vermeintliche Zinsverbot fin<strong>de</strong>t, wird mit bestimmten Worten noch ganz<br />
an<strong>de</strong>res befohlen o<strong>de</strong>r verboten. Nie aber hat die Kirche sich ernstlich<br />
darum bemüht gezeigt, <strong>de</strong>m Bestohlenen o<strong>de</strong>r Beraubten zu verbieten, das<br />
Seine zurückzufor<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>m Räuber keinen Wi<strong>de</strong>rstand entgegenzusetzen;<br />
nie hat sie das Richten als eine unchristliche Handlung zu<br />
brandmarken gesucht. Ebensowenig ist sie daran gegangen, die übrigen<br />
Vorschriften<br />
1 Luc. 6, 35.<br />
2 c. 10. X. De usuris (III. 19). - Vgl. Schaub, Der Kampf gegen <strong>de</strong>n Zinswucher,<br />
ungerechten Preis und unlautern Han<strong>de</strong>l im Mittelalter, Freiburg 1905, S. 61 ff.<br />
3 Diese Deutung gibt <strong>de</strong>r Stelle Knies, Geld und Kredit, II. Abt., 1. Hälfte. Berlin 1876,<br />
S. 333-335 Anm.
409<br />
<strong>de</strong>r Bergpredigt, etwa: nicht für Speise und Trank sorgen, zu erzwingen. 1<br />
§ 5. Seit <strong>de</strong>m dritten Jahrhun<strong>de</strong>rt hat das Christentum immer zugleich<br />
<strong>de</strong>nen gedient, die die jeweils herrschen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung stützten,<br />
und jenen, die sie stürzen wollten. Bei<strong>de</strong> Teile haben sich mit gleichem<br />
Unrecht auf das Evangelium berufen; bei<strong>de</strong> glaubten zugunsten ihrer<br />
Auffassung Bibelstellen ins Treffen führen zu können. Auch heute ist es<br />
nicht an<strong>de</strong>rs. Das Christentum kämpft gegen <strong>de</strong>n Sozialismus und mit<br />
ihm.<br />
Die Bestrebungen, die Einrichtung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums überhaupt<br />
und im beson<strong>de</strong>ren die <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
auf die Lehren Christi zu stützen, sind ganz vergebens. Aller Interpretationskunst<br />
kann es nicht gelingen, in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>s Neuen<br />
Testaments auch nur eine Stelle aufzufin<strong>de</strong>n, die man zugunsten <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums <strong>de</strong>uten könnte. Die Beweisführung jener, die das<br />
Eigentum durch Bibelstellen verteidigen wollen, muß daher auf die<br />
Schriften <strong>de</strong>s Alten Bun<strong>de</strong>s zurückgreifen o<strong>de</strong>r sich darauf beschränken,<br />
die Behauptung in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> <strong>de</strong>r ersten Christen habe Kommunismus<br />
geherrscht, zu bekämpfen. 2 Daß das jüdische Gemeinwesen Son<strong>de</strong>reigentum<br />
gekannt hat, ist aber nie bestritten wor<strong>de</strong>n; für die Frage <strong>de</strong>r Stellung<br />
<strong>de</strong>s Urchristentums ist es durchaus nicht entschei<strong>de</strong>nd. Daß Jesus die<br />
wirtschaftspolitischen I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s jüdischen Gesetzes gebilligt hätte, kann<br />
ebensowenig erwiesen wer<strong>de</strong>n wie das Gegenteil. Er hat sich ihnen gegenüber<br />
- geleitet von seiner Auffassung <strong>de</strong>s unmittelbar bevorstehen<strong>de</strong>n<br />
Anbruchs <strong>de</strong>s Gottesreiches - vollkommen neutral verhalten. Wohl sagt<br />
Christus, daß er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, son<strong>de</strong>rn zu<br />
erfüllen. 3 Doch auch diese Worte muß man von <strong>de</strong>m Gesichtspunkte aus<br />
zu verstehen suchen, <strong>de</strong>r allein das Verständnis <strong>de</strong>s ganzen Wirkens Jesu<br />
gibt. Daß sie sich nicht auf die für das irdische Leben vor Anbruch <strong>de</strong>r<br />
Gottesherrschaft getroffenen Bestimmungen <strong>de</strong>s mosaischen Gesetzes<br />
beziehen können, ergibt sich wohl klar daraus, daß einzelne seiner<br />
Weisungen in schroffem Wi<strong>de</strong>rspruch zum Gesetze stehen. Auch daß <strong>de</strong>r<br />
Hinweis auf <strong>de</strong>n „Kommunismus“ <strong>de</strong>r ersten Christen nichts zugunsten<br />
„<strong>de</strong>s kollektivistischen<br />
1 Über die jüngste kirchliche Gesetzgebung, die im c. 1543, Cod. iur. can., zu einer<br />
bedingten Anerkennung <strong>de</strong>r Rechtmäßigkeit <strong>de</strong>s Zinsnehmens gelangt ist vgl.<br />
Zehentbauer, Das Zinsproblem nach Moral und Recht, Wien 1920, S. 138 ff.<br />
2 Vgl. Pesch, a. a. O., S. 212 ff.<br />
3 Matth. 5, 17.
410<br />
Kommunismus nach mo<strong>de</strong>rnen Begriffen“ beweist, 1 kann ohne weiteres<br />
zugegeben wer<strong>de</strong>n, ohne daß aber daraus die Folgerung abgeleitet wer<strong>de</strong>n<br />
darf, daß Christus das Eigentum gebilligt hätte. 2<br />
Eines freilich ist klar und läßt sich durch keine Auslegungskunst<br />
verdunkeln: Jesu Worte sind voll von Groll gegen die Reichen, und die<br />
Apostel stehen <strong>de</strong>m Erlöser darin nicht nach. Der Reiche wird verdammt,<br />
weil er reich ist, <strong>de</strong>r Bettler gepriesen, weil er arm ist. Jesus for<strong>de</strong>rt nicht<br />
zum Kampf gegen die Reichen auf, er predigt nicht Rache an ihnen, doch<br />
nur darum, weil Gott selbst sich die Rache vorbehalten hat. Im<br />
Gottesreich wer<strong>de</strong>n die, die jetzt arm sind, reich sein; <strong>de</strong>n Reichen aber<br />
wird es schlecht ergehen. Spätere Redaktionen haben die gegen die<br />
Reichen gerichteten Worte Christi, die in <strong>de</strong>r uns überkommenen Fassung<br />
<strong>de</strong>s Lukas-Evangeliums am vollständigsten und am kräftigsten wie<strong>de</strong>rgegeben<br />
sind, zu mil<strong>de</strong>rn versucht. Doch es blieb genug stehen, um allen<br />
<strong>de</strong>njenigen, die zum Haß gegen die Reichen, zur Rache, zu Mord und<br />
Brand aufriefen, zu gestatten, sich auf die Heilige Schrift zu berufen. Bis<br />
auf <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Sozialismus herunter hat keine Richtung, die in <strong>de</strong>r<br />
christlichen Welt gegen das Privateigentum aufgestan<strong>de</strong>n ist, darauf<br />
verzichtet, sich auf Jesus, auf die Apostel und auf die Kirchenväter zu<br />
berufen, von solchen, die wie Tolstoi <strong>de</strong>n evangelischen Groll gegen die<br />
Reichen gera<strong>de</strong>zu zum Mittelpunkt ihrer Lehren gemacht haben, ganz zu<br />
schweigen. Es ist eine böse Saat, die hier aus <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>s Erlösers<br />
aufgegangen ist. Mehr Blut ist um ihretwillen geflossen, mehr Unheil von<br />
ihnen angerichtet wor<strong>de</strong>n als durch Ketzerverfolgung und durch<br />
1 Vgl. Pesch, a. a. O., S. 212.<br />
2 Pflei<strong>de</strong>rer (a. a. O., I. Bd., S. 651) erklärt die pessimistische Beurteilung <strong>de</strong>s<br />
irdischen Besitzes durch Jesus aus <strong>de</strong>r apokalyptischen Erwartung <strong>de</strong>r nahen Weltkatastrophe.<br />
„Statt seine rigoristischen Aussprüche hierüber im Sinne unserer heutigen<br />
Sozialethik um<strong>de</strong>uten und zurecht rücken zu wollen, sollte man sich ein für allemal mit<br />
<strong>de</strong>m Gedanken vertraut machen, daß Jesus nicht als rationaler Morallehrer, son<strong>de</strong>rn als<br />
enthusiastischer Prophet <strong>de</strong>r nahen Gottesherrschaft aufgetreten und eben nur dadurch zum<br />
Quellpunkt <strong>de</strong>r Erlösungsreligion gewor<strong>de</strong>n ist; wer aber <strong>de</strong>n eschatologischen Prophetenenthusiasmus<br />
unmittelbar zur dauern<strong>de</strong>n Autorität und Norm für die Sozialethik machen<br />
will, <strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt ebenso weise, wie <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n Flammen eines Vulkans seinen Herd<br />
heizen und seine Suppe kochen will.“ - Am 25. Mai 1525 schrieb Luther an <strong>de</strong>n Rat von<br />
Danzig: „Das Evangelium ist ein geistlich Gesetz, danach man nicht recht regieren kann“.<br />
Vgl. Neumann, Geschichte <strong>de</strong>s Wuchers in Deutschland, Halle 1865, S. 618. - Vgl. auch<br />
Traub, Ethik und Kapitalismus, 2. Aufl., Heilbronn 1909, S. 71.
411<br />
Hexenverbrennung. Sie haben die Kirche stets wehrlos gemacht gegen<br />
alle auf Zerstörung <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft gerichteten Bestrebungen.<br />
Wohl stand die Kirche als Organisation stets auf Seite <strong>de</strong>rer, die<br />
sich bemühten, <strong>de</strong>n Ansturm <strong>de</strong>r Kommunisten abzuwehren. Doch was sie<br />
in diesem Kampfe leisten konnte, war nicht viel. Denn immer wie<strong>de</strong>r<br />
wur<strong>de</strong> sie entwaffnet, wenn ihr das Wort entgegengeschleu<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>:<br />
„Selig seid Ihr Bettler, <strong>de</strong>nn Euer ist das Reich Gottes.“<br />
Nichts ist daher weniger haltbar als die immer wie<strong>de</strong>r aufgestellte<br />
Behauptung, daß die Religiosität, das heißt das Bekenntnis zum<br />
christlichen Glauben, eine Wehr gegen die Verbreitung eigentumsfeindlicher<br />
Lehren bil<strong>de</strong>, und daß sie die Masse unempfänglich mache für das<br />
Gift sozialer Verhetzung. Je<strong>de</strong> Kirche, die sich in einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum<br />
aufgebauten Gesellschaft entfalten will, muß sich in irgen<strong>de</strong>iner<br />
Weise mit <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum abfin<strong>de</strong>n. Aber dies kann mit Rücksicht<br />
auf die Stellung, die Jesus zu <strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Zusammenlebens <strong>de</strong>r Menschen eingenommen hat, für je<strong>de</strong> christliche<br />
Kirche nie mehr als ein Abfin<strong>de</strong>n, nie mehr als ein Kompromiß sein, das<br />
solange Anerkennung fin<strong>de</strong>t, als nicht Männer auftreten, die die Worte <strong>de</strong>r<br />
Schrift wörtlich zu nehmen gewillt sind. Es ist töricht zu behaupten, die<br />
Aufklärung habe durch Untergraben <strong>de</strong>r Religiosität <strong>de</strong>r Massen die Bahn<br />
für <strong>de</strong>n Sozialismus freigemacht. Im Gegenteil. Die Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>, die die<br />
Ausbreitung <strong>de</strong>r liberalen I<strong>de</strong>en von seiten <strong>de</strong>s Christentums erfahren hat<br />
haben <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n bereitet, auf <strong>de</strong>m das Ressentiment <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
Destruktionismus ge<strong>de</strong>ihen konnte. Die Kirche hat nicht nur nichts getan,<br />
um <strong>de</strong>n Brand zu löschen, sie hat selbst das Feuer geschürt. In <strong>de</strong>n<br />
katholischen und in <strong>de</strong>n protestantischen Län<strong>de</strong>rn erwuchs <strong>de</strong>r christliche<br />
Sozialismus; die russische Kirche aber hat die Lehre Tolstois entstehen<br />
sehen, die an Gesellschaftsfeindlichkeit nicht überboten wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Wohl hat sich die offizielle Kirche gegen diese Bestrebungen zunächst zu<br />
wehren gesucht; sie mußte ihnen aber schließlich doch unterliegen, weil<br />
sie eben gegen die Berufung auf die Worte <strong>de</strong>r Schrift machtlos ist.<br />
Das Evangelium ist nicht sozialistisch, nicht kommunistisch. Gewiß<br />
nicht. Doch es ist, wie gezeigt wur<strong>de</strong>, einerseits gegen alle sozialen<br />
Fragen gleichgültig, an<strong>de</strong>rerseits voll von Ressentiment gegen allen Besitz<br />
und gegen alle Besitzer. So kommt es, daß die christliche Lehre, sobald<br />
die Erwartung <strong>de</strong>s unmittelbaren Bevorstehens <strong>de</strong>s Gottesreiches, die<br />
Voraussetzung, unter <strong>de</strong>r Christus sie verkün<strong>de</strong>t
412<br />
hat, wegfällt, extrem <strong>de</strong>struktionistisch wirken kann. Nie und nimmer<br />
kann es gelingen, auf einer Lehre, die die Sorge um <strong>de</strong>n Lebensunterhalt<br />
und das Arbeiten verbietet, <strong>de</strong>m Groll gegen die Reichen feurigen<br />
Ausdruck verleiht, <strong>de</strong>n Haß gegen die Familie predigt und die freiwillige<br />
Selbstentmannung empfiehlt, eine Sozialethik aufzubauen, die das<br />
gesellschaftliche Zusammenwirken <strong>de</strong>r Menschen bejaht.<br />
Die Kulturarbeit, die die Kirche in ihrer jahrhun<strong>de</strong>rtelangen Entwicklung<br />
vollbracht hat, ist ein Werk <strong>de</strong>r Kirche, nicht <strong>de</strong>s Christentums. Es<br />
bleibt dahingestellt, wieviel davon auf das Erbe, das sie von <strong>de</strong>r Kultur<br />
<strong>de</strong>s römischen Staates übernommen hat, und wieviel auf <strong>de</strong>n von ihr unter<br />
<strong>de</strong>r Einwirkung <strong>de</strong>r stoischen und mancher an<strong>de</strong>ren philosophischen<br />
Lehren ganz umgestalteten Gedanken <strong>de</strong>r christlichen Liebe entfällt. Die<br />
Sozialethik Jesu hat keinen Teil an diesem Kulturwerk. Ihr gegenüber<br />
bestand die Leistung <strong>de</strong>r Kirche ausschließlich in <strong>de</strong>r Unschädlichmachung.<br />
Doch diese Unschädlichmachung konnte immer nur für eine beschränkte<br />
Spanne Zeit gelingen. Da die Kirche notwendigerweise das<br />
Evangelium als ihre Grundlage bestehen lassen muß, muß sie immer<br />
damit rechnen, aus <strong>de</strong>r Mitte ihrer Gemein<strong>de</strong> heraus die Rebellion jener<br />
wie<strong>de</strong>r erwachen zu sehen, die die Worte Jesu an<strong>de</strong>rs verstehen wollen als<br />
sie sie verstan<strong>de</strong>n haben will.<br />
Eine Sozialethik, die für das irdische Leben paßt, kann nie und nimmer<br />
auf <strong>de</strong>m Worte <strong>de</strong>s Evangeliums aufgebaut wer<strong>de</strong>n. Ob <strong>de</strong>r geschichtliche<br />
Jesus gera<strong>de</strong>so und dasselbe gelehrt hat, was die Evangelien von ihm<br />
berichten, ist dabei gleichgültig. Denn für je<strong>de</strong> christliche Kirche ist das<br />
Evangelium im Verein mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Schriften <strong>de</strong>s Neuen Testaments<br />
die Grundlage, von <strong>de</strong>r sie nicht lassen kann, ohne ihr Wesen zu<br />
vernichten. Selbst wenn es etwa geschichtlichen Forschungen gelingen<br />
sollte, mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit darzutun, daß <strong>de</strong>r<br />
geschichtliche Jesus an<strong>de</strong>rs über die Dinge <strong>de</strong>r menschlichen Gesellschaft<br />
gedacht und gesprochen hätte, als es in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>s Neuen Bun<strong>de</strong>s<br />
geschrieben steht, für die Kirche müßte doch das, was in diesen Schriften<br />
nie<strong>de</strong>rgelegt ist, ungeschwächt seine Kraft behalten. Für sie muß, was dort<br />
geschrieben steht, Gotteswort bleiben. Und da gibt es scheinbar nur zwei<br />
Möglichkeiten. Die Kirche kann, wie es die morgenländische Kirche<br />
getan hat, auf je<strong>de</strong> Stellungnahme zu <strong>de</strong>n Problemen <strong>de</strong>r Sozialethik<br />
verzichten, womit sie zugleich aufhört, eine sittliche Macht zu sein, und<br />
sich darauf beschränkt, eine rein <strong>de</strong>korative
413<br />
Stellung im Leben einzunehmen. Den an<strong>de</strong>ren Weg ist die abendländische<br />
Kirche gegangen. Sie hat jeweils die Sozialethik in ihre Lehre aufgenommen,<br />
die ihren augenblicklichen Interessen, ihrer Stellung in Staat<br />
und Gesellschaft, am besten entsprochen hat. Sie hat sich mit <strong>de</strong>n feudalen<br />
Grundherren gegen die Grundhol<strong>de</strong>n verbün<strong>de</strong>t, sie hat die Sklavenwirtschaft<br />
auf <strong>de</strong>n Plantagen Amerikas gestützt, sie hat aber auch - im<br />
Protestantismus, beson<strong>de</strong>rs im Calvinismus - die Moral <strong>de</strong>s aufsteigen<strong>de</strong>n<br />
Rationalismus zu ihrer eigenen gemacht. Sie hat <strong>de</strong>n Kampf <strong>de</strong>r irischen<br />
Pächter gegen die englischen Lords geför<strong>de</strong>rt, sie kämpft mit <strong>de</strong>n<br />
katholischen Gewerkschaften gegen die Unternehmer und wie<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>n<br />
konservativen Regierungen gegen die Sozial<strong>de</strong>mokratie. Und je<strong>de</strong>smal hat<br />
sie es verstan<strong>de</strong>n, ihre Stellungnahme durch Bibelverse zu rechtfertigen.<br />
Auch dies ist in Wahrheit eine Abdankung <strong>de</strong>s Christentums auf<br />
sozialethischem Gebiet. Die Kirche wird dadurch zum willenlosen<br />
Werkzeug je<strong>de</strong>r Zeit- und Mo<strong>de</strong>strömung. Was aber noch schlimmer ist,<br />
durch die Art, in <strong>de</strong>r sie ihre jeweilige Parteinahme evangelisch zu<br />
begrün<strong>de</strong>n sucht, legt sie je<strong>de</strong>r Richtung nahe, dasselbe zu tun und<br />
gleichfalls aus <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>r Schrift <strong>de</strong>n eigenen Standpunkt zu<br />
rechtfertigen. Daß dabei allein jene schließlich obsiegen mußten, die die<br />
<strong>de</strong>struktivsten Ten<strong>de</strong>nzen verfolgten, ist bei <strong>de</strong>m Charakter <strong>de</strong>r Bibelworte,<br />
die man für sozialpolitische Zwecke auszuwerten vermag, klar.<br />
Doch wenn es auch aussichtslos ist, eine christliche Sozialethik auf<br />
<strong>de</strong>m Worte <strong>de</strong>s Evangeliums aufzubauen, ist es nicht, könnte man fragen,<br />
vielleicht doch möglich, die christliche Lehre mit einer Sozialethik in<br />
Einklang zu bringen, die das gesellschaftliche Leben för<strong>de</strong>rt, statt es zu<br />
zerstören, und auf diese Weise die große Macht <strong>de</strong>s Christentums in <strong>de</strong>n<br />
Dienst <strong>de</strong>r Kultur zu stellen? Eine solche Wandlung <strong>de</strong>s Christentums<br />
wür<strong>de</strong> nicht ohne Beispiel dastehen. Die Kirche hat sich damit<br />
abgefun<strong>de</strong>n, daß die naturwissenschaftlichen Anschauungen <strong>de</strong>s Alten<br />
und <strong>de</strong>s Neuen Testaments durch die mo<strong>de</strong>rne Wissenschaft als unhaltbar<br />
erwiesen wur<strong>de</strong>n. Sie verbrennt heute niemand mehr als Ketzer, weil er<br />
behauptet, die Er<strong>de</strong> bewege sich, und sie verfolgt diejenigen, die die<br />
Erweckung <strong>de</strong>s Lazarus und die leibliche Wie<strong>de</strong>rauferstehung <strong>de</strong>r Toten<br />
anzuzweifeln wagen, nicht mehr durch das Inquisitionstribunal. Selbst<br />
Priestern <strong>de</strong>r römischen Kirche ist es heute gestattet, Astronomie und<br />
Entwicklungsgeschichte zu betreiben. Sollte das gleiche nicht auch in <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaftslehre möglich sein? Sollte die Kirche nicht
414<br />
imstan<strong>de</strong> sein, einen Weg zu fin<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>m sich ihre Versöhnung mit<br />
<strong>de</strong>m gesellschaftlichen Grundsatz <strong>de</strong>r freien Kooperation durch Arbeitsteilung<br />
anbahnen ließe? Könnte nicht gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Grundsatz <strong>de</strong>r<br />
christlichen Liebe in diesem Sinne aufgefaßt wer<strong>de</strong>n?<br />
Das sind Fragen, an <strong>de</strong>nen nicht nur die Kirche interessiert ist. Hier<br />
han<strong>de</strong>lt es sich um das Schicksal <strong>de</strong>r Kultur. Denn es ist nicht so, daß <strong>de</strong>r<br />
Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Kirche gegen die liberalen I<strong>de</strong>en gefahrlos ist. Die Kirche<br />
ist eine so gewaltige Macht, daß ihre Gegnerschaft gegen die gesellschaftsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Kraft imstan<strong>de</strong> wäre, unsere ganze Kultur in Trümmer zu<br />
schlagen. Wir haben es schau<strong>de</strong>rnd erlebt, welch fürchterlicher Feind sie<br />
in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten für das Bestehen <strong>de</strong>r Gesellschaft gewor<strong>de</strong>n ist.<br />
Denn, daß heute die Welt voll ist von Destruktionismus, das ist nicht in<br />
letzter Linie ein Werk <strong>de</strong>r Kirche, <strong>de</strong>r katholischen sowohl als auch <strong>de</strong>r<br />
protestantischen, <strong>de</strong>ren christlicher Sozialismus kaum weniger Ursache<br />
<strong>de</strong>r heutigen Wirren ist als <strong>de</strong>r atheistische Sozialismus.<br />
§ 6. Die Abneigung <strong>de</strong>r Kirche gegen je<strong>de</strong> wirtschaftliche Freiheit und<br />
gegen je<strong>de</strong> Form <strong>de</strong>s wirtschaftspolitischen Liberalismus ist geschichtlich<br />
leicht zu verstehen. Der wirtschaftspolitische Liberalismus ist die Blüte<br />
<strong>de</strong>r Aufklärung und <strong>de</strong>s Rationalismus, die <strong>de</strong>m alten Kirchentum <strong>de</strong>n<br />
To<strong>de</strong>sstoß versetzt haben. Er ist aus <strong>de</strong>nselben Wurzeln entsprossen, aus<br />
<strong>de</strong>nen die mo<strong>de</strong>rne Geschichtsforschung erwachsen ist, die an die Kirche<br />
und ihre Überlieferungen mit scharfer Kritik herangetreten ist. Der<br />
Liberalismus hat die Mächte gestürzt, mit <strong>de</strong>nen die Kirche durch<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte in innigstem Bündnis gelebt hat. Er hat die Welt viel stärker<br />
umgestaltet, als es einst das Christentum getan hat. Er hat die Menschen<br />
<strong>de</strong>r Welt und <strong>de</strong>m Leben wie<strong>de</strong>rgegeben. Er hat Kräfte erweckt, die weit<br />
wegführen von <strong>de</strong>m trägen Traditionalismus, auf <strong>de</strong>m die Kirche und <strong>de</strong>r<br />
Kirchenglauben geruht hatten. Alle diese Neuerungen waren <strong>de</strong>r Kirche<br />
unheimlich. Nicht einmal zu <strong>de</strong>n Äußerlichkeiten <strong>de</strong>r neuen Zeit hat sie<br />
ein Verhältnis zu gewinnen vermocht. Wohl besprengen in <strong>de</strong>n<br />
katholischen Län<strong>de</strong>rn ihre Priester die Schienen neu gebauter Bahnstrecken<br />
und die Dynamos neuer Kraftwerke mit Weihwasser. Doch<br />
immer noch steht <strong>de</strong>r gläubige Christ mit einem geheimen Grauen<br />
inmitten dieser Kultur, die sein Glaube nicht zu fassen vermag. So war die<br />
Kirche voll von Ressentiment gegen diese neue Zeit und gegen ihren<br />
Geist <strong>de</strong>n Liberalismus. Was Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nn, daß sie sich mit jenen<br />
verband, die <strong>de</strong>r Groll trieb, diese ganze wun<strong>de</strong>rvolle neue Welt zu<br />
zertrümmern,
415<br />
und daß sie gierig nach allem griff, was sich ihr aus ihrem reichen Arsenal<br />
an Waffen <strong>de</strong>s Ressentiments gegen irdisches Arbeitsstreben und irdischen<br />
Reichtum bot. Die Religion, die sich die Religion <strong>de</strong>r Liebe nennt,<br />
wur<strong>de</strong> zur Religion <strong>de</strong>s Hasses gegen die Welt, die <strong>de</strong>m Glücke<br />
entgegenzureifen schien. Wer immer daran ging, die mo<strong>de</strong>rne Gesellschaftsordnung<br />
zu zerstören, konnte sicher sein, die Bun<strong>de</strong>sgenossenschaft<br />
<strong>de</strong>s Christentums zu fin<strong>de</strong>n.<br />
Es war tragisch, daß gera<strong>de</strong> die Besten <strong>de</strong>r Kirche, gera<strong>de</strong> die, die das<br />
Wort von <strong>de</strong>r christlichen Liebe ernst nahmen und danach han<strong>de</strong>lten, an<br />
diesem Werke <strong>de</strong>r Zerstörung vor allem mitarbeiteten. Nicht nur <strong>de</strong>r<br />
herrschsüchtige Klerus, <strong>de</strong>m alles recht schien, wenn es nur die verhaßte<br />
freisinnige Gesellschaftsordnung zu stürzen versprach, stellte sich auf die<br />
Seite <strong>de</strong>r Destruktion, auch die Priester und Mönche, die das Liebeswerk<br />
christlicher Barmherzigkeit übten, traten in ihre Reihen. Sie, die in <strong>de</strong>r<br />
Seelsorge und im Lehramt, in Krankenhäusern und in Gefängnissen genug<br />
Gelegenheit hatten, <strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Menschen zu sehen und die Schattenseiten<br />
<strong>de</strong>s Lebens kennen zu lernen, wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>m gesellschaftszerstören<strong>de</strong>n<br />
Wort <strong>de</strong>s Evangeliums zunächst ergriffen. Nur eine gefestigte<br />
liberale Philosophie hätte sie davor bewahren können, die Ressentimentgefühle<br />
zu teilen, die sie bei ihren Schützlingen fan<strong>de</strong>n und die das<br />
Evangelium billigte. Da das fehlte, wur<strong>de</strong>n sie zu gefährlichen Gegnern<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft. Aus <strong>de</strong>m Werke <strong>de</strong>r Liebe sproß <strong>de</strong>r soziale Haß.<br />
Ein Teil dieser gefühlsmäßigen Gegner <strong>de</strong>r liberalen Wirtschaftsordnung<br />
blieb bei stummer Gegnerschaft stehen. Viele aber wur<strong>de</strong>n<br />
Sozialisten, natürlich nicht atheistische Sozialisten wie die sozial<strong>de</strong>mokratische<br />
Arbeiterschaft, son<strong>de</strong>rn christliche Sozialisten. Doch auch<br />
<strong>de</strong>r christliche Sozialismus ist Sozialismus.<br />
Der Sozialismus kann sich auf das Beispiel <strong>de</strong>r ersten christlichen<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rte ebensowenig wie auf das <strong>de</strong>r Urgemein<strong>de</strong> berufen. Selbst<br />
<strong>de</strong>r Konsumkommunismus <strong>de</strong>r ersten Christengemein<strong>de</strong> verschwand bald<br />
in <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m die Erwartung <strong>de</strong>s unmittelbaren Eintretens <strong>de</strong>r<br />
Gottesherrschaft in <strong>de</strong>n Hintergrund trat. Er wur<strong>de</strong> aber nicht durch<br />
sozialistische Produktionsweise <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n. abgelöst. Was in <strong>de</strong>n<br />
Christengemein<strong>de</strong>n erzeugt wur<strong>de</strong>, erzeugte <strong>de</strong>r einzelne in seiner<br />
Wirtschaft, und die Einkünfte <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>, aus <strong>de</strong>nen sie <strong>de</strong>n Unterhalt<br />
<strong>de</strong>r Bedürftigen und die Kosten <strong>de</strong>r gemeinsamen Handlungen zu<br />
bestreiten hatte, flossen aus freiwilligen o<strong>de</strong>r pflichtmäßigen Spen<strong>de</strong>n und<br />
Abgaben <strong>de</strong>r für
416<br />
eigene Rechnung im eigenen Betrieb mit eigenen Produktionsmitteln<br />
erzeugen<strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>mitglie<strong>de</strong>r. Sozialistische Produktion mag in <strong>de</strong>n<br />
christlichen Gemein<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r ersten Jahrhun<strong>de</strong>rte selten und ausnahmsweise<br />
vorgekommen sein. In <strong>de</strong>n Quellen ist sie nirgends bezeugt,<br />
und kein christlicher Lehrer o<strong>de</strong>r Schriftsteller, von <strong>de</strong>ssen Lehren und<br />
Werken wir eine Kun<strong>de</strong> haben, hat sie je empfohlen. Oftmals begegnen<br />
wir in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>r apostolischen Väter und <strong>de</strong>r Kirchenväter<br />
Ermahnungen, zum Kommunismus <strong>de</strong>r Urgemein<strong>de</strong> zurückzukehren.<br />
Doch immer han<strong>de</strong>lt es sich um <strong>de</strong>n Kommunismus <strong>de</strong>r Konsumtion, nie<br />
um die Empfehlung <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise. 1<br />
Die bekannteste dieser Anpreisungen <strong>de</strong>r kommunistischen Lebensweise<br />
ist die <strong>de</strong>s Johannes Chrysostomus. In <strong>de</strong>r elften seiner Homilien<br />
zur Apostelgeschichte preist <strong>de</strong>r Heilige die Gütergemeinschaft <strong>de</strong>r<br />
urchristlichen Gemein<strong>de</strong> und tritt mit <strong>de</strong>m Eifer seiner feurigen<br />
Beredsamkeit für ihre Erneuerung ein. Er beschränkt sich nicht darauf, die<br />
Gütergemeinschaft durch <strong>de</strong>n Hinweis auf das Vorbild <strong>de</strong>r Apostel und<br />
ihrer Zeitgenossen zu empfehlen. Er sucht die Vorzüge <strong>de</strong>s Kommunismus,<br />
wie er ihn meint, rationalistisch auseinan<strong>de</strong>rzusetzen. Wenn alle<br />
Christen Konstantinopels ihre ganze Habe in gemeinsames Eigentum<br />
übergeben wollten, dann wer<strong>de</strong> so viel zusammenkommen, daß man alle<br />
christlichen Armen wer<strong>de</strong> ernähren können und niemand Mangel lei<strong>de</strong>n<br />
müßte. Die Kosten <strong>de</strong>r gemeinsamen Lebensführung seien nämlich<br />
weitaus geringer als die <strong>de</strong>s Einzelhaushaltes. Chrysostomus schaltet hierauf<br />
Erwägungen ein, wie sie etwa heute von jenen vorgebracht wer<strong>de</strong>n,<br />
die die Einführung von Einküchenhäusern o<strong>de</strong>r von Gemeinschaftsküchen<br />
befürworten und dabei die Ersparnisse, die die Konzentration <strong>de</strong>s Küchenbetriebes<br />
und <strong>de</strong>r Haushaltung im Gefolge haben müßte, durch<br />
Berechnungen zu erweisen suchen. Die Kosten, meint <strong>de</strong>r Kirchenvater,<br />
wer<strong>de</strong>n nicht groß sein, so daß <strong>de</strong>r riesige Schatz, <strong>de</strong>r durch die<br />
Vereinigung <strong>de</strong>r Güter <strong>de</strong>r einzelnen zusammenkommen müßte, nie<br />
erschöpft wer<strong>de</strong>n könnte, zumal <strong>de</strong>r Segen Gottes sich dann viel<br />
reichlicher auf die Frommen ergießen wird. Auch wer<strong>de</strong> je<strong>de</strong>r Neuhinzukommen<strong>de</strong><br />
etwas hinzufügen. 2 Gera<strong>de</strong> diese nüchtern sachlichen<br />
Ausführungen zeigen uns, daß das, was Chrysostomus vor Augen hatte,<br />
auch nichts an<strong>de</strong>res war als Gemeinsamkeit <strong>de</strong>s Verzehrens.<br />
1 Vgl. Seipel, Die wirtschaftsethischen Lehren <strong>de</strong>r Kirchenväter, Wien 1907, S. 84 ff.<br />
2 Vgl. Migne, Patrologiae Graecae tom. LX, S. 96 f.
417<br />
Die Ausführungen über die wirtschaftlichen Vorzüge <strong>de</strong>r Vereinheitlichung,<br />
die in <strong>de</strong>m Satze gipfeln, Zersplitterung führe zu Min<strong>de</strong>rung,<br />
Eintracht und Zusammenwirken zu Mehrung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s, machen<br />
<strong>de</strong>m ökonomischen Geiste ihres Urhebers alle Ehre. Im ganzen aber zeugt<br />
sein Vorschlag von völliger Verständnislosigkeit für das Problem <strong>de</strong>r<br />
Produktion. Seine Gedanken sind ausschließlich auf die Konsumtion<br />
eingestellt. Daß man produzieren muß, ehe man konsumiert, kommt ihm<br />
nicht zum Bewußtsein. Alle Güter sollen in <strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong><br />
übergehen - (Chrysostomus <strong>de</strong>nkt dabei wohl nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong>de</strong>s<br />
Evangeliums und <strong>de</strong>r Apostelgeschichte an ihren Verkauf) - und dann soll<br />
die gemeinsame Konsumtion beginnen. Daß das nicht ewig so fortgehen<br />
könne, kommt ihm nicht in <strong>de</strong>n Sinn. Er hat die Vorstellung, daß die<br />
Millionen, die hier zusammenkommen wer<strong>de</strong>n - er berechnet <strong>de</strong>n Schatz<br />
auf 1-3 Millionen Pfund Gol<strong>de</strong>s - nie erschöpft wer<strong>de</strong>n könnten. Man<br />
sieht, die volkswirtschaftlichen Erwägungen <strong>de</strong>s Heiligen en<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong><br />
dort, wo auch die Weisheit unserer Sozialpolitiker zu en<strong>de</strong>n pflegt, wenn<br />
sie ihre in Liebeswerken <strong>de</strong>r Konsumtion gemachten Erfahrungen auf das<br />
Ganze <strong>de</strong>r Volkswirtschaft übertragen wollen.<br />
Chrysostomus klagt darüber, daß sich die Menschen vor <strong>de</strong>m<br />
Übergang zu <strong>de</strong>m von ihm empfohlenen Kommunismus mehr als vor<br />
einem Sprunge ins Weltmeer fürchten. Auch die Kirche hat die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Kommunismus bald fallen lassen.<br />
Denn die Wirtschaft <strong>de</strong>r Klöster kann man nicht als Sozialismus<br />
bezeichnen. Im allgemeinen haben die Klöster, soweit sie nicht von<br />
Spen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gläubigen gespeist wur<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>n Abgaben zinspflichtiger<br />
Bauern und vom Ertrag von Meierhöfen und von an<strong>de</strong>rem Besitz gelebt.<br />
Seltener haben sich die Klosterinsassen selbst als werktätige Glie<strong>de</strong>r einer<br />
Art von Produktivgenossenschaft betätigt. Alles Klosterwesen bleibt ein<br />
Lebensi<strong>de</strong>al, das nur wenigen zugänglich sein kann. So kann <strong>de</strong>nn auch<br />
die klösterliche Produktionsweise nie zur allgemeinen Norm erhoben<br />
wer<strong>de</strong>n. Sozialismus aber ist ein allgemeines Wirtschaftssystem.<br />
Die Wurzeln <strong>de</strong>s christlichen Sozialismus darf man we<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
Urkirche noch in <strong>de</strong>r mittelalterlichen Kirche suchen. Erst das durch die<br />
gewaltigen Glaubenskämpfe <strong>de</strong>s sechzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts erneuerte<br />
Christentum hat <strong>de</strong>n sozialistischen Gedanken - langsam und nicht ohne<br />
große Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> - aufgenommen.<br />
Die mo<strong>de</strong>rne Kirche unterschei<strong>de</strong>t sich von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mittelalters<br />
dadurch, daß sie beständig um ihre Existenz kämpfen muß. Die
418<br />
Kirche <strong>de</strong>s Mittelalters herrschte unbestritten über die Geister. Was<br />
gedacht, gelehrt und geschrieben wur<strong>de</strong>, ging von ihr aus und kehrte zu<br />
ihr zurück. Auch das geistige Erbe <strong>de</strong>s klassischen Altertums konnte ihr<br />
nicht gefährlich sein, weil es in seiner letzten Tragweite von einem<br />
Geschlecht, das in <strong>de</strong>n Vorstellungen und I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Feudalismus<br />
befangen war, noch nicht begriffen wer<strong>de</strong>n konnte. Doch in <strong>de</strong>m Maße, in<br />
<strong>de</strong>m die gesellschaftliche Entwicklung zum Rationalismus im praktischen<br />
Denken und Han<strong>de</strong>ln trieb, wur<strong>de</strong>n auch die Versuche, sich im Denken<br />
über die letzten Dinge von <strong>de</strong>n Fesseln <strong>de</strong>r Tradition zu befreien,<br />
erfolgreicher. Die Renaissance bedroht das Christentum an seiner Wurzel,<br />
da sie, sich am antiken Denken und an <strong>de</strong>r antiken Kunst aufrichtend,<br />
anfängt, Wege zu wan<strong>de</strong>ln, die von <strong>de</strong>r Kirche wegführen, zumin<strong>de</strong>st an<br />
ihr vorbeiführen. Die Männer <strong>de</strong>r Kirche sind weit entfernt davon, sich<br />
dieser Entwicklung entgegenzustemmen. Im Gegenteil, sie selbst sind die<br />
eifrigsten För<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>s neuen Geistes. Zu Beginn <strong>de</strong>s sechzehnten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts war niemand innerlich weiter vom Christentum entfernt als<br />
die Kirche selbst. Die letzte Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s alten Glaubens schien geschlagen<br />
zu haben.<br />
Da kam <strong>de</strong>r große Umschwung, die Gegenrevolution <strong>de</strong>s Christentums.<br />
Sie ging nicht von oben aus, nicht von <strong>de</strong>n Kirchenfürsten und nicht von<br />
<strong>de</strong>n Klöstern, ja eigentlich überhaupt nicht von <strong>de</strong>r Kirche. Von außen her<br />
wur<strong>de</strong> sie <strong>de</strong>r Kirche aufgenötigt. Aus <strong>de</strong>r Tiefe <strong>de</strong>s Volkes, in <strong>de</strong>m sich<br />
das Christentum als innere Macht behauptet hatte, nahm sie ihren Anfang,<br />
von außen und von unten her eroberte sie die morsche Kirche, um sie zu<br />
erneuern. Reformation und Gegenreformation sind die großen Ausdrucksformen<br />
dieser kirchlichen Erneuerung, bei<strong>de</strong> verschie<strong>de</strong>n in ihren<br />
Anfängen und in ihren Wegen, in <strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>s Kultes und <strong>de</strong>r Lehre,<br />
vor allem auch in ihren staatlichen und politischen Voraussetzungen und<br />
Erfolgen, doch eins im letzten Ziele: die Weltordnung wie<strong>de</strong>r auf das<br />
Evangelium zu stützen, <strong>de</strong>m Glauben wie<strong>de</strong>r eine Macht über die Geister<br />
und über die Herzen einzuräumen. Es war die größte Erhebung <strong>de</strong>s<br />
Glaubens gegen das Denken, <strong>de</strong>r Überlieferung gegen die Philosophie, die<br />
die Geschichte kennt. Sie hat große, sehr große Erfolge erzielt, sie erst hat<br />
jenes Christentum geschaffen, das wir heute kennen, jenes Christentum,<br />
das im Herzen <strong>de</strong>s einzelnen seinen Sitz hat, das die Gewissen bin<strong>de</strong>t und<br />
zur armen Seele spricht. Doch <strong>de</strong>r volle Sieg blieb ihr versagt. Sie hat die<br />
Nie<strong>de</strong>rlage, sie hat die Vernichtung <strong>de</strong>s Christentums abgewen<strong>de</strong>t, aber<br />
sie hat <strong>de</strong>n
419<br />
Gegner nicht vernichtet. Seit <strong>de</strong>m sechzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt dauert <strong>de</strong>r<br />
Kulturkampf nahezu ohne Unterlaß.<br />
Die Kirche weiß, daß sie in diesem Kampf nicht siegen kann, wenn sie<br />
nicht die Quellen verstopft, aus <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>m Gegner immer wie<strong>de</strong>r Hilfe<br />
kommt. Solange in <strong>de</strong>r Wirtschaft Rationalismus und geistige Freiheit <strong>de</strong>s<br />
Einzelnen erhalten bleiben, wird es ihr nie gelingen, <strong>de</strong>n Gedanken in<br />
Fesseln zu schlagen und <strong>de</strong>n Verstand dorthin zu lenken, wo sie ihn haben<br />
will. Um dieses Ziel zu erreichen, müßte sie vorerst alle menschliche<br />
Tätigkeit, alles Han<strong>de</strong>ln unter ihren Einfluß bringen. Darum kann sie sich<br />
nicht darauf beschränken, als freie Kirche im freien Staat zu leben; sie<br />
muß darnach trachten, <strong>de</strong>n Staat unter ihre Herrschaft zu bekommen.<br />
Römisches Papsttum und protestantische Lan<strong>de</strong>skirche streben in gleicher<br />
Weise nach <strong>de</strong>r Herrschaft über <strong>de</strong>n Staat, nach einer Herrschaft, die es<br />
ihnen gestatten wür<strong>de</strong>, alles Irdische in ihrem Sinne zu ordnen. Keine<br />
an<strong>de</strong>re geistige Macht neben sich zu dul<strong>de</strong>n, muß ihr Ziel bleiben, weil<br />
je<strong>de</strong> unabhängige geistige Macht für sie eine fürchterliche Gefahr bil<strong>de</strong>t,<br />
eine Gefahr, die in <strong>de</strong>m Maße größer wird, in <strong>de</strong>m die Rationalisierung<br />
<strong>de</strong>s Lebens fortschreitet.<br />
Die Wissenschaft kann man heute nur beherrschen, wenn man die<br />
Wirtschaft beherrscht. In <strong>de</strong>r anarchischen Produktionsweise wollen auch<br />
die Geister keine Herrschaft anerkennen. Herrschaft über die Geister kann<br />
man heute nur noch erlangen, wenn man die Produktion beherrscht. Das<br />
spüren alle Kirchen schon lange dunkel. Klar ist es ihnen freilich erst<br />
gewor<strong>de</strong>n, seit die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Sozialismus, von an<strong>de</strong>rer Seite in die Welt<br />
gesetzt, mit gewaltiger Kraft Anhänger wirbt und fortschreitet. Da erst<br />
wur<strong>de</strong>n sich die Kirchen <strong>de</strong>ssen bewußt, daß Theokratie nur im<br />
sozialistischen Gemeinwesen möglich ist.<br />
Einmal ist dieses I<strong>de</strong>al schon verwirklicht gewesen. In Paraguay hat<br />
die Gesellschaft Jesu jenes merkwürdige Staatswesen geschaffen, das wie<br />
eine Belebung <strong>de</strong>s schemenhaften I<strong>de</strong>als <strong>de</strong>r platonischen Republik anmutet.<br />
Mehr als ein Jahrhun<strong>de</strong>rt hat dieser einzigartige Staat geblüht. Daß<br />
dieses sozialistische Gemeinwesen, das einzige, das die Geschichte kennt,<br />
untergegangen ist, war keineswegs durch innere Verhältnisse bewirkt; es<br />
ist von außen her gewaltsam zerstört wor<strong>de</strong>n. Gewiß hat <strong>de</strong>n Jesuiten bei<br />
<strong>de</strong>r Einrichtung dieses Gebil<strong>de</strong>s nicht <strong>de</strong>r Gedanke vorgesch<strong>web</strong>t, ein<br />
sozialpolitisches Experiment zu machen o<strong>de</strong>r ein Muster für die an<strong>de</strong>ren<br />
Gemeinwesen <strong>de</strong>r Welt aufzustellen. Doch sie haben in Paraguay in<br />
letzter Linie nichts an<strong>de</strong>res verfolgt als was sie überall angestrebt haben
420<br />
und an<strong>de</strong>rwärts nur wegen <strong>de</strong>r größeren Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>, die sich ihnen<br />
entgegen-stellten, nicht zu erreichen vermochten. Sie haben die Laien als<br />
große, immer <strong>de</strong>r Bevormundung bedürftige Kin<strong>de</strong>r unter die wohltätige<br />
Herrschaft <strong>de</strong>r Kirche und ihres Or<strong>de</strong>ns im beson<strong>de</strong>ren zu bringen<br />
gesucht. Nie wie<strong>de</strong>r und nirgends hat <strong>de</strong>r Jesuitenor<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r eine an<strong>de</strong>re<br />
kirchliche Instanz ähnliches versucht. Doch es ist sicher, daß in letzter<br />
Linie das Streben <strong>de</strong>r Kirche - und nicht nur <strong>de</strong>r katholischen, son<strong>de</strong>rn<br />
auch aller an<strong>de</strong>ren abendländischen - auf dasselbe Ziel losgeht. Man<br />
<strong>de</strong>nke sich alle Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>, die die Kirche heute auf ihrem Weg fin<strong>de</strong>t,<br />
fort, und man erkennt gleich, daß sie nicht eher Halt machen wür<strong>de</strong> als bis<br />
sie dasselbe überall durchgesetzt haben wür<strong>de</strong>.<br />
Daß die Kirche im allgemeinen <strong>de</strong>n sozialistischen I<strong>de</strong>en ablehnend<br />
gegenüber steht, ist kein Beweis gegen die Richtigkeit dieser Ausführungen.<br />
Sie ist gegen je<strong>de</strong>n Sozialismus, <strong>de</strong>r von an<strong>de</strong>rer Seite ins<br />
Leben gerufen wer<strong>de</strong>n soll. Sie ist gegen Sozialismus, <strong>de</strong>r von Atheisten<br />
verwirklicht wer<strong>de</strong>n soll, da ihre Existenzgrundlage dann vernichtet wäre.<br />
Wo und insoweit diese Be<strong>de</strong>nken fortfallen, nähert sie sich unbe<strong>de</strong>nklich<br />
sozialistischen I<strong>de</strong>alen an. Die preußische Lan<strong>de</strong>skirche hat im preußischen<br />
Staatssozialismus die Führung inne, und die katholische Kirche<br />
verfolgt allenthalben ihr beson<strong>de</strong>res christlich-soziales I<strong>de</strong>al.<br />
Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Verneinung jener oben gestellten<br />
Frage, ob es nicht vielleicht doch möglich wäre, Christentum und freie,<br />
auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung<br />
zu versöhnen. Lebendiges Christentum kann neben und<br />
im Kapitalismus nicht bestehen. Nicht an<strong>de</strong>rs als für die Religionen <strong>de</strong>s<br />
Ostens heißt es für das Christentum, entwe<strong>de</strong>r untergehen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Kapitalismus überwin<strong>de</strong>n. Für <strong>de</strong>n Kampf gegen <strong>de</strong>n Kapitalismus aber<br />
gibt es heute, da die Empfehlung <strong>de</strong>r Rückkehr zur mittelalterlichen<br />
Gesellschaftsordnung nur wenig Werbekraft besitzt, kein wirksameres<br />
Programm als das <strong>de</strong>s Sozialismus.<br />
IV.<br />
Der ethische Sozialismus, beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Neukritizismus.<br />
§ 1. Engels hat die <strong>de</strong>utsche Arbeiterbewegung die Erbin <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />
klassischen Philosophie genannt. 1 Richtiger wäre es zu<br />
1 Vgl. Engels, Ludwig Feuerbach und <strong>de</strong>r Ausgang <strong>de</strong>r klassischen <strong>de</strong>utschen<br />
Philosophie, 5. Aufl., Stuttgart 1910, S. 58.
421<br />
sagen, daß <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Sozialismus überhaupt - nicht nur <strong>de</strong>r marxistische<br />
- das Epigonentum <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alistischen Philosophie darstellt. Der<br />
Sozialismus verdankt die Herrschaft, die er über <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Geist zu<br />
erringen vermochte, <strong>de</strong>r Gesellschaftsauffassung <strong>de</strong>r großen <strong>de</strong>utschen<br />
Denker. Von Kant’s Mystizismus <strong>de</strong>s Pflichtbegriffes und von Hegel’s<br />
Staatsvergottung führt eine leicht erkennbare Linie zum sozialistischen<br />
Denken. Fichte aber ist schon selbst Sozialist.<br />
Die Erneuerung <strong>de</strong>s Kant’schen Kritizismus, die vielgepriesene<br />
Leistung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Philosophie <strong>de</strong>r letzten Jahrzehnte, ist auch <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus zugute gekommen. Die Neukantianer, vor allem Friedrich<br />
Albert Lange und Hermann Cohen, haben sich zum Sozialismus bekannt.<br />
Gleichzeitig haben Marxisten versucht, <strong>de</strong>n Marxismus mit <strong>de</strong>m Neukritizismus<br />
zu versöhnen. In <strong>de</strong>m Maße, in <strong>de</strong>m sich die philosophischen<br />
Grundlagen <strong>de</strong>s Marxismus immer mehr als brüchig und nicht tragfähig<br />
erwiesen, haben sich die Versuche gehäuft, die sozialistischen I<strong>de</strong>en durch<br />
die kritische Philosophie zu stützen.<br />
Im System Kant’s ist die Ethik <strong>de</strong>r schwächste Teil. Wohl spürt man<br />
auch in ihr <strong>de</strong>n Hauch dieses großen Geistes. Doch alle Großartigkeit im<br />
einzelnen läßt es nicht übersehen, daß schon ihr Ausgangspunkt unglücklich<br />
gewählt und daß ihre Grundauffassung verfehlt ist. Der verzweifelte<br />
Versuch, <strong>de</strong>n Eudämonismus zu entwurzeln, ist nicht gelungen. Bentham,<br />
Mill und Feuerbach triumphieren in <strong>de</strong>r Ethik über Kant. Von <strong>de</strong>r<br />
Sozialphilosophie seiner Zeitgenossen Ferguson und Adam Smith ist Kant<br />
überhaupt nicht berührt wor<strong>de</strong>n. Die Nationalökonomie blieb ihm fremd.<br />
Unter diesen Mängeln lei<strong>de</strong>n alle seine Äußerungen über Gegenstän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Gesellschaftslebens.<br />
Die Neukantianer sind darin nicht über Kant hinausgekommen. Auch<br />
ihnen fehlt gleich Kant die Einsicht in das gesellschaftliche Grundgesetz<br />
<strong>de</strong>r Arbeitsteilung. Sie sehen nur, daß die Einkommenverteilung nicht<br />
ihrem I<strong>de</strong>al entspricht, daß nicht die, die sie für die Würdigeren halten,<br />
das größere Einkommen beziehen, son<strong>de</strong>rn die, die sie Banausen schelten.<br />
Sie sehen, daß es Arme und Darben<strong>de</strong> gibt, versuchen es nicht einmal,<br />
sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob dies auf die Einrichtung <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums zurückzuführen ist o<strong>de</strong>r nicht gera<strong>de</strong> auf Eingriffe, die<br />
das Son<strong>de</strong>reigentum zu beschränken suchen, und sind gleich mit <strong>de</strong>r<br />
Verurteilung <strong>de</strong>r Institution zur Hand, die ihnen, <strong>de</strong>n außerhalb <strong>de</strong>s<br />
Erwerbslebens
422<br />
stehen<strong>de</strong>n Beschauern <strong>de</strong>r irdischen Dinge, von Anfang an unsympathisch<br />
ist. Sie gehen in <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Institutionen nicht<br />
so vor, wie sonst in ihrem Denken, daß sie, vom Einzelnen ausgehend, zu<br />
<strong>de</strong>n letzten Wurzeln <strong>de</strong>r Dinge vorzudringen und eine Gesamtanschauung<br />
vom Ganzen zu gewinnen suchen. Sie bleiben in <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>s<br />
Sozialen am Äußerlichen und Symptomatischen haften. Sie sind vor allem<br />
stark in <strong>de</strong>r Gesinnung und schwach im Denken, sie, <strong>de</strong>ren Denken sich<br />
sonst kühn an alles heranwagt. Man merkt, daß sie hier befangen und<br />
selbst Partei sind. In <strong>de</strong>r Gesellschaftsphilosophie ist es auch sonst ganz<br />
unabhängigen Denkern oft schwer, sich von allem Ressentiment freizumachen.<br />
Zwischen ihre Gedanken schiebt sich störend die Erinnerung an<br />
jene ein, <strong>de</strong>nen es wirtschaftlich besser geht; da wer<strong>de</strong>n Vergleiche<br />
zwischen <strong>de</strong>m eigenen Wert und frem<strong>de</strong>m Unwert auf <strong>de</strong>r einen, eigener<br />
Not und frem<strong>de</strong>m Überfluß auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite angestellt, und zum<br />
Schluß führen Groll und Neid, nicht mehr das reine Denken, die Fe<strong>de</strong>r.<br />
Nur so läßt es sich erklären, daß in <strong>de</strong>r Sozialphilosophie von so<br />
scharfsinnigen Denkern, wie es die Neukantianer sind, die Punkte, auf die<br />
es allein ankommen kann, nicht klar genug herausgearbeitet wur<strong>de</strong>n. Zu<br />
einer geschlossenen Sozialphilosophie fin<strong>de</strong>n sich bei ihnen nicht einmal<br />
die Ansätze. Sie bringen eine Anzahl unhaltbarer kritischer Bemerkungen<br />
über bestimmte gesellschaftliche Zustän<strong>de</strong> vor, unterlassen es aber, sich<br />
mit <strong>de</strong>n wichtigsten Systemen <strong>de</strong>r Soziologie auseinan<strong>de</strong>rzusetzen.<br />
Der Ausgangspunkt ihres Sozialismus ist im allgemeinen <strong>de</strong>r Satz:<br />
„Handle so, daß Du Deine Person wie die Person eines je<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
je<strong>de</strong>rzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. In diesen<br />
Worten, meint Cohen, sei „<strong>de</strong>r tiefste und mächtigste Sinn <strong>de</strong>s kategorischen<br />
Imperativs ausgesprochen; sie enthalten das sittliche Programm<br />
<strong>de</strong>r Neuzeit und aller Zukunft <strong>de</strong>r Weltgeschichte“. 1 Und von da scheint<br />
ihm <strong>de</strong>r Weg zum Sozialismus nicht mehr weit. „Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Zweckvorzuges <strong>de</strong>r Menschheit wird dadurch zur I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Sozialismus,<br />
daß je<strong>de</strong>r Mensch als Endzweck, als Selbstzweck <strong>de</strong>finiert wird“. 2<br />
Man sieht, diese ethische Begründung <strong>de</strong>s Sozialismus steht und fällt<br />
mit <strong>de</strong>r Behauptung, daß in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsordnung alle Menschen<br />
1 Vgl. Cohen, Ethik <strong>de</strong>s reinen Willens, Berlin 1904, S. 308 f.<br />
2 Vgl. ebendort S. 304.
423<br />
o<strong>de</strong>r ein Teil <strong>de</strong>r Menschen als Mittel und nicht als Zweck stehen. Cohen<br />
hält es für vollkommen erwiesen, daß <strong>de</strong>m in einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung so<br />
sei, und daß es in einer solchen Gesellschaftsordnung zwei Klassen von<br />
Menschen gebe, Besitzer und Nichtbesitzer, von <strong>de</strong>nen bloß jene ein<br />
menschenwürdiges Dasein führen, während diese nur jenen dienen. Es ist<br />
klar, woher diese Vorstellung stammt. Sie ist von <strong>de</strong>n populären<br />
Anschauungen über das Verhältnis von reich und arm getragen und wird<br />
durch die marxistische Sozialphilosophie gestützt, für die Cohen große<br />
Sympathien bezeugt, ohne sich freilich irgendwie <strong>de</strong>utlich mit ihr auseinan<strong>de</strong>rzusetzen.<br />
1 Die liberale Gesellschaftstheorie ignoriert Cohen<br />
vollkommen. Er hält es für ausgemacht, daß sie unhaltbar sei und erachtet<br />
es daher für überflüssig, sich mit ihrer Kritik aufzuhalten. Und doch<br />
könnte nur eine Wi<strong>de</strong>rlegung <strong>de</strong>r liberalen Anschauungen über das Wesen<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft und die Funktion <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums die Behauptung<br />
rechtfertigen, daß in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung Menschen als Mittel, nicht als<br />
Zweck dienen. Denn für diese Gesellschaftslehre steht es fest, daß zwar<br />
je<strong>de</strong>r einzelne Mensch zunächst in allen an<strong>de</strong>ren nur ein Mittel zur<br />
Verwirklichung seiner Zwecke sieht, während er selbst sich allen an<strong>de</strong>ren<br />
als Mittel zur Verwirklichung ihrer Zwecke erweist, daß aber schließlich<br />
gera<strong>de</strong> durch diese Wechselwirkung, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r Zweck und Mittel<br />
zugleich ist, das höchste Ziel gesellschaftlichen Zusammenlebens, die<br />
Ermöglichung eines besseren Daseins für je<strong>de</strong>n, erreicht wird. Da Gesellschaft<br />
nur möglich ist, in<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>rmann, sein eigenes Leben lebend,<br />
zugleich das <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren för<strong>de</strong>rt, in<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r einzelne Mittel und Zweck<br />
zugleich ist, in<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s einzelnen Wohlbefin<strong>de</strong>n zugleich die Bedingung<br />
für das Wohlergehen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren ist, wird <strong>de</strong>r Gegensatz von Ich und Du,<br />
von Mittel und Zweck, in ihr überwun<strong>de</strong>n. Das ist es ja gera<strong>de</strong>, was durch<br />
das Gleichnis vom biologischen Organismus anschaulich gemacht wer<strong>de</strong>n<br />
soll. Auch im organischen<br />
1 „Der direkte Zweck <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion ist nicht die Produktion von<br />
Waren, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Mehrwerts, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Profits in seiner entwickelten Form, nicht <strong>de</strong>s<br />
Produktes, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Mehrprodukts. Die Arbeiter selbst erscheinen in dieser Auffassung<br />
als das, was sie in <strong>de</strong>r kapitalistischen Produktion sind - bloße Produktionsmittel; nicht als<br />
Selbstzweck und nicht als Zweck <strong>de</strong>r Produktion.“ (Marx, Theorien über <strong>de</strong>n Mehrwert,<br />
Stuttgart 1905, II. Teil, S. 333 f.) Daß die Arbeiter als Konsumenten auch eine Rolle im<br />
Wirtschaftsprozeß spielen, sieht Marx nicht.
424<br />
Gebil<strong>de</strong> gibt es keine Teile, die nur als Mittel, und keine, die nur als<br />
Zweck anzusehen sind. Der Organismus ist nach Kant ein Wesen, „in<br />
welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“. 1 Kant hat mithin<br />
das Wesen <strong>de</strong>s Organischen sehr wohl erkannt. Doch er hat - und darin<br />
bleibt er weit hinter <strong>de</strong>n großen Soziologen, die seine Zeitgenossen waren,<br />
zurück - nicht gesehen, daß auch die menschliche Gesellschaft nach <strong>de</strong>m<br />
gleichen Grundgesetz gebil<strong>de</strong>t ist.<br />
Die teleologische Betrachtung, die Zweck und Mittel unterschei<strong>de</strong>t, ist<br />
nur soweit zulässig, als wir <strong>de</strong>n Willen und das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>s einzelnen<br />
Menschen o<strong>de</strong>r einzelner Menschenverbän<strong>de</strong> zum Gegenstand <strong>de</strong>r Untersuchung<br />
machen. Sobald wir darüber hinausgehen, um die Wirkung dieses<br />
Han<strong>de</strong>lns im Zusammenwirken zu betrachten, hat sie ihren Sinn verloren.<br />
Für je<strong>de</strong>n einzelnen han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Menschen gibt es einen höchsten und<br />
letzten Zweck, eben <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Eudämonismus uns verstehen lehrt; und<br />
in diesem Sinne kann man sagen, daß je<strong>de</strong>r sich selbst Zweck,<br />
Selbstzweck sei. Doch im Rahmen einer das Ganze <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
umschließen<strong>de</strong>n Betrachtung ist diese Re<strong>de</strong>weise ohne je<strong>de</strong>n Erkenntniswert.<br />
Hier können wir vom Zweck nicht mit mehr Berechtigung sprechen<br />
als gegenüber irgen<strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren Erscheinung <strong>de</strong>r Natur. Wenn wir<br />
fragen, ob in <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r jener Zweck o<strong>de</strong>r Mittel sei, dann<br />
ersetzen wir im Denken die Gesellschaft, d. h. jenes Gebil<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Kooperation, das durch die Überlegenheit <strong>de</strong>r arbeitsteilig<br />
verrichteten Arbeit über die vereinzelte Arbeit zusammengehalten wird,<br />
durch ein Gebil<strong>de</strong>, das ein Wille zusammenschmie<strong>de</strong>t, und forschen nach<br />
<strong>de</strong>m Ziel dieses Willens. Das ist nicht soziologisch, überhaupt nicht<br />
wissenschaftlich, son<strong>de</strong>rn animistisch gedacht. Die beson<strong>de</strong>re Begründung,<br />
die Cohen für seine For<strong>de</strong>rung nach Aufhebung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums<br />
zu geben weiß, zeigt <strong>de</strong>utlich, wie wenig er sich über dieses<br />
Grundproblem <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens klar gewor<strong>de</strong>n ist. Sachen,<br />
meint er, haben Wert, Personen aber haben keinen Wert, sie haben Wür<strong>de</strong>.<br />
Der Marktpreis <strong>de</strong>s Arbeitswertes vertrage sich nicht mit <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Person. 2 Hier stehen wir mitten drin in <strong>de</strong>r marxistischen Phraseologie, in<br />
<strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>m Warencharakter <strong>de</strong>r Arbeit und seiner Verwerflichkeit.<br />
Das ist jene Phrase, die in <strong>de</strong>n Verträgen von Versailles und Saint<br />
Germain ihren Nie<strong>de</strong>rschlag gefun<strong>de</strong>n hat in <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung, es sei<br />
1 Vgl. Kant, Kritik <strong>de</strong>r Urteilskraft (Werke, a. a. O., VI. Bd.) S. 265.<br />
2 Vgl. ebendort S. 305. Vgl. auch Steinthal, a. a. O., S. 266 ff.
425<br />
<strong>de</strong>r Grundsatz zu verwirklichen, „daß die Arbeit nicht lediglich als Ware<br />
o<strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>lsartikel angesehen wer<strong>de</strong>n darf“. 1 Es hat keinen Sinn, sich mit<br />
diesen scholastischen Spielereien, bei <strong>de</strong>nen sich niemand etwas <strong>de</strong>nkt,<br />
näher auseinan<strong>de</strong>rzusetzen.<br />
So kann es dann weiter nicht wun<strong>de</strong>rnehmen, daß wir bei Cohen das<br />
ganze Register <strong>de</strong>r Schlagwörter wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, die seit Jahrtausen<strong>de</strong>n<br />
gegen die Einrichtung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums ins Treffen geführt wur<strong>de</strong>n.<br />
Er verwirft das Eigentum, weil <strong>de</strong>r Eigentümer, in<strong>de</strong>m er die Herrschaft<br />
über eine isolierte Handlung erlangt, tatsächlich zum Eigentümer <strong>de</strong>r<br />
Person wer<strong>de</strong>. 2 Er verwirft das Eigentum, weil es <strong>de</strong>m Arbeiter <strong>de</strong>n Ertrag<br />
seiner Arbeit entziehe. 3<br />
Man erkennt unschwer, daß die Begründung, die die Schule Kant’s<br />
<strong>de</strong>m Sozialismus gibt, immer wie<strong>de</strong>r auf die nationalökonomischen<br />
Vorstellungen <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen sozialistischen Schriftsteller, heute vor<br />
allem auf die Ansichten von Marx und <strong>de</strong>r von ihm abhängigen<br />
Kathe<strong>de</strong>rsozialisten, zurückführt. An<strong>de</strong>re Argumente als nationalökonomische<br />
und soziologische haben sie nicht. Und diese nationalökönomischen<br />
und soziologischen Ausführungen erweisen sich als unhaltbar.<br />
§ 2. „So jemand nicht will arbeiten, <strong>de</strong>r soll auch nicht essen“ heißt es<br />
im zweiten Brief an die Thessalonicher, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Apostel Paulus<br />
zugeschrieben wur<strong>de</strong>. 4 Die Mahnung, zu arbeiten, richtet sich an jene, die<br />
von ihrem Christentum auf Kosten <strong>de</strong>r tätigen Gemein<strong>de</strong>mitglie<strong>de</strong>r ]eben<br />
wollen; sie mögen selbst für ihren Unterhalt sorgen und <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>genossen<br />
nicht zur Last fallen. 5 Aus <strong>de</strong>m Zusammenhang, in <strong>de</strong>m sie steht,<br />
herausgerissen, ist sie seit altersher als Verwerfung <strong>de</strong>s arbeitslosen<br />
Einkommens ge<strong>de</strong>utet wor<strong>de</strong>n. 6 Sie enthält, auf die kürzeste Art ausgedrückt,<br />
eine sittliche For<strong>de</strong>rung, die immer wie<strong>de</strong>r mit großem Nachdruck<br />
vertreten wird.<br />
1 Vgl. Art. 427 <strong>de</strong>s Vertrages von Versailles und Art. 372 <strong>de</strong>s Vertrages von Saint<br />
Germain.<br />
2 Vgl. Cohen, a. a. O., S. 572.<br />
3 Ebendort S. 578.<br />
4 2. Thess. 3, 10. Darüber, daß <strong>de</strong>r Brief nicht von Paulus herstammt, vgl. Pflei<strong>de</strong>rer, a.<br />
a. O., I. Bd., S. 95 ff.<br />
5 Dagegen vertritt Paulus im ersten Korintherbrief (9, 6-14) grundsätzlich <strong>de</strong>n<br />
Anspruch <strong>de</strong>r Apostel, auf Kosten <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> zu leben.<br />
6<br />
Wie man aus diesen und ähnlichen Stellen die Berechtigung <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
Schlagwörter <strong>de</strong>r antiliberalen Bewegung aus <strong>de</strong>m Neuen Testament nachzuweisen sucht,<br />
dafür bietet Todt, Der radikale <strong>de</strong>utsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft, 2.<br />
Aufl., Wittenberg 1878, S. 806-319, ein gutes Beispiel.
426<br />
Den Gedankengang, <strong>de</strong>r zur Aufstellung dieses Satzes führt, läßt uns<br />
ein Ausspruch von Kant erkennen. „Der Mensch mag künsteln, soviel er<br />
will, so kann er die Natur nicht nötigen, an<strong>de</strong>re Gesetze einzuschlagen. Er<br />
muß entwe<strong>de</strong>r selbst arbeiten o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re für ihn; und diese Arbeit wird<br />
an<strong>de</strong>ren soviel von ihrer Glückseligkeit rauben, als er seine eigene über<br />
das Mittelmaß steigern will. 1<br />
Es ist wichtig, festzustellen, daß Kant die indirekte Ablehnung <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums, die in diesen Worten gelegen ist, nicht an<strong>de</strong>rs als<br />
utilitaristisch und eudämonistisch zu begrün<strong>de</strong>n vermag. Die Auffassung,<br />
von <strong>de</strong>r er ausgeht, ist die, daß durch das Son<strong>de</strong>reigentum <strong>de</strong>n einen mehr<br />
Arbeit auferlegt wird, wogegen die an<strong>de</strong>ren müßig sein dürfen. Gegen <strong>de</strong>n<br />
Einwand, daß durch das Son<strong>de</strong>reigentum und durch die Differenzierung<br />
<strong>de</strong>r Besitzverhältnisse niemand etwas genommen wird, daß vielmehr in<br />
einer Gesellschaftsordnung, in <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>s unzulässig wäre, um soviel<br />
weniger erzeugt wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, daß die Kopfquote <strong>de</strong>s Arbeitsproduktes<br />
weniger ausmachen wür<strong>de</strong> als das, was <strong>de</strong>r besitzlose Arbeiter in <strong>de</strong>r auf<br />
<strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung als Einkommen<br />
bezieht, ist diese Kritik nicht gefeit. Sie fällt sofort in sich zusammen,<br />
wenn die Behauptung, daß die Muße <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n durch die Mehranstrengung<br />
<strong>de</strong>r Besitzlosen erkauft wird, sich als hinfällig erweist.<br />
Auch bei diesem ethischen Argument gegen das Son<strong>de</strong>reigentum zeigt<br />
es sich <strong>de</strong>utlich, daß alle moralische Beurteilung wirtschaftlicher Verhältnisse<br />
in Wahrheit auf nichts an<strong>de</strong>rem beruht als auf nationalökonomischen<br />
Betrachtungen ihrer Leistung. Die sittliche Verwerfung einer Einrichtung,<br />
die vom utilitaristischen Standpunkt nicht als verwerflich bezeichnet wird,<br />
liegt, wenn man es nur schärfer untersucht, auch <strong>de</strong>r Ethik ferne. In Wahrheit<br />
tritt sie in allen Fällen, in <strong>de</strong>nen eine solche Verwerfung vorzuliegen<br />
scheint, an die Dinge nur mit an<strong>de</strong>ren Anschauungen über die wirtschaftlichen<br />
Kausalzusammenhänge heran als ihre Gegner.<br />
Man hat dies übersehen können, weil die, die diese ethische Kritik <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums zurückzuweisen suchten, in ihren Ausführungen vielfach<br />
fehlgegangen sind. Statt auf die gesellschaftliche Leistung <strong>de</strong>r<br />
Einrichtung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums hinzuweisen, haben sie sich meist damit<br />
begnügt, sich entwe<strong>de</strong>r auf das Recht <strong>de</strong>s Eigentümers zu berufen, o<strong>de</strong>r<br />
darauf hinzuweisen, daß auch <strong>de</strong>r<br />
1 Vgl. Kant, Fragmente aus <strong>de</strong>m Nachlaß (Sämtliche Werke, herg. von Hartenstein,<br />
VIII. Bd., Leipzig 1868) S. 622.
427<br />
Eigentümer nicht ganz untätig sei, daß er Arbeit geleistet hat, um zum<br />
Eigentum zu gelangen, und Arbeit leistet, um es zu erhalten, und was<br />
<strong>de</strong>rgleichen mehr ist. Die Unstichhaltigkeit solcher Ausführungen liegt<br />
auf <strong>de</strong>r Hand. Die Berufung auf das gelten<strong>de</strong> Recht ist wi<strong>de</strong>rsinnig, wenn<br />
es sich darum han<strong>de</strong>lt, festzustellen, was Recht sein soll. Die Berufung auf<br />
die Arbeit, die <strong>de</strong>r Eigentümer geleistet hat o<strong>de</strong>r leistet, verkennt das<br />
Wesen <strong>de</strong>s Problems, bei <strong>de</strong>m es sich doch nicht darum han<strong>de</strong>lt, ob<br />
irgen<strong>de</strong>ine Arbeit belohnt wer<strong>de</strong>n soll, son<strong>de</strong>rn darum, ob an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln Son<strong>de</strong>reigentum überhaupt zulässig sein soll, und<br />
wenn ja, ob Ungleichheit solchen Eigentums gedul<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n darf.<br />
Darum ist auch je<strong>de</strong> Erwägung, ob ein bestimmter Preis gerechtfertigt<br />
ist o<strong>de</strong>r nicht, vom ethischen Standpunkt ganz unmöglich. Die ethische<br />
Beurteilung hat zu wählen zwischen einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung und einer auf<br />
<strong>de</strong>m Gemeineigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n. Hat sie sich<br />
für die eine o<strong>de</strong>r für die an<strong>de</strong>re entschie<strong>de</strong>n - die Entscheidung kann für<br />
die eudämonistische Ethik nur vom Gesichtspunkte <strong>de</strong>r Leistungen einer<br />
je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nkbaren Gesellschaftsformen erfolgen - dann kann sie<br />
nicht hinterher einzelne Konsequenzen <strong>de</strong>r von ihr gewählten Ordnung als<br />
unsittlich bezeichnen. Dann ist eben das, was <strong>de</strong>r Gesellschaftsordnung,<br />
für die sie sich entschie<strong>de</strong>n hat, notwendig ist, sittlich, alles an<strong>de</strong>re<br />
unsittlich.<br />
§ 3. Wenn man sagt: Alle Menschen sollen das gleiche Einkommen<br />
haben, so kann man vom wissenschaftlichen Standpunkt dagegen allerdings<br />
ebensowenig etwas vorbringen wie dafür. Wir haben hier ein<br />
ethisches Postulat vor uns, über <strong>de</strong>ssen Einschätzung nur die subjektiven<br />
Urteile <strong>de</strong>r Menschen zu entschei<strong>de</strong>n vermögen. Die Aufgabe <strong>de</strong>r wissenschaftlichen<br />
Betrachtung kann hier nur die sein, zu zeigen, was die<br />
Erreichung dieses Zieles kosten wür<strong>de</strong>, das heißt, welche an<strong>de</strong>re Ziele<br />
nicht erreicht wer<strong>de</strong>n können, wenn wir dieses Ziel anstreben wollen.<br />
Die meisten, wenn nicht alle, die für die möglichste Gleichheit <strong>de</strong>r<br />
Einkommensverteilung eintreten, machen sich nämlich nicht klar, daß es<br />
sich hier um eine For<strong>de</strong>rung han<strong>de</strong>lt, die nur durch Verzicht auf die<br />
Erreichung an<strong>de</strong>rer Ziele verwirklicht wer<strong>de</strong>n kann. Man stellt sich vor,<br />
daß die Summe <strong>de</strong>r Einkommen unverän<strong>de</strong>rt bleibt, und daß nur ihre<br />
Verteilung gleichmäßiger erfolgen soll als in <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n
428<br />
Wirtschaftsordnung. Die Reichen wer<strong>de</strong>n so viel von ihrem Einkommen<br />
abgeben, als sie über das Durchschnittseinkommen beziehen, die Armen<br />
wer<strong>de</strong>n soviel dazu erhalten, als ihnen zum Durchschnittseinkommen<br />
fehlt. Das Durchschnittseinkommen selbst aber wird unverän<strong>de</strong>rt bleiben.<br />
Es gilt sich klar zu machen, daß diese Meinung auf einem schweren<br />
Irrtum beruht. Wir konnten zeigen, daß, wie immer man sich die<br />
Ausgleichung <strong>de</strong>r Einkommensunterschie<strong>de</strong> <strong>de</strong>nken will, sie immer<br />
notwendigerweise zu einem sehr beträchtlichen Rückgang <strong>de</strong>s gesamten<br />
Volkseinkommens und somit auch <strong>de</strong>s durchschnittlichen Kopfeinkommens<br />
führen muß. Wenn <strong>de</strong>m aber so ist, dann lautet die Frage ganz<br />
an<strong>de</strong>rs. Dann muß man sich entschei<strong>de</strong>n, ob man für gleiche Einkommensverteilung<br />
bei niedrigerem Durchschnittseinkommen o<strong>de</strong>r für<br />
Ungleichheit <strong>de</strong>r Einkommensverteilung bei höherem Durchschnittseinkommen<br />
ist.<br />
Diese Entscheidung wird naturgemäß im wesentlichen davon<br />
abhängen, wie groß man die durch die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Einkommensverteilung bewirkte Schmälerung <strong>de</strong>s Durchschnittseinkommens<br />
einschätzt. Schätzt man sie so ein, daß man annimmt, in <strong>de</strong>r das<br />
Postulat <strong>de</strong>r Gleichheit <strong>de</strong>r Einkommen verwirklichen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung<br />
wer<strong>de</strong> je<strong>de</strong>rmann nur ein Einkommen beziehen, das hinter <strong>de</strong>m<br />
zurückbleibt, das heute die Ärmsten beziehen, dann wird die Stellung, die<br />
man zu ihm einnimmt, wohl eine ganz an<strong>de</strong>re sein als die, die die meisten<br />
Gefühlssozialisten heute haben. Wenn man das, was im zweiten Teile<br />
dieses Buches über die geringe Produktivität, ja über die Unmöglichkeit<br />
sozialistischer Produktion gesagt wur<strong>de</strong>, als richtig anerkennt, dann fällt<br />
auch dieses Argument <strong>de</strong>s ethischen Sozialismus.<br />
Es ist nicht so, daß die einen arm sind, weil die an<strong>de</strong>ren reich sind. 1<br />
Wollte man die kapitalistische Gesellschaftsordnung durch eine an<strong>de</strong>re<br />
ersetzen, in <strong>de</strong>r es keinen Unterschied <strong>de</strong>r Einkommensgröße gibt, dann<br />
wür<strong>de</strong> man alle ärmer machen. So paradox es <strong>de</strong>m Laien klingen mag,<br />
auch die Armen haben das, was ihnen zufließt, nur weil es Reiche gibt.<br />
Erweist sich aber die auf die Behauptung, daß die Muße und <strong>de</strong>r<br />
Reichtum <strong>de</strong>r einen die Arbeitslast und die Armut <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren vergrößern,<br />
gestützte Begründung <strong>de</strong>r allgemeinen Arbeitspflicht und <strong>de</strong>r Gleichheit<br />
<strong>de</strong>r Vermögen und Einkommen als unhaltbar,<br />
1 So stellt sich das z. B. auch Thomas von Aquino vor; vgl. Schreiber, Die<br />
volkswirtschaftlichen Anschauungen <strong>de</strong>r Scholastik seit Thomas von Aquin, Jena 1913, S.<br />
18.
429<br />
dann bleibt zugunsten dieser ethischen Postulate nichts an<strong>de</strong>res übrig als<br />
das Ressentiment. Es soll niemand müßig sein, wenn ich arbeiten muß; es<br />
soll niemand reich sein, wenn ich arm bin. Immer wie<strong>de</strong>r zeigt es sich,<br />
daß das Ressentiment die Grundlage aller sozialistischen I<strong>de</strong>en bil<strong>de</strong>t.<br />
§ 4. Ein an<strong>de</strong>rer Vorwurf, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaftsordnung<br />
von <strong>de</strong>n Philosophen gemacht wird, ist <strong>de</strong>r, daß sie ein Überwuchern <strong>de</strong>s<br />
Erwerbstriebes begünstige. Der Mensch sei nicht mehr Herr <strong>de</strong>s Wirtschaftsprozesses,<br />
son<strong>de</strong>rn sein Sklave; daß die Wirtschaft <strong>de</strong>r Bedürfnisbefriedigung<br />
diene, daß sie Mittel und nicht Selbstzweck ist, sei in<br />
Vergessenheit geraten. In einem unaufhörlichen Hasten und Jagen nach<br />
Gewinn erschöpfe sich das Leben, ohne daß Zeit für innere Sammlung<br />
und wirklichen Genuß übrig bleibe. Die besten Kräfte <strong>de</strong>s Menschen<br />
nützten sich im täglichen antreiben<strong>de</strong>n Kampf <strong>de</strong>s freien Wettbewerbes<br />
ab. Und <strong>de</strong>r Blick <strong>de</strong>s Ethikers wen<strong>de</strong>t sich nach rückwärts in eine ferne<br />
Vergangenheit, <strong>de</strong>ren Zustän<strong>de</strong> man in romantischer Verklärung sieht: <strong>de</strong>r<br />
römische Patrizier, auf seinem Landsitz friedlich über die Probleme <strong>de</strong>r<br />
Stoa grübelnd; <strong>de</strong>r mittelalterliche Mönch, <strong>de</strong>r seine Stun<strong>de</strong>n zwischen<br />
Andacht und Beschäftigung mit <strong>de</strong>n alten Schriftstellern teilt; <strong>de</strong>r Renaissancefürst,<br />
an <strong>de</strong>ssen Hof sich Künstler und Gelehrte treffen; die Dame<br />
<strong>de</strong>s Rokoko, <strong>de</strong>ren Salon die Enzyklopädisten füllen. Fürwahr, herrliche<br />
Bil<strong>de</strong>r, die uns mit tiefer Sehnsucht nach <strong>de</strong>n Zeiten <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />
erfüllen. Und unser Abscheu vor <strong>de</strong>r Gegenwart wächst, wenn man diesen<br />
Glanzbil<strong>de</strong>rn die Lebensweise gegenüberstellt, die die unkultivierten<br />
Elemente unserer Zeit führen.<br />
Das Mißliche an dieser mehr zum Gefühl als zum Verstand<br />
sprechen<strong>de</strong>n Beweisführung ist nicht nur die offenbare Unzulässigkeit <strong>de</strong>r<br />
Gegenüberstellung <strong>de</strong>r höchsten Lebensäußerungen aller Zeiten und<br />
Völker auf <strong>de</strong>r einen Seite und <strong>de</strong>r Schattenseiten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Daseins<br />
auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite. Es ist wohl klar, daß es nicht angeht, die<br />
Lebensführung eines Perikles o<strong>de</strong>r eines Mäcenas <strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>ines<br />
mo<strong>de</strong>rnen Dutzendmenschen entgegenzuhalten. Es ist einfach nicht wahr,<br />
daß die Hast <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Erwerbslebens in <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>n Sinn für<br />
das Schöne und Erhabene ertötet hat. Der Reichtum, <strong>de</strong>n die „bürgerliche“<br />
Kultur geschaffen hat, wird nicht nur für nie<strong>de</strong>re Genüsse verwen<strong>de</strong>t. Es<br />
genügt, auf die Volkstümlichkeit hinzuweisen, die die ernste Musik<br />
gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten vor allem unter jenen Bevölkerungsschichten<br />
gewonnen
430<br />
hat, die mitten im aufregendsten Erwerbsleben stehen, um die Unhaltbarkeit<br />
solcher Behauptungen zu wi<strong>de</strong>rlegen. Nie hat es eine Zeit<br />
gegeben, in <strong>de</strong>r die Kunst mehr Herzenssache weiter Schichten <strong>de</strong>r<br />
Bevölkerung gewesen wäre als die unsere. Daß es die große Menge mehr<br />
zu <strong>de</strong>rben und gemeinen Vergnügungen hinzieht als zu edlen Genüssen,<br />
ist keine für die Gegenwart charakteristische Erscheinung. Das war zu<br />
allen Zeiten so. Und auch im sozialistischen Gemeinwesen wer<strong>de</strong>n wohl<br />
die Genießer nicht immer nur guten Geschmack zeigen.<br />
Der mo<strong>de</strong>rne Mensch hat die Möglichkeit vor Augen, durch Arbeit und<br />
Unternehmungen reich zu wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r mehr gebun<strong>de</strong>nen Wirtschaft <strong>de</strong>r<br />
Vergangenheit war das nicht in <strong>de</strong>m gleichen Maße möglich. Man war<br />
reich o<strong>de</strong>r arm von Geburt aus und blieb es sein Leben lang, wenn man<br />
nicht durch unerwartete Zufälle, die durch eigene Arbeit o<strong>de</strong>r Unternehmung<br />
nicht herbeigeführt o<strong>de</strong>r nicht abgewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n konnten, eine<br />
Än<strong>de</strong>rung seiner Lage erfuhr. Darum gab es Reiche, die auf <strong>de</strong>n Höhen<br />
<strong>de</strong>s Lebens wan<strong>de</strong>lten, und Arme, die in <strong>de</strong>r Tiefe blieben. In <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaft ist dies an<strong>de</strong>rs. Der Reiche kann leichter arm, <strong>de</strong>r<br />
Arme leichter reich wer<strong>de</strong>n. Und weil je<strong>de</strong>m Einzelnen die Entscheidung<br />
über sein und <strong>de</strong>r Seinen Schicksal gewissermaßen in die Hand gelegt ist,<br />
strebt er, so hoch als möglich hinaufzukommen. Man kann nie genug<br />
reich sein, weil kein Reichtum in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
ewigen Bestand hat. Dem Grundherren <strong>de</strong>r Vergangenheit konnte<br />
niemand etwas anhaben. Wenn er schlechter produzierte, dann hatte er<br />
weniger zu verzehren; doch solange er sich nicht verschul<strong>de</strong>te, blieb er in<br />
seinem Besitz. Der Kapitalist, <strong>de</strong>r sein Kapital ausleiht, und <strong>de</strong>r Unternehmer,<br />
<strong>de</strong>r selbst produziert, müssen auf <strong>de</strong>m Markte die Probe bestehen.<br />
Wer seine Kapitalien ungünstig plaziert, wer zu teuer produziert, geht zugrun<strong>de</strong>.<br />
Beschauliche Ruheposten gibt es hier nicht. Auch im Grundbesitz<br />
angelegte Vermögen können heute, abgesehen von jenen Län<strong>de</strong>rn, in<br />
<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>m Grundbesitz eine bevorzugte Stellung eingeräumt ist, nicht<br />
mehr <strong>de</strong>n Einwirkungen <strong>de</strong>s Marktes entzogen wer<strong>de</strong>n; auch die Landwirtschaft<br />
produziert heute kapitalistisch. Heute heißt es erwerben o<strong>de</strong>r<br />
arm wer<strong>de</strong>n.<br />
Wer diesen Zwang zum Arbeiten und Unternehmen ausschalten will,<br />
muß sich darüber klar wer<strong>de</strong>n, daß er damit die Grundlagen unseres<br />
Wohlstan<strong>de</strong>s untergräbt. Daß die Er<strong>de</strong> 1914 weit mehr Menschen ernährt<br />
hat als je zuvor, und daß sie alle weit besser
431<br />
gelebt haben als ihre Vorfahren, das war nur dieser Herrschaft <strong>de</strong>s<br />
Erwerbsstrebens zu danken. Wer die geschäftige Arbeitsamkeit <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart durch die Beschaulichkeit <strong>de</strong>r Vorzeit ersetzen will, verurteilt<br />
ungezählte Millionen zum Hungertod.<br />
In <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaftsordnung wird an Stelle <strong>de</strong>r<br />
Geschäftigkeit, die heute in <strong>de</strong>n Kontoren und Fabriken herrscht, die<br />
gemächliche Arbeitsart <strong>de</strong>r staatlichen Ämter treten. Der in <strong>de</strong>r Hast <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Geschäftslebens stehen<strong>de</strong> Unternehmer wird durch <strong>de</strong>n Beamten<br />
ersetzt wer<strong>de</strong>n. Ob dies ein Gewinn für die Kultur sein wird, mögen<br />
die entschei<strong>de</strong>n, die sich berufen erachten, über die Welt und ihre<br />
Einrichtungen abzuurteilen. Sollte <strong>de</strong>r Kanzleirat wirklich ein Menschheitsi<strong>de</strong>al<br />
sein, das man um je<strong>de</strong>n Preis anstreben muß?<br />
Mit großem Eifer schil<strong>de</strong>rn manche Sozialisten die Vorzüge einer<br />
Gesellschaft, die aus Beamten besteht, gegenüber einer, die aus Erwerbbeflissenen<br />
besteht. 1 In <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>r Erwerbbeflissenen (Acquisitive<br />
Society) jage je<strong>de</strong>r nur seinem eigenem Vorteil nach; in <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
<strong>de</strong>r Berufsbeflissenen (Functional Society) erfülle je<strong>de</strong>r seine Pflicht im<br />
Dienste <strong>de</strong>s Ganzen. Soweit diese Höherbewertung <strong>de</strong>s Beamtentums<br />
nicht auf Verkennung <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln aufgebauten Gesellschaftsordnung beruht, ist sie<br />
nichts an<strong>de</strong>res als eine neue Form für die Verachtung <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s sich<br />
mühen<strong>de</strong>n Bürgers, die <strong>de</strong>m Grundherrn, <strong>de</strong>m Krieger, <strong>de</strong>m Literaten und<br />
<strong>de</strong>m Bohemien immer eigen war.<br />
§ 5. Die innere Unklarheit und Unwahrhaftigkeit <strong>de</strong>s ethischen<br />
Sozialismus, seine logischen Mängel und seine unwissenschaftliche<br />
Kritiklosigkeit charakterisieren ihn als das philosophische Erzeugnis einer<br />
Verfallszeit. Er ist <strong>de</strong>r geistige Ausdruck <strong>de</strong>s Nie<strong>de</strong>rganges <strong>de</strong>r europäischen<br />
Kultur um die Wen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s neunzehnten und <strong>de</strong>s zwanzigsten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts. In seinem Zeichen hat sich <strong>de</strong>r Abstieg <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Volkes und <strong>de</strong>r ganzen Menschheit von höchster Blüte zu tiefster<br />
Erniedrigung vollzogen. Er hat die geistigen Voraussetzungen für <strong>de</strong>n<br />
Weltkrieg und für <strong>de</strong>n Bolschewismus geschaffen. Seine Gewalttheorien<br />
triumphieren in <strong>de</strong>m großen Gemetzel <strong>de</strong>s Weltkrieges, das die Zeit<br />
höchster Kulturblüte, die die Weltgeschichte je gesehen hat, das Zeitalter<br />
<strong>de</strong>s Hochkapitalismus, abschließt.<br />
1 Vgl. Ruskin, Unto this last (Tauchnitz-Ed.) S. 19 ff.; Steinbach, Erwerb und Beruf,<br />
Wien 1896, S. 13 ff.; Otto Conrad, Volkswirtschaftspolitik o<strong>de</strong>r Erwerbspolitik? Wien<br />
1918, S. 51; Tawney, a. a. O., S. 38 ff.
432<br />
Im ethischen Sozialismus verbin<strong>de</strong>t sich mangeln<strong>de</strong>s Verständnis <strong>de</strong>r<br />
Bedingungen <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Zusammenschlusses <strong>de</strong>r Menschen<br />
mit <strong>de</strong>m Ressentiment <strong>de</strong>r Schlechtweggekommenen. Die Unfähigkeit,<br />
die schwierigen Probleme <strong>de</strong>s Gesellschaftslebens zu begreifen, gibt<br />
seinen Anhängern die Sicherheit und Unbekümmertheit, mit <strong>de</strong>r sie<br />
spielend die sozialen Fragen zu lösen vermeinen. Das Ressentiment<br />
verleiht ihnen die Kraft <strong>de</strong>r Entrüstung, die überall <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rhalls bei<br />
Gleichgesinnten gewiß ist. Das Feuer ihrer Sprache aber rührt von <strong>de</strong>r<br />
romantischen Schwärmerei für Ungebun<strong>de</strong>nheit her. Je<strong>de</strong>m Menschen ist<br />
<strong>de</strong>r Hang nach Freiheit von je<strong>de</strong>r gesellschaftlichen Bindung tief eingewurzelt;<br />
er verbin<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>r Sehnsucht nach einem Zustand voller<br />
Befriedigung aller <strong>de</strong>nkbaren Wünsche und Bedürfnisse. Die Vernunft<br />
lehrt, daß man jenem nicht nachgeben darf, wenn man nicht in das größte<br />
Elend zurücksinken soll, und daß diese nicht erfüllt wer<strong>de</strong>n kann. Wo die<br />
vernünftige Erwägung aussetzt, wird die Bahn für die Romantik frei. Das<br />
Antisoziale im Menschen siegt über <strong>de</strong>n Geist.<br />
Die romantische Richtung, die sich vor allem an die Phantasie wen<strong>de</strong>t,<br />
ist reich an Worten. Die Farbenpracht ihrer Träume ist nicht zu überbieten.<br />
Wo sie preist, erweckt sie unendliche Sehnsucht, wo sie verdammt,<br />
wachsen Ekel und Verachtung. Ihr Sehnen gilt einer Vergangenheit, die<br />
sie nicht mit nüchternen Augen, son<strong>de</strong>rn in verklärtem Bil<strong>de</strong> sieht, und<br />
einer Zukunft, die sie sich ganz nach Wunsch gestaltet. Zwischen bei<strong>de</strong>n<br />
sieht sie <strong>de</strong>n nüchternen Alltag, das Arbeitsleben <strong>de</strong>r „bürgerlichen“<br />
Gesellschaft. Für dieses hat sie nichts übrig als Haß und Abscheu. Im<br />
„Bürger“ erscheint ihr alles Schändliche und Kleine verkörpert. Sie<br />
schweift in alle Fernen, rühmt alle Zeiten und Län<strong>de</strong>r; nur für die Eigenart<br />
<strong>de</strong>r Gegenwart fehlen ihr Verständnis und Achtung.<br />
Die Großen <strong>de</strong>r Kunst, die man als Klassiker über alle an<strong>de</strong>ren stellt,<br />
haben <strong>de</strong>n tiefen Sinn <strong>de</strong>r bürgerlichen Ordnung verstan<strong>de</strong>n. Den<br />
Romantikern fehlt diese Einsicht. Sie sind zu klein, um das Lied <strong>de</strong>r<br />
bürgerlichen Gesellschaft zu singen. Sie spotten <strong>de</strong>s Bürgers, sie<br />
verachten die „Krämermoral“, sie verhöhnen das Gesetz. Ihr Auge ist<br />
außeror<strong>de</strong>ntlich scharf für alle Gebrechen <strong>de</strong>s irdischen Lebens, und sie<br />
sind schnell bereit, sie auf die Mangelhaftigkeit <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Einrichtungen zurückzuführen. Kein Romantiker hat die Großartigkeit <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Kultur gesehen. Wie klein erscheinen z. B. die Leistungen<br />
<strong>de</strong>s Christentums, wenn man sie <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r „Krämermoral“ entgegenstellt.<br />
Das Christentum hat sich
433<br />
mit Sklaverei und Vielweiberei ruhig abgefun<strong>de</strong>n, es hat <strong>de</strong>n Krieg<br />
gera<strong>de</strong>zu kanonisiert, es hat im Namen <strong>de</strong>s Herrn Ketzer verbrannt und<br />
Län<strong>de</strong>r verwüstet. Die viel gescholtene Krämermoral hat die persönliche<br />
Unfreiheit abgeschafft, sie hat das Weib zur gleichberechtigten Gefährtin<br />
<strong>de</strong>s Mannes gemacht, sie hat die Gleichheit vor <strong>de</strong>m Gesetz und die<br />
Freiheit <strong>de</strong>s Denkens und <strong>de</strong>r Meinungsäußerung verkün<strong>de</strong>t, sie hat <strong>de</strong>m<br />
Krieg <strong>de</strong>n Krieg erklärt, sie hat die Grausamkeit <strong>de</strong>r Strafen gemil<strong>de</strong>rt.<br />
Welche Kulturmacht kann sich ähnlicher Leistungen rühmen ? Die<br />
bürgerliche Kultur hat einen Wohlstand geschaffen und verbreitet, an <strong>de</strong>m<br />
gemessen die Lebensführung aller Königshöfe <strong>de</strong>r Vorzeit ärmlich<br />
scheint. Vor Ausbruch <strong>de</strong>s Weltkrieges war es selbst <strong>de</strong>n ärmeren<br />
Schichten <strong>de</strong>r städtischen Bevölkerung möglich, sich nicht nur anständig<br />
zu klei<strong>de</strong>n und zu verpflegen, son<strong>de</strong>rn auch echte Kunst zu genießen und<br />
mitunter selbst Reisen in ferne Län<strong>de</strong>r zu unternehmen. Doch die Romantiker<br />
sahen immer nur die, <strong>de</strong>nen es noch nicht gut ging, weil die<br />
bürgerliche Kultur noch nicht genug Reichtum geschaffen hatte, um alle<br />
wohlhabend zu machen; nie haben sie auf jene gesehen, die schon<br />
wohlhabend gewor<strong>de</strong>n Waren. Sie haben immer nur <strong>de</strong>n Schmutz und das<br />
Elend gesehen, die <strong>de</strong>r kapitalistischen Kultur noch als Erbe <strong>de</strong>r Vorzeit<br />
anhafteten, nie das, was sie selbst geschaffen hatte.<br />
V.<br />
Das Argument <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Demokratie.<br />
§ 1. Unter <strong>de</strong>n Argumenten, die zugunsten <strong>de</strong>s Sozialismus geltend<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n, kommt <strong>de</strong>mjenigen, das durch das Schlagwort „selfgovernment<br />
in industry“ gekennzeichnet wird, eine immer größere<br />
Be<strong>de</strong>utung zu. Wie im Staat <strong>de</strong>r Absolutismus <strong>de</strong>s Königs durch das<br />
Mitbestimmungs- und dann weiter durch das Alleinbestimmungsrecht <strong>de</strong>s<br />
Volkes gebrochen wur<strong>de</strong>, so müsse auch <strong>de</strong>r Absolutismus <strong>de</strong>r Eigentümer<br />
<strong>de</strong>r Produktionsmittel und <strong>de</strong>r Unternehmer durch die Konsumenten<br />
und durch die Arbeiter aufgehoben wer<strong>de</strong>n. Die Demokratie sei unvollständig,<br />
solange sich je<strong>de</strong>rmann <strong>de</strong>m Diktate <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n fügen<br />
müsse. Das Schlimmste am Kapitalismus sei gar nicht die Ungleichheit<br />
<strong>de</strong>r Einkommen; unerträglicher sei die Macht, die er <strong>de</strong>n Besitzen<strong>de</strong>n über<br />
ihre Mitbürger verleihe. Solange dieser Zustand bestehen bleibe, könne<br />
man von
434<br />
persönlicher Freiheit gar nicht sprechen. Das Volk müsse die Verwaltung<br />
<strong>de</strong>r wirtschaftlichen Angelegenheiten gera<strong>de</strong> so in die Hand nehmen, wie<br />
es die Regierung im Staate an sich gezogen hat. 1<br />
Der Fehler, <strong>de</strong>r in dieser Argumentation steckt, ist ein doppelter. Sie<br />
verkennt auf <strong>de</strong>r einen Seite das Wesen, d. i. die Funktion <strong>de</strong>r politischen<br />
Demokratie, und auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite das Wesen <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftsordnung.<br />
Das Wesen <strong>de</strong>r Demokratie ist, wie schon dargelegt wur<strong>de</strong>, we<strong>de</strong>r im<br />
Wahlsystem noch im Beraten und Abstimmen in <strong>de</strong>r Volksgemeinschaft<br />
o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n aus ihr durch Wahl hervorgehen<strong>de</strong>n Ausschüssen je<strong>de</strong>r Art zu<br />
suchen. Das sind nur technische Hilfsmittel <strong>de</strong>r politischen Demokratie.<br />
Ihre Funktion ist Frie<strong>de</strong>nsstiftung. Die <strong>de</strong>mokratischen Einrichtungen<br />
sorgen dafür, daß <strong>de</strong>r Wille <strong>de</strong>r Volksgenossen in <strong>de</strong>r Besorgung <strong>de</strong>r<br />
politischen Angelegenheiten zur Geltung kommt, in<strong>de</strong>m sie die Herrscher<br />
und Verwalter aus <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>s Volkes hervorgehen lassen. So wer<strong>de</strong>n<br />
die Gefahren für <strong>de</strong>n friedlichen Gang <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Entwicklung,<br />
die sich aus einer Unstimmigkeit zwischen <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r Herrscher und<br />
<strong>de</strong>r öffentlichen Meinung ergeben könnten, beseitigt. Der Bürgerkrieg<br />
wird vermie<strong>de</strong>n, wenn es Einrichtungen gibt, die <strong>de</strong>n Wechsel in <strong>de</strong>r<br />
Person <strong>de</strong>r Herrscher auf friedlichem Wege ermöglichen. In <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsverfassung<br />
bedarf es nicht erst <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Einrichtungen, wie sie sich die<br />
politische Demokratie geschaffen hat, um <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Erfolg zu<br />
erzielen. Dafür sorgt schon <strong>de</strong>r freie Wettbewerb. Alle Produktion muß<br />
sich nach <strong>de</strong>n Wünschen <strong>de</strong>r Verbraucher richten. Entspricht sie nicht <strong>de</strong>n<br />
Anfor<strong>de</strong>rungen, die <strong>de</strong>r Konsument stellt, dann wird sie unrentabel. Es ist<br />
also dafür gesorgt, daß die Erzeuger sich nach <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r<br />
Verbraucher<br />
1 “The central wrong of the Capitalist System is neither the poverty of the poor nor the<br />
riches of the rich: it is the power which the mere ownership of the instruments of<br />
production gives to a relatively small section of the community over the actions of their<br />
fellow-citizens and over the mental and physical environment of successive generations.<br />
Un<strong>de</strong>r such a system personal freedom becomes, for large masses of the people, little<br />
better than a mockery. . . . What the Socialist aims at is the substitution, for this<br />
Dictatorship of the Capitalist, of government of the people by the people and for the<br />
people, in all the industries and <strong>services</strong> by which the people live.” (Sidney and Beatrice<br />
Webb, A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain, London 1920, S.<br />
XII f.) Vgl. auch Cole, Guild Socialism Re-stated, London 1920, S. 12 ff.
435<br />
richten, und daß die Produktionsmittel aus <strong>de</strong>r Hand jener, die nicht<br />
gewillt o<strong>de</strong>r befähigt sind, das zu leisten, was die Verbraucher von ihnen<br />
for<strong>de</strong>rn, in die Hän<strong>de</strong> jener übergehen, die besser imstan<strong>de</strong> sind, die<br />
Erzeugung zu leiten. Der Herr <strong>de</strong>r Produktion ist <strong>de</strong>r Konsument. Die<br />
Volkswirtschaft ist, unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, eine Demokratie,<br />
in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r Pfennig einen Stimmzettel darstellt. Sie ist eine<br />
Demokratie mit je<strong>de</strong>rzeit wi<strong>de</strong>rruflichem imperativem Mandat <strong>de</strong>r<br />
Beauftragten. 1<br />
Sie ist eine Verbraucher<strong>de</strong>mokratie. Die Produzenten, das ist wahr,<br />
haben selbst keine Möglichkeit, <strong>de</strong>r Produktion die Richtung zu weisen.<br />
Das gilt in gleicher Weise vom Unternehmer wie vom Arbeiter; bei<strong>de</strong><br />
müssen in letzter Linie die Wünsche <strong>de</strong>r Konsumenten befolgen. Das könnte<br />
auch gar nicht an<strong>de</strong>rs sein. In <strong>de</strong>r Produktion können nur entwe<strong>de</strong>r die<br />
Konsumenten o<strong>de</strong>r die Produzenten <strong>de</strong>n Ton angeben. Daß es jene tun, ist<br />
nur selbstverständlich. Denn nicht um <strong>de</strong>r Produktion willen wird produziert,<br />
son<strong>de</strong>rn für <strong>de</strong>n Konsum. Als Produzent ist <strong>de</strong>r Volksgenosse in <strong>de</strong>r<br />
arbeitteilen<strong>de</strong>n Wirtschaft selbst Beauftragter <strong>de</strong>r Gesamtheit und hat als<br />
solcher zu gehorchen. Anzuschaffen hat er nur als Konsument.<br />
Dem Unternehmer kommt dabei keine an<strong>de</strong>re Stellung zu als die eines<br />
Leiters <strong>de</strong>r Produktion. Daß er <strong>de</strong>m Arbeiter gegenüber Macht ausübt, ist<br />
klar. Aber diese Macht kann er nicht nach Willkür ausüben. Er muß sie so<br />
gebrauchen, wie es die Erfor<strong>de</strong>rnisse einer <strong>de</strong>n Wünschen <strong>de</strong>r<br />
Konsumenten entsprechen<strong>de</strong>n Produktion verlangen. Dem einzelnen<br />
Lohnempfänger, <strong>de</strong>ssen Blick nicht über <strong>de</strong>n engen Horizont seiner<br />
täglichen Arbeit hinausgeht, mag es als Willkür und Laune erscheinen,<br />
was <strong>de</strong>r Unternehmer in seinem Betriebe verfügt. Aus <strong>de</strong>r Froschperspektive<br />
lassen sich die großen Umrisse und <strong>de</strong>r Plan <strong>de</strong>s ganzen<br />
Werkes nicht erkennen. Beson<strong>de</strong>rs dann, wenn die Verfügungen <strong>de</strong>s<br />
Unternehmers die nächsten Interessen <strong>de</strong>s Arbeiters verletzen, mögen sie<br />
ihm als unbegrün<strong>de</strong>t und willkürlich erscheinen. Daß <strong>de</strong>r Unternehmer<br />
unter <strong>de</strong>r Herrschaft eines strengen Gesetzes arbeitet, vermag er nicht zu<br />
erkennen.<br />
1 “The market is a <strong>de</strong>mocracy where every penny gives a right of vote.“ (Fetter, a. a.<br />
O., S. 394, 410.) - Vgl. ferner Schumpeter, Theorie <strong>de</strong>r wirtschaftlichen Entwicklung,<br />
Leipzig 1912, S. 32 f. - Es ist nichts verkehrter als ein Ausspruch wie <strong>de</strong>r: „Wer wird beim<br />
Bau eines Großstadthauses weniger gefragt als seine künftigen Mieter?“ (Lenz, Macht und<br />
Wirtschaft, München 1915, S. 92.) Je<strong>de</strong>r Bauherr sucht so zu bauen, daß er <strong>de</strong>n Wünschen<br />
<strong>de</strong>r künftigen Mieter am besten entspricht, um die Wohnungen so schnell und so teuer als<br />
möglich vermieten zu können.
436<br />
Wohl steht es <strong>de</strong>m Unternehmer je<strong>de</strong>rzeit frei, seiner Laune die Zügel<br />
schießen zu lassen. Er kann willkürlich Arbeiter entlassen, hartnäckig<br />
veraltete Arbeitsprozesse beibehalten, bewußt unzweckmäßige Arbeitsmetho<strong>de</strong>n<br />
wählen und sich in <strong>de</strong>n Geschäften von außerwirtschaftlichen<br />
Beweggrün<strong>de</strong>n leiten lassen. Aber, wenn er dies tut und soweit er dies tut,<br />
muß er büßen, und wenn er nicht rechtzeitig Einkehr hält, wird er durch<br />
<strong>de</strong>n Verlust seines Besitzes in eine Stellung im Wirtschaftsleben gedrängt,<br />
in <strong>de</strong>r er nicht mehr in <strong>de</strong>r Lage ist, zu scha<strong>de</strong>n. Eine beson<strong>de</strong>re Kontrolle<br />
seines Verhaltens einzuführen, ist nicht erst notwendig. Der Markt übt sie<br />
schärfer und genauer, als es irgen<strong>de</strong>ine Überwachung durch die Regierung<br />
o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Organe <strong>de</strong>r Gesellschaft machen könnte. 1<br />
Je<strong>de</strong>r Versuch, diese Herrschaft <strong>de</strong>r Konsumenten durch die <strong>de</strong>r Produzenten<br />
zu ersetzen, ist an sich wi<strong>de</strong>rsinnig. Er wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Zweck <strong>de</strong>r<br />
Produktion zuwi<strong>de</strong>rlaufen. Wir haben einen - <strong>de</strong>n für die mo<strong>de</strong>rnen<br />
Verhältnisse wichtigsten - Fall dieser Art schon näher behan<strong>de</strong>lt: <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
syndikalistischen Wirtschaftsverfassung. Was von ihr gilt, gilt von je<strong>de</strong>r<br />
Produzentenpolitik. Alle Wirtschaft muß Konsumentenwirtschaft sein.<br />
Man erkennt <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsinn aller Bestrebungen, durch die Schaffung<br />
syndikalistischer Einrichtungen „wirtschaftliche Demokratie“ zu schaffen<br />
am besten, wenn man sie sich auf das politische Gebiet zurückübertragen<br />
<strong>de</strong>nkt. Wäre es Demokratie, wenn etwa die Richter darüber zu entschei<strong>de</strong>n<br />
hätten, welche Gesetze gelten sollen und in welcher Weise Recht gesprochen<br />
wer<strong>de</strong>n soll? O<strong>de</strong>r wenn die Soldaten darüber zu entschei<strong>de</strong>n hätten,<br />
wem sie ihre Waffen zur Verfügung zu stellen und wie sie die Macht, die<br />
ihnen übertragen ist, zu gebrauchen haben? Nein, Richter und Soldaten<br />
haben in dieser ihrer Eigenschaft zu gehorchen, wenn <strong>de</strong>r Staat nicht zu<br />
einer Richter- o<strong>de</strong>r Soldaten<strong>de</strong>spotie wer<strong>de</strong>n soll. Man kann das Wesen<br />
<strong>de</strong>r Demokratie nicht ärger verkennen als, es das Schlagwort von <strong>de</strong>r<br />
„industriellen Selbstverwaltung“ tut.<br />
Auch im sozialistischen Gemeinwesen haben nicht die Arbeiter <strong>de</strong>r<br />
einzelnen Produktionszweige über das, was in ihrem Teilgebiet <strong>de</strong>r<br />
Wirtschaft zu geschehen hat, zu entschei<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn die einheitliche<br />
Oberleitung aller gesellschaftlichen Handlungen. Wäre <strong>de</strong>m nicht so, dann<br />
hätten wir nicht Sozialismus, son<strong>de</strong>rn Syndikalismus<br />
1 Das verkennt man vollständig, wenn man, wie das Ehepaar Webb (a. a. O., S. XII)<br />
sagt, die Arbeiter hätten <strong>de</strong>n Befehlen „of irresponsible masters intent on their own<br />
pleasure or their own gain“ zu gehorchen.
437<br />
vor uns. Zwischen Sozialismus und Syndikalismus gibt es aber keine<br />
Vermittlung.<br />
§ 2. Man pflegt mitunter die Behauptung zu vertreten, daß die<br />
Unternehmer in Wahrung ihrer Son<strong>de</strong>rinteressen die Produktion in eine<br />
Richtung drängen, die <strong>de</strong>n Interessen <strong>de</strong>r Verbraucher entgegen ist. Die<br />
Unternehmer machen sich kein Gewissen daraus, „Bedürfnisse im<br />
Publikum hervorzurufen o<strong>de</strong>r zu steigern, <strong>de</strong>ren Befriedigung zwar <strong>de</strong>n<br />
nie<strong>de</strong>ren Wert <strong>de</strong>s sinnlich Angenehmen realisiert, aber <strong>de</strong>r Verwirklichung<br />
<strong>de</strong>s Vitalwertes ‚Gesundheit’ o<strong>de</strong>r geistiger Werte abträglich ist“. So<br />
wer<strong>de</strong> die Bekämpfung <strong>de</strong>s Alkoholismus erschwert durch die<br />
Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>, die „das Alkoholkapital <strong>de</strong>r Bekämpfung <strong>de</strong>s unsere<br />
Volksgesundheit und -sittlichkeit schwer schädigen<strong>de</strong>n Alkoholismus<br />
entgegensetzt“. Die Sitte <strong>de</strong>s Rauchens wäre nicht „so verbreitet und in<br />
steter Ausbreitung auch unter <strong>de</strong>r Jugend begriffen, wenn nicht wirtschaftliche<br />
Interessen dabei eine Rolle spielten“. Es wer<strong>de</strong>n „Luxusartikel,<br />
Tand und Flitter aller Art, Schund- und Schmutzliteratur“ heute „<strong>de</strong>m<br />
Publikum aufgedrängt, weil die Produzenten ihren Profit dabei machen<br />
o<strong>de</strong>r ihn erhoffen“. 1 Allgemein bekannt ist es, daß man die großen militärischen<br />
Rüstungen <strong>de</strong>r Mächte und damit mittelbar <strong>de</strong>n Krieg auf<br />
Umtriebe <strong>de</strong>s „Rüstungskapitals“ zurückführt.<br />
Unternehmer und Kapitalisten, die Neuanlage von Kapital planen,<br />
wen<strong>de</strong>n sich jenen Produktionszweigen zu, in <strong>de</strong>nen sie die höchste<br />
Rentabilität zu erzielen hoffen. Sie suchen die künftigen Bedürfnisse <strong>de</strong>r<br />
Verbraucher zu ergrün<strong>de</strong>n, um sich einen Überblick über Bedarf und<br />
Bedarfs<strong>de</strong>ckung zu verschaffen. Da <strong>de</strong>r Kapitalismus immer neuen<br />
Reichtum für alle schafft und die Bedürfnisbefriedigung immer wie<strong>de</strong>r<br />
verbessert, wird <strong>de</strong>n Verbrauchern immer wie<strong>de</strong>r die Möglichkeit geboten,<br />
Bedürfnisse zu befriedigen, die früher unbefriedigt bleiben mußten. So<br />
wird es zu einer beson<strong>de</strong>ren Aufgabe <strong>de</strong>r kapitalistischen Unternehmer,<br />
herauszufin<strong>de</strong>n, welche bisher unbefriedigten Wünsche nun erfüllt wer<strong>de</strong>n<br />
könnten. Das ist es, was man im Auge hat, wenn man davon spricht, daß<br />
<strong>de</strong>r Kapitalismus latente Bedürfnisse weckt, um sie zu befriedigen.<br />
Was sich <strong>de</strong>r Verbraucher wünscht, kümmert dabei Unternehmer und<br />
Kapitalisten nicht. Sie sind nur die gehorsamen Diener <strong>de</strong>s Verbrauchers<br />
und dienen ohne Wi<strong>de</strong>rre<strong>de</strong> seinen Befehlen. Es ist nicht ihres Amtes,<br />
<strong>de</strong>m Verbraucher vorzuschreiben, was er genießen<br />
1 Vgl. Messer, Ethik, Leipzig 1918, S. 111 f.; ferner Natorp, Soziali<strong>de</strong>alismus, Berlin<br />
1920, S. 13.
438<br />
soll. Sie liefern ihm, wenn er es wünscht, Gift und Mordwaffen. Es ist<br />
ihnen als Produzenten ganz gleichgültig, was ihr Herr, <strong>de</strong>r Verbraucher,<br />
von ihnen for<strong>de</strong>rt. Nichts ist verfehlter als zu glauben, daß man mit<br />
schlechten o<strong>de</strong>r schädlichem Gebrauch dienen<strong>de</strong>n Erzeugnissen mehr<br />
verdienen könnte als mit guten und edlem Gebrauch dienen<strong>de</strong>n. Man<br />
verdient mit <strong>de</strong>m am meisten, was <strong>de</strong>r dringendsten Nachfrage entspricht;<br />
wer verdienen will, wen<strong>de</strong>t sich mithin <strong>de</strong>r Erzeugung jener Waren zu, bei<br />
<strong>de</strong>nen zwischen Angebot und Nachfrage das stärkste Mißverhältnis<br />
besteht. Wer freilich schon Kapital investiert hat, hat ein Interesse daran,<br />
daß die Nachfrage nach <strong>de</strong>n Erzeugnissen seiner Betriebe steige. Er sucht<br />
<strong>de</strong>n Absatz auszu<strong>de</strong>hnen. Doch er kann auf die Dauer gegen die Än<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Bedürfnisse <strong>de</strong>r Verbraucher nicht aufkommen. Ebensowenig hat er<br />
auf die Dauer einen Vorteil davon, daß <strong>de</strong>r Bedarf nach seinen Erzeugnissen<br />
wächst; neue Unternehmungen, die sich dann seinem<br />
Gewerbszweig zuwen<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n, müssen seinen Gewinn bald auf <strong>de</strong>n<br />
Durchschnittssatz ermäßigen.<br />
Die Menschen trinken nicht Alkohol, weil es Bierbrauereien,<br />
Schnapsbrennereien und Weinbau gibt; man braut Bier, brennt Schnaps<br />
und baut Wein, weil die Menschen geistige Getränke verlangen. Das<br />
„Alkoholkapital“ hat we<strong>de</strong>r die Trinksitten noch die Trinklie<strong>de</strong>r<br />
geschaffen. Die Kapitalisten, die Aktien von Brauereien und Brennereien<br />
besitzen, hätten lieber Aktien von Verlagsbuchhandlungen erworben, die<br />
Erbauungsbücher vertreiben, wenn die Nachfrage nach geistlichen<br />
Büchern stärker wäre als die nach geistigen Getränken. Nicht das<br />
„Rüstungskapital“ hat <strong>de</strong>n Krieg erzeugt, son<strong>de</strong>rn die Kriege das<br />
„Rüstungskapital“. Nicht Krupp und Schnei<strong>de</strong>r haben die Völker verhetzt,<br />
son<strong>de</strong>rn die imperialistischen Schriftsteller und Politiker.<br />
Wer es für schädlich hält, Alkohol und Nikotin zu genießen, <strong>de</strong>r lasse<br />
es bleiben. Wenn er will, mag er auch trachten, seine Mitmenschen zu<br />
seiner Anschauung und Enthaltsamkeit zu bringen. Seine Mitmenschen<br />
gegen ihren Willen zur Meidung von Alkohol und Nikotin zu zwingen,<br />
vermag er in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung, <strong>de</strong>ren tiefster<br />
Grundzug Selbstbestimmung und Selbstverantwortung eines je<strong>de</strong>n Einzelnen<br />
ist, freilich nicht. Wer es bedauert, daß er an<strong>de</strong>re nicht nach seinen<br />
Wünschen lenken kann, <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>nke, daß an<strong>de</strong>rerseits auch er selbst davor<br />
gesichert wird, <strong>de</strong>n Befehlen an<strong>de</strong>rer Folge zu leisten.<br />
Es gibt Sozialisten, die <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung
439<br />
vor allem die Mannigfaltigkeit <strong>de</strong>r Erzeugnisse zum Vorwurf machen.<br />
Statt sich auf die Herstellung von gleichartigen Waren, die dann in<br />
größtem Maßstab betrieben wer<strong>de</strong>n könnte, zu beschränken, erzeuge man<br />
hun<strong>de</strong>rte und tausen<strong>de</strong> Typen, wodurch die Produktion verteuert wer<strong>de</strong>.<br />
Der Sozialismus wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Genossen nur gleichartige Waren zur<br />
Verfügung stellen, er wer<strong>de</strong> die Erzeugung vereinheitlichen und so die<br />
Produktivität <strong>de</strong>r Volkswirtschaft heben. Er wer<strong>de</strong> zugleich auch die<br />
Einzelhaushalte <strong>de</strong>r Familien auflösen und an ihre Stelle durch<br />
Gemeinschaftsküchen und gasthofähnliche Wohnhäuser für die Genossen<br />
vorsorgen; auch dies wer<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m es die Verschwendung von<br />
Arbeitskraft in kleinen, nur wenigen Verbrauchern dienen<strong>de</strong>n Küchen und<br />
in kleinen Wohnungen beseitige, <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Reichtum<br />
mehren. Das sind Gedanken, die in vielen sozialistischen Schriften bis ins<br />
einzelne ausgeführt wer<strong>de</strong>n; heute nehmen sie vor allem im Sozialismus<br />
Walter Rathenaus einen großen Raum ein. 1<br />
Die kapitalistische Produktion stellt je<strong>de</strong>n Käufer vor die Entscheidung,<br />
ob er es vorzieht, die billigeren Erzeugnisse vereinheitlichter<br />
Massenerzeugung zu verwen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r die teureren, die für <strong>de</strong>n Geschmack<br />
einzelner o<strong>de</strong>r kleiner Gruppen beson<strong>de</strong>rs gearbeitet wer<strong>de</strong>n. Unverkennbar<br />
herrscht in ihr ein Streben nach fortschreiten<strong>de</strong>r Vereinheitlichung <strong>de</strong>r<br />
Produktion und <strong>de</strong>s Konsums durch Typisierung und Normalisierung vor.<br />
Überall dort, wo es sich um Waren han<strong>de</strong>lt, die im Produktionsprozesse<br />
selbst zur Verwendung gelangen, bürgert sich die Normalware von Tag zu<br />
Tag mehr ein. Der rechnen<strong>de</strong> Unternehmer fin<strong>de</strong>t es bald heraus, daß es<br />
vorteilhafter ist, die allgemein eingeführte Type zu verwen<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>r<br />
Anschaffung, Ersatz von schadhaft gewor<strong>de</strong>nen Teilen und Anpassung an<br />
die übrigen Betriebs- und Produktionseinrichtungen billiger ist als bei<br />
nach beson<strong>de</strong>rer Art hergestellten Gegenstän<strong>de</strong>n. Dem Zuge zur Vereinheitlichung<br />
<strong>de</strong>r im Produktionsprozeß verwen<strong>de</strong>ten Gerätschaften stellt<br />
sich heute vor allem <strong>de</strong>r Umstand entgegen, daß zahlreiche Betriebe<br />
mittelbar o<strong>de</strong>r selbst unmittelbar vergesellschaftet sind, so daß in ihnen<br />
nicht rationell gearbeitet und mithin auf die Vorteile, die aus <strong>de</strong>r<br />
Verwendung von Normaltypen erwachsen, kein Gewicht gelegt wird. Die<br />
Heeresverwaltungen, die Stadtbauämter, die Staatsbahndirektionen und<br />
ähnliche Behör<strong>de</strong>n wehren sich in bürokratischer Starrköpfigkeit gegen<br />
die Übernahme<br />
1 Vgl. Rathenau, Die neue Wirtschaft, Berlin 1918, S. 41 ff.; dazu die kritischen<br />
Ausführungen von Wiese, Freie Wirtschaft, Leipzig 1918.
440<br />
<strong>de</strong>r allgemein gebräuchlichen Typen. Um die Produktion von Maschinen,<br />
Gegenstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Betriebseinrichtung und Halbfabrikaten zu vereinheitlichen,<br />
bedarf es nicht <strong>de</strong>s Übergangs zu sozialistischer Produktion. Im<br />
Gegenteil. Der Kapitalismus fährt am raschesten von selbst dahin.<br />
An<strong>de</strong>rs liegt es bei <strong>de</strong>n Gebrauchs- und Verbrauchsgütern. Wenn<br />
jemand glaubt, daß die Befriedigung <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rwünsche seines persönlichen<br />
Geschmacks die Mehrkosten, die für ihn daraus gegenüber <strong>de</strong>r<br />
Befriedigung durch die uniformen Erzeugnisse <strong>de</strong>r Massenproduktion<br />
erwachsen, aufwiegt, dann kann man ihm nicht objektiv beweisen, daß er<br />
im Unrecht ist. Wenn mein Freund es vorzieht, sich so zu klei<strong>de</strong>n, so zu<br />
wohnen und so zu essen, wie es ihm gefällt, und nicht das zu machen, was<br />
je<strong>de</strong>rmann tut, dann kann man ihn darum nicht ta<strong>de</strong>ln. Denn seine<br />
Glückseligkeit liegt in <strong>de</strong>r Befriedigung seiner Wünsche; er will so leben,<br />
wie es ihm gefällt, und nicht so, wie ich o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re es tun wür<strong>de</strong>n, wenn<br />
sie an seiner Stelle wären. Seine Wertung entschei<strong>de</strong>t, nicht meine o<strong>de</strong>r<br />
die „je<strong>de</strong>rmanns“. Ich kann ihm unter Umstän<strong>de</strong>n zeigen, daß die Urteile,<br />
die für die Bildung seiner Wertskala die Grundlage abgegeben haben,<br />
falsch sind, wenn ich ihn etwa darüber belehre, daß die Speisen, die er<br />
vorzieht, geringeren Nährwert haben, als er angenommen hat. Doch wenn<br />
er seine Wertung nicht auf unhaltbaren Anschauungen über ein Verhältnis<br />
von Ursache und Wirkung aufgebaut hat, son<strong>de</strong>rn auf subjektiven<br />
Gefühlen und Empfindungen, dann können ihn meine Ausführungen nicht<br />
umstimmen. Wenn er trotz <strong>de</strong>r gepriesenen Vorzüge <strong>de</strong>s Gasthoflebens<br />
und <strong>de</strong>r Gemeinschaftsküche die geson<strong>de</strong>rte Lebens- und Wirtschaftshaltung<br />
vorzieht, weil die Stimmungsmomente, die in <strong>de</strong>n Worten<br />
„eigenes Heim“ und „eigener Herd“ zum Ausdruck kommen, für ihn mehr<br />
Gewicht haben als die zugunsten <strong>de</strong>s einheitlichen Betriebes angeführten<br />
Umstän<strong>de</strong>, dann kann man dagegen nicht aufkommen. Wenn er seine<br />
Wohnung nach seinem persönlichen Geschmack einrichten will und nicht<br />
nach <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Möbelfabrikanten, so kann man ihn mit Grün<strong>de</strong>n nicht<br />
wi<strong>de</strong>rlegen. Wenn er in voller Kenntnis <strong>de</strong>r physiologischen Wirkungen<br />
<strong>de</strong>s Alkoholgenusses nicht enthaltsam wer<strong>de</strong>n will, weil er die Freu<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>s Bacchus selbst um die Nachteile, die mit <strong>de</strong>m Trinken verbun<strong>de</strong>n<br />
sind, zu erkaufen bereit ist, kann ich ihn wohl vom Standpunkte meiner<br />
Wertung <strong>de</strong>r Genüsse unklug schelten. Doch über seine Befriedigung<br />
entschei<strong>de</strong>n sein Wille und seine Wertung. Wenn ich als Einzel<strong>de</strong>spot<br />
o<strong>de</strong>r als
441<br />
Glied einer <strong>de</strong>spotisch herrschen<strong>de</strong>n Mehrheit <strong>de</strong>n Alkoholgenuß verbiete,<br />
dann erhöhe ich damit nicht die Produktivität <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Produktion. Die, die <strong>de</strong>n Alkohol verdammen, hätten ihn auch ohne<br />
Verbot gemie<strong>de</strong>n. Für alle an<strong>de</strong>ren aber be<strong>de</strong>utet die Entziehung eines<br />
Genusses, <strong>de</strong>n sie höher schätzen als das, was sie sich bei Verzicht darauf<br />
verschaffen können, Verschlechterung <strong>de</strong>r Versorgung.<br />
Die Gegenüberstellung von Produktivität und Rentabilität, <strong>de</strong>ren<br />
Unwert für die Erkenntnis <strong>de</strong>ssen, was in <strong>de</strong>r gegebenen Zielen zustreben<strong>de</strong>n<br />
Produktion vor sich geht, sich aus <strong>de</strong>n schon oben dargelegten<br />
Ausführungen ergibt, 1 führt, wenn man sie auf die Ziele wirtschaftlichen<br />
Han<strong>de</strong>lns anwen<strong>de</strong>n will, zu falschen Ergebnissen. Wenn es sich um die<br />
Mittel und Wege han<strong>de</strong>lt, die zu einem gegebenen Ziele hinführen, dann<br />
kann man <strong>de</strong>n einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Vorgang als zweckmäßiger, d. h.<br />
höheren Ertrag liefernd, bezeichnen. Doch wenn es sich darum han<strong>de</strong>lt, ob<br />
dieses o<strong>de</strong>r jenes Mittel größeren Wohlfahrtsgewinn für das Individuum<br />
ergibt, dann fehlt es an objektiven Maßstäben. Dann entschei<strong>de</strong>n allein<br />
das subjektive Wollen <strong>de</strong>r Menschen. Ob jemand lieber Wasser, Milch<br />
o<strong>de</strong>r Wein trinken will, ist nicht von <strong>de</strong>n physiologischen Wirkungen<br />
dieser Getränke abhängig, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r Einschätzung, die diese Wirkungen<br />
durch die einzelnen Menschen erfahren. Wenn jemand Wein trinkt<br />
und nicht Wasser, so kann ich das nicht als schlechthin unrationell<br />
bezeichnen. Ich kann höchstens sagen: ich täte es an seiner Stelle nicht.<br />
Wie er glücklich wer<strong>de</strong>n will, ist aber seine Sache, nicht meine.<br />
Wenn das sozialistische Gemeinwesen <strong>de</strong>n Genossen nicht die Güter<br />
zuführt, die sie selbst genießen wollen, son<strong>de</strong>rn die, die die Machthaber<br />
als für sie zuträglich erachten, so wird die Summe von Befriedigung nicht<br />
erhöht, son<strong>de</strong>rn gemin<strong>de</strong>rt. Wirtschaftliche Demokratie könnte man die<br />
Vergewaltigung <strong>de</strong>s Einzelwillens gewiß nicht nennen.<br />
Darin liegt eben ein wesentlicher Unterschied zwischen kapitalistischer<br />
und sozialistischer Produktion, daß in jener die Menschen sich versorgen,<br />
während sie in dieser versorgt wer<strong>de</strong>n. Der Sozialist will die Menschen<br />
füttern und behausen und ihre Blöße be<strong>de</strong>cken. Die Menschen aber wollen<br />
essen, wohnen, sich klei<strong>de</strong>n und noch manches mehr. Und je<strong>de</strong>r will nach<br />
seiner Façon selig wer<strong>de</strong>n.<br />
1 Vgl. oben S. 131 u. 882 f.
442<br />
§ 3. Für einen nicht kleinen Teil unserer Zeitgenossen entschei<strong>de</strong>t<br />
heute zugunsten <strong>de</strong>s Sozialismus die Tatsache, daß er die herrschen<strong>de</strong><br />
Meinung ist. „Die große Mehrheit will <strong>de</strong>n Sozialismus; die Massen<br />
wollen die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht länger ertragen und<br />
darum muß sozialisiert wer<strong>de</strong>n.“ So hört man immer wie<strong>de</strong>r sagen. Doch<br />
das ist kein Argument, das die, die <strong>de</strong>n Sozialismus verwerfen, überzeugen<br />
könnte. Gewiß, wenn die Mehrheit ihn will, wird man ihn durchführen.<br />
Niemand hat es besser als die liberalen Theoretiker ausgeführt, daß es<br />
gegen die öffentliche Meinung keinen Wi<strong>de</strong>rstand gibt, und daß die<br />
Mehrheit auch dann entschei<strong>de</strong>t, wenn sie irrt. Hat die Mehrheit gefehlt,<br />
so kann sich auch die Min<strong>de</strong>rheit nicht darüber beklagen, daß sie nun mit<br />
<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren die Folgen zu tragen hat. Auch sie ist mitschuldig, weil sie es<br />
nicht vermocht hat, die Mehrheit eines Besseren zu belehren.<br />
Doch für die Erörterung <strong>de</strong>ssen, was sein soll, hätte das Argument, daß<br />
die große Masse heute ungestüm <strong>de</strong>n Sozialismus for<strong>de</strong>rt, nur dann ein<br />
Gewicht, wenn man <strong>de</strong>n Sozialismus um seiner selbst willen als letztes<br />
Ziel anstreben wür<strong>de</strong>. Das aber ist nun keineswegs <strong>de</strong>r Fall. Wie alle<br />
Wirtschaft ist <strong>de</strong>r Sozialismus nur Mittel und nicht Selbstzweck, nicht<br />
letztes Ziel. Die <strong>de</strong>n Sozialismus wollen, wollen genau so wie jene, die<br />
ihn ablehnen, Wohlstand und Glück; und nur weil sie glauben, daß <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus <strong>de</strong>r beste Weg zu diesem Ziele ist, sind sie Sozialisten. Sie<br />
wür<strong>de</strong>n Liberale wer<strong>de</strong>n, wenn sie die Überzeugung erhalten wür<strong>de</strong>n, daß<br />
die liberale Gesellschaftsordnung besser als die sozialistische geeignet sei,<br />
das zu erfüllen, was sie wünschen. Und darum ist die Behauptung, man<br />
müsse sich <strong>de</strong>m Sozialismus anschließen, weil er von <strong>de</strong>r Masse verlangt<br />
wird, das schlechteste Argument, das einem Gegner <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
entgegengehalten wer<strong>de</strong>n kann. Der Wille <strong>de</strong>r Menge gilt als oberstes<br />
Gesetz für die Beauftragten <strong>de</strong>s Volkes, die seine Befehle gehorsam zu<br />
vollstrecken haben. Wer die Geister führen will, darf sich ihm nicht<br />
beugen. Führer ist nur <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r seine Meinung auch ausspricht und durch<br />
Überredung <strong>de</strong>r Mitbürger durchzusetzen versucht, wenn sie von <strong>de</strong>r<br />
herrschen<strong>de</strong>n Meinung abweicht. Es ist nichts weniger als die Abdankung<br />
<strong>de</strong>s Geistes, was hier von <strong>de</strong>n letzten, die <strong>de</strong>n Sozialismus noch mit<br />
Argumenten zu bekämpfen suchen, verlangt wird. Und es ist überhaupt<br />
schon eine Folge <strong>de</strong>r Sozialisierung <strong>de</strong>s Geisteslebens, daß ein solches<br />
Argument vorgebracht wer<strong>de</strong>n konnte. Auch in <strong>de</strong>n dunkelsten
443<br />
Zeiten <strong>de</strong>r Geschichte ist ein ähnliches Argument nie vorgebracht wor<strong>de</strong>n.<br />
Nie hat man jenen, die gegen die Vorurteile <strong>de</strong>r großen Menge aufgetreten<br />
sind, entgegengehalten, ihre Behauptungen wären schon <strong>de</strong>shalb falsch,<br />
weil sie von <strong>de</strong>r Mehrheit nicht geteilt wür<strong>de</strong>n.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Sozialismus undurchführbar ist, dann wird er auch dadurch,<br />
daß alle ihn wollen, nicht durchführbar. Auch das pflegen die, die <strong>de</strong>n<br />
Launen <strong>de</strong>r Menge zu schmeicheln beflissen sind, immer wie<strong>de</strong>r zu<br />
übersehen.<br />
VI.<br />
Kapitalistische Ethik.<br />
§ 1. In <strong>de</strong>n Ausführungen <strong>de</strong>s ethischen Sozialismus tritt immer wie<strong>de</strong>r<br />
die Behauptung auf, <strong>de</strong>r Sozialismus setze sittliche Läuterung <strong>de</strong>r<br />
Menschen voraus. Solange es nicht gelinge, die Massen sittlich zu heben,<br />
wäre es nicht möglich, die sozialistische Gesellschaftsordnung aus <strong>de</strong>m<br />
Reich <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en in die Wirklichkeit zu übertragen. Die Schwierigkeiten,<br />
die <strong>de</strong>r Durchführung <strong>de</strong>s Sozialismus entgegenstehen, seien ausschließlich<br />
o<strong>de</strong>r vorwiegend in <strong>de</strong>r Unzulänglichkeit <strong>de</strong>s sittlichen Charakters <strong>de</strong>r<br />
Menschen zu suchen. Es gibt Schriftsteller, die daran zweifeln, ob dieses<br />
Hin<strong>de</strong>rnis jemals überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n wird; an<strong>de</strong>re beschränken sich darauf,<br />
<strong>de</strong>n Sozialismus als für die Gegenwart o<strong>de</strong>r für die nächste Zukunft<br />
undurchführbar zu bezeichnen.<br />
Wir haben zeigen können, worin die Undurchführbarkeit sozialistischer<br />
Wirtschaftsführung zu suchen ist. Nicht weil die Menschen<br />
moralisch zu niedrig stehen, son<strong>de</strong>rn weil die Aufgaben, die eine<br />
sozialistische Gesellschaftsordnung ihrer Vernunft stellen müßte, vom<br />
menschlichen Verstan<strong>de</strong> nicht gelöst wer<strong>de</strong>n können, kann es keinen<br />
Sozialismus geben. Die Unverwirklichbarkeit <strong>de</strong>s Sozialismus ist nicht in<br />
<strong>de</strong>r sittlichen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r intellektuellen Sphäre begrün<strong>de</strong>t. Weil eine<br />
sozialistische Gesellschaft nicht rechnen könnte, kann es keine <strong>Gemeinwirtschaft</strong><br />
geben. Auch Engel könnten, wenn sie nur mit menschlicher<br />
Vernunft begabt wären, kein sozialistisches Gemeinwesen bil<strong>de</strong>n.<br />
Könnte die <strong>Gemeinwirtschaft</strong> rechnen, dann könnte sie verwirklicht<br />
wer<strong>de</strong>n, ohne daß sich am sittlichen Charakter <strong>de</strong>r Menschen etwas<br />
än<strong>de</strong>rn müßte. In einer sozialistischen Gesellschaft müßten an<strong>de</strong>re<br />
ethische Normen gelten als in einer auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n; die vorläufigen Opfer, die
444<br />
die Gesellschaft vom Individuum dort zu for<strong>de</strong>rn hätte, wür<strong>de</strong>n nicht<br />
dieselben sein, die eine kapitalistische Gesellschaft for<strong>de</strong>rn muß. Doch es<br />
wäre nicht schwerer, die Beobachtung <strong>de</strong>r Regeln sozialistischer Moral<br />
durchzusetzen als die <strong>de</strong>r Regeln kapitalistischer Moral, wenn die<br />
Möglichkeit gegeben wäre, die Vorgänge innerhalb <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Gesellschaft rechnend zu überprüfen. Wenn eine sozialistische Gesellschaft<br />
<strong>de</strong>n Ertrag <strong>de</strong>r Arbeit eines je<strong>de</strong>n einzelnen Genossen geson<strong>de</strong>rt<br />
ermitteln könnte, wäre es möglich, seinen Anteil am Sozialprodukt zu<br />
errechnen und ihn nach Maßgabe seines produktiven Beitrags zu<br />
entlohnen. Dann müßte eine sozialistische Gesellschaftsordnung nicht<br />
fürchten müssen, daß <strong>de</strong>r Genosse seine Kräfte nicht genug eifrig in ihren<br />
Dienst stellt, weil er keinen Anreiz hat, das Arbeitsleid zu überwin<strong>de</strong>n.<br />
Nur weil diese Voraussetzung nicht zutrifft, muß <strong>de</strong>r Sozialismus dazu<br />
gelangen, sich für seine Utopie einen Menschen zu konstruieren, <strong>de</strong>r von<br />
<strong>de</strong>m Menschen <strong>de</strong>r auf Er<strong>de</strong>n wan<strong>de</strong>lt, durchaus verschie<strong>de</strong>n ist, muß er<br />
Menschen verlangen, <strong>de</strong>nen die Arbeit nicht Mühe und Qual ist, son<strong>de</strong>rn<br />
Freu<strong>de</strong> und Fest. Die Unmöglichkeit sozialistischer Wirtschaftsrechnung<br />
zwingt <strong>de</strong>n sozialistischen Utopisten dazu, an <strong>de</strong>n Menschen Anfor<strong>de</strong>rungen<br />
zu stellen, die <strong>de</strong>r Natur schnurstracks zuwi<strong>de</strong>rlaufen. Die<br />
Unzulänglichkeit <strong>de</strong>s Menschen, an <strong>de</strong>r man <strong>de</strong>n Sozialismus scheitern<br />
sieht, ist nur vermeintlich sittlichen Ursprungs; genauer betrachtet,<br />
enthüllt sie ihren intellektuellen Charakter.<br />
§ 2. Vernünftig han<strong>de</strong>ln be<strong>de</strong>utet: das Min<strong>de</strong>rwichtige <strong>de</strong>m<br />
Wichtigeren opfern. Man bringt vorläufige Opfer, wenn man Kleineres<br />
hingibt, um Größeres zu erhalten. Man verzichtet auf <strong>de</strong>n Genuß <strong>de</strong>s<br />
Weines, um die physiologischen Wirkungen <strong>de</strong>s Alkoholgenusses zu<br />
mei<strong>de</strong>n. Man nimmt Arbeitsleid auf sich, um nicht zu hungern.<br />
Die vorläufigen Opfer, die im Interesse <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung <strong>de</strong>s<br />
Hauptmittels menschlicher Bedürfnisbefriedigung und somit menschlichen<br />
Lebens überhaupt, <strong>de</strong>r Gesellschaft, gebracht wer<strong>de</strong>n, nennen wir<br />
sittliches Han<strong>de</strong>ln. Alle Ethik ist Sozialethik. (Wenn man auch das nur im<br />
Hinblick auf das eigene Wohl gesetzte rationale Han<strong>de</strong>ln als ethisch<br />
bezeichnen und von Individualethik und Pflichten gegen sich selbst<br />
sprechen will, so ist das eine terminologische Ansicht, über die man nicht<br />
streiten kann; diese Ausdrucksweise läßt vielleicht die grundsätzliche<br />
Gleichartigkeit <strong>de</strong>r Individualhygiene und <strong>de</strong>r Gesellschaftsethik besser<br />
hervortreten als unsere.) Sittlich han<strong>de</strong>ln heißt Min<strong>de</strong>rwichtiges <strong>de</strong>m<br />
Wichtigeren opfern, in<strong>de</strong>m man gesellschaftliches Zusammenleben<br />
ermöglicht.
445<br />
Der Grundfehler zahlreicher nichtutilitaristischer Systeme <strong>de</strong>r Ethik<br />
liegt in <strong>de</strong>r Verkennung <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>s vorläufigen Opfers, das die Moral<br />
verlangt. Da sie <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>s Opferns und Verzichtens nicht sehen,<br />
gelangen sie zu <strong>de</strong>r absur<strong>de</strong>n Annahme, daß Opfern und Verzichten an<br />
sich sittlich wertvoll seien. Selbstlosigkeit und Aufopferung und die Liebe<br />
und das Mitleid, die zu ihnen führen, wer<strong>de</strong>n zu absoluten moralischen<br />
Werten erhoben. Das Leid, das mit <strong>de</strong>m Opfer zunächst verbun<strong>de</strong>n ist,<br />
erscheint als das Sittliche, weil es schmerzt; und dann ist es nicht mehr<br />
weit zur Behauptung, daß alles Han<strong>de</strong>ln, das <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Schmerz<br />
bereitet, auch sittlich sei.<br />
Aus dieser Verkehrung <strong>de</strong>r Begriffe erklärt es sich, wie man darauf<br />
verfallen konnte, Gesinnungen und Handlungen, die gesellschaftlich<br />
neutral o<strong>de</strong>r gar schädlich sind, als sittlich zu bezeichnen. Dabei mußte<br />
man naturgemäß immer wie<strong>de</strong>r auf Schleichwegen utilitarische Gedanken<br />
aufnehmen. Wenn man das Mitleid <strong>de</strong>s Arztes, <strong>de</strong>r sich scheut, einen<br />
lebensretten<strong>de</strong>n Eingriff vorzunehmen, um <strong>de</strong>m Kranken die damit<br />
verbun<strong>de</strong>nen Schmerzen zu ersparen, nicht loben will und darum<br />
zwischen wahrem und falschem Mitleid unterschei<strong>de</strong>t, dann führt man die<br />
Zweckbetrachtung, die man vermei<strong>de</strong>n wollte, wie<strong>de</strong>r ein. Wenn man<br />
selbstloses Han<strong>de</strong>ln preist, läßt sich die Zweckbeziehung auf die<br />
Wohlfahrt von Menschen überhaupt nicht ausschließen. So entsteht ein<br />
Utilitarismus mit negativem Vorzeichen: als sittlich soll gelten, was nicht<br />
<strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn an<strong>de</strong>ren frommt. Man stellt ein ethisches I<strong>de</strong>al<br />
auf, das sich in die Welt, in <strong>de</strong>r wir leben, nicht einfügen läßt. Darum geht<br />
<strong>de</strong>r Moralist, nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Stab über die auf <strong>de</strong>m „Eigennutz“<br />
aufgebaute Gesellschaft gebrochen hat, darauf aus, eine neue Gesellschaft<br />
zu konstruieren, in <strong>de</strong>r die Menschen so sein sollen, wie sein I<strong>de</strong>al sie<br />
haben will. Die Philosophen begannen damit, die Welt und ihre Gesetze<br />
zu verkennen, nun wollen sie eine Welt schaffen, die ihren falschen<br />
Theorien entspricht, und nennen das Aufstellung eines sittlichen I<strong>de</strong>als.<br />
Der Mensch ist darum noch nicht schlecht, weil er Lust empfin<strong>de</strong>n und<br />
Leid mei<strong>de</strong>n, also leben will. Entsagen, Verzichten, Sichaufopfern sind<br />
nicht an und für sich gut. Es ist nichts als Willkür, wenn man die Ethik,<br />
die das Zusammenleben in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
for<strong>de</strong>rt, verdammt und für das sittliche Han<strong>de</strong>ln Normen aufstellt, die -<br />
wie man glaubt - in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gelten<br />
könnten.
V. Teil.<br />
Der Destruktionismus.<br />
I.<br />
Die Triebkräfte <strong>de</strong>s Destruktionismus.<br />
§ 1. Dem sozialistischen Denken stellt sich die Überführung <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaftsverfassung in <strong>de</strong>n Sozialismus als ein Übergang von<br />
irrationeller zu rationeller Wirtschaft dar. Die Anarchie <strong>de</strong>r Produktion<br />
wird durch planmäßige Leitung <strong>de</strong>r gesamten Wirtschaft abgelöst; die<br />
Gesellschaft, die man sich als Fleischwerdung <strong>de</strong>r Vernunft <strong>de</strong>nkt, tritt an<br />
die Stelle, die bisher von <strong>de</strong>n unvernünftigen und nur auf <strong>de</strong>n eigenen,<br />
<strong>de</strong>m allgemeinen entgegenstehen<strong>de</strong>n Vorteil bedachten Individuen<br />
eingenommen wur<strong>de</strong>. Die ungerechte Verteilung <strong>de</strong>r Güter macht einer<br />
gerechten Platz. Not und Elend verschwin<strong>de</strong>n, Wohlstand für alle erblüht.<br />
Vor uns liegt ein seliges Paradies, und die Erkenntnis <strong>de</strong>r Gesetze <strong>de</strong>r<br />
geschichtlichen Entwicklung gibt uns die Gewißheit, daß wir o<strong>de</strong>r doch<br />
unsere Nachfahren dorthin gelangen müssen. Denn alle Wege <strong>de</strong>r<br />
Geschichte führen in jenes gelobte Land, und alles Geschehen <strong>de</strong>r<br />
Vergangenheit war nur Vorstufe zum Heil, das dort verbeißen ist.<br />
So sehen unsere Zeitgenossen <strong>de</strong>n Sozialismus und glauben an ihn.<br />
Man ist im Irrtum, wenn man meint, daß die Herrschaft <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
I<strong>de</strong>ologie auf die Anhänger <strong>de</strong>rjenigen Parteien beschränkt ist, die sich<br />
selbst als sozialistische o<strong>de</strong>r - was in <strong>de</strong>n meisten Fällen dasselbe heißen<br />
soll - als soziale bezeichnen. Auch alle an<strong>de</strong>ren politischen Parteien <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart sind von <strong>de</strong>n leiten<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Sozialismus durchtränkt. Und<br />
selbst die wenigen entschie<strong>de</strong>nen Gegner <strong>de</strong>s Sozialismus stehen im<br />
Banne seiner Gedankenwelt. Auch sie sind überzeugt davon, daß die<br />
sozialistische Wirtschaftsweise rationeller sei als die kapitalistische, daß<br />
sie eine gerechtere Verteilung <strong>de</strong>r Einkommen verbürge, und daß die<br />
geschichtliche
447<br />
Entwicklung mit Notwendigkeit zu ihr hintreibe. Wenn sie sich gegen <strong>de</strong>n<br />
Sozialismus wen<strong>de</strong>n, so tun sie es im Bewußtsein <strong>de</strong>ssen, daß sie in<br />
Verteidigung von Son<strong>de</strong>rinteressen eine vom wirtschaftlichen Standpunkte<br />
richtige und ethisch allein zu billigen<strong>de</strong> Entwicklung bekämpfen,<br />
und sind innerlich von <strong>de</strong>r Aussichtslosigkeit ihres Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s überzeugt.<br />
Und doch ist die I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>s Sozialismus nichts an<strong>de</strong>res als die<br />
großartige Rationalisierung kleinlichen Ressentiments. Keine seiner<br />
Theorien kann vor <strong>de</strong>r Kritik auch nur im geringsten bestehen, alle seine<br />
Deduktionen sind hohl und nichtssagend. Seine Auffassung <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Wirtschaftsweise ist schon längst als durchaus unhaltbar erkannt<br />
wor<strong>de</strong>n; sein Entwurf einer künftigen Gesellschaftsordnung erweist sich<br />
als innerlich wi<strong>de</strong>rspruchsvoll und darum undurchführbar. Der Sozialismus<br />
wür<strong>de</strong> nicht nur die Wirtschaft nicht rationeller machen, er wür<strong>de</strong><br />
alles Wirtschaften überhaupt aufheben. Daß er Gerechtigkeit bringen<br />
könnte, ist nichts als eine willkürliche Behauptung, <strong>de</strong>ren Herkunft aus<br />
<strong>de</strong>m Ressentiment und aus falscher Deutung <strong>de</strong>r Vorgänge innerhalb <strong>de</strong>r<br />
kapitalistischen Wirtschaft gezeigt wer<strong>de</strong>n konnte. Und daß die Geschichte<br />
uns keinen an<strong>de</strong>ren Weg gelassen hätte als <strong>de</strong>n zum Sozialismus,<br />
erweist sich als eine Weissagung, die sich von <strong>de</strong>n chiliastischen Träumen<br />
altchristlicher Sektierer nur durch <strong>de</strong>n Anspruch unterschei<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>n sie auf<br />
die Bezeichnung „Wissenschaft“ erhebt.<br />
Der Sozialismus ist in Wahrheit nicht das, was er zu sein vorgibt. Er ist<br />
nicht Wegbereiter einer besseren Zukunft, son<strong>de</strong>rn Zertrümmerer <strong>de</strong>ssen,<br />
was Jahrtausen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Kultur geschaffen haben. Sein Element ist die<br />
Zerstörung; er baut nicht auf, er reißt nie<strong>de</strong>r. Nach <strong>de</strong>m Erfolg seines<br />
Wirkens müßte man ihm <strong>de</strong>n Namen Destruktionismus geben. Denn sein<br />
Wesen ist die Zerstörung. Er bringt nichts hervor, er zehrt nur auf, was die<br />
auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong><br />
Gesellschaftsordnung geschaffen hat. Da es eine sozialistische Gesellschaftsordnung<br />
nicht geben kann, es wäre <strong>de</strong>nn als ein Stück Sozialismus<br />
inmitten einer im übrigen auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum beruhen<strong>de</strong>n<br />
Wirtschaftsverfassung, muß je<strong>de</strong>r Schritt, <strong>de</strong>r zum Sozialismus hinführen<br />
soll, sich in Zerstörung <strong>de</strong>s Bestehen<strong>de</strong>n erschöpfen.<br />
§ 2. Marxistische Beurteiler erblicken die geschichtliche Leistung von<br />
Karl Marx in <strong>de</strong>r Erweckung <strong>de</strong>s Proletariates zum Bewußtsein seiner<br />
Klassenlage. In<strong>de</strong>m er die Verbindung zwischen <strong>de</strong>n sozialistischen I<strong>de</strong>en,<br />
die in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>r Utopisten und in <strong>de</strong>n
448<br />
engen Zirkeln ihrer Schüler ein weltfernes Dasein geführt hatten, und <strong>de</strong>r<br />
bis dahin nur kleinbürgerlich gerichteten revolutionären Arbeiterbewegung<br />
herstellte, habe er die Grundlagen für die proletarische Bewegung<br />
geschaffen, die nicht an<strong>de</strong>rs mehr verschwin<strong>de</strong>n könne als nach Erfüllung<br />
ihrer geschichtlichen Sendung, <strong>de</strong>r Aufrichtung <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaftsordnung.<br />
Marx habe die Bewegungsgesetze <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaft ent<strong>de</strong>ckt und die Ziele <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen sozialen Bewegung als<br />
naturnotwendige Konsequenzen aus <strong>de</strong>r bisherigen geschichtlichen<br />
Entwicklung abgeleitet. Er habe gezeigt, daß das Proletariat sich selbst als<br />
Klasse nur befreien könne, in<strong>de</strong>m es <strong>de</strong>n Klassengegensatz selbst aufhebt<br />
und damit die Voraussetzungen für eine Gesellschaft schafft, in <strong>de</strong>r „die<br />
freie Entwicklung eines je<strong>de</strong>n die Bedingung für die freie Entwicklung<br />
aller ist“.<br />
Der unbefangene Beobachter sieht das Werk von Karl Marx mit<br />
an<strong>de</strong>ren Augen als die verzückten Schwärmer, die in Marx eine <strong>de</strong>r<br />
Hel<strong>de</strong>ngestalten <strong>de</strong>r Weltgeschichte bewun<strong>de</strong>rn und ihn unter die großen<br />
Nationalökonomen und Soziologen, ja selbst unter die hervorragen<strong>de</strong>n<br />
Philosophen reihen. Als Nationalökonom war Marx ein durchaus<br />
unorigineller Nachfahre <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie, <strong>de</strong>m die<br />
Fähigkeit mangelte, das nationalökonomisch Wesentliche an <strong>de</strong>n Problemen<br />
politisch unbefangen zu betrachten, und <strong>de</strong>r alle Zusammenhänge<br />
durch die Brille <strong>de</strong>s Agitators sah, <strong>de</strong>m die Wirkung auf die Volksmasse<br />
stets das Wichtigste bleibt; auch hierin war er übrigens nicht selbständig,<br />
<strong>de</strong>nn die englischen sozialistischen Verteidiger <strong>de</strong>s Rechtes auf <strong>de</strong>n vollen<br />
Arbeitsertrag, die mit ihren Pamphleten im dritten und vierten Jahrzehnt<br />
<strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>de</strong>m Chartismus <strong>de</strong>n Weg bereiteten, hatten<br />
alles Wesentliche schon vorweggenommen. Überdies wi<strong>de</strong>rfuhr ihm das<br />
Mißgeschick, daß er von <strong>de</strong>r grundstürzen<strong>de</strong>n Umwälzung <strong>de</strong>r Nationalökonomie,<br />
die sich in <strong>de</strong>n Jahren, da er sein System ausarbeitete, anbahnte<br />
und bald nach <strong>de</strong>m Erscheinen <strong>de</strong>s ersten Ban<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s „Kapital“ <strong>de</strong>r<br />
Öffentlichkeit kund wur<strong>de</strong>, nichts ahnte, so daß die späteren Bän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
„Kapital“ schon bei ihrem Erscheinen außer allem Zusammenhang mit <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rnen Wissenschaft waren. Unter diesem Mißgeschick hat vor allem<br />
seine blind auf ihn schwören<strong>de</strong> Schule gelitten; sie blieb von vornherein<br />
auf unfruchtbare Exegese <strong>de</strong>r Schriften <strong>de</strong>s Meisters beschränkt und hat<br />
sich ängstlich gehütet, mit <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Wertlehre irgendwie in<br />
Berührung zu kommen. Als Soziologe und Geschichtsphilosoph war Marx<br />
nie etwas
449<br />
an<strong>de</strong>res als ein geschickter Agitator, <strong>de</strong>r für die Tagesbedürfnisse seiner<br />
Partei schreibt. Die materialistische Geschichtsauffassung ist wissenschaftlich<br />
wertlos; Marx hat sie übrigens nie geistig durchgearbeitet und<br />
sie in mehreren, schlechterdings unvereinbaren Fassungen vorgetragen.<br />
Der philosophische Standpunkt von Marx war <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Hegel’schen<br />
Schule. Er zählt zu <strong>de</strong>n vielen, heute meist vergessenen Schriftstellern<br />
seiner Zeit, die die dialektische Metho<strong>de</strong> auf alle Gebiete <strong>de</strong>r Wissenschaft<br />
anwen<strong>de</strong>ten. Jahrzehnte mußten vergehen, bis man <strong>de</strong>n Mut fand,<br />
ihn selbst einen Philosophen zu nennen und ihn mit <strong>de</strong>n großen Denkern<br />
in eine Reihe zu stellen.<br />
Als wissenschaftlicher Schriftsteller war Marx trocken, pedantisch und<br />
schwerfällig. Die Gabe, sich verständlich auszudrücken, war ihm versagt<br />
geblieben. Nur in seinen politischen Schriften weiß er durch blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Antithesen und durch die Herausarbeitung von Sentenzen, die sich <strong>de</strong>m<br />
Ohre leicht einprägen und durch Wortgepränge über die Inhaltslosigkeit<br />
hinwegtäuschen, be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Wirkungen zu erzielen. In <strong>de</strong>r Polemik<br />
scheut er nicht davor zurück, die Worte <strong>de</strong>s Gegners zu entstellen. Statt zu<br />
wi<strong>de</strong>rlegen, pflegt er zu schimpfen. 1 Auch darin haben die Jünger - Schule<br />
hat er eigentlich nur in Deutschland und in Osteuropa, beson<strong>de</strong>rs in Rußland<br />
gemacht - getreulich das Vorbild <strong>de</strong>s Meisters nachgeahmt; sie<br />
verunglimpfen <strong>de</strong>n Gegner, doch sie machen nicht einmal <strong>de</strong>n Versuch,<br />
ihn mit Argumenten zu wi<strong>de</strong>rlegen.<br />
Die Eigenart und geschichtliche Be<strong>de</strong>utung von Marx liegen ausschließlich<br />
auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r politischen Technik. Er erkennt die<br />
ungeheuere Macht, die in <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaft zu erringen ist, wenn<br />
es gelingt die großen Massen <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Fabriken zusammengedrängten<br />
Arbeiter zu einem politischen Faktor zu machen, und sucht und fin<strong>de</strong>t die<br />
Schlagwörter, die diese Haufen zu einheitlichem Vorgehen zu verbin<strong>de</strong>n<br />
imstan<strong>de</strong> sind. Er gibt die Losung aus, die diese Leute, <strong>de</strong>nen politische<br />
Interessen ferne lagen, zum Ansturm gegen das Son<strong>de</strong>reigentum aufpeitscht.<br />
Er verkün<strong>de</strong>t eine Heilslehre, die ihr Ressentiment rationalisiert<br />
und das Toben ihrer niedrigen Neid- und Racheinstinkte zur Erfüllung<br />
einer weltgeschichtliehen Sendung verklärt. Er stählt ihr Selbstbewußtsein,<br />
in<strong>de</strong>m er<br />
1 Vgl. z. B. im „Kapital“ die Ausführungen über Bentham: „<strong>de</strong>r hausbackenste<br />
Gemeinplatz“, „reproduzierte nur geistlos“, „Schund“, „Genie in <strong>de</strong>r bürgerlichen<br />
Dummheit“ (a. a. O., I. Bd., S. 573); Über Malthus: „ein schülerhaft oberflächliches und<br />
pfäffisch ver<strong>de</strong>klamiertes Plagiat“ (a. a. O., I. Bd., S. 580).
450<br />
sie zu Trägern <strong>de</strong>r Zukunft <strong>de</strong>s Menschengeschlechts stempelt. Man hat<br />
die schnelle Ausbreitung <strong>de</strong>s Sozialismus oft mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Christentums<br />
verglichen. Zutreffen<strong>de</strong>r wäre vielleicht <strong>de</strong>r Vergleich mit <strong>de</strong>m Islam, <strong>de</strong>r<br />
die Wüstensöhne zur Nie<strong>de</strong>rsäblung alter Kulturen führte, in<strong>de</strong>m er ihre<br />
Zerstörungswut mit einer ethischen I<strong>de</strong>ologie umklei<strong>de</strong>te und ihren Mut<br />
durch starren Fatalismus unbeugsam machte.<br />
Der Kern <strong>de</strong>s Marxismus ist die Lehre von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>r Interessen<br />
aller Proletarier. Der Arbeiter steht aber als Einzelner tagtäglich in scharfem<br />
Konkurrenzkampf mit seinen Arbeitsgenossen und mit jenen, die<br />
seinen Arbeitsplatz an seiner Stelle einzunehmen bereit wären; mit seinen<br />
Fachgenossen zusammen steht er wie<strong>de</strong>r in Wettbewerb mit <strong>de</strong>n Arbeitern<br />
an<strong>de</strong>rer Arbeitszweige und mit <strong>de</strong>n Verzehrern <strong>de</strong>r Produkte, an <strong>de</strong>ren<br />
Erzeugung er mitwirkt. Ihn dazu zu bringen, daß er allen diesen Tatsachen<br />
und Erfahrungen zum Trotz sein Heil in <strong>de</strong>r Vereinigung mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Arbeitern suche, konnte nur durch die Aufstachelung seiner niedrigsten<br />
Lei<strong>de</strong>nschaften geschehen. Das war nicht allzu schwer; das Böse in <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Seele zu wecken, ist immer lohnend. Doch Marx hat mehr<br />
getan: er hat das Ressentiment <strong>de</strong>s gemeinen Mannes mit <strong>de</strong>m Nimbus <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaft geschmückt und es damit auch <strong>de</strong>n geistig und ethisch<br />
Höherstehen<strong>de</strong>n anziehend gemacht. Alle übrigen sozialistischen Richtungen<br />
haben das alles von Marx übernommen und nur für ihre beson<strong>de</strong>ren<br />
Bedürfnisse ein wenig umgestaltet.<br />
Marx war - das muß immer wie<strong>de</strong>r hervorgehoben wer<strong>de</strong>n - ein<br />
genialer Meister <strong>de</strong>r <strong>de</strong>magogischen Technik. Er fand <strong>de</strong>n geschichtlichen<br />
Augenblick für eine Zusammenfassung <strong>de</strong>r Massen zu einer einheitlichen<br />
politischen Aktion geeignet und war sofort bereit, sich an die Spitze dieser<br />
Bewegung zu stellen. Alle Politik war ihm nur Fortsetzung <strong>de</strong>s Krieges<br />
mit an<strong>de</strong>ren Mitteln; seine politische Kunst war immer politische Taktik.<br />
Daran haben die sozialistischen Parteien, die ihre Entstehung auf ihn<br />
zurückführen, und die, die sich die marxistischen Parteien zum Muster<br />
genommen haben, festgehalten. Sie haben die Agitation, <strong>de</strong>n Stimmenund<br />
Seelenfang, die Arbeit <strong>de</strong>r Wahlbewegung, <strong>de</strong>n Straßenauflauf, <strong>de</strong>n<br />
Terror zu Techniken ausgebil<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>ren Erlernung ein jahrelanges gründliches<br />
Studium erfor<strong>de</strong>rt. Sie konnten auf ihren Parteitagen und in ihrer<br />
Parteiliteratur Fragen <strong>de</strong>r Organisation und <strong>de</strong>r Taktik mehr Aufmerksamkeit<br />
schenken als <strong>de</strong>n wichtigsten Grundproblemen <strong>de</strong>r Politik. Ja, wenn<br />
man genau sein will, muß man sagen, daß ihnen überhaupt alles und je<strong>de</strong>s<br />
nur vom Gesichtspunkte <strong>de</strong>r Parteitaktik
451<br />
aus interessant erschien, und daß sie für alles an<strong>de</strong>re nichts übrig hatten.<br />
Diese militaristische Einstellung zur Politik, die die innere Verwandtschaft<br />
zwischen <strong>de</strong>m Marxismus und <strong>de</strong>m preußischen und <strong>de</strong>m<br />
russischen Etatismus sichtbar wer<strong>de</strong>n ließ, hat schnell Schule gemacht.<br />
Die mo<strong>de</strong>rnen Parteien <strong>de</strong>s europäischen Kontinents haben hierin<br />
durchaus die marxistische I<strong>de</strong>ologie angenommen. Beson<strong>de</strong>rs die Interessentenparteien,<br />
die, ganz mit <strong>de</strong>r marxistischen I<strong>de</strong>ologie <strong>de</strong>s Klassenkampfes,<br />
nur nach an<strong>de</strong>ren Zielen gerichtet, <strong>de</strong>n bäuerlichen und <strong>de</strong>n<br />
gewerblichen Mittelstand und die Schicht <strong>de</strong>r Angestellten zusammenzufassen<br />
suchten, haben alles vom Marxismus gelernt.<br />
So konnte es nicht ausbleiben, daß die liberale I<strong>de</strong>ologie schnell<br />
besiegt wur<strong>de</strong>. Der Liberalismus hat alle Kunstgriffe <strong>de</strong>r Politik ängstlich<br />
gemie<strong>de</strong>n. Er erwartete alles von <strong>de</strong>r inneren Stärke und <strong>de</strong>r Überzeugungskraft<br />
seiner I<strong>de</strong>en und verschmähte alle an<strong>de</strong>ren Mittel <strong>de</strong>s<br />
politischen Kampfes. Er hat nie Taktik betrieben, sich nie zur Demagogie<br />
erniedrigt. Der Altliberalismus war durch und durch ehrlich und<br />
prinzipienfest; „doktrinär“ nannten das seine Gegner.<br />
Die alten liberalen Grundsätze müssen heute einer gründlichen<br />
Überprüfung unterzogen wer<strong>de</strong>n. Die Wissenschaft hat in <strong>de</strong>n letzten<br />
hun<strong>de</strong>rt Jahren eine vollständige Umwälzung erfahren; die allgemein<br />
soziologischen und die nationalökonomischen Grundlagen <strong>de</strong>r Lehre<br />
müssen nun an<strong>de</strong>rs gelegt wer<strong>de</strong>n. In vielen Fragen hat <strong>de</strong>r Liberalismus<br />
nicht folgerichtig bis zum En<strong>de</strong> gedacht; auch sonst ist manches<br />
nachzuholen. Doch die politische Kampfesweise <strong>de</strong>s Liberalismus kann<br />
sich nicht än<strong>de</strong>rn. Der Liberalismus, <strong>de</strong>m alles gesellschaftliche Zusammenwirken<br />
als Ausfluß <strong>de</strong>r vernunftgemäß erkannten Nützlichkeit und<br />
alle Macht als auf <strong>de</strong>r öffentlichen Meinung - auf <strong>de</strong>r Herrschaft einer<br />
I<strong>de</strong>ologie, wie man heute sagen wür<strong>de</strong> - beruhend erscheint, kann nichts<br />
unternehmen, was die freie Entscheidung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Menschen behin<strong>de</strong>rn<br />
könnte. Er weiß, daß Fortschritt <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Lebens zu<br />
engerer Verknüpfung nur durch die Erkenntnis seiner Ersprießlichkeit<br />
erreicht wer<strong>de</strong>n kann, daß kein Gott und kein geheimnisvoll wirken<strong>de</strong>s<br />
Schicksal die gesellschaftliche Zukunft <strong>de</strong>s Menschengeschlechtes<br />
bestimmen kann, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>r Mensch selbst. Wenn Völker blind <strong>de</strong>m<br />
Untergang entgegengehen, dann muß man versuchen, sie aufzuklären.<br />
Wenn sie aber nicht hören, sei es weil sie taub sind, sei es weil
452<br />
die Stimme <strong>de</strong>r Warner zu schwach ist, kann man sie auch nicht durch<br />
taktische und <strong>de</strong>magogische Kunstgriffe auf <strong>de</strong>n rechten Weg bringen.<br />
Mit Demagogie kann man die Gesellschaft vielleicht zerstören, doch<br />
gewiß nicht aufbauen.<br />
§ 3. Dem sozialistischen Destruktionismus haben die romantische und<br />
die soziale Kunst <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts <strong>de</strong>n Weg gebahnt. Ohne<br />
die Hilfe, die ihm von dieser Seite zuteil wur<strong>de</strong>, hätte er niemals die<br />
Geister zu gewinnen vermocht.<br />
Die Romantik ist ein Aufbäumen <strong>de</strong>s Menschen gegen die Vernunft<br />
sowohl als gegen die Bedingungen, die die Natur seinem Leben gesetzt<br />
hat. Der Romantiker träumt wachend; im Traum setzt er sich über die<br />
Gesetze <strong>de</strong>s Denkens und über die Naturgesetze leicht hinweg. Der<br />
<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> und vernünftig han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Mensch sucht das Unlustgefühl, das<br />
aus <strong>de</strong>r Nichtbefriedigung von Wünschen entsteht, durch Wirtschaft und<br />
Arbeit zu überwin<strong>de</strong>n; er schafft, um seine Lage zu verbessern. Der<br />
Romantiker ist zum Arbeiten zu schwach - neurasthenisch -; er träumt von<br />
Erfolgen, die er einheimsen möchte, aber er tut nichts, um das Ziel zu<br />
erreichen. Er räumt die Hin<strong>de</strong>rnisse, die ihm im Wege stehen, nicht<br />
beiseite; er läßt sie nur in seinen Phantasien verschwin<strong>de</strong>n. Weil die Wirklichkeit<br />
<strong>de</strong>m Wahngebil<strong>de</strong>, das er sich geschaffen hat, nicht entspricht,<br />
grollt er ihr. Er haßt die Arbeit, das Wirtschaften, die Vernunft.<br />
Der Romantiker nimmt alle Gaben <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kultur als<br />
selbstverständlich hin und wünscht sich noch alles dazu, was, wie er<br />
glaubt, entfernte Zeiten und Län<strong>de</strong>r an Schönem zu bieten hatten o<strong>de</strong>r<br />
haben. Umgeben von <strong>de</strong>n Bequemlichkeiten <strong>de</strong>s europäischen Städterlebens<br />
sehnt er sich danach, indischer Radjah zu sein, Beduine, Korsar,<br />
Minnesänger. Doch er sieht immer nur das, was ihm am Leben jener angenehm<br />
scheint, nie das, was sie entbehren mußten und ihm selbst reichlich<br />
zuteil wird. Die Reiter sprengen auf feurigen Rossen über die weite Hei<strong>de</strong><br />
dahin, die Korsaren erbeuten schöne Frauen, die Ritter siegen über alle<br />
Gegner, singen und lieben. Die Gefahren ihres Daseins, die verhältnismäßige<br />
Ärmlichkeit <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen sie lebten, die Plagen und<br />
Mühen ihrer Betätigung kommen <strong>de</strong>r Phantasie nicht zum Bewußtsein;<br />
die Romantik sieht alles stets von einem rosigen Schimmer verklärt. Mit<br />
diesem geträumten I<strong>de</strong>al vergleicht <strong>de</strong>r Romantiker die Wirklichkeit, die<br />
ihm nun ö<strong>de</strong> und schal erscheint. Da gibt es Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> zu überwin<strong>de</strong>n,<br />
von <strong>de</strong>nen die Träume nichts wissen, da gibt es an<strong>de</strong>re Aufgaben als jene,<br />
von <strong>de</strong>nen er phantasiert. Da
453<br />
sind keine schönen Frauen aus Räuberhän<strong>de</strong>n zu befreien, keine<br />
verlorenen Schätze zu heben, keine Drachen zu besiegen. Da soll<br />
gearbeitet wer<strong>de</strong>n, rastlos und unverdrossen, Tag für Tag, Jahr für Jahr.<br />
Da muß geackert und gesäet wer<strong>de</strong>n, wenn man ernten will. Das alles will<br />
<strong>de</strong>r Romantiker nicht kennen. Trotzig wie ein Kind setzt er sich dagegen<br />
zur Wehr. Er spottet und höhnt; er verachtet und verabscheut <strong>de</strong>n Bürger.<br />
Die Ausbreitung <strong>de</strong>s kapitalistischen Denkens macht die Geister <strong>de</strong>r<br />
Romantik abhold. Die Ritter- und Seeräuberpoesie verfällt <strong>de</strong>m Fluch <strong>de</strong>r<br />
Lächerlichkeit. Die Menschen bekommen Gelegenheit, das Leben von<br />
Beduinen, Maharadjahs, Kosaken und an<strong>de</strong>ren Hel<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r romantischen<br />
Träume in <strong>de</strong>r Nähe zu beobachten, und verlieren die Lust, sie zu<br />
benei<strong>de</strong>n. Man fängt an, sich <strong>de</strong>r Errungenschaften <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung zu freuen, man fängt an zu verstehen, daß Sicherheit<br />
<strong>de</strong>s Lebens und <strong>de</strong>r Freiheit, daß ruhiger Wohlstand und reichlichere<br />
Bedürfnisbefriedigung nur vom Kapitalismus zu erwarten sind. Die<br />
romantische Mißachtung <strong>de</strong>s „Bürgerlichen“ gerät in Verruf.<br />
Doch die Geistesart, aus <strong>de</strong>r die Romantik entspringt, war so leicht<br />
nicht aus <strong>de</strong>r Welt zu schaffen. Der neurasthenische Protest gegen das<br />
Leben suchte an<strong>de</strong>re Ausdrucksformen und fand sie in <strong>de</strong>r „sozialen“<br />
Kunst <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts.<br />
Die wahrhaft großen Dichter und Erzähler <strong>de</strong>r Zeit, von <strong>de</strong>r wir<br />
sprechen, sind nicht sozialpolitische Ten<strong>de</strong>nzschriftsteller gewesen.<br />
Flaubert, Maupassant, Jacobsen, Strindberg, Konrad Ferdinand Meyer, um<br />
nur einige zu nennen, waren weit entfernt davon, die literarische Mo<strong>de</strong><br />
mitzumachen. Nicht <strong>de</strong>n Schöpfern <strong>de</strong>r großen Werke, die <strong>de</strong>m neunzehnten<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt seine Stellung in <strong>de</strong>r Literaturgeschichte geben<br />
wer<strong>de</strong>n, verdanken wir die Problemstellungen <strong>de</strong>r sozialen Kunst und die<br />
Charaktertypen, an <strong>de</strong>nen sie exemplifiziert wur<strong>de</strong>n. Es waren die<br />
Schriftsteller und Schriftstellerinnen zweiten und tieferen Ranges, die die<br />
Gestalten <strong>de</strong>s blutsaugerischen Kapitalisten und Unternehmers und <strong>de</strong>s<br />
edlen Proletariers eingeführt haben. Für sie ist <strong>de</strong>r Reiche im Unrecht,<br />
weil er reich ist, <strong>de</strong>r Arme im Recht, weil er arm ist. 1 „Das is ja gera<strong>de</strong>, als<br />
wie wenn’s Reichtum a Verbrechen wär“ läßt Gerhart Hauptmann in <strong>de</strong>n<br />
„Webern“ Frau Dreißiger ausrufen; und das<br />
1 Vgl. Cazamian, Le roman social en Angleterre (1830-1850) Paris 1904, S. 267 ff.
454<br />
ganze Schrifttum dieser Zeit ist in <strong>de</strong>r Verurteilung <strong>de</strong>s Besitzes einig.<br />
Von <strong>de</strong>m Kunstwert dieser Werke ist hier nicht zu re<strong>de</strong>n; nur ihre<br />
politische Wirkung haben wir zu prüfen. Sie haben <strong>de</strong>n Sozialismus zum<br />
Siege geführt, weil sie die gebil<strong>de</strong>ten Schichten für ihn geworben haben.<br />
Durch sie ist er in die Kreise <strong>de</strong>r Reichen gedrungen, hat die Frauen und<br />
Töchter ergriffen, die Söhne <strong>de</strong>m väterlichen Erwerbe entfrem<strong>de</strong>t, bis<br />
schließlich die Unternehmer und Kapitalisten selbst die Überzeugung von<br />
<strong>de</strong>r Verwerflichkeit ihres Tuns gewannen. Bankleute, Industriekapitäne,<br />
Kaufherren füllten die Logen <strong>de</strong>r Theater, in <strong>de</strong>nen die sozialistischen<br />
Ten<strong>de</strong>nzstücke immer wie<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>m Beifall <strong>de</strong>r Zuschauer aufgeführt<br />
wur<strong>de</strong>n.<br />
Die soziale Kunst ist Ten<strong>de</strong>nzkunst; je<strong>de</strong>s Werk will eine These<br />
verfechten. 1 Es ist immer dieselbe: <strong>de</strong>r Kapitalismus ist ein Übel, <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus ist das Heil. Daß die ewige Wie<strong>de</strong>rholung nicht schneller zur<br />
Langeweile <strong>de</strong>r Eintönigkeit geführt hat, ist allein darauf zurückzuführen,<br />
daß die einzelnen Schriftsteller verschie<strong>de</strong>ne Gestaltungen <strong>de</strong>s sozialistischen<br />
Gemeinwesens vor Augen haben. Alle befolgen dabei aber das<br />
vom Marxismus gegebene Beispiel, nähere Ausführungen über die<br />
gepriesene sozialistische Gesellschaftsordnung zu vermei<strong>de</strong>n; die meisten<br />
lassen überhaupt nur an<strong>de</strong>utungsweise, doch immerhin <strong>de</strong>utlich durchblicken,<br />
daß sie eine sozialistische Gesellschaftsordnung herbeiwünschen.<br />
Daß die logische Durchführung <strong>de</strong>r Beweise unzulänglich ist, und daß die<br />
Ergebnisse durch Rührung erschlichen wer<strong>de</strong>n, ist um so weniger erstaunlich,<br />
als es auch bei <strong>de</strong>n in wissenschaftlichem Gewan<strong>de</strong> auftreten<strong>de</strong>n<br />
sozialistischen Literaten nicht an<strong>de</strong>rs ist. Die Belletristik bietet dafür um<br />
so günstigere Gelegenheit, als man kaum befürchten muß, daß ihre<br />
Ausführungen im Einzelnen durch logische Kritik wi<strong>de</strong>rlegt wer<strong>de</strong>n. Man<br />
pflegt Romane o<strong>de</strong>r Schauspiele nicht in <strong>de</strong>r Weise zu betrachten, daß<br />
man die einzelnen Aussprüche auf ihre Richtigkeit prüft; täte man es aber<br />
auch, dann bliebe <strong>de</strong>m Verfasser noch immer <strong>de</strong>r Ausweg, zu erklären, er<br />
habe sie nur einem Hel<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Mund gelegt, ohne sie selbst verteidigen<br />
zu wollen. Die Wirkungen, die durch die Charakteristik <strong>de</strong>r Figuren erzielt<br />
wer<strong>de</strong>n, können überhaupt nicht logisch entkräftet wer<strong>de</strong>n. Wenn <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong><br />
auch immer als böse dargestellt wird, so kann man aus je<strong>de</strong>m<br />
einzelnen Fall <strong>de</strong>m Verfasser keinen Vorwurf machen; für<br />
1 Über die sozialistische Ten<strong>de</strong>nz in <strong>de</strong>r Malerei vgl. Muther, Geschichte <strong>de</strong>r Malerei<br />
im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt, München 1893, II. Bd., S. 186 ff.
455<br />
die Gesamtwirkung <strong>de</strong>r Literatur seiner Zeit ist aber <strong>de</strong>r Einzelne nicht<br />
verantwortlich.<br />
In „Hard Times“ legt Dickens einen Teil <strong>de</strong>r Bemerkungen, durch die<br />
Utilitarismus und Liberalismus wi<strong>de</strong>rlegt wer<strong>de</strong>n sollen, Sissy Jupe in <strong>de</strong>n<br />
Mund, <strong>de</strong>m verlassenen Töchterchen eines Zirkusklowns und einer<br />
Tänzerin. Er läßt Mr. M’Choakumchild, <strong>de</strong>n Lehrer in <strong>de</strong>s benthamistischen<br />
Kapitalisten Gradgrind Musterschule, an sie die Frage richten, wie<br />
groß <strong>de</strong>r Prozentsatz <strong>de</strong>r Verunglückten sei, wenn von hun<strong>de</strong>rttausend<br />
Seereisen<strong>de</strong>n fünfhun<strong>de</strong>rt zugrun<strong>de</strong> gehen. Und das brave Kind antwortet,<br />
in edler Einfalt die Selbstgerechtigkeit <strong>de</strong>s Manchestertums wi<strong>de</strong>rlegend,<br />
daß es für die Angehörigen und Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verunglückten keinen<br />
Prozentsatz gebe. Das ist - abgesehen von <strong>de</strong>r Gesuchtheit und Unwahrscheinlichkeit<br />
<strong>de</strong>r Szene - gewiß sehr schön und rührend, doch es sagt<br />
nicht das geringste wi<strong>de</strong>r die Genugtuung, die die Bürger <strong>de</strong>r kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung darob empfin<strong>de</strong>n mögen, daß das von<br />
ihnen empfohlene System die Gefahren <strong>de</strong>r Schiffahrt so stark herabgemin<strong>de</strong>rt<br />
hat. Und wenn es ein Erfolg <strong>de</strong>s Kapitalismus sein soll, daß von<br />
einer Million Menschen nur fünfundzwanzig im Jahre verhungern, weil<br />
unter älteren Wirtschaftssystemen mehr verhungert sind, so wird dies<br />
durch Sissys gewiß zutreffen<strong>de</strong> Bemerkung, daß für die Betroffenen das<br />
Verhungern genau so bitter sei, ob nun die an<strong>de</strong>ren eine Million o<strong>de</strong>r eine<br />
Million Millionen seien, nicht wi<strong>de</strong>rlegt, und es wird nicht bewiesen, daß<br />
unter einer sozialistischen Gesellschaftsordnung weniger Leute Hungers<br />
sterben wür<strong>de</strong>n. Die dritte Bemerkung, die Dickens Sissy in <strong>de</strong>n Mund<br />
legt, zielt dahin, daß man die wirtschaftliche Blüte eines Volkes nicht<br />
nach <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s beurteilen könne, daß man vielmehr<br />
auch die Verteilung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s unter die Volksgenossen<br />
berücksichtigen müsse. Dickens war in <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>r Utilitarier nicht<br />
genug bewan<strong>de</strong>rt, um zu wissen, daß er damit nichts vorbrachte, was <strong>de</strong>m<br />
Utilitarismus wi<strong>de</strong>rspricht. Gera<strong>de</strong> Bentham hat, die Erkenntnis <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rnen Nationalökonomie vom Sinken <strong>de</strong>s Grenznutzens vorwegnehmend,<br />
mit beson<strong>de</strong>rem Nachdruck darauf hingewiesen, daß eine<br />
Summe von Reichtum mehr Glück bringt, wenn sie gleichmäßiger verteilt<br />
ist, als wenn sie so verteilt ist, daß einige beson<strong>de</strong>rs reichlich bedacht<br />
wur<strong>de</strong>n und die übrigen nur kleine Anteile haben. 1<br />
1 Vgl. Bentham, Principles of the Civil Co<strong>de</strong>, a. a. O., S. 304 ff.
456<br />
Als Sissys Gegenbild erscheint <strong>de</strong>r Musterknabe Bitzer. Er bringt seine<br />
Mutter im workhouse unter und tut für sie nichts weiter, als daß er ihr<br />
jährlich ein halbes Pfund Tee schenkt. Auch das, meint Dickens, wäre<br />
eigentlich eine Schwachheit dieses sonst vortrefflichen Burschen, <strong>de</strong>n er<br />
einen excellent young economist nennt. Denn einmal wohne je<strong>de</strong>m<br />
Almosen die unvermeidliche Ten<strong>de</strong>nz inne, <strong>de</strong>n Empfänger zu pauperisieren,<br />
und weiter hätte Bitzers einzige vernünftige Handlung in bezug<br />
auf diese Ware nur darin bestehen können, sie so billig als möglich zu<br />
kaufen und so teuer als möglich zu verkaufen; <strong>de</strong>nn Philosophen hätten<br />
klar erwiesen, daß darin die ganze Pflicht eines Menschen bestehen die<br />
ganze, wohlgemerkt, nicht ein Teil seiner Pflichten. Diese Ausführungen,<br />
die Millionen mit <strong>de</strong>r gebotenen und vom Verfasser beabsichtigten<br />
Entrüstung über die Nie<strong>de</strong>rtracht utilitaristischer Denkweise gelesen<br />
haben, sind durchaus unzutreffend. Die liberalen Wirtschaftspolitiker<br />
haben das Züchten betteln<strong>de</strong>r Landstreicher durch wahlloses Almosengeben<br />
bekämpft und die Vergeblichkeit <strong>de</strong>r Bemühungen gezeigt, die<br />
Lage <strong>de</strong>r Armen an<strong>de</strong>rs als durch Hebung <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit zu<br />
bessern; sie haben die aus populationistischen Grün<strong>de</strong>n betriebene<br />
För<strong>de</strong>rung vorzeitiger Eheschließungen von Personen, die nicht in <strong>de</strong>r<br />
Lage sind, für ihre Nachkommenschaft zu sorgen, als in letzter Linie für<br />
die Proletarier selbst schädlich bezeichnet; gegen die Armenversorgung<br />
erwerbsunfähiger mittelloser Personen sind sie nicht aufgetreten. Daß sie<br />
die moralische Pflicht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, ihre Eltern im Alter zu unterstützen, bestritten<br />
hätten, ist nicht richtig. Die liberale Gesellschaftsphilosophie hat<br />
es nie als eine „Pflicht“ o<strong>de</strong>r gar als das Um und Auf <strong>de</strong>r Moral<br />
bezeichnet, so billig als möglich zu kaufen und so teuer als möglich zu<br />
verkaufen. Sie hat gezeigt, daß darin das rationelle Verhalten <strong>de</strong>s<br />
Einzelnen in bezug auf die Mittel zur indirekten Bedürfnisbefriedigung<br />
besteht. Sie hat es aber ebensowenig als unrationell bezeichnet, Tee seiner<br />
alten Mutter zu schenken wie etwa selbst Tee zu trinken.<br />
Ein Blick in die Werke eines <strong>de</strong>r utilitaristischen Schriftsteller genügt,<br />
um die sophistischen Entstellungen, die Dickens sich erlaubt, zu<br />
entlarven. Doch kaum einer unter hun<strong>de</strong>rttausend Lesern <strong>de</strong>s Dickensschen<br />
Romans wird je eine Zeile eines Utilitaristen gelesen haben.<br />
Millionen haben von Dickens und von <strong>de</strong>n. vielen an<strong>de</strong>ren Romanschriftstellern,<br />
die sich von ihm nur durch geringere
457<br />
Erzählungskunst, nicht durch die sozialpolitische Ten<strong>de</strong>nz unterschei<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>n Haß gegen Liberalismus und Kapitalismus gelernt.<br />
Immerhin war Dickens - und das gleiche gilt von William Morris,<br />
Shaw, Wells, Zola, Anatole France, Gerhart Hauptmann, Dehmel,<br />
Edmondo <strong>de</strong> Amicis und vielen an<strong>de</strong>ren - noch nicht ein offener und<br />
unmittelbarer Verfechter <strong>de</strong>s Destruktionismus. Sie verwerfen die kapitalistische<br />
Gesellschaftsordnung und bekämpfen, -ohne sich freilich darüber<br />
immer klar zu wer<strong>de</strong>n - das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln.<br />
Und groß und glückverheißend lassen sie hinter ihren Worten <strong>de</strong>n<br />
Schattenriß eines besseren gemeinwirtschaftlichen Zustan<strong>de</strong>s ahnen. Sie<br />
werben für <strong>de</strong>n Sozialismus und wer<strong>de</strong>n, weil <strong>de</strong>r Sozialismus zur<br />
Vernichtung alles Gesellschaftslebens führen muß, Schrittmacher <strong>de</strong>s<br />
Destruktionismus. Doch wie <strong>de</strong>r politische Sozialismus sich im Bolschewismus<br />
schließlich zum offenen Bekenntnis <strong>de</strong>s Destruktionismus<br />
entwickelt hat, so auch <strong>de</strong>r literarische. Tolstoi ist <strong>de</strong>r große Verkün<strong>de</strong>r<br />
eines Destruktionismus, <strong>de</strong>r auf die Worte <strong>de</strong>s Evangeliums zurückgreift.<br />
Die Lehren Christi, die nur im Hinblick auf das unmittelbare Bevorstehen<br />
<strong>de</strong>s Gottesreiches gepredigt wur<strong>de</strong>n, will er für alle Zeiten zur Norm für<br />
das Leben aller Menschen erheben. Wie die kommunistischen Sekten <strong>de</strong>s<br />
Mittelalters und <strong>de</strong>r Reformationszeit will er die Gesellschaft auf <strong>de</strong>n<br />
Geboten <strong>de</strong>r Bergpredigt aufbauen. Soweit freilich geht er nicht, daß er<br />
auch die Empfehlung <strong>de</strong>s Vorbil<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Lilien auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong>, die nicht<br />
arbeiten, wörtlich nehmen läßt. Doch für mehr als für selbstgenügsame<br />
Landwirte, die mit <strong>de</strong>n beschei<strong>de</strong>nsten Mitteln ein Stückchen Feld<br />
bebauen, ist in seinem Gesellschaftsi<strong>de</strong>al kein Platz. Und er <strong>de</strong>nkt<br />
folgerichtig genug, um die Vernichtung alles übrigen zu for<strong>de</strong>rn. Völker,<br />
die Schriften, die mit solcher Entschie<strong>de</strong>nheit zur Zerstörung aller<br />
Kulturgüter auffor<strong>de</strong>rn, mit größtem Beifall aufgenommen haben, stehen<br />
unmittelbar vor einer großen gesellschaftlichen Katastrophe.<br />
II.<br />
Der Weg <strong>de</strong>s Destruktionismus.<br />
§ 1. Man könnte die Mittel, <strong>de</strong>ren sich die sozialistische Politik<br />
bedient, in zwei Gruppen einteilen: in die, die unmittelbar darauf abzielen,<br />
die Gesellschaft in <strong>de</strong>n Sozialismus überzuführen, und in die, mit <strong>de</strong>nen<br />
dieses Ziel nur mittelbar auf <strong>de</strong>m Wege über die
458<br />
Zertrümmerung <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsverfassung<br />
angestrebt wird. Jene Mittel bevorzugen die Parteien <strong>de</strong>r<br />
Sozialreform und die evolutionistisch und revisionistisch gerichteten<br />
rechten Flügel <strong>de</strong>r sozialistischen Parteien; diese sind vornehmlich die<br />
Waffen <strong>de</strong>s revolutionären Sozialismus, <strong>de</strong>r vor allem durch Abtragung<br />
<strong>de</strong>r alten Kultur Raum für <strong>de</strong>n Aufbau einer neuen zu schaffen wünscht.<br />
Mittel <strong>de</strong>r ersten Art wären zum Beispiel die Verstaatlichungen und<br />
Verstadtlichungen von Unternehmungen, Mittel <strong>de</strong>r zweiten Art vor allem<br />
die Sabotage und die Revolution.<br />
Die Be<strong>de</strong>utung, die einer <strong>de</strong>rartigen Unterscheidung zukäme, wird aber<br />
dadurch stark herabgemin<strong>de</strong>rt, daß die Wirkung bei<strong>de</strong>r Gruppen von<br />
Mitteln nicht beträchtlich verschie<strong>de</strong>n ist. Auch die Mittel, die unmittelbar<br />
<strong>de</strong>m Aufbau <strong>de</strong>r neuen Gesellschaft dienen sollen, können, wie wir<br />
gezeigt haben, nur zerstören, nicht schaffen. So ist das Um und Auf <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Politik, die nun seit Jahrzehnten die Welt beherrscht, die<br />
Vernichtung. Im grauenhaften Wüten <strong>de</strong>r Bolschewistenhor<strong>de</strong>n tritt <strong>de</strong>r<br />
Willen zum Nie<strong>de</strong>rreißen klar zutage; auch das blö<strong>de</strong>ste Auge kann ihn<br />
hier nicht übersehen. Doch <strong>de</strong>r Destruktionismus ist im Wirken <strong>de</strong>r<br />
Bolschewiken nur leichter erkennbar; im Wesen ist er gera<strong>de</strong> so in allen<br />
an<strong>de</strong>ren sozialistischen Maßnahmen enthalten. Die Einmischung <strong>de</strong>s<br />
Staates in das Wirtschaftsleben, die sich als Wirtschaftspolitik bezeichnete,<br />
war in Wahrheit auf Vernichtung <strong>de</strong>r Wirtschaft gerichtet. Die<br />
Verbote und Gebote, die da erlassen wur<strong>de</strong>n, haben gehin<strong>de</strong>rt und<br />
gehemmt; sie haben <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Unwirtschaftlichkeit großgezogen.<br />
Diese Politik hat schon im Kriegssozialismus einen solchen Umfang<br />
gewonnen, daß eigentlich alle Wirtschaft <strong>de</strong>r Unternehmer als Gesetzesverletzung<br />
gebrandmarkt wur<strong>de</strong>. Nur <strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong>, daß die <strong>de</strong>struktionistischen<br />
Gesetze und Maßnahmen nicht voll durchgeführt wer<strong>de</strong>n, ist es<br />
zuzuschreiben, daß überhaupt noch halbwegs rationell produziert wird.<br />
Wären sie wirksamer, dann wären Hunger und Massensterben das Los <strong>de</strong>r<br />
Völker.<br />
Von <strong>de</strong>m fressen<strong>de</strong>n Gift <strong>de</strong>s Destruktionismus ist unser ganzes Leben<br />
so durchtränkt, daß man kaum ein Gebiet nennen könnte, das von ihm frei<br />
geblieben wäre. Destruktionismus verkün<strong>de</strong>t die „soziale“ Kunst, lehrt die<br />
Schule, predigt die Kirche. Die Gesetzgebung <strong>de</strong>r Kulturstaaten hat in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahrzehnten kaum ein wichtigeres Gesetz geschaffen, in <strong>de</strong>m nicht<br />
zumin<strong>de</strong>st einige Zugeständnisse an ihn gemacht wor<strong>de</strong>n wären; manche<br />
sind von ihm ganz und gar erfüllt. Eine umfassen<strong>de</strong> Darstellung <strong>de</strong>s<br />
Destruktionismus
459<br />
geben, hieße die Geschichte <strong>de</strong>r Jahrzehnte schreiben, in <strong>de</strong>nen sich die<br />
Katastrophe <strong>de</strong>s Weltkrieges und <strong>de</strong>r bolschewistischen Weltrevolution<br />
vorbereitet hat. Das kann nicht die Aufgabe <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Ausführungen<br />
sein. Sie sollen sich darauf beschränken, einige Beiträge zum Verständnis<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktionistischen Entwicklung zu liefern.<br />
§ 2. Unter <strong>de</strong>n Mitteln <strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktionistischen Politik ist <strong>de</strong>r<br />
gesetzliche Arbeiterschutz in <strong>de</strong>r unmittelbaren Wirkung das harmloseste.<br />
Für die Erkenntnis <strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktionistischen Gedankengänge ist jedoch<br />
gera<strong>de</strong> dieser Zweig <strong>de</strong>r Sozialpolitik beson<strong>de</strong>rs wichtig.<br />
Die Befürworter <strong>de</strong>s Arbeiterschutzes pflegen ihn mit Vorliebe in eine<br />
Linie mit <strong>de</strong>n Vorkehrungen zu stellen, die im achtzehnten und in <strong>de</strong>r<br />
ersten Hälfte <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts in <strong>de</strong>n Gebieten <strong>de</strong>r<br />
Gutsherrschaft zum Schutze <strong>de</strong>r Robotpflichtigen getroffen wor<strong>de</strong>n<br />
waren. So wie damals das Maß <strong>de</strong>r bäuerlichen Arbeitsverpflichtungen<br />
durch Eingreifen <strong>de</strong>s Staates immer mehr herabgesetzt wur<strong>de</strong>, um aus<br />
<strong>de</strong>m Sklaven schrittweise einen Freien zu machen, so sei das Ziel <strong>de</strong>s<br />
Arbeiterschutzes kein an<strong>de</strong>res als die Erhebung <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Proletariers<br />
aus <strong>de</strong>r Lohnsklaverei zu menschenwürdigem Dasein. Dieser Vergleich ist<br />
durchaus unzutreffend. Die Beschränkung <strong>de</strong>r Arbeitspflicht <strong>de</strong>s hörigen<br />
Bauern vermin<strong>de</strong>rte nicht, son<strong>de</strong>rn vermehrte die Menge <strong>de</strong>r im Lan<strong>de</strong> geleisteten<br />
Arbeit. Die schlecht und lässig verrichtete Zwangsarbeit wur<strong>de</strong> in<br />
ihrem Zeitausmaß herabgedrückt, um <strong>de</strong>m Bauer Freiheit zur besseren<br />
Bestellung seines eigenen Ackers o<strong>de</strong>r zur Verdingung seiner Arbeitskraft<br />
gegen Lohn zu geben. Die meisten zugunsten <strong>de</strong>r Bauern getroffenen<br />
Maßnahmen zielten darauf ab, einerseits die Intensität <strong>de</strong>r landwirtschaftlichen<br />
Arbeit zu steigern und an<strong>de</strong>rerseits Arbeitskräfte für die gewerbliche<br />
Produktion frei zu machen. Wenn die Bauernpolitik schließlich dazu<br />
gelangte, die Zwangsarbeit <strong>de</strong>r Landbewohner überhaupt aufzuheben, so<br />
hat sie damit das Arbeiten nicht beseitigt, son<strong>de</strong>rn erst recht ermöglicht.<br />
Wenn die mo<strong>de</strong>rne Sozialpolitik die Arbeitszeit „regelt“, wenn sie<br />
nacheinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Arbeitstag auf zehn, neun und acht Stun<strong>de</strong>n beschränkt,<br />
wenn sie bei verschie<strong>de</strong>nen Kategorien öffentlicher Angestellter schon<br />
beim Sechsstun<strong>de</strong>ntag angelangt ist, ja mitunter selbst schon unter dieses<br />
Ausmaß hinuntergegangen ist, so hat dies ganz an<strong>de</strong>res zu be<strong>de</strong>uten. Denn<br />
dabei wird die Menge <strong>de</strong>r geleisteten Arbeit und damit <strong>de</strong>r Ertrag <strong>de</strong>s<br />
volkswirtschaftlichen Produktionsprozesses vermin<strong>de</strong>rt.<br />
Diese Wirkung <strong>de</strong>r Maßnahmen zur Beschränkung <strong>de</strong>r Arbeitszeit
460<br />
ist zu leicht zu erkennen, als daß es möglich gewesen wäre, sich über sie<br />
Täuschungen hinzugeben. So kam es, daß die Bestrebungen zur Erweiterung<br />
<strong>de</strong>s gesetzlichen Arbeiterschutzes stets kräftigen Wi<strong>de</strong>rstand<br />
gefun<strong>de</strong>n haben, wenn sie die Arbeitsbedingungen in radikaler Weise<br />
umgestalten wollten. Die etatistischen Schriftsteller pflegen die Sache so<br />
darzustellen, als ob die Verkürzung <strong>de</strong>r Arbeitsdauer im allgemeinen, die<br />
Zurückdrängung <strong>de</strong>r Frauen- und Kin<strong>de</strong>rarbeit und die Beschränkung <strong>de</strong>r<br />
Nachtarbeit ausschließlich <strong>de</strong>m Eingreifen <strong>de</strong>r Gesetzgebung und <strong>de</strong>r<br />
Tätigkeit <strong>de</strong>r Gewerkschaften zuzuschreiben wären. Sie stehen dabei noch<br />
immer unter <strong>de</strong>r Einwirkung <strong>de</strong>r Anschauungen, die sich die <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
kapitalistischen Industrie fernstehen<strong>de</strong>n Kreise über <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r<br />
industriellen Lohnarbeit gebil<strong>de</strong>t haben. Danach hätte die Fabriksindustrie<br />
eine beson<strong>de</strong>re Abneigung gegen die Verwendung vollwertiger Arbeitskräfte.<br />
Sie ziehe <strong>de</strong>m allseitig ausgebil<strong>de</strong>ten Facharbeiter <strong>de</strong>n ungelernten<br />
Arbeiter, die schwache Frau und das gebrechliche Kind vor. Denn<br />
einerseits sei es ihr Bestreben, nur schlechte Massenware zu erzeugen,<br />
wofür sie <strong>de</strong>n auf seine Arbeitsehre bedachten Gehilfen nicht brauchen<br />
könne; an<strong>de</strong>rerseits ermögliche die Einfachheit <strong>de</strong>r Handgriffe im mechanischen<br />
Erzeugungsverfahren die Einstellung unausgebil<strong>de</strong>ter und<br />
körperlich schwacher Elemente. Da die Fabriken nur dann rentabel wären,<br />
wenn sie die Arbeit schlecht entlohnen, sei es natürlich, daß sie auf ungelernte<br />
Arbeiter, Frauen und Kin<strong>de</strong>r greifen und <strong>de</strong>n Arbeitstag möglichst<br />
auszu<strong>de</strong>hnen trachten. Man meint die Richtigkeit dieser Auffassung durch<br />
Hinweise auf die geschichtliche Entwicklung <strong>de</strong>r Großindustrie belegen<br />
zu können. Doch die Großindustrie hat in ihren Anfängen mit <strong>de</strong>r<br />
Tatsache rechnen müssen, daß für sie als Arbeiter nur die Elemente zur<br />
Verfügung waren, die außerhalb <strong>de</strong>r zünftigen Organisation <strong>de</strong>s Handwerks<br />
stan<strong>de</strong>n. Sie mußte Ungelernte, Frauen und Kin<strong>de</strong>r nehmen, weil<br />
nur sie frei waren, und war genötigt, ihren Arbeitsprozeß so einzurichten,<br />
daß mit diesen min<strong>de</strong>rwertigen Kräften das Auslangen gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
konnte. Die Löhne, die damals in <strong>de</strong>n Fabriken gezahlt wur<strong>de</strong>n, waren<br />
niedriger als <strong>de</strong>r Verdienst <strong>de</strong>r Handwerksgesellen, weil die Arbeitsleistung<br />
eine min<strong>de</strong>rwertige war. Aus <strong>de</strong>mselben Grun<strong>de</strong> war die tägliche<br />
Arbeitszeit länger als im Handwerk. Erst als sich diese Verhältnisse im<br />
Laufe <strong>de</strong>r Zeit än<strong>de</strong>rten, konnten die Arbeitsbedingungen in <strong>de</strong>r<br />
Großindustrie umgestaltet wer<strong>de</strong>n. Die Fabrik hatte nicht an<strong>de</strong>rs anfangen<br />
können, als daß sie Frauen und
461<br />
Kin<strong>de</strong>r einstellte, weil die vollkräftigen Männer nicht zu haben waren. Als<br />
sie durch die Konkurrenz, die sie <strong>de</strong>r Männerarbeit in Handwerk und<br />
Manufaktur bereitete, die alten Arbeitssysteme überwun<strong>de</strong>n und die dort<br />
beschäftigten Vollarbeiter zu sich herübergezogen hatte, hat sie ihr<br />
Arbeitsverfahren schnell so umgestaltet, daß die Arbeit <strong>de</strong>r gelernten<br />
männlichen Arbeiter die Hauptsache wur<strong>de</strong> und die Beschäftigung von<br />
Frauen und Kin<strong>de</strong>rn immer mehr zurücktrat. Die Löhne stiegen, weil die<br />
Leistung <strong>de</strong>s Vollarbeiters größer war als die <strong>de</strong>s Fabrikmädchens o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>s Fabrikkin<strong>de</strong>s. Damit entfiel für die Arbeiterfamilie die Notwendigkeit,<br />
Weiber und Kin<strong>de</strong>r mitverdienen zu lassen. Die Arbeitszeit wur<strong>de</strong> kürzer,<br />
weil die intensivere Arbeit <strong>de</strong>s Vollarbeiters die Anlagen weitaus besser<br />
auszunützen ermöglichte als die lässige und ungeschickte <strong>de</strong>r min<strong>de</strong>rwertigen<br />
Kräfte. 1<br />
Die Verkürzung <strong>de</strong>r täglichen Arbeitsdauer und die Einschränkung <strong>de</strong>r<br />
Frauen- und Kin<strong>de</strong>rarbeit auf jenes Ausmaß, das hier ungefähr vor<br />
Ausbruch <strong>de</strong>s Weltkrieges erreicht war, sind keineswegs etwa ein Erfolg,<br />
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r gesetzliche Arbeiterschutz <strong>de</strong>n eigennützigen Interessen <strong>de</strong>r<br />
Unternehmer abgerungen hat. Sie sind das Ergebnis <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Großindustrie, die, nicht mehr genötigt, ihre Arbeiter gewissermaßen an<br />
<strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Volkswirtschaft zu suchen, ihre Arbeitsbedingungen so<br />
umgestalten mußte, wie es die bessere Qualität <strong>de</strong>r Arbeiter erfor<strong>de</strong>rte.<br />
Die Gesetzgebung hat im Großen und Ganzen immer nur Wandlungen,<br />
die sich vorbereiteten, vorweggenommen o<strong>de</strong>r gar schon vollzogene<br />
sanktioniert. Wohl hat sie immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Versuch gemacht, im<br />
Arbeiterschutz über das Maß <strong>de</strong>ssen, was die freie Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Industrie von selbst brachte, hinauszugehen. Sie hat es aber nicht<br />
vermocht, diese Absicht zu verwirklichen. Nicht so sehr <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand<br />
<strong>de</strong>r Unternehmer hat sie daran gehin<strong>de</strong>rt als <strong>de</strong>r zwar nicht offen ausgesprochene<br />
und nicht offen vertretene, aber <strong>de</strong>nnoch sehr wirksame<br />
1<br />
Das muß selbst Brentano zugeben, <strong>de</strong>r im übrigen die Wirkungen <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschutzgesetzgebung maßlos überschätzt: „Die unvollkommene Maschine hatte <strong>de</strong>n<br />
Familienvater durch die Arbeit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ersetzt. . . . Die vollen<strong>de</strong>te Maschine macht <strong>de</strong>n<br />
Vater aufs Neue zum Ernährer <strong>de</strong>r Seinen und gibt das Kind <strong>de</strong>r Schule wie<strong>de</strong>r. . . . Man<br />
braucht nunmehr wie<strong>de</strong>r erwachsene Arbeiter, und zwar sind nur solche brauchbar, welche<br />
infolge erhöhter Lebenshaltung <strong>de</strong>n erhöhten Ansprüchen <strong>de</strong>r Maschinen gewachsen sind.“<br />
(Vgl. Brentano, Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung,<br />
2. Aufl., Leipzig 1893, S. 43.)
462<br />
Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Arbeiter selbst. Denn die Kosten je<strong>de</strong>r Arbeiterschutzbestimmung<br />
mußten von ihnen nicht nur mittelbar, son<strong>de</strong>rn auch<br />
unmittelbar getragen wer<strong>de</strong>n. Wenn die Frauen- und Kin<strong>de</strong>rarbeit<br />
beschränkt o<strong>de</strong>r ganz beseitigt wur<strong>de</strong>, belastete dies gera<strong>de</strong> so <strong>de</strong>n<br />
Arbeiterhaushalt wie die Kürzung <strong>de</strong>r Arbeitszeit <strong>de</strong>r erwachsenen<br />
Arbeiter. Die Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Arbeitsangebotes, die durch <strong>de</strong>rartige<br />
Maßnahmen bewirkt wird, erhöht zwar die Grenzproduktivität <strong>de</strong>r Arbeit<br />
und damit <strong>de</strong>n auf eine Produkteinheit entfallen<strong>de</strong>n Lohnsatz. Ob diese<br />
Steigerung groß genug ist, um <strong>de</strong>n Arbeiter für <strong>de</strong>n Ausfall zu entschädigen,<br />
<strong>de</strong>n er durch das Steigen <strong>de</strong>r Warenpreise erlei<strong>de</strong>t, ist durchaus<br />
zweifelhaft. Ohne Eingehen auf die konkreten Daten eines je<strong>de</strong>n Falles<br />
kann darüber nichts ausgesagt wer<strong>de</strong>n. Es ist als wahrscheinlich zu<br />
bezeichnen, daß <strong>de</strong>r Rückgang <strong>de</strong>r Produktion auch <strong>de</strong>m Arbeiter keine<br />
absolute Steigerung <strong>de</strong>s Realeinkommens bringen kann. Doch wir<br />
brauchen darauf nicht weiter einzugehen. Denn von einer durch die<br />
Arbeiterschutzgesetzgebung bewirkten ins Gewicht fallen<strong>de</strong>n Vermin<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>s Arbeiterangebotes hätte man nur dann sprechen können, wenn das<br />
Geltungsgebiet dieser Gesetze nicht auf ein einzelnes Land beschränkt<br />
geblieben wäre. Solange diese Voraussetzung nicht zutraf, weil je<strong>de</strong>r Staat<br />
auf eigene Faust vorging und ganz beson<strong>de</strong>rs jene Staaten, <strong>de</strong>ren<br />
aufblühen<strong>de</strong> Industrie je<strong>de</strong> Gelegenheit wahrnahm, um die Industrie <strong>de</strong>r<br />
älteren Industriestaaten zu verdrängen, mit <strong>de</strong>r Erlassung von Arbeiterschutzbestimmungen<br />
im Rückstand blieben, konnte durch <strong>de</strong>n<br />
Arbeiterschutz die Stellung <strong>de</strong>s Arbeiters auf <strong>de</strong>m Markte nicht verbessert<br />
wer<strong>de</strong>n. Da sollten die Bestrebungen, <strong>de</strong>n Arbeiterschutz durch internationale<br />
Verträge allgemein zu machen, Abhilfe schaffen. Von <strong>de</strong>m<br />
internationalen Arbeiterschutz gilt aber in noch höherem Maße als vom<br />
nationalen, daß er nicht über das Maß <strong>de</strong>ssen hinausgegangen ist, was die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r industriellen Verhältnisse nicht ohnehin bewirkt hätte.<br />
Stärker als in <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>s Arbeiterschutzes, die durch die mit <strong>de</strong>n<br />
Maßnahmen verbun<strong>de</strong>ne unmittelbare Gefährdung <strong>de</strong>r industriellen<br />
Entwicklung vielfach gehemmt war, treten in seiner Theorie die <strong>de</strong>struktionistischen<br />
Elemente zutage. Ihr vor allem ist die Verbreitung und<br />
schnelle Einbürgerung <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r Ausbeutung <strong>de</strong>r Lohnarbeiter<br />
zuzuschreiben. Sie hat in <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>r gewerblichen Arbeitsverhältnisse<br />
das betrieben, was man mit einem unschönen Worte als<br />
Stimmungsmache zu bezeichnen pflegt. Sie hat die volkstümlichen Bil<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>s hartherzigen Unternehmers
463<br />
und <strong>de</strong>s eigensüchtigen Kapitalisten in die Praxis <strong>de</strong>r Gesetzgebung<br />
eingeführt und ihnen das arme edle ausgebeutete Volk gegenübergestellt.<br />
Sie hat die Gesetzgeber daran gewöhnt, in je<strong>de</strong>r Durchkreuzung <strong>de</strong>r Pläne<br />
von Unternehmern einen Erfolg <strong>de</strong>r Gesamtheit über die eigennützigen<br />
gemeinschädlichen Interessen einzelner Schmarotzer zu erblicken. Sie hat<br />
<strong>de</strong>m Arbeiter die Meinung beigebracht, daß er sich ohne Dank für <strong>de</strong>n<br />
Profit <strong>de</strong>s Kapitals abmühe, und daß er es seiner Klasse und <strong>de</strong>r<br />
Geschichte schuldig sei, seine Arbeit so lässig als möglich zu verrichten.<br />
Die Lohntheorie <strong>de</strong>r Befürworter <strong>de</strong>s gesetzlichen Arbeiterschutzes<br />
war mangelhaft genug. Mit ätzen<strong>de</strong>m Hohn spotten sie über die Argumente,<br />
die einst Senior gegen die gesetzliche Regelung <strong>de</strong>r Arbeitszeit<br />
vorgebracht hatte, ohne doch irgend etwas Belangreiches gegen die<br />
Geltung seiner Schlußfolgerungen unter <strong>de</strong>r Annahme statischer<br />
Verhältnisse sagen zu können. Die Unfähigkeit <strong>de</strong>r kathe<strong>de</strong>rsozialistischen<br />
Schule, wirtschaftliche Probleme zu erfassen, tritt am klarsten in<br />
<strong>de</strong>n Schriften Brentanos zutage. Der Gedanke, daß <strong>de</strong>r Lohn <strong>de</strong>r Arbeitsleistung<br />
entspricht, liegt ihm so ferne, daß er gera<strong>de</strong>zu zur Aufstellung<br />
eines „Gesetzes“ gelangt, daß hoher Lohn die Arbeitsleistung steigere,<br />
niedriger Lohn sie herabmin<strong>de</strong>re, wogegen doch nichts klarer ist als das,<br />
daß bessere Arbeitsleistung höher entlohnt wird als schlechtere. 1 Und<br />
wenn er weiter meint, daß die Kürzung <strong>de</strong>r Arbeitszeit die Ursache und<br />
nicht die Folge höherer Arbeitsleistung sei, so liegt <strong>de</strong>r Irrtum nicht<br />
min<strong>de</strong>r klar zutage.<br />
Marx und Engels, die Väter <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Sozialismus, haben die<br />
grundsätzliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Kampfes um <strong>de</strong>n Arbeiterschutz für die<br />
Verbreitung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktionistischen I<strong>de</strong>en wohl begriffen. In <strong>de</strong>r<br />
„Inauguraladresse <strong>de</strong>r Internationalen Arbeiterassoziation“ wird von <strong>de</strong>r<br />
englischen Zehnstun<strong>de</strong>nbill gesagt, sie war „nicht bloß eine große<br />
praktische Errungenschaft, sie war <strong>de</strong>r Sieg eines Prinzips. Zum ersten<br />
Male erlag die politische Ökonomie <strong>de</strong>r Mittelklasse in hellem Tageslicht<br />
vor <strong>de</strong>r politischen Ökonomie <strong>de</strong>r Arbeiterklasse“. 2 Unverhüllter hatte<br />
Engels schon mehr als zwei Jahrzehnte vorher<br />
1 Vgl. Brentano, a. a. O., S. 11, 23 ff.; <strong>de</strong>rselbe, Arbeitszeit und Arbeitslohn nach <strong>de</strong>m<br />
Kriege, Jena 1919, S. 10; vgl. dazu Stucken, Theorie <strong>de</strong>r Lohnsteigerung (Schmollers<br />
Jahrbuch, 45. Jahrg., S. 1152 ff.).<br />
2<br />
Vgl. Inauguraladresse <strong>de</strong>r Internationalen Arbeiterassoziation, 1864 (Sombart,<br />
Grundlagen und Kritik <strong>de</strong>s Sozialismus, Berlin 1919, II. Teil) S. 239.
464<br />
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>struktionistischen Charakter <strong>de</strong>r Zehnstun<strong>de</strong>nbill zugegeben. Er<br />
kann nicht umhin, die von <strong>de</strong>n Unternehmern gegen sie geltend gemachten<br />
Argumente wenigstens als halbwahr zu bezeichnen; sie wer<strong>de</strong>, meint<br />
er, die englische Industrie konkurrenzunfähig machen und <strong>de</strong>n Arbeitslohn<br />
drücken. Er fürchtet diese Folgen aber nicht. „Natürlich“, fügt er<br />
hinzu, „wäre die Zehnstun<strong>de</strong>nbill eine <strong>de</strong>finitive Maßregel, so wür<strong>de</strong><br />
England dabei ruiniert; weil sie aber notwendig an<strong>de</strong>re Maßregeln nach<br />
sich zieht, die England auf eine ganz an<strong>de</strong>re als die bisher verfolgte Bahn<br />
lenken müssen, <strong>de</strong>shalb wird sie ein Fortschritt sein“. 1 Wenn Englands<br />
Industrie <strong>de</strong>r ausländischen Konkurrenz erliege, dann sei die Revolution<br />
unausbleiblich. 2 In einem späteren Aufsatze sagt er von <strong>de</strong>r<br />
Zehnstun<strong>de</strong>nbill: „Sie ist nicht mehr ein vereinzelter Versuch, die<br />
industrielle Entwicklung zu lähmen, sie ist ein Glied in einer langen<br />
Verkettung von Maßregeln, die die ganze gegenwärtige Gestalt <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft umwälzen und die bisherigen Klassengegensätze nach und<br />
nach vernichten, sie ist keine reaktionäre, son<strong>de</strong>rn eine revolutionäre<br />
Maßregel“. 3<br />
Die grundsätzliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Kampfes um <strong>de</strong>n Arbeiterschutz<br />
konnte man nicht zu hoch anschlagen. Die <strong>de</strong>struktionistische Wirkung<br />
<strong>de</strong>r einzelnen Arbeiterschutzgesetze ist aber von Marx und Engels nicht<br />
weniger überschätzt wor<strong>de</strong>n als von ihren liberalen Bekämpfern. Der<br />
Destruktionismus ist auf an<strong>de</strong>ren Wegen weiter gekommen.<br />
§ 3. Bei <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r alle Erscheinungen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Sozialpolitik mit<br />
<strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Etatisten und <strong>de</strong>r Sozialisten zu sehen pflegt, muß es<br />
zunächst Befrem<strong>de</strong>n erregen, wenn auch von <strong>de</strong>r Sozialversicherung und<br />
<strong>de</strong>n ihr verwandten Einrichtungen <strong>de</strong>r Versorgung arbeitsunfähiger und<br />
alter Personen behauptet wird, daß sie <strong>de</strong>struktionistisch wirken. Man ist<br />
beson<strong>de</strong>rs im <strong>de</strong>utschen Volke im allgemeinen gewohnt, in <strong>de</strong>r Arbeiterversicherung<br />
<strong>de</strong>n Gipfel staatsmännischer Einsicht und wirtschaftspolitischer<br />
Weisheit zu preisen, und wenn die einen sich nicht daran genug<br />
tun können, die segensreichen Folgen dieser Einrichtungen zu rühmen,<br />
wissen<br />
1 Vgl. Engels, Die Lage <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Klasse in England, 2. Auflage, Stuttgart 1892,<br />
S. 178.<br />
2 Vgl. ebendort S. 297.<br />
3 Vgl. Engels, Die englische Zehnstun<strong>de</strong>nbill (Aus <strong>de</strong>m literarischen Nachlaß von Karl<br />
Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, a. a. O., III. Bd., 393).
465<br />
die an<strong>de</strong>ren ihnen nur <strong>de</strong>n Vorwurf zu machen, daß sie nicht genug weit<br />
gehen, nicht alle Schichten <strong>de</strong>s Volkes umfassen und nicht alles das <strong>de</strong>n<br />
Begünstigten gewähren, was ihrer Meinung nach gewährt wer<strong>de</strong>n müßte.<br />
Richtig ist, daß die unmittelbar <strong>de</strong>struktionistischen Wirkungen <strong>de</strong>r<br />
Sozialversicherung nicht höher anzuschlagen sind als die <strong>de</strong>s Arbeiterschutzes.<br />
Wenn die Entwicklung <strong>de</strong>s Arbeiterschutzes dadurch gehemmt<br />
wur<strong>de</strong>, daß bereits seine unmittelbaren Wirkungen sichtlich zum Scha<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>r Schichten, zu <strong>de</strong>ren Gunsten sie angeblich ergriffen wur<strong>de</strong>n,<br />
ausschlagen, so stand <strong>de</strong>r Ausgestaltung <strong>de</strong>r Sozialversicherung <strong>de</strong>r<br />
Umstand im Wege, daß die sozialistischen Massen, mehr auf das Heute<br />
als auf das Morgen bedacht, wenig Neigung zeigen, Opfer zu bringen und<br />
sich für Maßnahmen einzusetzen, die ihr Einkommen nicht augenblicklich<br />
mehren. Auch die Sozialversicherung hat ihre <strong>de</strong>struktionistischen<br />
Wirkungen weniger unmittelbar durch Schädigung <strong>de</strong>s gesellschaftlichen<br />
Organismus als mittelbar durch die unheilvolle Beeinflussung <strong>de</strong>r sozialen<br />
Moral ausgeübt.<br />
Kein geordnetes Gemeinwesen hat die arbeitsunfähigen Armen<br />
hartherzig verhungern lassen. Es hat immer irgendwelche Einrichtungen<br />
gegeben, um die, die sich nicht selbst zu erhalten imstan<strong>de</strong> waren, das<br />
nackte Leben fristen zu lassen. Mit <strong>de</strong>m Steigen <strong>de</strong>s allgemeinen Wohlstan<strong>de</strong>s,<br />
das die Entwicklung <strong>de</strong>s Kapitalismus begleitet hat, ist auch die<br />
Armenversorgung eine bessere gewor<strong>de</strong>n. Gleichzeitig wird ihre<br />
rechtliche Grundlage umgewan<strong>de</strong>lt. Während sie früher Mildtätigkeit war,<br />
auf die <strong>de</strong>r Arme keinen Anspruch hatte, wird sie nun zu einer Pflicht <strong>de</strong>s<br />
Gemeinwesens erhoben. Es wer<strong>de</strong>n Einrichtungen getroffen, um die<br />
Versorgung <strong>de</strong>r Armen sicherzustellen. Doch man hütet sich wohl, <strong>de</strong>m<br />
einzelnen Armen einen rechtlich erzwingbaren Anspruch auf die Gewährung<br />
<strong>de</strong>r Unterstützung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Unterhaltes einzuräumen. Ebensowenig<br />
<strong>de</strong>nkt man daran, die Anrüchigkeit, die <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r in dieser Weise vom<br />
Gemeinwesen ausgehalten wird, anhaftet, zu mil<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r gar zu<br />
beseitigen. Es ist nicht Hartherzigkeit, die dazu führt. Die Erörterungen,<br />
zu <strong>de</strong>nen beson<strong>de</strong>rs die englische Armengesetzgebung Anlaß gegeben hat,<br />
zeigen, daß man sich <strong>de</strong>r großen sozialen Gefahren, die mit je<strong>de</strong>r<br />
Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r Armenversorgung verbun<strong>de</strong>n sind, wohl bewußt war.<br />
Die mo<strong>de</strong>rne Sozialversicherung und die ihr entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Einrichtungen wie die englischen Altersrenten sind auf ganz an<strong>de</strong>rer
466<br />
Grundlage aufgebaut. Die Versorgung ist ein Anspruch, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Berechtigte im Rechtswege erzwingen kann. Wer sie in Anspruch nimmt,<br />
erfährt in keiner Hinsicht eine Min<strong>de</strong>rung seines Ansehens in <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft. Er ist Staatspensionär wie <strong>de</strong>r König o<strong>de</strong>r seine Minister<br />
o<strong>de</strong>r Bezieher einer Versicherungsrente wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, <strong>de</strong>r einen<br />
Versicherungsvertrag eingegangen ist. Es ist auch kein Zweifel, daß er<br />
berechtigt ist, die Zuwendung, die er auf diesem Weg erhält, als<br />
Äquivalent seiner eigenen Leistung anzusehen. Denn die Versicherungsbeiträge<br />
gehen immer zu Lasten <strong>de</strong>s Lohnes, gleichviel, ob sie von <strong>de</strong>n<br />
Unternehmern o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Arbeitern eingehoben wer<strong>de</strong>n. Auch das, was<br />
<strong>de</strong>r Unternehmer für die Versicherung aufwen<strong>de</strong>n muß, belastet die<br />
Grenzproduktivität <strong>de</strong>r Arbeit und schmälert damit <strong>de</strong>n Arbeitslohn.<br />
Wer<strong>de</strong>n aber die Kosten <strong>de</strong>r Arbeiterversorgung aus Steuergel<strong>de</strong>rn<br />
ge<strong>de</strong>ckt, so ist es klar, daß auch <strong>de</strong>r Arbeiter mittelbar o<strong>de</strong>r unmittelbar<br />
seinen Teil zu ihnen beiträgt.<br />
Will man die gesellschaftlichen Folgen <strong>de</strong>r Versorgung <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
und Angestellten erkennen, dann muß man das vollausgebil<strong>de</strong>te Institut<br />
betrachten, wie es sich in <strong>de</strong>n Arbeits- und Lohnverhältnissen <strong>de</strong>r<br />
öffentlichen Angestellten darstellt. Der Beamte will sein Dienstverhältnis<br />
überhaupt nicht als einen Lohnvertrag ansehen. Laband, einer <strong>de</strong>r eifrigsten<br />
Vertreter <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Etatismus, hat dafür <strong>de</strong>n klassischen Ausdruck<br />
in <strong>de</strong>r Formel gefun<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Beamte zum Staat nicht in einem<br />
Vertragsverhältnis <strong>de</strong>s Obligationenrechts, son<strong>de</strong>rn in einem Gewaltverhältnis<br />
mit beson<strong>de</strong>rer Gehorsams-, Treu- und Dienstpflicht stehe und<br />
vom Staate nicht einen Lohn, son<strong>de</strong>rn stan<strong>de</strong>sgemäßen Unterhalt zu<br />
for<strong>de</strong>rn habe. 1 Diesen Unterhaltsanspruch faßt <strong>de</strong>r echte Beamte im<br />
weitesten Sinne auf. Er for<strong>de</strong>rt für sich und seine Angehörigen alles, was<br />
zum „stan<strong>de</strong>sgemäßen“ Leben erfor<strong>de</strong>rlich ist, er for<strong>de</strong>rt, daß seine Kin<strong>de</strong>r<br />
wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Beamtenstand aufgenommen wer<strong>de</strong>n. Er for<strong>de</strong>rt vor allem,<br />
daß sein Einkommen mit <strong>de</strong>m Fortschreiten seines Dienstalters ständig<br />
wächst, ohne daß er selbst seinerseits durch bessere Leistung einen<br />
höheren Gegenwert zu leisten verpflichtet wäre.<br />
Im öffentlichen Dienste <strong>de</strong>s österreichischen Staates und <strong>de</strong>r<br />
österreichischen Län<strong>de</strong>r und Gemein<strong>de</strong>n sind für die Entlohnung<br />
ausschließlich die vor Eintritt in <strong>de</strong>n Dienst in zur Heranbildung<br />
1 Vgl. Laband, Das Staatsrecht <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Reiches, 3. Aufl., Freiburg 1895, I. Bd.,<br />
S. 386, 455.
467<br />
<strong>de</strong>r Beamten bestimmten Schulen verbrachte Zeit und die im Dienst<br />
zurückgelegte Zeit maßgebend. Die Bewerber um Arbeitsstellen müssen<br />
<strong>de</strong>n Nachweis erbringen, daß sie bestimmte Schulen zurückgelegt haben,<br />
und sich über <strong>de</strong>n Erfolg ihrer Studien durch eine Prüfung ausweisen. Da<br />
bei diesen Prüfungen mehr o<strong>de</strong>r weniger alle, die die vorgeschriebene Zeit<br />
in <strong>de</strong>r Schule geweilt haben, als geeignet befun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, so kann man<br />
ruhig sagen, daß auch die in <strong>de</strong>n Schulen verbrachte Zeit gewissermaßen<br />
als eine Vordienstzeit <strong>de</strong>s öffentlichen Beamten angesehen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Der Knabe, <strong>de</strong>r in die Schule eintritt, weiß, daß seine Laufbahn fest vorgezeichnet<br />
und daß ihm eine unkündbare Stellung für das ganze Leben<br />
gesichert ist, ja, daß auch schon für seine Witwe und seine Kin<strong>de</strong>r gesorgt<br />
ist. Er muß seinerseits nichts weiter tun als die notwendige Anzahl von<br />
Jahren zurücklegen, um aller jener Rechte teilhaft zu wer<strong>de</strong>n, die ihm<br />
durch die Beamtengesetze gewährleistet wer<strong>de</strong>n. Schon in <strong>de</strong>r Schule ist<br />
er ängstlich darauf bedacht, nur so viel zu lernen, als unbedingt notwendig<br />
ist, um nicht zu weit hinter seinen Genossen zurückzubleiben und dadurch<br />
das Aufsteigen in die höheren Klassen zu gefähr<strong>de</strong>n. Hat er einmal die<br />
Schulen zurückgelegt, so wird er, je nach <strong>de</strong>r „Vorbildung“, die er so erworben<br />
hat, in eine bestimmte Beamtengruppe eingereiht. Hier hat er,<br />
kurz nach seinem Eintritt, noch eine letzte Prüfung zu bestehen. Ist diese<br />
Formalität erfüllt, dann entfällt für <strong>de</strong>n jungen Beamten je<strong>de</strong>r weitere<br />
Anreiz, sich fortzubil<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r gar durch gewissenhafte und tüchtige<br />
Arbeit in seinem Amte über die an<strong>de</strong>ren emporzuragen. Denn sein Fortkommen<br />
ist nun ausschließlich von <strong>de</strong>r Anzahl <strong>de</strong>r zurückgelegten<br />
Dienstjahre abhängig. Wie es unter solchen Umstän<strong>de</strong>n um die<br />
Beschaffenheit <strong>de</strong>r geleisteten Arbeit bestellt ist, braucht nicht näher<br />
geschil<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r Beamte ist nur darauf bedacht, möglichst<br />
wenig zu arbeiten, alle Arbeit, die er von sich abschieben kann, zu<br />
verweigern und ängstlich darüber zu wachen, daß ihm auch alle jene<br />
Begünstigungen zuteil wer<strong>de</strong>n, auf die er Anspruch zu erheben berechtigt<br />
ist. In <strong>de</strong>r Arbeit, die ihm zu verrichten obliegt, sieht er eine Last, die man<br />
so gut es geht auf ein Min<strong>de</strong>stmaß herabzusetzen bemüht sein muß. Sind<br />
die wenigen Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Tages, die er im Amte zu verbringen genötigt ist,<br />
vorüber, dann verläßt er so schnell als möglich die Stätte seiner<br />
Beschäftigung, um sich an<strong>de</strong>rweitig zu vergnügen o<strong>de</strong>r auch um<br />
an<strong>de</strong>rweitig zu arbeiten. Denn für manche dieser Beamten stellt die<br />
Amtstätigkeit in Wahrheit nur eine Nebenbeschäftigung dar,
468<br />
neben <strong>de</strong>r sie sich einer an<strong>de</strong>ren Tätigkeit mit großem Eifer widmen. Nur<br />
wenige Beamte bringen im Amte jenen Eifer und jene Tüchtigkeit auf, die<br />
ein Angestellter einer privaten Unternehmung an <strong>de</strong>n Tag zu legen<br />
genötigt ist, um seinen Posten auch nur halbwegs auszufüllen. Es sind das<br />
entwe<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>alisten, für die die Vorstellung, <strong>de</strong>r Allgemeinheit zu dienen,<br />
wirksam ist, o<strong>de</strong>r Ehrgeizige, die die Hoffnung nicht aufgegeben haben,<br />
durch eifrige Arbeit ihren Genossen zuvorzukommen. Doch es gibt auch,<br />
glücklicherweise nur in kleiner Zahl, krankhaft veranlagte Individuen,<br />
<strong>de</strong>nen das Quälen und Mißhan<strong>de</strong>ln ihrer Mitbürger, über <strong>de</strong>ren Wohl und<br />
Wehe sie als Richter, Polizeibeamte o<strong>de</strong>r Steuerbeamte zu entschei<strong>de</strong>n<br />
haben, an sich Genuß bereitet.<br />
So ist das Staatsdienstverhältnis beschaffen, das allen Sozialreformern<br />
als das I<strong>de</strong>al erscheint, nach <strong>de</strong>m man das Arbeitsverhältnis aller Arbeiter<br />
und Angestellten umgestalten müsse. So sieht es in <strong>de</strong>n Postbüros aus,<br />
nach <strong>de</strong>ren Vorbild Lenin die Welt einrichten will. Die Sozialversicherung<br />
ist <strong>de</strong>r Weg, auf <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Arbeiter zum „Funktionär“, zum „Beamten“<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n soll.<br />
§ 4. Das wichtigste Mittel <strong>de</strong>r Politik <strong>de</strong>s Destruktionismus ist <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterverein, die Gewerkschaft. Der sozialistischen I<strong>de</strong>ologie ist es<br />
gelungen, das eigentliche Wesen und die Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen<br />
Bewegung so sehr zu verdunkeln, daß es nicht leicht ist, sich<br />
ein klares Bild von <strong>de</strong>m zu machen, was die Gewerkschaften sind und was<br />
sie leisten. Noch immer pflegt man die Probleme <strong>de</strong>s Arbeitervereinswesens<br />
unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkte <strong>de</strong>r Koalitionsfreiheit und <strong>de</strong>s<br />
Streikrechtes zu behan<strong>de</strong>ln. Doch seit Jahrzehnten han<strong>de</strong>lt es sich nicht<br />
mehr darum, ob <strong>de</strong>n Arbeitern die Freiheit, Vereine zu bil<strong>de</strong>n,<br />
zugestan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n soll, und ob sie das Recht haben sollen, die Arbeit<br />
auch unter Verletzung <strong>de</strong>s Arbeitsvertrages nie<strong>de</strong>rzulegen. Keine Gesetzgebung<br />
macht ihnen dieses Recht streitig; <strong>de</strong>nn daß die vertragswidrige<br />
Arbeitseinstellung zivilrechtliche Folgen für <strong>de</strong>n einzelnen Arbeiter nach<br />
sich ziehen kann, ist praktisch ohne je<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung, so daß auch die<br />
extremsten Anwälte <strong>de</strong>s Destruktionismus kaum auf <strong>de</strong>n Gedanken<br />
verfallen sind, für <strong>de</strong>n Arbeiter das Vorrecht zu for<strong>de</strong>rn, übernommene<br />
Vertragspflichten nach Belieben verletzen zu dürfen. Das, was das Wesen<br />
<strong>de</strong>s gewerkschaftlichen Problems heute ausmacht, ist <strong>de</strong>r Koalitionszwang<br />
und <strong>de</strong>r Streikzwang. Die Arbeitervereine nehmen für sich das Recht in<br />
Anspruch, alle Arbeiter, die sich ihnen nicht anschließen wollen o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>nen sie die Aufnahme verweigern, aus
469<br />
<strong>de</strong>r Arbeit zu drängen, nach Belieben die Arbeit einzustellen und<br />
je<strong>de</strong>rmann zu hin<strong>de</strong>rn, an Stelle <strong>de</strong>r Streiken<strong>de</strong>n die Arbeit zu verrichten.<br />
Sie nehmen für sich das Recht in Anspruch, Zuwi<strong>de</strong>rhandlungen gegen<br />
ihre Beschlüsse durch unmittelbare Gewaltanwendung zu verhin<strong>de</strong>rn und<br />
zu bestrafen und alle Vorkehrungen zu treffen, um diese Gewaltanwendung<br />
so zu organisieren, daß ihr voller Erfolg sichergestellt wird.<br />
Die Gewerkschaft hat sich zu einer Gewaltorganisation ausgebil<strong>de</strong>t, die<br />
durch <strong>de</strong>n Schrecken die ganze Gesellschaft in Schach hält und vor <strong>de</strong>ren<br />
Machtwort alle Gesetze und alle Rechte verblassen. Sie scheut vor nichts<br />
zurück, nicht vor Zerstörung von gewerblichen Anlagen, von Arbeitsgeräten<br />
und von Vorräten, nicht vor Blutvergießen. Sie verhängt das<br />
Interdikt über ganze Landstriche und Län<strong>de</strong>r, je<strong>de</strong>n auf das schwerste<br />
bedrohend, <strong>de</strong>r sich ihr nicht fügen will. Es lag im Zuge dieser rasch alles<br />
ergreifen<strong>de</strong>n und alle Hin<strong>de</strong>rnisse überwältigen<strong>de</strong>n Entwicklung, daß die<br />
Arbeitervereinigungen schließlich dazu gelangten, <strong>de</strong>n Versuch zu unternehmen,<br />
alle Herrschaft im Staate unverhüllt an sich zu reißen. Wenn<br />
auch in an<strong>de</strong>re rechtliche und organisatorische Formen geklei<strong>de</strong>t, ist die<br />
Sowjetmacht nichts an<strong>de</strong>res als <strong>de</strong>r natürliche geschichtliche Abschluß <strong>de</strong>r<br />
gewerkschaftlichen Bewegung.<br />
Je<strong>de</strong> Vereinigung wird schwerfälliger und bedächtiger, wenn die<br />
Männer, die an ihrer Spitze stehen, alt gewor<strong>de</strong>n sind. Kampfverbän<strong>de</strong><br />
verlieren dann die Angriffslust und die Fähigkeit, durch schnelles Han<strong>de</strong>ln<br />
die Gegner nie<strong>de</strong>rzuwerfen. Die Armeen <strong>de</strong>r großen Militärmächte, vor<br />
allem die Österreichs und Preußens, haben es wie<strong>de</strong>rholt erfahren, daß<br />
man unter alten Führern schwer siegen kann. Auch die Arbeitervereine<br />
machen davon keine Ausnahme. So ist es immer wie<strong>de</strong>r geschehen, daß<br />
die alten und wohlausgebil<strong>de</strong>ten Gewerkschaften vorübergehend an<br />
<strong>de</strong>struktionistischer Angriffslust und Schlagfertigkeit eingebüßt haben.<br />
Aus einem Element <strong>de</strong>r Zerstörung wur<strong>de</strong> so für Augenblicke ein<br />
erhalten<strong>de</strong>s, wenn sie <strong>de</strong>r Vernichtungswut jugendlicher Stürmer einen<br />
gewissen Wi<strong>de</strong>rstand entgegenzusetzen versuchten. Das ist es, was die<br />
Radikalen immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Gewerkschaften vorgeworfen haben, und<br />
was diese selbst mitunter für sich ins Treffen zu führen wußten, wenn es<br />
gera<strong>de</strong> <strong>galt</strong>, von <strong>de</strong>n nichtsozialistischen Schichten <strong>de</strong>r Bevölkerung Hilfe<br />
für <strong>de</strong>n Ausbau <strong>de</strong>s Koalitionszwanges zu erreichen. Doch diese<br />
Ruhepausen im gewerkschaftlichen Zerstörungskampfe waren immer nur<br />
kurz. Immer wie<strong>de</strong>r haben diejenigen gesiegt, die für die rücksichtslose<br />
Fortsetzung <strong>de</strong>s Kampfes gegen die kapitalistische
470<br />
Gesellschaftsordnung eingetreten sind. Sie haben dann entwe<strong>de</strong>r die alten<br />
Gewerkschaftsführer verdrängt o<strong>de</strong>r an Stelle <strong>de</strong>r älteren Organisationen<br />
neue gesetzt. Es konnte nicht an<strong>de</strong>rs kommen. Denn <strong>de</strong>r ganzen I<strong>de</strong>e<br />
entsprechend, auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gewerkschaftliche Zusammenschluß <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
sich aufbaut, ist er nur als Kampfmittel zur Zerstörung <strong>de</strong>nkbar. Es ist<br />
ja gezeigt wor<strong>de</strong>n, wie <strong>de</strong>r gewerkschaftliche Zusammenhalt zwischen<br />
<strong>de</strong>n Arbeitern nur durch <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>s Kampfes zur Vernichtung <strong>de</strong>r<br />
auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n<br />
Gesellschaftsordnung begrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann. Nicht nur die Praxis <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaften ist <strong>de</strong>struktionistisch; schon <strong>de</strong>r Grundgedanke, auf <strong>de</strong>m<br />
sie sich aufbauen, ist es.<br />
Die Grundlage <strong>de</strong>s Gewerkschaftswesens ist <strong>de</strong>r Koalitionszwang. Die<br />
Arbeiter weigern sich, mit Leuten, die nicht einer von ihnen anerkannten<br />
Organisation angehören, zusammenzuarbeiten, und erzwingen durch<br />
Streikandrohung und, wenn dies nicht genügt, durch Streik die Ausschaltung<br />
<strong>de</strong>r nicht organisierten Arbeiter. Es kommt auch vor, daß die,<br />
die sich weigern, <strong>de</strong>r Organisation beizutreten, durch Mißhandlungen zum<br />
Anschluß gezwungen wer<strong>de</strong>n. Welch eine furchtbare Vergewaltigung <strong>de</strong>r<br />
persönlichen Freiheit <strong>de</strong>s einzelnen darin liegt, braucht nicht näher<br />
ausgeführt zu wer<strong>de</strong>n. Selbst <strong>de</strong>n sophistischen Verdrehungen <strong>de</strong>r<br />
Anwälte <strong>de</strong>s gewerkschaftlichen Destruktionismus ist es nicht gelungen,<br />
die öffentliche Meinung darüber zu beruhigen. Wenn von Zeit zu Zeit<br />
einzelne beson<strong>de</strong>rs krasse Fälle von Vergewaltigung <strong>de</strong>r nicht organisierten<br />
Arbeiter in die Öffentlichkeit dringen, geben selbst Blätter, die sonst<br />
mehr o<strong>de</strong>r weniger auf Seite <strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktionistischen Arbeiter stehen,<br />
ihren Unmut zu erkennen.<br />
Die Waffe <strong>de</strong>r Gewerkschaften ist <strong>de</strong>r Streik. Man muß sich dabei vor<br />
Augen halten, daß je<strong>de</strong>r Streik ein Akt <strong>de</strong>s Landzwanges ist, eine gewaltsame<br />
Erpressung, die sich gegen alle richtet, die <strong>de</strong>n Absichten <strong>de</strong>r<br />
Streiken<strong>de</strong>n zuwi<strong>de</strong>rzuhan<strong>de</strong>ln bereit wären. Aller und je<strong>de</strong>r Streik ist<br />
Terrorismus. Denn <strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>r Arbeitseinstellung wür<strong>de</strong> gänzlich<br />
vereitelt wer<strong>de</strong>n, wenn es <strong>de</strong>m Unternehmer möglich wäre, an Stelle <strong>de</strong>r<br />
streiken<strong>de</strong>n Arbeiter an<strong>de</strong>re einzustellen, o<strong>de</strong>r wenn sich nur ein Teil <strong>de</strong>r<br />
Arbeiter <strong>de</strong>m Streik anschließen wür<strong>de</strong>. Das Um und Auf <strong>de</strong>s Gewerkschaftsrechtes<br />
ist daher die von <strong>de</strong>n Arbeitern mit Erfolg behauptete<br />
Möglichkeit, gegen <strong>de</strong>n Streikbrecher mit Brachialgewalt vorzugehen. Es<br />
ist nicht notwendig, darzulegen, auf welche Weise die Gewerkschaften in<br />
<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Staaten dieses Recht an sich zu reißen gewußt haben.
472<br />
Internationale fesseln will, bemüht er sich, alles, was zugunsten <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaften spricht, emsig hervorzukehren. Doch auch in diesem<br />
Vortrag hütet er sich wohl, rundweg die Behauptung aufzustellen, daß<br />
durch die Gewerkschaften unmittelbar eine Verbesserung <strong>de</strong>r wirtschaftlichen<br />
Lage <strong>de</strong>r Arbeiter erzielt wer<strong>de</strong>n könnte. Er sieht die Aufgabe <strong>de</strong>r<br />
Gewerkschaften in erster Linie darin, <strong>de</strong>n Kampf gegen die kapitalistische<br />
Wirtschaftsordnung zu führen. Die Stellung, die er <strong>de</strong>n Gewerkschaften<br />
zuweist, läßt keinen Zweifel zu über die Wirkungen, die er von ihren<br />
Eingriffen erwartet. „An Stelle <strong>de</strong>s konservativen Mottos: ‚Ein gerechter<br />
Tageslohn für einen gerechten Arbeitstag’ sollten sie das revolutionäre<br />
Schlagwort auf ihre Fahnen schreiben: ‚Abschaffung <strong>de</strong>s Lohnsystems.’ . .<br />
. Sie verfehlen im allgemeinen ihren Zweck dadurch, daß sie sich auf<br />
einen Guerillakrieg gegen die Wirkungen <strong>de</strong>s gegenwärtigen Systems beschränken,<br />
statt gleichzeitig auf seine Umwandlung hinzuarbeiten und<br />
ihre organisierte Kraft als einen Hebel für die endgültige Emanzipation<br />
<strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Klassen, d. h. die endgültige Abschaffung <strong>de</strong>s Lohnsystems,<br />
zu gebrauchen.“ 1 Deutlicher hätte Marx kaum aussprechen können,<br />
daß er in <strong>de</strong>n Gewerkschaften nichts an<strong>de</strong>res zu erblicken vermochte als<br />
Werkzeuge zur Zerstörung <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Es<br />
blieb <strong>de</strong>r empirisch-realistischen Nationalökonomie und <strong>de</strong>n revisionistischen<br />
Marxisten vorbehalten, zu behaupten, daß die Gewerkschaften die<br />
Löhne dauernd über <strong>de</strong>m Niveau, auf <strong>de</strong>m sie ohne <strong>de</strong>n gewerkschaftlichen<br />
Zusammenschluß gestan<strong>de</strong>n wären, zu erhalten imstan<strong>de</strong> seien.<br />
Eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit dieser Meinung erübrigt sich; <strong>de</strong>nn es ist<br />
nicht einmal <strong>de</strong>r Versuch gemacht wor<strong>de</strong>n, sie zu einer Theorie auszubauen;<br />
sie blieb eine Behauptung, die stets ohne je<strong>de</strong> Verbindung mit<br />
einer Erklärung <strong>de</strong>r Zusammenhänge <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens und ohne<br />
je<strong>de</strong>n Beweis vorgebracht wur<strong>de</strong>.<br />
Die gewerkschaftliche Politik <strong>de</strong>r Arbeitseinstellung, <strong>de</strong>r Gewalt und<br />
<strong>de</strong>r Sabotage hat an <strong>de</strong>r Besserung <strong>de</strong>r Lage <strong>de</strong>r Arbeiter nicht das<br />
geringste Verdienst gehabt. Sie hat ihren Teil dazu beigetragen, daß das<br />
kunstvolle Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r kapitalistischen Wirtschaft, in <strong>de</strong>r sich das Los<br />
aller, auch das <strong>de</strong>s ärmsten Arbeiters, von Tag zu Tag gebessert hat in<br />
seinen Grundfesten erschüttert wur<strong>de</strong>. Sie hat aber auch nicht <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus vorgearbeitet, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Syndikalismus.<br />
1 Vgl. ebendort S. 46.
473<br />
Setzen die Arbeiter jener Betriebe, die man als die nicht lebenswichtigen<br />
zu bezeichnen pflegt, im Lohnkampfe For<strong>de</strong>rungen durch, die<br />
ihren Lohn über <strong>de</strong>n durch die Marktlage gegebenen Stand erhöhen, so<br />
wer<strong>de</strong>n durch die Fortwirkung dieser Verschiebung Bewegungen auf <strong>de</strong>m<br />
Markte ausgelöst, die schließlich dazu führen müssen, daß das gestörte<br />
Gleichgewicht wie<strong>de</strong>r hergestellt wird. Sind aber auch die Arbeiter <strong>de</strong>r<br />
lebenswichtigen Betriebe in <strong>de</strong>r Lage, durch Arbeitseinstellung o<strong>de</strong>r durch<br />
die Drohung mit ihr Lohnfor<strong>de</strong>rungen geltend zu machen und dabei für<br />
sich alle jene Rechte in Anspruch zu nehmen, die die übrigen Arbeiter im<br />
Lohnkampf beanspruchen, dann stehen die Dinge ganz an<strong>de</strong>rs. Es wäre<br />
irreführend, wollte man sagen, daß diese Arbeiter dann in <strong>de</strong>r Lage von<br />
Monopolisten wären; <strong>de</strong>nn das, um was es sich dabei han<strong>de</strong>lt, liegt<br />
außerhalb <strong>de</strong>s Begriffes <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Monopols. Wenn die Angestellten<br />
aller Verkehrsunternehmungen in Ausstand treten und je<strong>de</strong>rmann<br />
daran hin<strong>de</strong>rn, etwas zu unternehmen, was die beabsichtigte Wirkung<br />
ihres Tuns abschwächen könnte, so sind sie die unumschränkten Tyrannen<br />
<strong>de</strong>r Gebiete, die in ihren Machtbereich fallen. Man mag <strong>de</strong>r Ansicht sein,<br />
daß sie von ihrer Macht nur einen maßvollen Gebrauch machen; doch das<br />
än<strong>de</strong>rt nichts an <strong>de</strong>r Tatsache, daß sie diese Macht haben. Dann gibt es im<br />
Lan<strong>de</strong> nur noch zwei Stän<strong>de</strong>: die Angehörigen <strong>de</strong>r Syndikate <strong>de</strong>r lebenswichtigen<br />
Produktionszweige als unumschränkte Herrscher und das<br />
übrige Volk als rechtlose Sklaven. Wir gelangen zur „Gewaltherrschaft<br />
<strong>de</strong>r ganz unentbehrlichen Arbeiter über die übrigen Klassen“. 1<br />
Und weil hier noch einmal von Macht die Re<strong>de</strong> ist, so sei es wie<strong>de</strong>r<br />
gestattet, zu prüfen, worauf diese wie alle Macht beruht. Die Macht <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterklasse, vor <strong>de</strong>r heute die Welt zittert, hat keine an<strong>de</strong>re Grundlagen<br />
als die Macht an<strong>de</strong>rer Tyrannen je gehabt hat; auch sie ist nichts als das<br />
Erzeugnis menschlicher I<strong>de</strong>ologien. Jahrzehntelang wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Menschen<br />
immer wie<strong>de</strong>r eingehämmert, daß <strong>de</strong>r gewerkschaftliche Zusammenschluß<br />
<strong>de</strong>r Arbeiter eine notwendige und <strong>de</strong>n Einzelnen wie <strong>de</strong>r Gesamtheit<br />
nützliche Sache sei, daß nur frevelhafte Selbstsucht <strong>de</strong>r Ausbeuter daran<br />
<strong>de</strong>nken könne, die Koalitionen zu bekämpfen, daß bei Arbeitseinstellungen<br />
das Recht stets auf Seite <strong>de</strong>r Streiken<strong>de</strong>n sei, daß es kaum eine<br />
schlimmere Ehrlosigkeit geben könne als <strong>de</strong>n Streikbruch, und daß die<br />
Bestrebungen, die Arbeitswilligen zu schützen, gesellschaftsfeindlich<br />
1<br />
Vgl. Kautsky, zitiert bei Dietzel, Ausbeutung <strong>de</strong>r Arbeiterklasse durch<br />
Arbeitergruppen („Deutsche Arbeit“, 4. Jahrg., 1919) S. 145 ff.
474<br />
seien. Das Geschlecht, das in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten heranwuchs, hatte<br />
von Kind auf gelernt, daß die Zugehörigkeit zur gewerkschaftlichen<br />
Organisation die wichtigste soziale Pflicht sei; es hatte sich gewöhnt, im<br />
Streik eine Art heiliger Handlung, ein gesellschaftliches Weihefest zu<br />
erblicken. Auf dieser I<strong>de</strong>ologie beruht die Macht <strong>de</strong>r Arbeiterverbän<strong>de</strong>.<br />
Sie muß zusammenbrechen, wenn die Lehre von <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Ersprießlichkeit <strong>de</strong>s Gewerkschaftswesens an<strong>de</strong>ren Anschauungen über<br />
seine Wirkungen weichen sollte. Daß daher gera<strong>de</strong> die mächtigsten<br />
Gewerkschaften genötigt sind, im Gebrauche ihrer Macht vorsichtig zu<br />
sein, um nicht durch Überspannung <strong>de</strong>r Macht zum Nach<strong>de</strong>nken über das<br />
Wesen und die Wirkungen <strong>de</strong>s Arbeitervereinswesens und zu einer<br />
Überprüfung und Verwerfung <strong>de</strong>r überkommenen Lehren Anlaß zu geben,<br />
ist klar. Doch das gilt und <strong>galt</strong> immer und von allen Machthabern und ist<br />
keine Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Gewerkschaften.<br />
Denn das ist wohl klar: Sollte es einmal zu einer grundsätzlichen<br />
Erörterung <strong>de</strong>s Streikrechtes <strong>de</strong>r Arbeiter lebenswichtiger Betriebe<br />
kommen, dann wird es bald um die ganze Lehre vom Gewerkschaftswesen<br />
und vom Streikzwang geschehen sein, dann wer<strong>de</strong>n Streikbruchverbän<strong>de</strong><br />
wie die „Technische Nothilfe“ jenes Beifalls teilhaftig wer<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>n heute noch die Streiken<strong>de</strong>n erhalten. Es mag sein, daß in Kämpfen,<br />
die daraus erwachsen können, die Gesellschaft zugrun<strong>de</strong> geht. Doch<br />
sicher ist, daß eine Gesellschaft, die das Arbeitervereinswesen so<br />
durchführen will, wie es die herrschen<strong>de</strong>n Anschauungen verlangen, in<br />
<strong>de</strong>r kürzesten Zeit <strong>de</strong>r Auflösung entgegengehen muß.<br />
§ 5. Der Liberalismus hatte mit <strong>de</strong>n Staatsfabriken und mit <strong>de</strong>r<br />
Eigenwirtschaft <strong>de</strong>s Staates aufgeräumt. Es war eigentlich mehr o<strong>de</strong>r<br />
weniger nur noch <strong>de</strong>r Postbetrieb, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m allgemeinen Grundsatz,<br />
die Produktionsmittel im Son<strong>de</strong>reigentum zu belassen und je<strong>de</strong> wirtschaftliche<br />
Tätigkeit <strong>de</strong>n Bürgern zu übertragen, eine Ausnahme machte. Die<br />
Anwälte <strong>de</strong>s Etatismus haben sich die größte Mühe gegeben, die Grün<strong>de</strong><br />
darzulegen, die für die Verstaatlichung <strong>de</strong>s Postdienstes und <strong>de</strong>s mit ihm<br />
in enger Verbindung stehen<strong>de</strong>n Telegraphenwesens sprechen sollen. Es<br />
wur<strong>de</strong>n dafür in erster Linie politische Gesichtspunkte geltend gemacht.<br />
Man pflegt bei <strong>de</strong>r Erörterung <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, die für und gegen <strong>de</strong>n<br />
Staatsbetrieb <strong>de</strong>s Post- und Telegraphenwesens sprechen, gewöhnlich<br />
zwei Dinge zu vermengen, die durchaus geson<strong>de</strong>rt betrachtet wer<strong>de</strong>n<br />
müßten: Die Frage <strong>de</strong>r Vereinheitlichung <strong>de</strong>s Dienstes und die Frage<br />
seiner
475<br />
ausschließlichen Übertragung an <strong>de</strong>n Staat. Es kann keinem Zweifel<br />
unterliegen, daß das Post- und Telegraphenwesen für die Vereinheitlichung<br />
vorzüglich geeignet ist, und daß auch bei voller Freiheit sich auf<br />
diesem Gebiete bald Trustbildungen ergeben wür<strong>de</strong>n, die zumin<strong>de</strong>st für<br />
ganze Landstriche zu einem faktischen Monopol Einzelner führen<br />
müßten. Bei keinem zweiten Betrieb springen die Vorteile <strong>de</strong>r Betriebskonzentration<br />
so in die Augen wie bei diesem. Doch mit <strong>de</strong>r Feststellung<br />
diese Tatsache ist die Frage, ob <strong>de</strong>m Staate eine rechtlich gesicherte<br />
Monopolstellung für alle Zweige <strong>de</strong>s Post- und Telegraphendienstes<br />
einzuräumen ist, noch lange nicht entschie<strong>de</strong>n. Es ist nicht schwer,<br />
aufzuzeigen, daß die Staatsregie unwirtschaftlich arbeitet, daß sie wenig<br />
geneigt ist, durch Anpassung an die Bedürfnisse <strong>de</strong>s Verkehrs für die<br />
Ausgestaltung <strong>de</strong>r Nachrichtenbeför<strong>de</strong>rung zu sorgen, und daß sie sich nur<br />
schwer entschließt, zweckentsprechen<strong>de</strong> Verbesserungen einzuführen.<br />
Auch auf diesem Gebiete <strong>de</strong>s Wirtschaftslebens sind alle Fortschritte<br />
durch die Initiative <strong>de</strong>r privaten Unternehmer gemacht wor<strong>de</strong>n. Die<br />
Überlandtelegraphie ist in großem Stil zuerst von privaten Unternehmungen<br />
durchgeführt wor<strong>de</strong>n; in England erfolgte ihre Verstaatlichung<br />
erst 1869, in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten von Amerika ist sie noch<br />
heute in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n einer Aktiengesellschaft. Die Überseekabel sind<br />
noch heute zum überwiegen<strong>de</strong>n Teil im Betrieb privater Unternehmungen.<br />
Selbst <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Etatismus ist nur zögernd daran gegangen, <strong>de</strong>n Staat<br />
von <strong>de</strong>r Mitwirkung privater Unternehmungen für die Unterseetelegraphie<br />
zu „befreien“. Der Liberalismus ist grundsätzlich auch für die volle<br />
Freiheit <strong>de</strong>s Post- und Telegraphendienstes eingetreten und hat mit<br />
großem Erfolg die Unzulänglichkeit <strong>de</strong>s staatlichen Betriebes zu erweisen<br />
gesucht. 1 Daß es <strong>de</strong>nnoch nicht zur Entstaatlichung dieser Produktionszweige<br />
gekommen ist, ist allein <strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong> zuzuschreiben, daß die<br />
politischen Machthaber die Post und die Telegraphie zur Beherrschung<br />
<strong>de</strong>r öffentlichen Meinung brauchen.<br />
Die Mächte <strong>de</strong>s Militarismus, die <strong>de</strong>m Unternehmer überall<br />
Hin<strong>de</strong>rnisse in <strong>de</strong>n Weg zu legen bereit waren, haben seine Überlegenheit<br />
dadurch anerkannt, daß sie die Erzeugung von Waffen und Munition in<br />
seine Hand haben übergehen lassen. Die großen Fortschritte <strong>de</strong>r<br />
Kriegstechnik setzen in <strong>de</strong>m Zeitpunkt ein, in <strong>de</strong>m die privaten<br />
Unternehmungen sich <strong>de</strong>r Erzeugung von Kriegsmaterial<br />
1 Vgl. Millar, The Evils of State Trading as illustrated by the Post Office (A Plea für<br />
Liberty ed. by Mackay, Sec. ed., London 1891, S. 305 ff.).
476<br />
zuzuwen<strong>de</strong>n begannen. Der Einsicht, daß <strong>de</strong>r Unternehmer bessere<br />
Waffen erzeugt als <strong>de</strong>r Beamte, hat sich <strong>de</strong>r Staat nicht entziehen können;<br />
<strong>de</strong>r Beweis dafür war auf <strong>de</strong>n Schlachtfel<strong>de</strong>rn in einer Weise erbracht<br />
wor<strong>de</strong>n, die selbst <strong>de</strong>n verstocktesten Anhänger <strong>de</strong>r Staatsregie belehren<br />
mußte. Die Arsenale und Staatswerften sind im neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
teils ganz verschwun<strong>de</strong>n, teils in bloße Magazine umgewan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n.<br />
An ihre Stelle traten Werke privater Unternehmer. Die literarischen und<br />
parlamentarischen Vertreter <strong>de</strong>r Verstaatlichung <strong>de</strong>r Industrie haben mit<br />
<strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung nach Verstaatlichung <strong>de</strong>r Rüstungsindustrie auch in <strong>de</strong>r<br />
Blütezeit <strong>de</strong>s Etatismus, in <strong>de</strong>n Jahren, die <strong>de</strong>m Weltkrieg unmittelbar<br />
vorangegangen sind, nur wenig Erfolg erzielt. Die Militärkreise wußten<br />
die Überlegenheit <strong>de</strong>r privaten Betriebe wohl zu würdigen.<br />
Aus staatsfinanziellen Grün<strong>de</strong>n hat man auch in <strong>de</strong>r liberalen Zeit die<br />
Finanzmonopole dort, wo sie schon von altersher bestan<strong>de</strong>n, nicht aufgehoben.<br />
Man ließ das Monopol bestehen, weil man es für eine erträgliche<br />
Art <strong>de</strong>r Einhebung einer Verzehrungssteuer ansah. Doch man gab sich<br />
dabei keinen Täuschungen über die Unwirtschaftlichkeit <strong>de</strong>s Staatsbetriebes,<br />
zum Beispiel <strong>de</strong>r Tabakverwaltung, hin. Doch bevor noch <strong>de</strong>r<br />
Liberalismus vermocht hatte, seinem Grundsatz auch auf diesem Gebiet<br />
zum Durchbruch zu verhelfen, hatte bereits <strong>de</strong>r Sozialismus eine<br />
rückläufige Bewegung eingeleitet.<br />
Die I<strong>de</strong>en, aus <strong>de</strong>nen die ersten mo<strong>de</strong>rnen Verstaatlichungen und<br />
Verstadtlichungen entsprungen sind, waren noch nicht ganz vom Geist <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Sozialismus erfüllt. In <strong>de</strong>n Anfängen <strong>de</strong>r Bewegung haben noch<br />
Gedanken <strong>de</strong>s alten Polizeistaates und rein militärisch-politische<br />
Rücksichten eine große Rolle gespielt. Bald aber ist die sozialistische<br />
I<strong>de</strong>ologie in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund getreten. Es war bewußte Sozialisierung,<br />
die Staat und Gemein<strong>de</strong> da betrieben. Fort mit <strong>de</strong>m unwirtschaftlichen<br />
Privatbetrieb, los vom Unternehmertum, lautete die Losung.<br />
Die wirtschaftliche Min<strong>de</strong>rwertigkeit <strong>de</strong>s sozialistischen Betriebes hat<br />
zunächst keinen Einfluß auf <strong>de</strong>n Fortgang <strong>de</strong>r Verstaatlichung und<br />
Verstadtlichung ausgeübt. Die Stimme <strong>de</strong>r Warner wur<strong>de</strong> nicht gehört. Sie<br />
wur<strong>de</strong> vom lauten und aufdringlichen Treiben <strong>de</strong>r Etatisten und<br />
Sozialisten und <strong>de</strong>r zahlreichen Elemente, die ihre Son<strong>de</strong>rinteressen dabei<br />
wahrnahmen, übertönt. Man wollte die Mängel <strong>de</strong>s Regiebetriebes nicht<br />
sehen und übersah sie darum. Nur eines hemmte <strong>de</strong>n Übereifer <strong>de</strong>r Gegner<br />
<strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums: die finanziellen Schwierigkeiten, mit <strong>de</strong>nen eine<br />
große Anzahl <strong>de</strong>r
477<br />
öffentlichen Unternehmungen zu kämpfen hatte. Die höheren Kosten <strong>de</strong>r<br />
Regie konnten aus politischen Grün<strong>de</strong>n nicht ganz auf die Verbraucher<br />
überwälzt wer<strong>de</strong>n, so daß sich vielfach Betriebsverluste ergaben. Man<br />
tröstete sich darüber mit <strong>de</strong>r Behauptung, daß die allgemeinen volkswirtschaftlichen<br />
und sozialpolitischen Vorteile <strong>de</strong>s Staats- und Gemein<strong>de</strong>betriebes<br />
<strong>de</strong>r Opfer wohl wert seien, aber man war doch zu einem<br />
gewissen Maßhalten in <strong>de</strong>r Verfolgung <strong>de</strong>r etatistischen Politik genötigt.<br />
Die Befangenheit <strong>de</strong>r Volkswirte, die sich schriftstellerisch mit diesen<br />
Problemen befaßten, trat beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich darin zutage, daß sie sich<br />
dagegen sträubten, die Ursachen <strong>de</strong>s finanziellen Mißerfolges <strong>de</strong>r Regieunternehmungen<br />
in <strong>de</strong>r Unwirtschaftlichkeit <strong>de</strong>r Betriebsführung zu<br />
suchen. Sie wollten immer nur beson<strong>de</strong>re Verhältnisse, persönliche<br />
Mängel <strong>de</strong>r leiten<strong>de</strong>n Organe und Fehler <strong>de</strong>r Organisation dafür verantwortlich<br />
machen. Dabei wur<strong>de</strong> immer wie<strong>de</strong>r auf die preußischen<br />
Staatsbahnen als das glänzendste Muster einer guten Verwaltung hingewiesen.<br />
In <strong>de</strong>r Tat haben die preußischen Staatsbahnen nicht unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
Betriebsüberschüsse abgeworfen. Doch da lagen ganz beson<strong>de</strong>re<br />
Grün<strong>de</strong> vor. Preußen hat <strong>de</strong>n wichtigsten Teil seines Staatsbahnnetzes in<br />
<strong>de</strong>r ersten Hälfte <strong>de</strong>r 80er Jahre <strong>de</strong>s neunzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts, also zu<br />
einer Zeit beson<strong>de</strong>rs niedriger Preise erworben; auch die Ausgestaltung<br />
und Erweiterung <strong>de</strong>s Netzes ist im großen und ganzen vor <strong>de</strong>m starken<br />
Aufschwung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Volkswirtschaft, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>r<br />
90er Jahre einsetzte, erfolgt. Da war es <strong>de</strong>nn nicht beson<strong>de</strong>rs auffallend,<br />
daß diese Bahnen, <strong>de</strong>ren Transportmenge ohne ihr Zutun von Jahr zu Jahr<br />
wuchs, und die, weil sie zum großen Teil durch Ebenen führen und die<br />
Kohle überall nahe hatten, mit günstigen Betriebsverhältnissen zu rechnen<br />
hatten, auch gut rentierten. Die Lage <strong>de</strong>r preußischen Staatsbahnen war<br />
eben eine solche, daß sie eine Zeitlang trotz <strong>de</strong>s Staatsbetriebes Erträgnisse<br />
abwarfen. Ähnlich war es bei <strong>de</strong>n Gas-, Wasser- und Beleuchtungswerken<br />
und bei <strong>de</strong>n Straßenbahnen <strong>de</strong>r größeren Städte. Die Folgerungen,<br />
die man daraus ziehen wollte, waren durchaus unrichtig.<br />
Im großen und ganzen war <strong>de</strong>r Erfolg <strong>de</strong>r Verstaatlichung und<br />
Verstadtlichung <strong>de</strong>r, daß aus Steuergel<strong>de</strong>rn Zuschüsse zu <strong>de</strong>n Betriebskosten<br />
geleistet wer<strong>de</strong>n mußten. Darum kann man ruhig sagen, daß es<br />
niemals ein Schlagwort gegeben hat, das so zur Unzeit ausgegeben wur<strong>de</strong><br />
wie das von Goldscheid geprägte von <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>s Steuerstaates.<br />
Der finanziellen Bedrängnis, in die die Staaten durch <strong>de</strong>n Weltkrieg und<br />
seine Folgen geraten
478<br />
seien, lasse sich, meint Goldscheid, durch die alten Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Staatsfinanzpolitik nicht mehr beikommen. Die Besteuerung <strong>de</strong>r privaten<br />
Unternehmungen versage. Man müsse daher dazu schreiten, <strong>de</strong>n Staat<br />
durch Enteignung <strong>de</strong>r kapitalistischen Unternehmungen zu „repropriieren“,<br />
um ihn instand zu setzen, aus <strong>de</strong>n Erträgen seiner eigenen<br />
Betriebe die Ausgaben zu <strong>de</strong>cken. 1 Hier wird <strong>de</strong>r Sachverhalt ganz auf<br />
<strong>de</strong>n Kopf gestellt. Die finanziellen Schwierigkeiten bestehen gera<strong>de</strong> darin,<br />
daß die großen Zuschüsse, die die vergesellschafteten Betriebe erfor<strong>de</strong>rn,<br />
aus Steuermitteln nicht mehr aufgebracht wer<strong>de</strong>n können. Wenn man alle<br />
Unternehmungen vergesellschaften wollte, dann wird man zwar die<br />
Erscheinungsform <strong>de</strong>s Übels än<strong>de</strong>rn, es selbst aber nicht nur nicht<br />
beseitigen, son<strong>de</strong>rn noch vergrößern. Die Min<strong>de</strong>rergiebigkeit <strong>de</strong>r öffentlichen<br />
Unternehmungen wird nun zwar nicht mehr in einem Abgang <strong>de</strong>s<br />
Staatshaushaltes sichtbar wer<strong>de</strong>n. Die Bevölkerung wird aber schlechter<br />
versorgt wer<strong>de</strong>n, Not und Elend wer<strong>de</strong>n wachsen, nicht abnehmen.<br />
Goldscheid will die Sozialisierung bis aus En<strong>de</strong> führen, um die Finanznot<br />
<strong>de</strong>s Staates zu beheben. Aber diese Finanznot ist gera<strong>de</strong> daraus entstan<strong>de</strong>n,<br />
daß die Sozialisierung zu weit getrieben wur<strong>de</strong>. Sie kann nur dann<br />
verschwin<strong>de</strong>n, wenn man die vergesellschafteten Betriebe wie<strong>de</strong>r an das<br />
Son<strong>de</strong>reigentum zurückgibt. Der Sozialismus steht an <strong>de</strong>m Punkt, wo<br />
seine wirtschaftstechnische Undurchführbarkeit weithin sichtbar wird und<br />
selbst <strong>de</strong>n Blin<strong>de</strong>n die Augen darüber aufgehen, daß wir mit ihm auf <strong>de</strong>m<br />
Weg zum Untergang aller Kultur sind. Nicht an <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r<br />
Bourgeoisie sind in Mitteleuropa die Bestrebungen, die Vollsozialisierung<br />
mit einem Schlage durchzuführen, gescheitert, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>r Tatsache,<br />
daß je<strong>de</strong> weitere Sozialisierung schon vom finanziellen Gesichtspunkte<br />
aus ganz undurchführbar erscheinen mußte. Die systematische, kühl<br />
überdachte Sozialisierung, wie sie Staat und Gemein<strong>de</strong>n bis zum Krieg<br />
betrieben hatten, mußte zum Stillstan<strong>de</strong> kommen, weil man es sich leicht<br />
ausrechnen konnte, zu welchem Ergebnis sie führt. Der Versuch ihrer<br />
Anhänger, sie unter neuem Namen zu empfehlen, wie es von <strong>de</strong>n<br />
Sozialisierungs-Kommissionen in Deutschland und Österreich gemacht<br />
wur<strong>de</strong>, konnte unter solchen Umstän<strong>de</strong>n keinen Erfolg erzielen. Wollte<br />
man weiter sozialisieren, dann konnte man es nicht mehr mit <strong>de</strong>n alten<br />
Mitteln machen. Man mußte die<br />
1 Vgl. Goldscheid, Staatssozialismus o<strong>de</strong>r Staatskapitalismus, Wien 1917; <strong>de</strong>rselbe,<br />
Sozialisierung <strong>de</strong>r Wirtschaft o<strong>de</strong>r Staatsbankerott, Wien 1919; dagegen Schumpeter, Die<br />
Krise <strong>de</strong>s Steuerstaates, Graz und Leipzig 1918.
479<br />
Stimme <strong>de</strong>r Vernunft, die vor je<strong>de</strong>m weiteren Schritt auf diesem Wege<br />
warnte, zum Schweigen bringen; man mußte die Kritik durch einen<br />
Rausch von Begeisterung und Fanatismus ausschalten, man mußte die<br />
Gegner totschlagen, da man sie nicht zu wi<strong>de</strong>rlegen vermochte. Bolschewismus<br />
und Spartakismus waren die einzigen Metho<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus noch übrig blieben. In diesem Sinne sind sie <strong>de</strong>r notwendige<br />
Abschluß <strong>de</strong>r Politik <strong>de</strong>s Destruktionismus.<br />
§ 6. Dem Liberalismus, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Staat nur die eine Aufgabe zuerkennt,<br />
für die Sicherheit <strong>de</strong>r Person und <strong>de</strong>s Eigentums <strong>de</strong>r Staatsbürger Sorge zu<br />
tragen, sind die Probleme <strong>de</strong>r Aufbringung <strong>de</strong>r vom öffentlichen Haushalt<br />
benötigten Mittel von geringer Wichtigkeit. Der Kostenaufwand, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Apparat eines liberalen Gemeinwesens verursacht, ist im Verhältnis zum<br />
gesamten Nationaleinkommen so gering, daß es keinen beträchtlichen<br />
Unterschied ausmacht, ob er auf diesem o<strong>de</strong>r auf jenem Wege ge<strong>de</strong>ckt<br />
wird. Wenn die liberalen Schriftsteller nach <strong>de</strong>r besten Steuer Umschau<br />
halten, so tun sie es, weil sie je<strong>de</strong> Einzelheit <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Systems<br />
auf das Zweckmäßigste einzurichten wünschen, nicht etwa weil sie<br />
<strong>de</strong>r Meinung wären, das Problem <strong>de</strong>r Staatsfinanzen sei ein Hauptproblem<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaftsordnung. Sie müssen dabei aber auch damit rechnen, daß<br />
ihre liberalen I<strong>de</strong>ale nirgends auf Er<strong>de</strong>n verwirklicht sind, und daß die<br />
Hoffnung, sie bald voll verwirklicht zu sehen, nicht gera<strong>de</strong> allzu groß ist.<br />
Überall gibt es kräftige Ansätze liberaler Entwicklung, die ferne Zukunft<br />
scheint <strong>de</strong>m Liberalismus zu gehören, doch die Mächte <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />
sind noch stark genug, um das Fortschreiten <strong>de</strong>s Liberalismus zu<br />
verzögern, wenn sie auch nicht mehr imstan<strong>de</strong> sind, ihn ganz aufzuhalten<br />
o<strong>de</strong>r gar nie<strong>de</strong>rzuwerfen. Noch gibt es überall fürstliche Machtpläne,<br />
stehen<strong>de</strong> Heere, diplomatische Geheimverträge, Kriege, Zölle, Vielregiererei<br />
in Han<strong>de</strong>ls- und Gewerbesachen, kurz: Interventionismus je<strong>de</strong>r Art in<br />
<strong>de</strong>r Binnen- und in <strong>de</strong>r Außenpolitik. Daher muß man sich noch für eine<br />
ziemliche Zeit mit einem beträchtlichen Aufwand für staatliche Zwecke<br />
abfin<strong>de</strong>n. Mögen die Steuerfragen auch im angestrebten rein liberalen<br />
Staat von untergeordneter Be<strong>de</strong>utung sein, für <strong>de</strong>n Obrigkeitsstaat, in <strong>de</strong>m<br />
die liberalen Politiker zunächst noch zu wirken haben, muß man ihnen<br />
erhöhte Aufmerksamkeit zuwen<strong>de</strong>n. Die liberalen Staatsmänner empfehlen<br />
in erster Reihe Einschränkung <strong>de</strong>r Staatsausgaben. Wenn sie aber<br />
damit noch nicht vollen Erfolg erzielen, müssen sie sich mit <strong>de</strong>r Frage<br />
befassen, wie man die erfor<strong>de</strong>rlichen
480<br />
Mittel aufbringen könne, ohne mehr Scha<strong>de</strong>n anzurichten als unbedingt<br />
nötig.<br />
Man mißversteht alle steuerpolitischen Vorschläge <strong>de</strong>s Liberalismus,<br />
wenn man nicht darauf achtet, daß sie je<strong>de</strong> Steuer als ein - wenn auch bis<br />
zu einem gewissen Gra<strong>de</strong> unvermeidliches - Übel betrachten, und daß sie<br />
von <strong>de</strong>r Annahme ausgehen, daß man sich selbstverständlich vor allem<br />
bemühen müsse, die Staatsausgaben auf das geringste Maß herabzudrücken.<br />
Wenn die liberalen Politiker eine bestimmte Steuer empfehlen<br />
o<strong>de</strong>r - richtiger gesagt - als weniger schädlich als an<strong>de</strong>re Steuern bezeichnen,<br />
dann <strong>de</strong>nken sie stets nur daran, durch sie einen verhältnismäßig<br />
kleinen Betrag aufzubringen. Die niedrige Höhe <strong>de</strong>r Steuersätze ist ein<br />
integrieren<strong>de</strong>r Bestandteil aller liberalen Steuerprogramme. Nur so ist ihr<br />
Sichabfin<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Einkommensbesteuerung, die sie zuerst in die ernste<br />
steuerpolitische Erörterung gestellt haben, zu verstehen; nur so darf man<br />
es auffassen, wenn sie sich mit <strong>de</strong>r Steuerfreiheit eines beschei<strong>de</strong>nen<br />
Existenzminimums und <strong>de</strong>r Ermäßigung <strong>de</strong>s Steuersatzes für kleinere<br />
Einkommen abfin<strong>de</strong>n. 1<br />
Auch das Finanzprogramm <strong>de</strong>r Sozialisten ist nur ein vorläufiges.<br />
Seine Geltung ist auf die Übergangszeit beschränkt. Für das sozialistische<br />
Staatswesen, in <strong>de</strong>m alle Produktionsmittel <strong>de</strong>r Gesellschaft gehören und<br />
alles Einkommen zunächst <strong>de</strong>m Staat zufließt gibt es Finanz- und<br />
Steuerfragen in <strong>de</strong>m Sinne, in <strong>de</strong>m sie die auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum<br />
beruhen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung kennt, überhaupt nicht. Auch jene<br />
Gestaltungen <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens, die wie <strong>de</strong>r Staatssozialismus<br />
das Son<strong>de</strong>reigentum <strong>de</strong>m Namen und <strong>de</strong>r äußeren Form nach<br />
fortbestehen lassen wollen, hätten nicht eigentlich Steuern zu erheben,<br />
wenn auch Namen und Rechtsform <strong>de</strong>r Steuer beibehalten wer<strong>de</strong>n; sie<br />
wer<strong>de</strong>n verfügen, was von <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>n Einzelnen, <strong>de</strong>r Form nach als<br />
Son<strong>de</strong>rwirtschaften gelten<strong>de</strong>n Stellen <strong>de</strong>r Gesamtwirtschaftsorganisation<br />
erzielten Teil <strong>de</strong>s Sozialeinkommens <strong>de</strong>m nominellen Eigentümer zu<br />
verbleiben hat, was an <strong>de</strong>n Staat abzuführen ist. Von einer Besteuerung,<br />
die bestimmte Eingriffe in die Einzelwirtschaften vornimmt, ihre Auswirkung<br />
auf Warenpreise und Löhne, auf Unternehmergewinn, Zins und<br />
Rente aber <strong>de</strong>m Markte überläßt, wäre auch hier nicht die Re<strong>de</strong>. Nur<br />
solange man noch mit <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln zu<br />
rechnen hat, gibt es Finanzfragen und Steuerpolitik.<br />
1 Über die ablehnen<strong>de</strong> Haltung <strong>de</strong>r Liberalen gegenüber <strong>de</strong>m Gedanken progressiver<br />
Steuern vgl. Thiers, De la propriété, Paris 1848, S. 352 ff.
481<br />
Doch auch für die Sozialisten zieht sich die Übergangszeit solange<br />
hinaus, daß auch ihnen die Beschäftigung mit Finanz- und Steuerproblemen<br />
<strong>de</strong>s kapitalistischen Gemeinwesens immer wichtiger wird. Das<br />
ist um so mehr <strong>de</strong>r Fall, als sie bemüht sind, <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r Staatsaufgaben<br />
beständig auszu<strong>de</strong>hnen, und damit auch die Staatsausgaben immer mehr<br />
erhöhen. So geht die Sorge für die Mehrung <strong>de</strong>r Staatseinkünfte auf sie<br />
über. Die sozialistische Politik wird zum entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Faktor in <strong>de</strong>r<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Staatsausgaben; die sozialistischen For<strong>de</strong>rungen wer<strong>de</strong>n<br />
bestimmend für die Steuerpolitik; im Programm <strong>de</strong>r Sozialisten selbst tritt<br />
das Finanzpolitische immer mehr in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund. War im Programm<br />
<strong>de</strong>r Liberalen die Niedrigkeit aller Steuersätze Grundsatz gewesen, so<br />
wird von <strong>de</strong>n Sozialisten umgekehrt je<strong>de</strong> Steuer für um so besser angesehen,<br />
je schärfer sie zugreift o<strong>de</strong>r - wie man zu sagen pflegt - je mehr sie<br />
„erfaßt“.<br />
Die klassische Nationalökonomie hat auch in <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>n<br />
Wirkungen <strong>de</strong>r Steuern Großes geleistet; das muß man trotz aller Mängel<br />
zugeben, die ihren Ergebnissen wegen <strong>de</strong>r Fehlerhaftigkeit ihrer werttheoretischen<br />
Grundlagen anhaften. Von <strong>de</strong>n meisterhaften Untersuchungen,<br />
die Ricardo diesem Gegenstan<strong>de</strong> gewidmet hatte, gingen die liberalen<br />
Politiker aus, wenn sie Kritik an <strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n übten und<br />
Reformvorschläge aufstellten. Die sozialistischen Politiker haben sich die<br />
Sache viel leichter gemacht. Sie selbst haben über die Dinge nichts Neues<br />
zu sagen gewußt, und aus <strong>de</strong>n Schriften <strong>de</strong>r Klassiker entnahmen sie<br />
nichts als einzelne aus <strong>de</strong>m Zusammenhang gerissene Bemerkungen,<br />
vorzüglich über die Wirkungen <strong>de</strong>r Verbrauchssteuern, die ihnen für die<br />
Bedürfnisse <strong>de</strong>r Tagespolitik gera<strong>de</strong> zusagten. Sie zimmerten sich ein<br />
rohes, nirgends bis zu <strong>de</strong>n eigentlichen Problemen dringen<strong>de</strong>s System zusammen,<br />
<strong>de</strong>ssen Einfachheit es allerdings ermöglichte, es <strong>de</strong>m Verständnis<br />
<strong>de</strong>r Massen nahezubringen. Die Steuern sollen die Reichen, die Unternehmer,<br />
die Kapitalisten, kurz: die an<strong>de</strong>ren bezahlen; die Arbeiter, kurz:<br />
die Wähler, auf <strong>de</strong>ren Stimmen es ankommt, sollen steuerfrei bleiben.<br />
Alle Massenverbrauchssteuern - auch die auf geistige Getränke - sind<br />
abzulehnen, weil sie das Volk belasten. Die direkten Steuern können nicht<br />
hoch genug sein, wofern nur das Einkommen und <strong>de</strong>r Besitz <strong>de</strong>r Arbeiter<br />
frei bleiben. Nicht einen Augenblick lang lassen sich die Verfechter dieser<br />
volkstümlichen Steuerpolitik <strong>de</strong>n Gedanken durch <strong>de</strong>n Kopf gehen, daß<br />
auch direkte Steuern und Verkehrsabgaben Wirkungen auslösen können,<br />
die die
482<br />
Lebenshaltung <strong>de</strong>r Schichten, <strong>de</strong>ren vermeintliche Son<strong>de</strong>rinteressen sie zu<br />
vertreten vorgeben, mittelbar herabdrücken. Nur selten wird die Frage<br />
aufgeworfen, ob die Hemmung <strong>de</strong>r Kapitalsbildung, die von <strong>de</strong>r Besteuerung<br />
<strong>de</strong>s Besitzes ausgeht, nicht auch die nichtbesitzen<strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Gesellschaft schädige. Die Steuerpolitik entwickelt sich immer mehr zu<br />
einer Konfiskationspolitik. Die einzigen Aufgaben, die sie sich noch stellt,<br />
sind möglichst durchgreifen<strong>de</strong> Erfassung und Wegsteuerung je<strong>de</strong>r Art von<br />
Besitzeinkommen und Vermögen, wobei in <strong>de</strong>r Regel das mobile Kapital<br />
schärfer behan<strong>de</strong>lt wird als das Grun<strong>de</strong>igentum. Die Steuerpolitik wird<br />
zum bevorzugten Mittel <strong>de</strong>s Interventionismus. Steuergesetze wer<strong>de</strong>n<br />
nicht mehr ausschließlich o<strong>de</strong>r vorwiegend zum Zwecke <strong>de</strong>r Erhöhung <strong>de</strong>r<br />
Staatseinkünfte erlassen; sie sollen neben <strong>de</strong>m fiskalischen Erfolg noch<br />
an<strong>de</strong>ren Zielen dienen. Mitunter tritt <strong>de</strong>r finanzpolitische Gesichtspunkt<br />
ganz in <strong>de</strong>n Hintergrund; die Steuer hat nur an<strong>de</strong>rweitige Aufgaben zu<br />
erfüllen. Es wer<strong>de</strong>n Steuern ausgeschrieben, die als Strafen für als<br />
schädlich angesehenes Han<strong>de</strong>ln erscheinen; die Warenhaussteuer soll <strong>de</strong>n<br />
Warenhäusern <strong>de</strong>n Wettbewerb mit <strong>de</strong>n kleinen Lä<strong>de</strong>n erschweren, die<br />
Börsenverkehrssteuern sollen die Spekulation hemmen. Die Abgaben<br />
wer<strong>de</strong>n so zahlreich und mannigfaltig, daß bei allen geschäftlichen<br />
Verän<strong>de</strong>rungen in erster Reihe auf die steuerrechtlichen Folgen geachtet<br />
wer<strong>de</strong>n muß. Zahlreiche wirtschaftliche Möglichkeiten müssen brach<br />
liegen gelassen wer<strong>de</strong>n, weil ihre Ausnützung die Steuerbelastung so<br />
erhöhen wür<strong>de</strong>, daß sie unrentabel wer<strong>de</strong>n müßten. So sind Errichtung,<br />
Betrieb, Verschmelzung und Auflösung von Aktiengesellschaften in<br />
vielen Staaten in solchem Maße durch hohe Abgaben erschwert, daß die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Aktienwesens in stärkster Weise gehemmt wur<strong>de</strong>.<br />
Nichts kann einen Demagogen heute volkstümlicher machen, als wenn<br />
er immer wie<strong>de</strong>r scharfe Steuern gegen die Reichen for<strong>de</strong>rt. Vermögensabgaben<br />
und hohe Einkommensteuern für die größeren Einkommen sind<br />
bei <strong>de</strong>n Massen, die sie nicht zu entrichten haben, ganz außeror<strong>de</strong>ntlich<br />
beliebt. Mit wahrer Wollust gehen dann die mit <strong>de</strong>r Bemessung und<br />
Eintreibung betrauten Beamten daran, die Abgabepflichtigen zur Abstattung<br />
zu verhalten; unermüdlich sind sie darauf bedacht, durch Kunstgriffe<br />
<strong>de</strong>r juristischen Auslegung <strong>de</strong>n Umfang <strong>de</strong>r Leistungspflicht zu erweitern.<br />
Die <strong>de</strong>struktionistische Steuerpolitik gipfelt in <strong>de</strong>n großen Vermögensabgaben.<br />
Vermögensteile wer<strong>de</strong>n enteignet, um aufgezehrt
483<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Kapital wird in Gebrauchsgüter und Verbrauchsgüter<br />
umgewan<strong>de</strong>lt. Hier ist die Wirkung nicht leicht zu verkennen. Doch die<br />
ganze volkstümliche Steuerpolitik unserer Tage führt zu <strong>de</strong>mselben<br />
Erfolg.<br />
In <strong>de</strong>r Rechtsform <strong>de</strong>r Steuererhebung durchgeführte Vermögenseinziehungen<br />
sind kein Sozialismus und auch nicht das Mittel, um <strong>de</strong>n<br />
Sozialismus herbeizuführen. Sie führen nicht zur Vergesellschaftung <strong>de</strong>r<br />
Produktionsmittel zum Zwecke gemeinwirtschaftlicher Produktion,<br />
son<strong>de</strong>rn zur Kapitalsaufzehrung. Nur wenn sie in <strong>de</strong>n Rahmen eines<br />
sozialistischen Systems eingefügt wer<strong>de</strong>n, das Namen und Form <strong>de</strong>s<br />
Son<strong>de</strong>reigentums beibehält, sind sie ein Stück Sozialismus. So haben sie<br />
im „Kriegssozialismus“ die Ergänzung zur Zwangswirtschaft gebil<strong>de</strong>t und<br />
mit ihr zusammen <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s Systems als eines sich nach <strong>de</strong>m<br />
Sozialismus hin entwickeln<strong>de</strong>n bestimmt. 1 In einem sozialistischen<br />
System, das das Eigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln auch formell<br />
vergesellschaftet, gibt es begrifflich überhaupt keine Steuern mehr, die<br />
vom Besitz o<strong>de</strong>r vom Besitzeinkommen getragen wer<strong>de</strong>n. Wenn das<br />
sozialistische Gemeinwesen von <strong>de</strong>n Genossen Abgaben einhebt, ist das<br />
für <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r Verfügung über die Produktionsmittel ohne<br />
Be<strong>de</strong>utung.<br />
Marx hat sich sehr abfällig über die Bestrebungen ausgesprochen, die<br />
Gesellschaftsordnung durch steuerpolitische Maßnahmen än<strong>de</strong>rn zu<br />
wollen. Er hat scharf hervorgehoben, daß Sozialismus nicht durch Steuerreform<br />
allein ersetzt wer<strong>de</strong>n könne, und daß ein sozialistisches<br />
Gemeinwesen keine Steuern kenne. 2 Er hat auch über die Wirkungen <strong>de</strong>r<br />
Steuern im Rahmen <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung an<strong>de</strong>rs<br />
gedacht als die Vulgärsozialisten. Er meinte gelegentlich, es sei „wahrhaft<br />
absurd“, zu behaupten, daß „die Einkommensteuer die Arbeiter nicht<br />
berühre. In unserer jetzigen Gesellschaftsordnung, wo sich Unternehmer<br />
und Arbeiter gegenüber stehen, hält sich die Bourgeoisie meist für eine<br />
höhere Besteuerung dadurch schadlos, daß sie die Löhne herabsetzt o<strong>de</strong>r<br />
die Preise erhöht.“ 3 Doch schon das Kommunistische Manifest for<strong>de</strong>rt<br />
„starke Progressivsteuer“, und die sozial<strong>de</strong>mokratische Partei ist immer<br />
für<br />
1 Vgl. meine Ausführungen in „Nation, Staat und Wirtschaft“, a. a. O., S. 134 ff .<br />
2 Vgl. Mengelberg, Die Finanzpolitik <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratiscben Partei in ihren<br />
Zusammenhängen mit <strong>de</strong>m sozialistischen Staatsgedanken, Mannheim 1919, S. 30 f.<br />
3 Vgl. Marx-Engels, Gesammelte Schriften 1852-1862, herg. v. Rjasanoff, Stuttgart<br />
1917, I. Bd., S. 127.
484<br />
die radikalsten steuerpolitischen For<strong>de</strong>rungen eingetreten. Sie hat sich<br />
auch auf <strong>de</strong>m Gebiete <strong>de</strong>r Steuerpolitik notwendigerweise zum Destruktionismus<br />
hin entwickelt.<br />
§ 7. Das letzte Wort <strong>de</strong>s Destruktionismus ist die Inflation. Die<br />
Bolschewiken haben in <strong>de</strong>r unübertrefflichen Weise, in <strong>de</strong>r sie es verstehen,<br />
ihr Ressentiment zu rationalisieren und ihre Nie<strong>de</strong>rlagen in Siege<br />
umzu<strong>de</strong>uten, <strong>de</strong>n Versuch gemacht, ihre Finanzpolitik als Bemühen<br />
hinzustellen, <strong>de</strong>n Kapitalismus durch Vernichtung <strong>de</strong>r Einrichtung <strong>de</strong>s<br />
Gel<strong>de</strong>s abzuschaffen. Doch die Inflation zerstört zwar <strong>de</strong>n Kapitalismus,<br />
doch sie hebt das Son<strong>de</strong>reigentum nicht auf. Sie bringt große Vermögenund<br />
Einkommensverschiebungen mit sich, sie kann <strong>de</strong>n ganzen<br />
feingeglie<strong>de</strong>rten Apparat <strong>de</strong>r arbeitsteiligen Produktion zerschlagen, sie<br />
kann, wenn es nicht gelingt, <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>s metallischen Sachgel<strong>de</strong>s<br />
o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st Tauschhan<strong>de</strong>l aufrecht zu halten, <strong>de</strong>n Rückfall in<br />
tauschlose Wirtschaft herbeiführen. Sie kann sehr viel zerstören, sie kann<br />
aber das Son<strong>de</strong>reigentum nicht aufheben. Und sie kann ganz gewiß nichts<br />
aufbauen, auch nicht eine sozialistische Gesellschaftsordnung.<br />
In<strong>de</strong>m die Inflation die Grundlage <strong>de</strong>r Wertrechnung, die Möglichkeit,<br />
mit einem min<strong>de</strong>stens für kurze Zeiträume im Werte nicht allzu stark<br />
schwanken<strong>de</strong>n allgemeinen Nenner <strong>de</strong>r Preise zu rechnen, zerstört,<br />
erschüttert sie die Geldrechnung und damit das wichtigste <strong>de</strong>nktechnische<br />
Hilfsmittel <strong>de</strong>r Wirtschaft. Solange sie sich noch in gewissen Grenzen<br />
hält, ist sie eine vortreffliche psychologische Stütze einer vom Verzehren<br />
<strong>de</strong>s Kapitals leben<strong>de</strong>n Wirtschaftspolitik. Bei <strong>de</strong>r üblichen und allein<br />
möglichen Art <strong>de</strong>r kapitalistischen Buchführung täuscht sie günstige<br />
Ergebnisse vor, wo Verluste vorliegen. In<strong>de</strong>m die Abschreibungen <strong>de</strong>s<br />
stehen<strong>de</strong>n Kapitals zu klein angesetzt wer<strong>de</strong>n, weil man von <strong>de</strong>r<br />
Nominalsumme <strong>de</strong>s seinerzeitigen Anschaffungswertes ausgeht, und die<br />
scheinbaren Werterhöhungen, die sich am umlaufen<strong>de</strong>n Kapital ergeben,<br />
so gebucht wer<strong>de</strong>n, als ob sie wirkliche Werterhöhungen wären, wer<strong>de</strong>n<br />
Gewinne ausgewiesen, wo eine Rechnung in einer stabilen Währung<br />
Verluste aufweisen wür<strong>de</strong>. 1 Damit gelingt es zwar nicht, die Folgen übler<br />
etatistischer Politik, von Krieg und Revolution zu beseitigen, wohl aber<br />
sie <strong>de</strong>m Auge <strong>de</strong>r großen Menge zu entziehen. Man spricht von<br />
Gewinnen, man glaubt in einer Zeit wirtschaftlichen Aufschwunges<br />
1 Vgl. meine Ausführungen in „Nation, Staat und Wirtschaft“, a. a. O., S. 129 ff.<br />
Seither ist eine ganze Anzahl Schriften erschienen, die sich mit <strong>de</strong>m Gegenstan<strong>de</strong><br />
befassen.
485<br />
zu leben, man preist am En<strong>de</strong> gar die weise Politik, die alle reicher zu<br />
machen scheint.<br />
Wenn aber die Inflation ein gewisses Maß überschreitet, dann än<strong>de</strong>rt<br />
sich das Bild. Sie för<strong>de</strong>rt dann die Destruktion nicht nur mittelbar, in<strong>de</strong>m<br />
sie die Folgen <strong>de</strong>struktionistischer Politik verhüllt; sie wird selbst zu<br />
einem <strong>de</strong>r wichtigsten Werkzeuge <strong>de</strong>s Destruktionismus. Sie verleitet<br />
je<strong>de</strong>rmann zur Aufzehrung seines Vermögens; sie hemmt das Sparen und<br />
damit die Neubildung von Kapital. Sie för<strong>de</strong>rt die konfiskatorische Steuerpolitik.<br />
Die durch die Gel<strong>de</strong>ntwertung ausgelösten Erhöhungen <strong>de</strong>s Geldausdruckes<br />
<strong>de</strong>r Sachwerte und ihre Rückwirkung auf die buchmäßige<br />
Berechnung <strong>de</strong>r Kapitalsverän<strong>de</strong>rungen wer<strong>de</strong>n, vom Steuerrecht als<br />
Einkommens- und Vermögensvermehrung angesehen, zu einem neuen<br />
Rechtstitel für die Einziehung eines Teiles <strong>de</strong>s Vermögens <strong>de</strong>r Eigentümer.<br />
Der Hinweis auf die hohen Scheingewinne, die man <strong>de</strong>n<br />
Unternehmern nachzuweisen vermag, wenn man für die Rechnung von<br />
<strong>de</strong>r Annahme <strong>de</strong>r Wertbeständigkeit <strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s ausgeht, bil<strong>de</strong>t ein ganz<br />
vortreffliches Mittel zur Entfachung <strong>de</strong>r Volkslei<strong>de</strong>nschaften. Damit<br />
vermag man unschwer alle Unternehmertätigkeit als „Schieberei“, als<br />
Schwin<strong>de</strong>l und Schmarotzertum, hinzustellen. Und wenn dann schließlich<br />
das Geldwesen durch die hemmungslose, lawinenartig anschwellen<strong>de</strong><br />
Neuausgabe von Noten ganz zusammenbricht, dann bietet das Chaos die<br />
günstigste Gelegenheit, um das Werk <strong>de</strong>r Zerstörung zu vollen<strong>de</strong>n.<br />
§ 8. Der Sozialismus hat die Zerstörung <strong>de</strong>r Gesellschaft nicht bewußt<br />
gewollt. Er dachte eine höhere Gesellschaftsform zu schaffen. Doch weil<br />
sozialistische Gesellschaft nicht möglich ist, muß je<strong>de</strong>r Schritt, <strong>de</strong>r sie<br />
herbeiführen will, gesellschaftsvernichtend wirken.<br />
Daß je<strong>de</strong> sozialistische Politik notwendig in Destruktionismus<br />
umschlagen muß, tritt am klarsten in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s marxistischen<br />
Sozialismus zutage. Der Marxismus hatte <strong>de</strong>n Kapitalismus als unvermeidliche<br />
Vorstufe <strong>de</strong>s Sozialismus bezeichnet und erwartete das<br />
Kommen <strong>de</strong>r neuen Gesellschaft nur als Folge <strong>de</strong>r Reife <strong>de</strong>s Kapitalismus.<br />
Stellt man sich auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n dieses Teiles <strong>de</strong>r Lehre von Marx - neben<br />
<strong>de</strong>m er freilich noch ganz an<strong>de</strong>re, schlechterdings unvereinbare Theorien<br />
vorgetragen hat - dann erscheint die ganze Politik aller sich auf Marx<br />
berufen<strong>de</strong>n Parteien durchaus unmarxistisch. Die Marxisten hätten alles<br />
bekämpfen müssen, was die Entwicklung <strong>de</strong>s Kapitalismus irgendwie<br />
behin<strong>de</strong>rn könnte. Sie hätten gegen die Gewerkschaften und ihre<br />
Kampfesweise, gegen Arbeiterschutzgesetze, gegen die Sozialversicherung,<br />
gegen Besitzsteuern
486<br />
auftreten müssen; sie hätten die börsenfeindliche Gesetzgebung, die<br />
Preistaxen, die kartell- und trustfeindliche Politik, sie hätten <strong>de</strong>n Inflationismus<br />
bekämpfen müssen. Sie haben von alle<strong>de</strong>m das Gegenteil getan<br />
und sich damit begnügt, von Zeit zu Zeit Marx’s abfällige Urteile über die<br />
„kleinbürgerliche“ Politik zu wie<strong>de</strong>rholen, ohne aber daraus die<br />
Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Politik <strong>de</strong>r Sozialisten, die sich in ihren<br />
Anfängen scharf von <strong>de</strong>r jener Parteien unterschei<strong>de</strong>n wollte, die das<br />
vorkapitalistische Wirtschaftsi<strong>de</strong>al verherrlichen. ist zum Schlusse auf<br />
<strong>de</strong>nselben Standpunkt gelangt, <strong>de</strong>n jene eingenommen haben.<br />
III.<br />
Die Überwindung <strong>de</strong>s Destruktionismus.<br />
§ 1. Für Marx ist die politische Stellung <strong>de</strong>s Einzelnen durch seine<br />
Klassenzugehörigkeit, die politische Stellung <strong>de</strong>r Klassen durch das<br />
Klasseninteresse bedingt. Die Bourgeoisie ist genötigt, für <strong>de</strong>n Kapitalismus<br />
einzutreten. Umgekehrt kann das Proletariat sein Klasseninteresse,<br />
die Befreiung von <strong>de</strong>r kapitalistischen Ausbeutung, nicht an<strong>de</strong>rs verfolgen<br />
als durch die Anbahnung <strong>de</strong>r sozialistischen Produktionsweise. Damit ist<br />
die Stellung, die Bürgertum und Proletariat im politischen Kampf einnehmen<br />
müssen, gegeben. Kaum eine zweite <strong>de</strong>r Lehren von Marx hat so<br />
tief und nachhaltig auf die politische Theorie gewirkt wie diese. Weit über<br />
die Kreise <strong>de</strong>s Marxismus hinaus hat sie sich Geltung zu verschaffen<br />
gewußt. Man hat sich allgemein daran gewöhnt, im Liberalismus die<br />
Lehre zu erblicken, in <strong>de</strong>r die Klasseninteressen <strong>de</strong>r Bourgeoisie und <strong>de</strong>r<br />
Großkapitalisten ihren Ausdruck gefun<strong>de</strong>n hätten. Wer liberale Anschauungen<br />
äußert, sei ein mehr o<strong>de</strong>r weniger gutgläubiger Vertreter von<br />
Son<strong>de</strong>rinteressen, die <strong>de</strong>m allgemeinen Wohle entgegenstehen. Nationalökonomen,<br />
die die marxistische Wertlehre ablehnen, wer<strong>de</strong>n als „geistige<br />
Leibgar<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kapitalprofits - mitunter auch <strong>de</strong>r Grundrente“ bezeichnet, 1<br />
ein Standpunkt, <strong>de</strong>r allerdings außeror<strong>de</strong>ntlich bequem ist, weil er <strong>de</strong>r<br />
Mühe, sich kritisch mit ihnen auseinan<strong>de</strong>rzusetzen, auf die einfachste Art<br />
enthebt.<br />
Durch nichts kann die allgemeine Anerkennung, die diese Auffassung<br />
<strong>de</strong>r Marxisten gefun<strong>de</strong>n hat, besser gekennzeichnet wer<strong>de</strong>n<br />
1 So von Kautsky (zitiert bei Georg Adler, Die Grundlagen <strong>de</strong>r Karl Marxschen Kritik<br />
<strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Volkswirtschaft, Tübingen 1887, S. VII).
487<br />
als durch die Tatsache, daß auch die Gegner <strong>de</strong>s Sozialismus sie sich ganz<br />
zu eigen gemacht haben. Wenn man verkün<strong>de</strong>t, daß die Abwehr <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Bestrebungen vor allem o<strong>de</strong>r gar ausschließlich Sache <strong>de</strong>s<br />
Bürgertums sei, und wenn man eine Einheitsfront aller „bürgerlichen“<br />
Parteien gegen <strong>de</strong>n Sozialismus zu bil<strong>de</strong>n versucht, hat man zugegeben,<br />
daß die Verteidigung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln das<br />
Son<strong>de</strong>rinteresse einer bestimmten Klasse sei, das sich <strong>de</strong>m allgemeinen<br />
Besten entgegenstelle. Daß ein Kampf einer immerhin im Vergleich mit<br />
<strong>de</strong>r großen Masse <strong>de</strong>r Wenigerbesitzen<strong>de</strong>n kleinen Schichte für ihr<br />
Son<strong>de</strong>rinteresse aussichtslos sein müßte, und daß das Urteil über das<br />
Son<strong>de</strong>reigentum gesprochen ist, wenn man es als ein Privileg <strong>de</strong>r<br />
Besitzen<strong>de</strong>n ansieht, scheinen diese merkwürdig kurzsichtigen Gegner <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus gar nicht zu bemerken. Noch weniger sind sie imstan<strong>de</strong>, zu<br />
sehen, wie sehr die Parteigestaltungen ihrer Annahme wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
Der Liberalismus tritt nicht als eine <strong>de</strong>m Klasseninteresse <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n<br />
dienen<strong>de</strong> Lehre auf. Wer ihn so auffaßt, hat von vornherein <strong>de</strong>m<br />
Hauptgedanken <strong>de</strong>s Sozialismus zugestimmt; für einen Liberalen darf er<br />
sich nicht halten. Der Liberalismus verlangt Son<strong>de</strong>reigentum nicht im<br />
Interesse <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn im allgemeinen Interesse; er geht<br />
davon aus, daß die Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
nicht nur im Interesse <strong>de</strong>r Besitzen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn im Interesse aller<br />
Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft gelegen sei. Im sozialistischen Gemeinwesen<br />
wer<strong>de</strong> es wohl keine o<strong>de</strong>r nur geringe Ungleichheit in <strong>de</strong>r Einkommensverteilung<br />
geben. Da aber wegen <strong>de</strong>r geringeren Ergiebigkeit <strong>de</strong>r<br />
sozialistischen Produktion die Summe <strong>de</strong>ssen, was zu verteilen ist,<br />
be<strong>de</strong>utend kleiner sein wer<strong>de</strong>, wer<strong>de</strong> auf je<strong>de</strong>n einzelnen weniger<br />
entfallen, als jetzt auch <strong>de</strong>m Ärmsten zukommt. Ob man diese Argumentation<br />
für richtig ansieht o<strong>de</strong>r nicht, ist eine an<strong>de</strong>re Frage. Doch darum<br />
eben han<strong>de</strong>lt es sich beim Streit zwischen Sozialismus und Liberalismus.<br />
Wer sie von vornherein ablehnt, hat damit auch schon <strong>de</strong>n Liberalismus<br />
abgelehnt. Es geht aber keineswegs an, das ohne je<strong>de</strong>s Eingehen in die<br />
Probleme und in die Argumentation <strong>de</strong>r Parteien selbst zu tun.<br />
In <strong>de</strong>r Tat liegt nichts <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Interessen und Aufgaben<br />
einzelner Unternehmer o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s ganzen Unternehmertums ferner als die<br />
grundsätzliche Verteidigung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums und die grundsätzliche<br />
Bekämpfung <strong>de</strong>r sozialistischen Bestrebungen.
488<br />
Daß die volle Durchführung <strong>de</strong>s Sozialismus, in<strong>de</strong>m sie alle schädigt,<br />
auch diejenigen Personen, die heute Unternehmer sind, falls sie diesen<br />
Tag erleben sollten, o<strong>de</strong>r ihre Nachkommen schädigen wird, kann nicht<br />
bestreiten, wer von <strong>de</strong>r sozialistischen Gesellschaftsordnung Not und<br />
Elend für alle erwartet. Insofern also haben auch die Unternehmer ein<br />
brennen<strong>de</strong>s Interesse an <strong>de</strong>r Bekämpfung <strong>de</strong>s Sozialismus; doch dieses<br />
Interesse ist um nichts größer als das irgendwelcher an<strong>de</strong>rer Mitglie<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft und ist ganz unabhängig von ihrer Stellung als<br />
Unternehmer. Wür<strong>de</strong> die Möglichkeit bestehen, daß die sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung über Nacht eingeführt wird, dann könnte man noch<br />
allenfalls sagen, daß das Interesse jener, die heute Unternehmer o<strong>de</strong>r<br />
Kapitalisten sind, an <strong>de</strong>r Erhaltung <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
ein größeres sei, weil sie mehr zu verlieren hätten als die an<strong>de</strong>ren.<br />
Wenn auch das Elend, das alle zu erwarten haben, dasselbe sei, so müßten<br />
doch diejenigen mehr darunter lei<strong>de</strong>n, die von einem höheren Wohlstand<br />
hinabgestürzt wür<strong>de</strong>n. Doch die Möglichkeit, daß <strong>de</strong>r Sozialismus so<br />
schnell durchgeführt wird, besteht nicht, und bestün<strong>de</strong> sie, so wür<strong>de</strong>n die<br />
gegenwärtigen Unternehmer wohl noch zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>r ersten Zeit<br />
infolge ihrer Fachkenntnis und Eignung zur Bekleidung wichtigerer Stellen<br />
eine bevorzugte Stellung innerhalb <strong>de</strong>s sozialistischen Gemeinwesens<br />
einnehmen.<br />
Für entfernte Enkel Sorge zu tragen, ist <strong>de</strong>m Unternehmer nicht<br />
möglich. Denn das ist die charakteristische Eigentümlichkeit <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln in <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung,<br />
daß es keinen ewigen Rentenfonds bil<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn immer wie<strong>de</strong>r<br />
neu erworben wer<strong>de</strong>n muß. Der Grundherr <strong>de</strong>r feudalen Gesellschaft<br />
schützt, wenn er für die Aufrechterhaltung <strong>de</strong>s Feudaleigentums eintritt,<br />
nicht nur seinen eigenen Besitz, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n seiner Enkel und<br />
Urenkel. Der Unternehmer <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung weiß<br />
wohl, daß seine Kin<strong>de</strong>r und Kin<strong>de</strong>skin<strong>de</strong>r sich neu auftreten<strong>de</strong>r<br />
Konkurrenten nur dann wer<strong>de</strong>n erwehren können, wenn sie selbst<br />
imstan<strong>de</strong> sind, sich in <strong>de</strong>r Stellung von Produktionsleitern zu behaupten.<br />
Denkt er an das Schicksal seiner Nachkommen und will er sie gegen das<br />
Interesse <strong>de</strong>r Gesamtheit in ihrem Besitz sichern und befestigen, dann<br />
muß er sich in einen Gegner <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung<br />
verwan<strong>de</strong>ln und Konkurrenzbeschränkungen je<strong>de</strong>r Art for<strong>de</strong>rn. Auch <strong>de</strong>r<br />
Weg zum Sozialismus kann ihm als ein hierzu geeignetes Mittel<br />
erscheinen, falls <strong>de</strong>r Übergang sich nicht allzu schroff vollzieht; <strong>de</strong>nn<br />
dann ist
489<br />
zu erwarten, daß die Enteignung gegen Entschädigung platzgreift und <strong>de</strong>n<br />
enteigneten Besitzern für kürzere o<strong>de</strong>r längere Zeit <strong>de</strong>r Genuß einer<br />
sicheren Rente zugestan<strong>de</strong>n wird, für die sie das unsichere und ungewisse<br />
Schicksal <strong>de</strong>s Besitzers einer Unternehmung hingeben. Gera<strong>de</strong> die Rücksichtnahme<br />
auf seine eigenen und seiner Nachkommen Besitzinteressen<br />
mögen also beim Unternehmer eher für eine Unterstützung <strong>de</strong>nn für eine<br />
Bekämpfung <strong>de</strong>s Sozialismus sprechen. Alle jene Bestrebungen, die dahin<br />
abzielen, die neu entstehen<strong>de</strong>n und neu wachsen<strong>de</strong>n Vermögen zu<br />
bekämpfen, als da sind Wert- und Vermögenszuwachssteuern je<strong>de</strong>r Art,<br />
Maßnahmen zur Beschränkung <strong>de</strong>r Wirtschaftsfreiheit u. dgl. m. müssen<br />
seinen beson<strong>de</strong>ren Beifall fin<strong>de</strong>n, weil sie ihm das Einkommen, das er<br />
sich täglich neu im Kampfe erwerben muß, rentenmäßig sichern und die<br />
ungestüm nachdrängen<strong>de</strong>n neuen Mitbewerber ausschalten.<br />
Die Unternehmer haben ein Interesse daran, sich zusammenzuschließen,<br />
um in Lohnverhandlungen mit <strong>de</strong>r gewerkschaftlich organisierten<br />
Arbeiterschaft einheitlich vorgehen zu können. Sie haben ein<br />
Interesse daran, sich zusammenzuschließen, um Zoll- und an<strong>de</strong>re<br />
Beschränkungen, die mit <strong>de</strong>m Wesen und <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s Liberalismus<br />
im schroffen Gegensatz stehen, durchzusetzen o<strong>de</strong>r ähnliche Eingriffe, die<br />
ihnen scha<strong>de</strong>n könnten, abzuwehren. Aber sie haben gar kein beson<strong>de</strong>res<br />
Interesse daran, <strong>de</strong>n Sozialismus und die Sozialisierung als solche und<br />
damit <strong>de</strong>n Destruktionismus zu bekämpfen. Das Wesen <strong>de</strong>s Unternehmers<br />
verlangt es, daß er sich immer <strong>de</strong>n jeweiligen Bedingungen <strong>de</strong>r Wirtschaft<br />
anpaßt. Nicht <strong>de</strong>n Sozialismus zu bekämpfen, son<strong>de</strong>rn sich <strong>de</strong>n durch die<br />
zum Sozialismus hinstreben<strong>de</strong> Politik geschaffenen Bedingungen anzupassen,<br />
ist, was <strong>de</strong>r Unternehmer anstrebt. Niemals kann man von <strong>de</strong>n<br />
Unternehmern o<strong>de</strong>r von irgen<strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren beson<strong>de</strong>ren Gruppe <strong>de</strong>r<br />
Bevölkerung erwarten, daß sie aus Son<strong>de</strong>rinteresse irgen<strong>de</strong>in allgemeines<br />
Prinzip <strong>de</strong>r Wohlfahrt zu ihrer eigenen Maxime machen. Die Notwendigkeit,<br />
in die sie das Leben hineinstellt, zwingt sie, sich mit <strong>de</strong>n gegebenen<br />
Verhältnissen abzufin<strong>de</strong>n und aus ihnen das zu machen, was möglich ist.<br />
Es ist nicht Sache <strong>de</strong>s Unternehmers, <strong>de</strong>n politischen Kampf gegen <strong>de</strong>n<br />
Sozialismus zu führen; er trachtet, sich und sein Unternehmen <strong>de</strong>n durch<br />
die auf <strong>de</strong>n Sozialismus hinzielen<strong>de</strong>n Maßnahmen geschaffenen Verhältnissen<br />
<strong>de</strong>rart anzupassen, daß für sein Unternehmen unter <strong>de</strong>n gegebenen<br />
Verhältnissen <strong>de</strong>r größte Gewinn herausgeschlagen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Darum sind <strong>de</strong>nn auch die Vereinigungen von Unternehmern
490<br />
o<strong>de</strong>r solche Organisationen, bei <strong>de</strong>nen die Unterstützung <strong>de</strong>r Unternehmer<br />
irgendwelche Rolle spielt, nicht geneigt, prinzipiell <strong>de</strong>n Kampf gegen <strong>de</strong>n<br />
Sozialismus durchzuführen. Der Unternehmer, <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Augenblick<br />
ergreift, hat wenig Interesse für die Austragung eines säkularen<br />
Kampfes. Ihm kommt es darauf an, sich <strong>de</strong>n augenblicklichen Verhältnissen<br />
anzupassen. Die Organisation <strong>de</strong>r Unternehmer hat immer nur<br />
unmittelbare Abwehr einzelner Übergriffe <strong>de</strong>r Arbeiterverbän<strong>de</strong> zum Ziel,<br />
sie bekämpft etwa auch noch einzelne Maßnahmen <strong>de</strong>r Gesetzgebung, wie<br />
zum Beispiel einzelne Steuervorlagen; sie erfüllt überdies alle jene<br />
Aufgaben, die ihr von <strong>de</strong>r Gesetzgebung und Verwaltung dort übertragen<br />
wer<strong>de</strong>n, wo, um <strong>de</strong>r <strong>de</strong>struktionistischen Arbeiterbewegung einen Einfluß<br />
auf die Wirtschaft zu geben, die organisierte Unternehmerschaft mit <strong>de</strong>r<br />
organisierten Arbeiterschaft zusammenzuwirken hat. Den grundsätzlichen<br />
Kampf für die Beibehaltung <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Wirtschaftsverfassung zu führen, liegt ihr<br />
fern. Sie steht <strong>de</strong>m Liberalismus ganz gleichgültig gegenüber, wenn sie<br />
ihn nicht überhaupt, zum Beispiel weil sie Schutzzölle wünscht, offen<br />
bekämpft.<br />
Dem Bil<strong>de</strong>, das sich die sozialistische Lehre von <strong>de</strong>r Interessentenorganisation<br />
macht, entsprechen nicht die Unternehmerverbän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />
die Vereinigungen von Landwirten, die für Zölle auf landwirtschaftliche<br />
Produkte eintreten, o<strong>de</strong>r die Vereinigungen von Kleingewerbetreiben<strong>de</strong>n,<br />
die - wie vor allem in Österreich - für die Ausschaltung <strong>de</strong>r Konkurrenz<br />
kämpfen. Daß dies keine Kämpfe für <strong>de</strong>n Liberalismus sind, ist klar.<br />
Es gibt keine Einzelnen und keine Klassen, <strong>de</strong>ren Son<strong>de</strong>rinteressen für<br />
<strong>de</strong>n Kapitalismus sprechen wür<strong>de</strong>n. Der Liberalismus ist die Politik <strong>de</strong>s<br />
allgemeinen Besten, die Überwindung <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rinteressen durch das<br />
allgemeine Interesse, eine Überwindung, die freilich vom Einzelnen nicht<br />
Verzicht auf seine Son<strong>de</strong>rinteressen, son<strong>de</strong>rn lediglich Einsicht in die<br />
Harmonie aller Einzelinteressen verlangt. Es gibt daher keine Einzelnen<br />
und keine Gruppen, <strong>de</strong>ren Interesse in letzter Linie durch <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
besser gewahrt wer<strong>de</strong>n könnte als durch die auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an<br />
<strong>de</strong>n Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong> Gesellschaftsverfassung.<br />
Aber wenn es auch niemand gibt, <strong>de</strong>r in letzter Linie an <strong>de</strong>r<br />
Verwirklichung <strong>de</strong>s Sozialismus wirklich interessiert ist, so gibt es doch<br />
genug Leute, <strong>de</strong>ren augenblickliches Son<strong>de</strong>rinteresse durch die auf die<br />
Herbeiführung <strong>de</strong>s Sozialismus gerichtete Politik besser gewahrt
491<br />
wird als durch das Festhalten am Liberalismus. Der Liberalismus hat alles<br />
Sinekurenwesen bekämpft und danach getrachtet, die Zahl <strong>de</strong>r öffentlichen<br />
Angestellten auf das geringste Maß herabzusetzen. Die interventionistische<br />
Politik schafft tausen<strong>de</strong> und tausen<strong>de</strong> von Stellen, auf <strong>de</strong>nen es sich<br />
auf Kosten <strong>de</strong>r übrigen Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gesellschaft sicher, ruhig und ohne<br />
allzuviel Arbeit leben läßt. Je<strong>de</strong> Verstaatlichung, je<strong>de</strong> Einrichtung eines<br />
städtischen o<strong>de</strong>r eines gemischtwirtschaftlichen Betriebes knüpft Interessen<br />
an die das Son<strong>de</strong>reigentum bekämpfen<strong>de</strong> Bewegung. Sozialismus und<br />
Destruktionismus fin<strong>de</strong>n ihre stärkste Stütze heute in <strong>de</strong>n Millionen, für<br />
die Rückkehr zu freieren Wirtschaftsformen zunächst und unmittelbar<br />
eine Schädigung ihrer Son<strong>de</strong>rinteressen be<strong>de</strong>utet.<br />
§ 2. Die Auffassung, die in <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum ein Privileg <strong>de</strong>r<br />
Besitzer erblickt, ist ein Nachklang aus älteren Perio<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Geschichte<br />
<strong>de</strong>s Eigentums. Alles Eigentum ist durch Okkupation herrenloser Sachen<br />
begrün<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Die Geschichte <strong>de</strong>s Eigentums ist durch eine Perio<strong>de</strong><br />
durchgegangen, in <strong>de</strong>r gewaltsame Vertreibung alter Eigentümer die<br />
Regel bil<strong>de</strong>t. Man kann ruhig sagen, daß es kein Stück Grun<strong>de</strong>igentum<br />
gibt, das sich nicht auf eine gewaltsame Erwerbung zurückführen läßt. Für<br />
die kapitalistische Gesellschaftsordnung hat dies freilich keine Be<strong>de</strong>utung<br />
mehr, da hier das Eigentum immer wie<strong>de</strong>r im Produktionsprozeß neugewonnen<br />
wird. Aber da die liberalen Grundsätze - zumin<strong>de</strong>st in Europa -<br />
noch nirgends voll durchgeführt wur<strong>de</strong>n und überall noch, beson<strong>de</strong>rs im<br />
Grun<strong>de</strong>igentum, sehr viel vom alten feudalen Gewaltverhältnis übrig<br />
geblieben ist, so hat sich auch die Tradition <strong>de</strong>r feudalen Eigentümer<br />
lebendig erhalten. „Ich lieg und besitze.“ Der Kritik <strong>de</strong>s Eigentumrechtes<br />
wird durch gewaltsame Nie<strong>de</strong>rwerfung geantwortet. Das ist die Politik,<br />
die das <strong>de</strong>utsche Junkertum gegenüber <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokratie eingeschlagen<br />
hat; mit welchem Erfolge ist bekannt. 1<br />
Diese Richtung weiß zur Rechtfertigung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln nichts an<strong>de</strong>res anzuführen, als daß es eben durch<br />
Gewalt erhalten wird. Das Recht <strong>de</strong>s Stärkeren ist das einzige, was sie<br />
geltend zu machen wissen. Sie pochen auf die physische Gewalt, fühlen<br />
sich stark in ihrer Waffenrüstung und<br />
1 Dem Junker geht es gar nicht um die Erhaltung <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums als Verfügung<br />
über das Produktionsmittel, vielmehr um seine Erhaltung als Titel eines beson<strong>de</strong>ren<br />
Einkommensbezuges. Daher ist er für <strong>de</strong>n Staatssozialismus, <strong>de</strong>r ihm seinen privilegierten<br />
Einkommensbezug sichern will, leicht zu gewinnen gewesen.
492<br />
glauben, je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Argument verachten zu dürfen. Erst in <strong>de</strong>m<br />
Augenblick, in <strong>de</strong>m sie anfangen, sich schwach zu fühlen, holen sie noch<br />
ein weiteres Argument herbei, in<strong>de</strong>m sie sich auf <strong>de</strong>n Standpunkt <strong>de</strong>s<br />
erworbenen Rechtes stellen. Die Verletzung ihres Eigentums erscheint als<br />
Rechtsbruch, <strong>de</strong>r vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n soll. Über die Schwäche dieses<br />
Standpunktes gegenüber einer Richtung, die ein neues Recht begrün<strong>de</strong>n<br />
will, braucht kein Wort verloren zu wer<strong>de</strong>n. Er vermag die öffentliche<br />
Meinung, wenn sie das Eigentum verurteilt hat, nicht mehr umzustimmen.<br />
Das erkennen seine Nutznießer mit Entsetzen und wen<strong>de</strong>n sich in ihrer<br />
Not mit einem eigentümlichen Ansinnen an die Kirche. Sie soll die misera<br />
plebs in Beschei<strong>de</strong>nheit und Demut erhalten. Sie soll die Begehrlichkeit<br />
bekämpfen und die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>r Nichtbesitzen<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n<br />
irdischen Gütern auf die himmlischen Güter ablenken. 1 Dem Volke soll<br />
das Christentum erhalten bleiben, damit es nicht begehrlich wer<strong>de</strong>. Die<br />
Zumutung, die damit <strong>de</strong>r Religion gestellt wird, ist eine gera<strong>de</strong>zu<br />
ungeheuerliche. Es wird ihr die Aufgabe zugewiesen, <strong>de</strong>n - wie man<br />
glaubt - <strong>de</strong>r Gesamtheit schädlichen Son<strong>de</strong>rinteressen einer Anzahl von<br />
Privilegierten zu dienen. Daß die wahren Diener <strong>de</strong>r Kirche sich gegen<br />
diese Zumutung empört haben, und daß die Gegner <strong>de</strong>r Kirche in dieser<br />
Anschauung über die Funktion <strong>de</strong>r Kirche eine wirksame Waffe im<br />
Befreiungskampfe gegen die Kirche gefun<strong>de</strong>n haben, ist klar. Erstaunlich<br />
ist nur, daß auch kirchliche Gegner <strong>de</strong>s Sozialismus in ihrem Bestreben,<br />
<strong>de</strong>n Sozialismus möglichst als ein Kind <strong>de</strong>s Liberalismus, <strong>de</strong>r freien<br />
Schule und <strong>de</strong>s Atheismus darzustellen, zu <strong>de</strong>rselben Ansicht über die<br />
Aufgaben <strong>de</strong>r Kirche im Dienste <strong>de</strong>r Erhaltung <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n<br />
Eigentumsverhältnisse gelangt sind. So sagt <strong>de</strong>r Jesuit Cathrein: „Nimmt<br />
man einmal an, mit diesem Leben sei alles aus, <strong>de</strong>m Menschen sei kein<br />
an<strong>de</strong>res Los beschie<strong>de</strong>n als je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Säugetier, das im Schlamm<br />
herumwühlt; wer will dann von <strong>de</strong>n Armen und Bedrückten, <strong>de</strong>ren Leben<br />
ein beständiger Kampf ums Dasein ist, verlangen, daß sie mit Geduld und<br />
Ergebung ihr hartes Los tragen und ruhig zusehen, wie sich an<strong>de</strong>re stets in<br />
Sei<strong>de</strong> und Purpur klei<strong>de</strong>n und täglich reichliche Mahlzeit halten? Hat<br />
nicht auch <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>de</strong>n unzerstörbaren Trieb nach vollkommenem<br />
Glück in seinem Herzen? Wenn man ihm je<strong>de</strong> Hoffnung auf ein besseres<br />
Jenseits geraubt, mit welchem Recht will man ihn dann hin<strong>de</strong>rn,<br />
1 Das war zum Beispiel die Auffassung Bismarcks; vgl. seine Landtagsre<strong>de</strong> vom 15.<br />
Juni 1847 (Fürst Bismarcks Re<strong>de</strong>n, herg. v. Stein, I. Bd., S. 24).
493<br />
sein Glück nach Möglichkeit auf Er<strong>de</strong>n zu suchen und <strong>de</strong>shalb gebieterisch<br />
seinen Anteil an <strong>de</strong>n Er<strong>de</strong>ngütern zu verlangen? Ist er nicht<br />
ebensogut Mensch als <strong>de</strong>r Arbeitgeber? Warum sollen die einen in Not<br />
und Armut ihr Leben fristen, während die an<strong>de</strong>ren im Überfluß<br />
schwelgen, da doch alle dieselbe Natur haben und sich von ihrem<br />
Standpunkte kein Grund angeben läßt, warum die Güter dieser Er<strong>de</strong> mehr<br />
<strong>de</strong>n einen als <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren angehören sollten? Ist <strong>de</strong>r atheistischnaturalistische<br />
Standpunkt berechtigt, dann ist auch die For<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus begrün<strong>de</strong>t, daß die Güter und Freu<strong>de</strong>n dieser Er<strong>de</strong> allen<br />
möglichst gleichmäßig zugeteilt wer<strong>de</strong>n sollen, daß es verwerflich ist,<br />
wenn die einen in herrlichen Palästen wohnen und mühelos sich allen<br />
Genüssen hingeben können, während die an<strong>de</strong>ren in armseligen Kellerlöchern<br />
und Dachstübchen leben und trotz <strong>de</strong>r angestrengtesten Arbeit oft<br />
kaum das nötige tägliche Brot erwerben“. 1 Angenommen, es wäre<br />
wirklich so, wie Cathrein es sich vorstellt, daß das Son<strong>de</strong>reigentum ein<br />
Privileg <strong>de</strong>r Besitzer ist, daß das, um was sie mehr besitzen, die an<strong>de</strong>ren<br />
weniger besitzen, daß die einen darben, weil die an<strong>de</strong>ren prassen, daß sie<br />
in elen<strong>de</strong>n Kämmerchen wohnen, weil die an<strong>de</strong>ren in herrlichen Palästen<br />
wohnen, glaubt Cathrein, daß es die Aufgabe <strong>de</strong>r Kirche sein könnte,<br />
solche Zustän<strong>de</strong> zu erhalten? Was immer man auch aus <strong>de</strong>n Soziallehren<br />
<strong>de</strong>r Kirche herauslesen mag, läßt nicht dahin schließen, daß ihr Stifter<br />
o<strong>de</strong>r seine Nachfolger sie als eine Schutzwehr zur Erhaltung unbilliger<br />
und die größere Hälfte <strong>de</strong>r Menschheit offenbar benachteiligen<strong>de</strong>r<br />
Gesellschaftseinrichtungen gedacht haben könnten. Und längst schon<br />
wäre das Christentum von <strong>de</strong>r Erdoberfläche verschwun<strong>de</strong>n, wenn es das<br />
wäre, wofür mit vielen seiner erbittertsten Fein<strong>de</strong> es auch Bismarck und<br />
Cathrein gehalten haben: eine Schutzgar<strong>de</strong> einer die Massen schädigen<strong>de</strong>n<br />
Gesellschaftseinrichtung.<br />
Man kann die sozialistische I<strong>de</strong>e we<strong>de</strong>r durch Gewalt noch durch<br />
Autorität nie<strong>de</strong>rwerfen, weil Gewalt und Autorität beim Sozialismus sind<br />
und nicht bei seinen Gegnern. Wenn die Kanonen und die Maschinengewehre<br />
heute losgehen, dann arbeiten sie für Syndikalismus und<br />
Sozialismus und nicht gegen sie, weil die weitaus überwiegen<strong>de</strong> Menge<br />
<strong>de</strong>r Zeitgenossen vom Geiste <strong>de</strong>s Syndikalismus o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s<br />
Sozialismus erfüllt ist. Wenn heute eine Autorität aufgerichtet wer<strong>de</strong>n<br />
kann, so kann es gewiß nicht die <strong>de</strong>s Kapitalismus sein, weil die Massen<br />
an <strong>de</strong>n Kapitalismus nicht glauben.<br />
1 Vgl. Cathrein, Der Sozialismus, 12. u. 13. Aufl., Freiburg 1920, S. 347 f.
494<br />
§ 3. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, <strong>de</strong>r Sozialismus könnte durch<br />
die bösen Erfahrungen, die man mit ihm gemacht hat, überwun<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n. Tatsachen an sich können nichts beweisen o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rlegen; alles<br />
kommt auf die Deutung an, die man ihnen gibt. Von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en, von <strong>de</strong>n<br />
Theorien hängt alles ab.<br />
Wer am Sozialismus festhält, wird fortfahren, alles Übel <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>m<br />
Son<strong>de</strong>reigentum zuzuschreiben und alles Heil vom Sozialismus zu<br />
erwarten. Die Mißerfolge <strong>de</strong>s russischen Bolschewismus wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n<br />
Sozialisten allen an<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n zugeschrieben, nur nicht <strong>de</strong>r<br />
Unzulänglichkeit <strong>de</strong>s Systems. An allem Elend, das die Welt in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahren erdul<strong>de</strong>n mußte, ist nach Ansicht <strong>de</strong>r Sozialisten nur <strong>de</strong>r<br />
Kapitalismus schuld. Sie sehen nichts als das, was sie sehen wollen, und<br />
fin<strong>de</strong>n nichts, was ihrer Theorie wi<strong>de</strong>rsprechen könnte.<br />
I<strong>de</strong>en können nur durch I<strong>de</strong>en überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Den Sozialismus<br />
können nur die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Kapitalismus und <strong>de</strong>s Liberalismus überwin<strong>de</strong>n.<br />
Nur im Kampfe <strong>de</strong>r Geister kann die Entscheidung fallen.<br />
Liberalismus und Kapitalismus wen<strong>de</strong>n sich an <strong>de</strong>n kühlen, ruhig<br />
abwägen<strong>de</strong>n Verstand, sie gehen streng logisch vor, sie schalten mit<br />
Bewußtsein alles aus, was nur zum Gefühl spricht. An<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Sozialismus.<br />
Er sucht durch Gefühlseindrücke zu wirken, will die logische<br />
Erwägung durch Erregung <strong>de</strong>s Interesses vergewaltigen, die Stimme <strong>de</strong>r<br />
Vernunft durch Erweckung niedriger Instinkte übertönen. Das alles<br />
scheint <strong>de</strong>m Sozialismus schon bei <strong>de</strong>n geistig Höherstehen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n<br />
wenigen, die selbständigen Nach<strong>de</strong>nkens fähig sind, einen Vorsprung zu<br />
geben; bei <strong>de</strong>n übrigen, bei <strong>de</strong>r großen Masse, die nicht <strong>de</strong>nken kann,<br />
könne, meint man, seine Stellung überhaupt nicht erschüttert wer<strong>de</strong>n. Wer<br />
die Instinkte <strong>de</strong>r Massen aufpeitsche, habe immer mehr Aussicht auf<br />
Erfolg als <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r zu ihrem Verstand sprechen will. Die Aussichten <strong>de</strong>s<br />
Liberalismus, im Kampf mit <strong>de</strong>m Sozialismus zu bestehen, seien daher<br />
recht ungünstig.<br />
Diese pessimistische Auffassung geht jedoch in <strong>de</strong>r Beurteilung <strong>de</strong>s<br />
Einflusses, <strong>de</strong>n vernünftige und ruhige Überlegung auf die Massen auszuüben<br />
vermag, durchaus fehl; sie überschätzt auch ganz außeror<strong>de</strong>ntlich die<br />
Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>n Massen und mithin auch <strong>de</strong>n massenpsychologischen<br />
Elementen bei <strong>de</strong>r Bildung und Gestaltung <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en einer<br />
Zeit zukommt.<br />
Die Massen <strong>de</strong>nken nicht; das ist richtig. Doch gera<strong>de</strong> darum folgen sie<br />
jenen nach, die <strong>de</strong>nken. Die geistige Führung <strong>de</strong>r Menschheit
495<br />
haben die ganz wenigen, die selbst <strong>de</strong>nken; sie wirken zunächst auf <strong>de</strong>n<br />
Kreis <strong>de</strong>rer ein, die das von an<strong>de</strong>ren Gedachte zu fassen und zu begreifen<br />
fähig sind; auf <strong>de</strong>m Wege über diese Mittler gelangen die I<strong>de</strong>en in die<br />
Massen hinaus und verdichten sich dort zur Zeitmeinung. Nicht so ist <strong>de</strong>r<br />
Sozialismus zur herrschen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>e unserer Zeit gewor<strong>de</strong>n, daß die Massen<br />
<strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r Vergesellschaftung <strong>de</strong>r Produktionsmittel ersonnen und<br />
dann auf die geistig höherstehen<strong>de</strong>n Schichten übertragen hätten; solches<br />
wagt nicht einmal die materialistische Geschichtsauffassung zu behaupten,<br />
in <strong>de</strong>r doch genug vom Volksgeist <strong>de</strong>r Romantik und <strong>de</strong>r<br />
historischen Rechtsschule spukt. Die Massenpsyche hat aus sich selbst<br />
heraus nie etwas an<strong>de</strong>res hervorgebracht als das Massenverbrechen, als<br />
Verwüstung und Vernichtung. Der Gedanke <strong>de</strong>s Sozialismus ist zwar in<br />
seiner Auswirkung auch nur Zerstörung, doch er ist immerhin ein<br />
Gedanke; er mußte ersonnen wer<strong>de</strong>n, und das konnte nur das Werk<br />
einzelner Denker sein. Wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re große Gedanke ist er in die<br />
Massen nur durch die Vermittlung <strong>de</strong>r geistigen Mittelschichte gedrungen.<br />
Nicht das Volk, nicht die Massen wur<strong>de</strong>n zuerst sozialistisch - sie sind<br />
eigentlich auch heute nicht sozialistisch, son<strong>de</strong>rn agrarsozialistisch und<br />
syndikalistisch - son<strong>de</strong>rn die Intellektuellen. Sie und nicht die Massen<br />
sind die Träger <strong>de</strong>s Sozialismus. 1 Auch die Macht <strong>de</strong>s Sozialismus ist wie<br />
je<strong>de</strong> Macht geistiger Art, und ihre Stütze fin<strong>de</strong>t sie in I<strong>de</strong>en; I<strong>de</strong>en aber<br />
gehen immer von <strong>de</strong>n geistigen Führern aus und wer<strong>de</strong>n von ihnen in das<br />
Volk getragen. Wenn die Intelligenz sich vom Sozialismus abwen<strong>de</strong>n<br />
wür<strong>de</strong>, dann wäre es um die Macht <strong>de</strong>s Sozialismus geschehen. Die<br />
Massen können auf die Dauer <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Führer keinen Wi<strong>de</strong>rstand<br />
leisten. Wohl können einzelne Demagogen auftreten, die um <strong>de</strong>r eigenen<br />
Karriere willen wi<strong>de</strong>r besseres Wissen <strong>de</strong>m Volke I<strong>de</strong>en vorzutragen<br />
bereit sind, die <strong>de</strong>n niedrigen Instinkten schmeicheln und darum auf<br />
günstige Aufnahme rechnen dürfen. Doch auf die Dauer können<br />
Propheten, die das Bewußtsein ihrer eigenen Falschheit in <strong>de</strong>r Brust<br />
tragen, gegen die, die von <strong>de</strong>r Kraft einer aufrichtigen Überzeugung<br />
durchdrungen sind, nichts ausrichten. I<strong>de</strong>en können durch nichts<br />
korrumpiert wer<strong>de</strong>n. Man kann gegen die I<strong>de</strong>en keine Kämpfer werben,<br />
auch nicht durch Geld und durch Aussicht auf Vorteile jeglicher Art.<br />
1 Das gilt natürlich auch vom <strong>de</strong>utschen Volke; die ganze Intelligenz <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />
Volkes ist sozialistisch: die nationalen Kreise staatssozialistisch, die katholischen<br />
kirchensozialistisch, die an<strong>de</strong>ren sozial<strong>de</strong>mokratisch o<strong>de</strong>r bolschewistisch.
496<br />
Die menschliche Gesellschaft ist ein Gebil<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Geistes. Gesellschaftliche<br />
Kooperation wird zuerst gedacht, dann erst gewollt und durch<br />
die Tat verwirklicht. Nicht die „materiellen Produktivkräfte“, diese<br />
nebelhaften und mystischen Scheinen <strong>de</strong>r materialistischen Geschichtsauffassung,<br />
die I<strong>de</strong>en machen die Geschichte. Wenn die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Sozialismus<br />
überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n könnte, wenn die Menschheit zur Erkenntnis <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Notwendigkeit <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln<br />
gelangen könnte, müßte <strong>de</strong>r Sozialismus von Schauplatze<br />
abtreten. Auf nichts an<strong>de</strong>res kommt es an als auf das.<br />
Der Sieg <strong>de</strong>r sozialistischen I<strong>de</strong>e über die liberale ist nur durch die<br />
Verdrängung <strong>de</strong>r sozialen, die gesellschaftliche Funktion <strong>de</strong>s einzelnen<br />
Instituts und das Gesamtwirken <strong>de</strong>s ganzen gesellschaftlichen Apparats<br />
betrachten<strong>de</strong>n Auffassung durch die asoziale, die einzelnen Teile <strong>de</strong>s<br />
gesellschaftlichen Organismus beson<strong>de</strong>rs betrachten<strong>de</strong> Auffassung herbeigeführt<br />
wor<strong>de</strong>n. Der Sozialismus sieht die einzelnen Hungern<strong>de</strong>n,<br />
Arbeitslosen, Reichen und krittelt nun daran herum; <strong>de</strong>r Liberalismus<br />
vergißt bei seiner Betrachtung nie <strong>de</strong>n Gesamtprozeß und ordnet je<strong>de</strong><br />
Erscheinung in <strong>de</strong>n Zusammenhang <strong>de</strong>r Dinge ein. Daß auch das<br />
Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln nicht imstan<strong>de</strong> sei, die Welt in<br />
ein Paradies umzuschaffen, weiß er sehr wohl; er hat nie mehr behaupten<br />
wollen als das, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung weniger<br />
geeignet sei, Wohlstand für alle zu schaffen als die kapitalistische.<br />
Niemand hat <strong>de</strong>n Liberalismus weniger verstan<strong>de</strong>n als jene, die in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahrzehnten behauptet haben, Liberale zu sein. Sie haben geglaubt,<br />
„Auswüchse“ <strong>de</strong>s Kapitalismus bekämpfen zu müssen; damit haben sie<br />
die charakteristische asoziale Betrachtungsweise <strong>de</strong>r Sozialisten ohne<br />
Be<strong>de</strong>nken übernommen. Eine Gesellschaftsordnung hat keine „Auswüchse“,<br />
die man beliebig beschnei<strong>de</strong>n kann. Wenn irgen<strong>de</strong>ine Erscheinung<br />
sich notwendig aus <strong>de</strong>m Wirken <strong>de</strong>s auf <strong>de</strong>m Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n<br />
Produktionsmitteln beruhen<strong>de</strong>n Gesellschaftssystems ergibt, kann keine<br />
ethische o<strong>de</strong>r ästhetische Laune über sie aburteilen. Die Spekulation zum<br />
Beispiel, die zum Wesen alles Wirtschaftens, auch <strong>de</strong>s in einer sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung gehört, kann in ihrer <strong>de</strong>m Kapitalismus<br />
eigenen Form nicht verdammt wer<strong>de</strong>n, weil <strong>de</strong>r Moralrichter ihre<br />
gesellschaftliche Funktion verkennt. Nicht weniger unglücklich als in <strong>de</strong>r<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>s Wesens <strong>de</strong>r kapitalistischen Gesellschaftsordnung waren<br />
die Epigonen <strong>de</strong>s Liberalismus in <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>s sozialistischen Systems.
497<br />
Sie haben immer wie<strong>de</strong>r erklärt, <strong>de</strong>r Sozialismus sei ein schönes und edles<br />
I<strong>de</strong>al, <strong>de</strong>m man zustreben müßte, wenn es zu verwirklichen wäre;<br />
bedauerlicherweise könne man aber <strong>de</strong>n Sozialismus nicht durchführen,<br />
weil er sittlich vollkommenere Menschen voraussetze als jene, mit <strong>de</strong>nen<br />
man rechnen müsse. Es ist nicht einzusehen, wieso man das Urteil<br />
abzugeben vermag, <strong>de</strong>r Sozialismus sei in irgen<strong>de</strong>iner Hinsicht besser als<br />
<strong>de</strong>r Kapitalismus, wenn man nicht zu behaupten vermag, daß er als<br />
Gesellschaftssystem besser fungiere als <strong>de</strong>r Kapitalismus. Man könnte mit<br />
<strong>de</strong>mselben Rechte etwa behaupten, eine Maschinenkonstruktion, die auf<br />
<strong>de</strong>m Perpetuum mobile aufgebaut sei, sei zwar besser als eine, die mit <strong>de</strong>n<br />
gegebenen Gesetzen <strong>de</strong>r Mechanik rechne, sie wäre nur bedauerlicherweise<br />
unausführbar. Wenn in <strong>de</strong>r Vorstellung <strong>de</strong>s sozialistischen Gesellschaftssystems<br />
ein Fehler enthalten ist, <strong>de</strong>r das System nicht das leisten<br />
läßt, was es leisten soll, dann ist <strong>de</strong>r Sozialismus mit <strong>de</strong>m System <strong>de</strong>s<br />
Kapitalismus, das sich als wirken<strong>de</strong>s erwiesen hat, überhaupt nicht<br />
vergleichbar; dann kann man es auch we<strong>de</strong>r als edler, noch als schöner<br />
o<strong>de</strong>r gerechter bezeichnen.<br />
Der Sozialismus ist aber auch nicht nur darum unausführbar, weil er<br />
edlere und uneigennützigere Menschen voraussetzt. Es war eine <strong>de</strong>r<br />
Aufgaben, die sich dieses Buch gestellt hat, zu zeigen, daß <strong>de</strong>m sozialistischen<br />
Gemeinwesen vor allem das fehlt, was alle Wirtschaft mit<br />
weiterausholen<strong>de</strong>n Prozessen, alle Wirtschaft, die nicht von <strong>de</strong>r Hand in<br />
<strong>de</strong>n Mund lebt, son<strong>de</strong>rn mit kapitalistischen Produktionsumwegen<br />
arbeitet, vor allem braucht: die Möglichkeit zu rechnen, d. h. rationell<br />
vorzugehen. Ist einmal diese Erkenntnis allgemein gewor<strong>de</strong>n, dann<br />
müssen alle sozialistischen I<strong>de</strong>en aus <strong>de</strong>n auf die Vernunft abgestellten<br />
Erwägungen <strong>de</strong>r Menschen verschwin<strong>de</strong>n.<br />
Daß die Meinung, <strong>de</strong>r Sozialismus müsse kommen, weil die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft mit Notwendigkeit zu ihm hinführe, nicht<br />
aufrechtzuhalten sei, konnte in <strong>de</strong>n vorstehen<strong>de</strong>n Abschnitten dieses<br />
Buches gleichfalls gezeigt wer<strong>de</strong>n. Die Welt nähert sich <strong>de</strong>m Sozialismus,<br />
weil die große Mehrzahl es will; sie will es, weil sie <strong>de</strong>n Sozialismus für<br />
eine höheren Wohlstand verbürgen<strong>de</strong> Gesellschaftsordnung hält. Tritt in<br />
dieser Auffassung ein Wan<strong>de</strong>l ein, dann ist es um <strong>de</strong>n Sozialismus<br />
geschehen.
Schlußausführungen.<br />
Die geschichtliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Sozialismus.<br />
§ 1. Nichts ist schwerer als sich über die geschichtliche Tragweite<br />
einer Bewegung, die man miterlebt, klar zu wer<strong>de</strong>n. Die Nähe, aus <strong>de</strong>r<br />
man die Erscheinungen sieht, macht es unmöglich, Maße und Formen<br />
entsprechend zu erkennen. Das geschichtliche Urteil verlangt vor allem<br />
Distanz.<br />
Wir sehen heute <strong>de</strong>n Sozialismus überall am Werke, wo Europäer o<strong>de</strong>r<br />
Nachkommen ausgewan<strong>de</strong>rter Europäer wohnen. Bleibt die Herrschaft<br />
<strong>de</strong>s Sozialismus über die Geister unerschüttert, dann wird in kurzer Zeit<br />
das gesamte Kooperativsystem <strong>de</strong>r europäischen Kultur, das mühsam<br />
durch die Arbeit von Jahrtausen<strong>de</strong>n aufgebaut wur<strong>de</strong>, zertrümmert sein.<br />
Denn sozialistische Gesellschaftsordnung ist undurchführbar. Alle<br />
Bestrebungen, <strong>de</strong>n Sozialismus zu verwirklichen, führen nur zur Zerstörung<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft. Die Fabriken, die Bergwerke, die Bahnen<br />
wer<strong>de</strong>n stillstehen, die Städte wer<strong>de</strong>n verö<strong>de</strong>n. Die Bevölkerung <strong>de</strong>r<br />
Industriegebiete wird aussterben o<strong>de</strong>r abwan<strong>de</strong>rn. Der Bauer wird zur<br />
Selbstgenügsamkeit <strong>de</strong>r geschlossenen Hauswirtschaft zurückkehren.<br />
Ohne Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln gibt es keine an<strong>de</strong>re<br />
Produktion als die von <strong>de</strong>r Hand in <strong>de</strong>n Mund für <strong>de</strong>n eigenen Bedarf.<br />
Welche kulturellen und politischen Folgen ein <strong>de</strong>rartiger Umschwung<br />
nach sich ziehen müßte, muß man nicht erst näher ausmalen. Wie<strong>de</strong>r<br />
könnten Noma<strong>de</strong>nstämme aus <strong>de</strong>n Steppen <strong>de</strong>s Ostens auf schnellen<br />
Rossen Europa plün<strong>de</strong>rnd durchstreifen. Wer sollte ihnen im dünnbevölkerten<br />
Land Wi<strong>de</strong>rstand leisten können, wenn einmal die von <strong>de</strong>r<br />
höheren Technik <strong>de</strong>s Kapitalismus ererbten Waffen abgenützt sein<br />
wer<strong>de</strong>n?<br />
Das ist eine Möglichkeit. Es gibt aber auch noch an<strong>de</strong>re. Es könnte<br />
sein, daß <strong>de</strong>r Sozialismus nur bei einigen Völkern die Oberhand behält,<br />
daß aber die an<strong>de</strong>ren zum Kapitalismus zurückkehren. Dann wer<strong>de</strong>n die<br />
sozialistischen Völker allein <strong>de</strong>m gesellschaftlichen
499<br />
Verfall entgegengehen, die kapitalistischen Nationen aber zu höherer<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Arbeitsteilung fortschreiten, bis sie endlich, durch das<br />
gesellschaftliche Grundgesetz zur Einbeziehung <strong>de</strong>r höchsten Menschenzahl<br />
in die persönliche und <strong>de</strong>r ganzen Erdoberfläche in die örtliche<br />
Arbeitsteilung getrieben, daran gehen wer<strong>de</strong>n, die zurückgebliebenen<br />
Völker <strong>de</strong>r Kultur zu erschließen o<strong>de</strong>r sie, wenn sie sich wi<strong>de</strong>rsetzen<br />
sollten, zu vernichten. Daß die Völker, die die Bahn kapitalistischer<br />
Entwicklung nicht betreten o<strong>de</strong>r frühzeitig auf ihr Halt gemacht haben,<br />
dieses Schicksal erlei<strong>de</strong>n, war auch bisher immer <strong>de</strong>r Gang <strong>de</strong>r<br />
Geschichte.<br />
Es kann aber auch sein, daß wir die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r sozialistischen<br />
Bewegung unserer Zeit gewaltig überschätzen. Sie hat vielleicht nicht<br />
mehr zu sagen als die son<strong>de</strong>reigentumsfeindlichen Ausbrüche <strong>de</strong>r mittelalterlichen<br />
Ju<strong>de</strong>nverfolgungen, <strong>de</strong>r franziskanischen Bewegung o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Reformationszeit. Und Lenins und Trotzkis Bolschewismus ist vielleicht<br />
nicht wichtiger als Knipperdollings und Bockelsons Wie<strong>de</strong>rtäuferregiment<br />
in Münster; es überragt in seinen Maßen dieses nicht mehr als <strong>de</strong>r<br />
mo<strong>de</strong>rne Kapitalismus <strong>de</strong>n Frühkapitalismus <strong>de</strong>s sechzehnten Jahrhun<strong>de</strong>rts.<br />
Und wie <strong>de</strong>r Kapitalismus die Anfechtungen, die er damals<br />
erfahren hat, siegreich überwun<strong>de</strong>n hat, so mag es ihm auch gelingen,<br />
kräftiger und reiner aus <strong>de</strong>n Wirren dieser Zeit hervorzugehen.<br />
§ 2. Die Gesellschaft ist ein Erzeugnis <strong>de</strong>s Willens und <strong>de</strong>r Tat. Wollen<br />
und Han<strong>de</strong>ln können immer nur Menschen. Alle Mystik und Symbolik <strong>de</strong>r<br />
kollektivistischen Philosophie kann uns nicht darüber hinweghelfen, daß<br />
wir vom Denken, Wollen und Han<strong>de</strong>ln von Gesamtheiten nur figürlich<br />
re<strong>de</strong>n können, und daß die Vorstellung empfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r, wollen<strong>de</strong>r<br />
und han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Kollektiva nur ein Anthropomorphismus ist. Die<br />
Gesellschaft ist aus <strong>de</strong>m Individuum heraus entstan<strong>de</strong>n; jene Gesamtheiten,<br />
die <strong>de</strong>r Kollektivismus als logisch und historisch vor <strong>de</strong>n Individuen<br />
gegeben annimmt, mögen Her<strong>de</strong>n und Hor<strong>de</strong>n gewesen sein, Gesellschaften,<br />
d. i. durch das Zusammenwirken von <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Geschöpfen<br />
entstan<strong>de</strong>ne und bestehen<strong>de</strong> Verbän<strong>de</strong> waren sie keineswegs. Die<br />
Menschen setzen die Gesellschaft, in<strong>de</strong>m sie ihr Han<strong>de</strong>ln zu einem<br />
wechselseitig bedingten Kooperieren machen.<br />
Die Grundlage und <strong>de</strong>r Ausgangspunkt gesellschaftlicher Kooperation<br />
ist im Frie<strong>de</strong>nsvertrag, <strong>de</strong>ssen Inhalt die wechselseitige Anerkennung <strong>de</strong>s<br />
Besitzstan<strong>de</strong>s bil<strong>de</strong>t; aus einem tatsächlichen, durch Gewalt behaupteten<br />
Haben wird das Rechtsinstitut <strong>de</strong>s
500<br />
Eigentums geschaffen, damit auch zugleich die Rechtsordnung und <strong>de</strong>r<br />
Zwangsapparat zu ihrer Aufrechterhaltung. All das ist wohl das Ergebnis<br />
bewußten und seine Ziele erkennen<strong>de</strong>n Wollens. Doch dieses Wollen sieht<br />
und will nur das nächste und unmittelbare Ergebnis: von <strong>de</strong>n weiteren<br />
Folgen weiß es nichts und kann es nichts wissen. Die Frie<strong>de</strong>n und Normen<br />
schaffen<strong>de</strong>n Menschen wollen nicht mehr als für die Bedürfnisse <strong>de</strong>r<br />
kommen<strong>de</strong>n Stun<strong>de</strong>n, Tage und Jahre sorgen; daß sie damit zugleich an<br />
<strong>de</strong>m Bau eines großartigen und feingeglie<strong>de</strong>rten Gebil<strong>de</strong>s arbeiten, wie es<br />
die menschliche Gesellschaft ist, entzieht sich ihrer Einsicht. Darum<br />
wer<strong>de</strong>n die einzelnen Institute, die in ihrer Gesamtheit <strong>de</strong>n Gesellschaftsorganismus<br />
tragen, aus keinem an<strong>de</strong>ren Gesichtspunkte heraus geschaffen<br />
als aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r augenblicklichen Zweckmäßigkeit. Sie erscheinen ihren<br />
Schöpfern als individuell notwendig und nützlich; ihre gesellschaftliche<br />
Funktion bleibt ihnen fremd.<br />
Langsam nur reift <strong>de</strong>r menschliche Geist zur Erkenntnis <strong>de</strong>r<br />
gesellschaftlichen Zusammenhänge. Zunächst ist ihm die Gesellschaft ein<br />
so rätselhaftes und unbegreifliches Gebil<strong>de</strong>, daß er zum Verständnis ihres<br />
Wer<strong>de</strong>ns und Wesens noch immer zur Annahme eines von außen her die<br />
menschlichen Geschicke leiten<strong>de</strong>n göttlichen Willens greift, als er schon<br />
in <strong>de</strong>r Naturwissenschaft längst gelernt hatte, auf diese Hilfskonstruktion<br />
zu verzichten. Kants „Natur“, die die Menschheit einem beson<strong>de</strong>ren Ziele<br />
entgegenführt, Hegels „Weltgeist“, aber auch <strong>de</strong>r Darwinianer „natürliche<br />
Zuchtwahl“ sind nichts als die letzten großen Versuche dieser Metho<strong>de</strong>.<br />
Erst die liberale Gesellschaftsphilosophie hat es vermocht, die Gesellschaft<br />
aus <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Menschen heraus zu erklären, ohne<br />
Metaphysik in Anspruch nehmen zu müssen. Sie erst bringt es zustan<strong>de</strong>,<br />
die soziale Funktion <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentum zu <strong>de</strong>uten. Sie begnügt sich<br />
nicht mehr damit, das Gerechte als eine gegebene Kategorie, die man<br />
nicht zu ainalysieren vermag, hinzunehmen o<strong>de</strong>r es aus einem unerklärlichen<br />
Wohlgefallen an gerechtem Verhalten abzuleiten; sie sucht es aus<br />
<strong>de</strong>n Folgen <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns und aus <strong>de</strong>r Einschätzung dieser Folgen zu<br />
begreifen.<br />
Der alten Weltanschauung <strong>galt</strong> das Eigentum als heilig. Der<br />
Liberalismus zerstört diesen Heiligenschein wie alle an<strong>de</strong>ren; das<br />
Eigentum wird zu einer Sache <strong>de</strong>r Welt und <strong>de</strong>r Nützlichkeit „erniedrigt“.<br />
Es gilt nicht länger als absoluter Wert, es wird als Mittel, d. i. seines<br />
Nutzens wegen gewürdigt. In <strong>de</strong>r Philosophie vollzieht sich dieser Wan<strong>de</strong>l<br />
<strong>de</strong>r Anschauungen ohne beson<strong>de</strong>re
501<br />
Schwierigkeiten; an die Stelle einer als unzulänglich erkannten<br />
Lehrmeinung tritt eine zulänglichere. Doch im Leben und im Bewußtsein<br />
<strong>de</strong>r Massen kann sich eine grundstürzen<strong>de</strong> Revolutionierung <strong>de</strong>s Geistes<br />
nicht mit <strong>de</strong>r gleichen Reibungslosigkeit vollziehen. Es ist keine Kleinigkeit,<br />
wenn ein Götzenbild, in <strong>de</strong>ssen Furcht die Menschheit Jahrtausen<strong>de</strong><br />
gelebt hat, zerstört wird und <strong>de</strong>r zittern<strong>de</strong> Sklave auf einmal die Freiheit<br />
erlangt. Was bisher <strong>galt</strong>, weil Gott und das Gewissen es befahlen, soll nun<br />
gelten, weil man es selbst gelten lassen kann, wenn man will. Was gewiß<br />
war, wird ungewiß; recht und unrecht, gut und böse, alles gerät ins<br />
Wanken. Die alten Tafeln <strong>de</strong>r Gesetze sind zertrümmert, ein neues Gesetz<br />
soll <strong>de</strong>r Mensch sich nun selbst geben. Das kann sich nicht in <strong>de</strong>n Formen<br />
<strong>de</strong>r parlamentarischen Wechselre<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r ruhigen Abstimmung bei<br />
Wahlen vollziehen; eine Revision <strong>de</strong>s Sittenko<strong>de</strong>x kann nicht ohne tiefste<br />
Erregung <strong>de</strong>r Geister und wil<strong>de</strong>ste Ausbrüche <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft durchgeführt<br />
wer<strong>de</strong>n. Der gesellschaftliche Nutzen <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>reigentums kann<br />
nur erkannt wer<strong>de</strong>n, wenn man sich die Ver<strong>de</strong>rblichkeit je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Ordnung <strong>de</strong>r Dinge klar vor Augen geführt hat.<br />
Daß dies <strong>de</strong>r Gehalt <strong>de</strong>s großen Kampfes zwischen Kapitalismus und<br />
Sozialismus ist, erkennt man am besten, wenn man zur Einsicht gelangt<br />
ist, daß auch auf an<strong>de</strong>ren Gebieten <strong>de</strong>s sittlichen Lebens sich <strong>de</strong>rselbe<br />
Prozeß abspielt. Nicht nur das Eigentumsproblem steht heute zur<br />
Erörterung; es ist nicht an<strong>de</strong>rs mit <strong>de</strong>m Problem <strong>de</strong>s Blutvergießens, das<br />
in verschie<strong>de</strong>ner Gestalt, vor allem in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Kriegs- und Frie<strong>de</strong>nsproblems<br />
die Welt bewegt. Ganz beson<strong>de</strong>rs sichtbar aber wird die<br />
grundsätzliche Gleichartigkeit <strong>de</strong>s moralischen Prozesses auf <strong>de</strong>m Gebiete<br />
<strong>de</strong>r geschlechtlichen Sittlichkeit. Auch hier sind die uralten Gewissensvorschriften<br />
im Wan<strong>de</strong>l begriffen. Was als Tabu, als heilige Satzung,<br />
gegolten hat, soll nun gelten, weil man es als <strong>de</strong>m Wohle <strong>de</strong>r Menschen<br />
zuträglich erachtet. Und es konnte nicht ausbleiben, daß man auch diesen<br />
Umsturz <strong>de</strong>s Geltungsgrun<strong>de</strong>s zum Anlaß nahm, um zu prüfen, ob die<br />
Normen, die bisher gegolten haben, auch wirklich för<strong>de</strong>rlich seien, o<strong>de</strong>r<br />
ob man sie nicht etwa beseitigen könnte.<br />
Im Innenleben <strong>de</strong>s Einzelnen löst die Unausgeglichenheit dieses<br />
Kampfes schwere seelische Erschütterungen aus, die <strong>de</strong>m Arzte unter <strong>de</strong>m<br />
klinischen Bil<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neurose bekannt sind. 1 Sie ist die charakteristische<br />
Krankheit unserer Zeit <strong>de</strong>s moralischen Überganges,<br />
1 Vgl. Freud, Totem und Tabu, Wien 1913, S. 62 ff.
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<strong>de</strong>r geistigen Reifeperio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Völker. Im gesellschaftlichen Leben wirkt<br />
sich <strong>de</strong>r Zwiespalt in <strong>de</strong>n furchtbaren Kämpfen und Irrungen aus, die wir<br />
schau<strong>de</strong>rnd miterleben. Wie es für das Leben <strong>de</strong>s einzelnen Menschen von<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung ist, ob es ihm gelingt, aus <strong>de</strong>n Wirren und<br />
Ängsten <strong>de</strong>r Reifezeit heil und kraftvoll hervorzugehen, o<strong>de</strong>r ob er Narben<br />
davonträgt, die ihn dauernd an <strong>de</strong>r Entfaltung seiner Fähigkeiten hin<strong>de</strong>rn,<br />
so ist für die menschliche Gesellschaft nichts wichtiger als die Art und<br />
Weise, wie sie die Kämpfe um das Organisationsproblem überstehen<br />
wird. Aufstieg zu engerer gesellschaftlicher Verknüpfung <strong>de</strong>r Individuen<br />
und damit zu höherem Wohlstand auf <strong>de</strong>r einen Seite, Zerfall <strong>de</strong>r gesellschaftlichen<br />
Kooperation und damit <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Reichtums auf<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite, das sind die bei<strong>de</strong>n Möglichkeiten. Eine dritte gibt es<br />
nicht.<br />
Die große gesellschaftliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung kann nicht an<strong>de</strong>rs vor<br />
sich gehen als im Denken, Wollen und Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r Individuen. Die<br />
Gesellschaft lebt und wirkt nirgends als in <strong>de</strong>n Individuen; sie ist nichts<br />
als eine bestimmte Einstellung <strong>de</strong>r Einzelnen. Je<strong>de</strong>r trägt auf seinen<br />
Schultern ein Stück <strong>de</strong>r Gesellschaft; keinem wird sein Teil Verantwortung<br />
durch an<strong>de</strong>re abgenommen. Und niemand kann für sich allein<br />
einen retten<strong>de</strong>n Ausweg fin<strong>de</strong>n, wenn die Gesellschaft als Gesamtheit<br />
<strong>de</strong>m Untergang entgegengeht. Darum muß je<strong>de</strong>r, im eigensten Interesse,<br />
am Kampf <strong>de</strong>r Geister mit <strong>de</strong>m Aufgebot aller Kräfte teilnehmen. Niemand<br />
kann abseits stehen und sich für unbeteiligt halten; je<strong>de</strong>rmanns<br />
Sache wird auf <strong>de</strong>r Wahlstatt ausgetragen. In <strong>de</strong>n großen geschichtlichen<br />
Entscheidungskampf, vor <strong>de</strong>n uns unsere Zeit gestellt hat, wird je<strong>de</strong>rmann<br />
hineingezogen, ob er will o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Die Gesellschaft ist Menschenwerk. Kein Gott, keine dunkle<br />
„Naturgewalt“ hat sie geschaffen. Ob sie sich fortentwickeln soll o<strong>de</strong>r ob<br />
sie untergehen soll, liegt in <strong>de</strong>m Sinne, in <strong>de</strong>m die kausale Determiniertheit<br />
alles Geschehens es zuläßt, von freiem Willen zu sprechen, in <strong>de</strong>r<br />
Menschen Hand. Ob die Gesellschaft ein Gut o<strong>de</strong>r ein Übel ist, mag<br />
verschie<strong>de</strong>n beurteilt wer<strong>de</strong>n. Doch wer das Leben <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>, die<br />
Glückseligkeit <strong>de</strong>m Leid, <strong>de</strong>n Wohlstand <strong>de</strong>r Not vorzieht, wird die<br />
Gesellschaft bejahen müssen. Und wer die Gesellschaft und ihre<br />
Fortbildung will, muß auch, ohne alle Einschränkungen und Vorbehalte,<br />
das Son<strong>de</strong>reigentum an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln wollen.