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Standpunkte - Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

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<strong>Standpunkte</strong><br />

zur<br />

STAATSWISSENSCHAFT<br />

Nr. 13<br />

Deutschland am Ende?<br />

Oder: Totgesagte leben länger (wenn wir sie<br />

nur ließen)<br />

von<br />

Arne Heise<br />

März 2004


Die STANDPUNKTE ZUR STAATSWISSENSCHAFT werden in unregelmäßiger Folge vom<br />

Lehrstuhl ‚Finanzwissenschaften’ an der HWP – HAMBURGER UNIVERSITÄT FÜR WIRTSCHAFT<br />

UND POLITIK ausschließlich in elektronischer Form herausgegeben und sollen pointiert zu<br />

aktuellen Themen der Wirtschafts- und Finanzpolitik Stellung nehmen. Der Inhalt wird allein<br />

von den Autoren verantwortet:<br />

Prof. Dr. Arne Heise<br />

HWP<br />

Von-Melle-Park 9<br />

20146 Hamburg<br />

Tel.: -49 40 42838 2209<br />

e-mail: HeiseA@hwp-hamburg.de<br />

Verzeichnis aller STANDPUNKTE und anderer Veröffentlichungen:<br />

www.hwp-hamburg.de/fach/fg_vwl/DozentInnen/heise/Materials/heise-downlds.htm<br />

1


Deutschland am Ende? Oder: Totgesagte leben länger (wenn wir sie nur<br />

ließen) 1<br />

Deutschland steht vor dem wirtschaftlichen Niedergang, es gehört zu der neuesten Spezies der<br />

ökonomischen Entwicklungstheoretiker: den Newly Declining Countries (NDC), also jenen<br />

Ländern, die ihre Position an der Spitze der hoch entwickelten Volkswirtschaften wohl nicht<br />

werden halten können. Diesen Eindruck muss man jedenfalls gewinnen, wenn man das<br />

Getöse der Politiker und die zunehmend schärfer und wehklagender werdenden Kommentare<br />

der Medien und ihrer selbsternannten Wirtschaftsexperten hört. Gabor Steingart, Leiter des<br />

Hauptstadtbüros des SPIEGEL, hat mit einer von einem Spiegel-Artikel (‚Die Wohlstands-<br />

Illusion’) begleiteten Buchveröffentlichung zuletzt und vielleicht am vehementesten in das<br />

Requiem auf den Wohlstands-Staat Deutschland eingestimmt. 2 Obwohl der Weg des<br />

Niedergangs vorgezeichnet scheint, wäre allenfalls eine scharfe Umkehr, eine dramatische<br />

Reform der Sozialsysteme und des Arbeitsmarktes – eine Wende a la Thatcher mehr als 20<br />

Jahre nach der ‚Thatcher-Revolution’ in Großbritannien – und damit eine endgültige Abkehr<br />

vom ‚Modell Deutschland’ in der Lage, das ganz böse Ende zu vermeiden.<br />

Auch ohne einer ungebührlichen Nabelschau zu frönen, lässt sich tatsächlich nicht ernsthaft<br />

bestreiten, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat schon bessere Zeiten erlebte: Sowohl die<br />

objektiven Rahmendaten wie Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit können sich<br />

gegenwärtig im internationalen Vergleich nicht gut sehen lassen – das hässliche Bild vom<br />

‚Schlusslicht Europas’ macht die Runde –, auch die Anziehungskraft des deutschen<br />

Arbeitsbeziehungs- und Tarifsystems hat deutlich nachgelassen.<br />

Freilich sollen auch die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft, denen ich mich<br />

gleich noch intensiver widmen will, nicht klein geredet oder gar verschwiegen werden. Einer<br />

‚Vogel-Strauß-Taktik’ wird hier also gewiss nicht das Wort geredet, wäre aber auch<br />

intellektuell nicht redlich. Andererseits aber sollten wir auch nicht der Naivität verfallen, dass<br />

<strong>Wirtschaftspolitik</strong> im Allgemeinen und die Ausformung gesellschaftlicher und ökonomischer<br />

Institutionen einzig wissenschaftlicher Erkenntnis und Rationalität mit dem Ziele der<br />

Maximierung des Gemeinwohls betrieben werden. Selbstverständlich sind hier in massiver<br />

Weise Interessen im Spiel, deren Offenlegung wichtig erscheint, um im demokratischen<br />

Meinungsbildungsprozess Transparenz zu schaffen. Ebenso klar ist, dass sich viele Akteure in<br />

diesem Spiel – Politiker, Berater und Wissenschaftler – über die dahinter stehenden Interessen<br />

ihrer Auffassungen und Empfehlungen gar nicht klar sind oder vielleicht auch gar nicht recht<br />

wissen wollen, weil sie um ihre Unabhängigkeit fürchten. Wer auf der Grundlage der<br />

herrschenden Mainstream-Theorie der Wirtschaftswissenschaft – dem neoklassischen<br />

Markträumungsmodell – für eine Deregulierung aller Märkte, insbesondere auch des<br />

Arbeitsmarktes, plädiert, muss deshalb nicht verbohrter Kostgänger der Leistungselite sein. Er<br />

braucht nur dem Zwang zur Unterstellung unrealistischer, aber formal notwendiger<br />

Annahmen oder der Karriere förderlichen Hinnahme der wissenschaftlichen Orthodoxie<br />

erliegen, um zwangsläufig jene Erkenntnisse zu erzielen, die der neoliberale Wind<br />

gegenwärtig durch alle Stuben der Republik trägt. Gewiss muss er zusätzlich auch eine<br />

gewisse Realitätsresistenz aufweisen und den Umstand unterdrücken, dass bereits die<br />

Auswahl eines Modells als Wirklichkeitsannäherung einer ideologischen Vorauswahl<br />

entspricht – die Wertneutralität der Sozialwissenschaften war immer eine Chimäre.<br />

1 Die Ausführungen basieren auf dem jüngsten Buch des Autors: Heise, A.; Dreiste Elite – Zur politischen<br />

Ökonomie der Modernisierung, Hamburg 2003<br />

2 Steingart, G.; Deutschland – Der Abstieg eines Superstars, München 2004<br />

2


Wir müssen uns dieser Tatsachen bewusst sein, um die allgegenwärtige Kritik am ‚Modell<br />

Deutschland’, aber auch das scheinbare Rätsel dessen langjähriger Stabilität besser verstehen<br />

zu können und Schlussfolgerungen für die Zukunft daraus ableiten zu können.<br />

Gute Dinge haben ihren Preis. Die Menschen sind bereit, diesen Preis zu entrichten, weil der<br />

Nutzen, den sie sich aus der Inanspruchnahme des erworbenen Gutes versprechen, den Preis<br />

rechtfertigt. Auch das ‚Modell Deutschland’ hat seinen Preis: manche Unflexibilität, die sich<br />

aus den eingebauten Handlungsbeschränkungen ergibt. Unternehmer etwa können nicht<br />

einfach Personal nach Gutdünken entlassen, Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften können<br />

nicht einfach streiken, wann es ihnen beliebt. Bislang waren Arbeitgeber wie Arbeitnehmer<br />

(und deren Verbände) bereit, diesen Preis zu zahlen, weil der erwartete Nutzen höher<br />

eingeschätzt wurde – und die Arbeitgeber(verbände) wurden keineswegs durch die<br />

Gewerkschaften oder einen dem Median-Wähler ergebenen Staat zur Entrichtung dieses<br />

Preises gezwungen. Das ist eine Mär. Es gelang dem ‚Modell Deutschland’, ein<br />

Positivsummenspiel zu initiieren: die überdurchschnittlich hohe Wertschöpfungskraft, die aus<br />

der Pflege des Human- und Sozialkapitals herrührt. Die Anfeindungen gegen den deutschen<br />

Wohlfahrtsstaat ergeben sich daraus, dass die Arbeitgeber und – weitergefasst – die deutsche<br />

Leistungselite einen Teil des Preises – die geringe Lohn- und Einkommensdifferenzierung –<br />

nicht mehr entrichten wollen. Dies ist eine typische Verteilungsfrage. Der ‚historische<br />

Kompromiss’ der Nachkriegsära wurde aufgekündigt, die historischen Grundlagen dieses<br />

Kompromisses vergessen und die globalen Rahmenbedingungen verändert. Der<br />

amerikanische Sozialwissenschaftler Mancur Olson vertritt die These, dass der Abstieg von<br />

Volkswirtschaften dann einsetzt, wenn ein einmal erzielter Interessenausgleich zerbricht und<br />

Einzelinteressen dominant werden. Es ist einer konservativen Wissenschaft und massiver<br />

medialer Präsenz in beinahe unfassbarer Weise gelungen, den Arbeitnehmer und dessen<br />

Gewerkschaften zum Buhmann zu stempeln. Immer wieder wird uns eingeredet, diese würden<br />

nur ihre eigenen Interessen verfolgen und deshalb mittels zu hoher und zu wenig<br />

differenzierter Lohnabschlüsse Arbeitslosigkeit erzeugen und in ihrer Rolle als ‚Median-<br />

Wähler’ notwendige Reformvorhaben behindern. Zuweilen wird das ganze Volk als<br />

reformunfähig denunziert, obrigkeitsstaatliche Eingriffe zur Beseitigung des<br />

‚Demokratieversagens’ sind dann nicht mehr undenkbar. Diese Darstellungen sind deshalb so<br />

unfassbar, weil sie eklatant an der Realität vorbeigehen, die niemand mehr zu interessieren<br />

scheint. Heiner Flassbeck, ehemaliger Staatssekretär und jetziger Chef-Ökonom der<br />

UNCTAD, und seine Ko-Autorin Friederike Spiecker 3 sind ebenfalls fassungslos: „Zwar<br />

haben die Gewerkschaften mit ihrem selbstlosen Einsatz für die Bekämpfung der<br />

Arbeitslosigkeit enorme Opfer von ihren Mitgliedern verlangt. Aber die öffentliche<br />

Diskussion wird weiterhin dominiert von neoliberalen Theorien, die auch hinsichtlich der<br />

Opferbereitschaft von Gewerkschaftsmitgliedern exakt das Gegenteil behaupten.“<br />

Eines sei hier auch klargestellt: Es geht nicht darum, die herrschende Lohn- und<br />

Einkommensstruktur für optimal und sakrosankt zu erklären. Selbstverständlich muss es<br />

möglich sein, gesellschaftliche Verteilungsverhältnisse zu verändern. Und dies durchaus auch<br />

in Richtung einer größeren Differenzierung, nicht nur in Richtung größerer Egalität. Wenn die<br />

Leistungselite sich ungerecht am gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt fühlt, soll sie dies klar<br />

und offen äußern und versuchen, politische Mehrheiten für eine Verteilungsänderung zu ihren<br />

Gunsten zu organisieren. Die FDP versteht sich ja als ‚Partei der Besserverdienenden’, die<br />

derartige politische Vorstellungen äußert und mit dem Dasein einer politischen<br />

Randgruppierung belohnt wird. Perfide wird die Sache allein dadurch, dass die Leistungselite<br />

ihre Interessen durchzusetzen versucht, indem sie mittels einer Politik der ‚optimalen<br />

3 Flassbeck, H., Spieker, F.; Löhne und Arbeitslosigkeit. Wirtschaftspolitische Diskurse der FES (118), 1998<br />

3


Arbeitslosigkeit’ unmittelbaren Druck auf die Lebensverhältnisse der Menschen in<br />

Deutschland ausübt und im Sinne einer funktionalen Argumentation die Verfolgung ihrer<br />

eigenen Interessen zum Allgemeinwohl erklärt. Diesem Anliegen muss vor allem deshalb<br />

schärfstens begegnet werden, weil letztlich das Gemeinwohl dabei Schaden nimmt.<br />

Soll alles bleiben, wie es ist?<br />

Gesellschaften sind sehr dynamische Gebilde: Die politischen Einstellungen der Individuen<br />

wandeln sich, die technologischen oder ökonomischen Rahmenbedingungen ändern sich oder<br />

werden bewusst verändert. Und natürlich gibt es gelegentlich auch eruptive Umbrüche, die<br />

niemand voraussehen kann, gleichwohl Anpassungen erfordern. Selbstverständlich steht auch<br />

Deutschland vor einigen Herausforderungen, die nicht ohne weiteres spurlos am ‚Modell<br />

Deutschland’ vorbei gehen werden. Ob also alles so bleiben kann, wie es ist, muss im<br />

Einzelnen genau geprüft werden:<br />

* Wie fast alle westlichen Gesellschaften altert auch Deutschland. Kamen 1990 auf 100<br />

Angehörige der mittleren Generationen (20 – 60 Jahre alt) 35 ältere (> 60 Jahre alt) und 37<br />

jüngere Menschen (


* Vor allem aber wird sich die beitragsfinanzierte Sozialsicherung in Zukunft graduell in eine<br />

steuerfinanzierte Sozialsicherung nach dem Beveridge-Modell wandeln müssen, weil das<br />

Bismarck-Modell mit seiner einseitigen Belastung der Produktionsfaktoren die<br />

Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft belastet und eine Internationalisierung des<br />

Modells zur Einebnung dieser Wettbewerbsprobleme nicht zu erwarten ist. Das Argument<br />

hier ist allerdings nicht die zunehmende Globalisierung, sondern die europäische Integration<br />

seit 1999. Mit Einführung der Europäischen Währungsunion nämlich ist der Wechselkurs als<br />

Scharnier zwischen den EU-Volkswirtschaften entfallen – Sozialkosten, die die<br />

Lohnstückkosten berühren, werden damit automatisch zu die Standortattraktivität<br />

ausmachenden Faktoren. Auf lange Frist wird deshalb das Bismarck-Modell gegenüber dem<br />

Beveridge-Modell den Kürzeren ziehen – umso schneller, je höher die Mobilität der im<br />

Bismarck-Modell belasteten Produktionsfaktoren ist.<br />

Gleichzeitig aber muss es zu einer Europäisierung der nationalen Sozialsysteme in der EU<br />

kommen – das häufig im Munde geführte ‚europäische Sozialmodell’ –, damit soziale<br />

Dumping-Prozesse nicht Platz greifen können. Da andererseits eine vollständige<br />

Harmonisierung und Angleichung der sozialen Systeme in der Europäischen Union angesichts<br />

der enormen Entwicklungsunterschiede zwischen den nordeuropäischen und den<br />

südeuropäischen EU-Mitgliedsländern und der großen institutionellen Differenzen weder<br />

sinnvoll noch in absehbarer Zeit vorstellbar oder durchsetzbar erscheint, müssen wahrlich<br />

neue Formen des Aus- und Angleichens gefunden werden. Es geht um nicht weniger als die<br />

Bereitstellung eines ‚globalen oder wenigstens europäischen öffentlichen Gutes’ durch<br />

Nationalstaaten und deren Regierungen und Behörden. Damit hat die Staatengemeinschaft<br />

sowohl auf globaler wie auch auf EU-Ebene bislang wenig Erfahrung und man ist schnell<br />

geneigt, diese mangelnden Erfahrungen zur Verfahrensunmöglichkeit zu erheben. Wenig<br />

bekannt, gleichwohl von bestechender Einfachheit ist das Modell der so genannten<br />

‚Sozialschlange’ bzw. das ‚Korridor-Modell’. Hiernach werden die EU-Mitgliedsländer<br />

gemäß ihrer ökonomischen Entwicklung in drei ‚Sozialstufen’ eingeteilt, die nach<br />

Sozialleistungsquote differenziert werden. Die höchste Sozialstufe ist durch einen<br />

Sozialleistungskorridor von etwa 27 – 30 Prozent (Anteil der Sozialausgaben am BIP)<br />

gekennzeichnet und umfasst die skandinavischen Länder, die zweite Sozialstufe beschreibt<br />

einen Sozialkorridor von 22 – 25 Prozent und umfasst die Länder Kontinentaleuropas. In der<br />

niedrigsten Sozialstufe schließlich sind die Länder Südeuropas mit einer Sozialleistungsquote<br />

zwischen 15 – 19 Prozent erfasst. Die Länder dürfen nun zwar jegliche institutionelle Reform<br />

vornehmen, um die Effizienz ihrer Sozialsysteme zu erhöhen und damit auf die anderen<br />

Länder Druck der Nachahmung auszuüben, sie dürfen aber ihren Sozialleistungskorridor nicht<br />

verlassen (nach unten) ohne Zustimmung der Mehrheit der EU-Partnerländer. Diese<br />

Zustimmung würde immer dann verweigert werden, wenn der Verdacht des Sozialdumpings<br />

besteht. Andererseits kann die Mehrheit durchaus eine Neueinteilung der Sozialkorridore<br />

beschließen, wenn der allgemeine Wunsch nach einer Neujustierung der sozialen Sicherheit –<br />

als Ausdruck der Präferenzen der Bürger – besteht. Zweifellos bedeutet diese Sozialschlange<br />

bzw. das Korridor-Modell eine Einschränkung der nationalen Souveränität über die<br />

Sozialpolitik, doch ist dies der Preis einer funktionsfähigen Europäischen (Währungs-)Union!<br />

* Schließlich bleibt die Schaffung der deutschen Einheit eine große Herausforderung – und<br />

zwar in mehrfacher Hinsicht. Einerseits sind die Institutionen des ‚Modells Deutschland’<br />

bislang nicht wirklich in Ostdeutschland angekommen. Zwar gelten die tarif-, verbands-,<br />

sozial- und arbeitsmarktrechtlichen Bestimmungen gleichermaßen in Ost- wie in<br />

Westdeutschland, doch hat sich in den jungen Bundesländern ein halblegaler Zustand<br />

etabliert, der auch als ‚Wilder Osten’ bezeichnet wird: Die Unternehmen meiden zu großen<br />

5


Teilen die Arbeitgeberverbände und vermeiden so die Tarifbindung der Kollektivverträge.<br />

Selbst dort, wo Tarifverträge Gültigkeit besitzen, werden sie häufig sanktionslos außer Kraft<br />

gesetzt, indem sich Geschäftsleitungen und Betriebsräte auf untertarifliche Entlohnung<br />

einigen. Und einmalig in der deutschen Tarifpolitik sind so genannte ‚Härtefallklauseln’ in<br />

viele Tarifverträge aufgenommen worden, wonach bei Konkursbedrohung gar ganz legal<br />

untertariflich bezahlt werden darf. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese faktische<br />

Durchlöcherung des ‚Modells Deutschland’ nach Westdeutschland ausstrahlt. Andererseits ist<br />

es bisher – auch nach über zehn Jahren deutscher Einheit (!) – nicht gelungen, einen<br />

selbsttragenden Aufholprozess der ostdeutschen Länder in Gang zu setzen, der die riesigen<br />

Finanztransfers von West nach Ost mittelfristig überflüssig machen könnte. Dieser<br />

ungeheuere Finanztransfer aber liegt an den Wurzeln des makroökonomischen Übels der<br />

unterdurchschnittlichen Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung in Deutschland. Nicht<br />

etwa, weil sie die Leistungskraft des ‚Modells Deutschland’ überfordern würde, sondern weil<br />

außerordentliche Belastungen einer derart einzigartigen historischen Situation nicht mit den<br />

finanzpolitischen Richtlinien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der Europäischen<br />

(Währungs-)Union zu vereinbaren sind, die ökonomisch sinnvolle Öffnung eines politischen<br />

Konstruktes aber (noch) wegen der befürchteten Signalwirkungen gescheut wird.<br />

All diese Herausforderungen sind keineswegs neu, gleichwohl sind sie sehr ernst zu nehmen.<br />

Ohne eine absehbare wirtschaftliche Erholung Ostdeutschlands beispielsweise ist nicht nur<br />

das ‚Modell Deutschland’ – also die ganz spezifische soziale, tarifliche und arbeitsrechtliche<br />

Ausgestaltung der ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland –<br />

gefährdet, sondern der Erfolg der deutschen Einigung insgesamt. Wie lange die arg<br />

strapazierte Solidarität zwischen West und Ost und der labile innere Frieden noch halten, ist<br />

schwer einzuschätzen. Und dass auch jener Teil des Globalisierungsprozesses, der für die<br />

europäischen Volkswirtschaften von größter Bedeutung ist – die europäische Integration -,<br />

zwangsläufig dazu führen wird, dass nicht alles so bleiben kann, wie es ist, sollte auch<br />

niemanden überraschen. Die langfristige Konvergenz der EU-Sozialsysteme zu einem<br />

‚europäischen Modell’ wird auch an lang gehegten deutschen Eigenheiten nicht spurlos<br />

vorüber gehen können. Bereits jetzt zeigen sich für Jens Albers 4 insofern Fortschritte im<br />

Konvergenzprozess, „als vor allem die traditionell auf Sozialbeiträge setzenden<br />

kontinentaleuropäischen Länder deren Anteil gesenkt und den der Steuern erhöht haben,<br />

während umgekehrt die traditionell von allgemeinen Steuerzahlungen dominierten<br />

skandinavischen Sozialstaaten mit Ausnahme Finnlands das Beitragselement stärkten und den<br />

Steueranteil zurückschraubten.“ Dies veranschaulicht aber doch nur, dass die institutionellen<br />

Strukturen des ‚Modells Deutschland’ in ihrer systembildenden Bedingtheit ebenso flexibel<br />

auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen (z. B. des Strukturwandels und der neuen<br />

Anforderungen an die Dynamik und Beweglichkeit des Arbeitsmarktes) reagiert haben wie<br />

die deutsche Politik: Der Einstieg in den Umbau der Alters- und Krankenversicherung, die<br />

ersten Schritte in Richtung einer stärker steuer- als abgabefinanzierten Sozialsicherung (Öko-<br />

Steuer zur Senkung der Lohnnebenkosten) etwa sind gute Beispiele hierfür. Vielen mag diese<br />

Flexibilität noch viel zu zäh sein. Abgesehen von den im spezifisch deutschen Föderalismus<br />

eingebauten Reformschwellen, die den Bundesrat häufig zu einer Art Opposition zu<br />

Bundestag und Bundesregierung geraten lassen und radikale Wechsel der Politikmuster wie in<br />

Großbritannien oder Neuseeland tatsächlich wenig wahrscheinlich machen, sind solche<br />

Klagen zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass Veränderungen im ‚Modell<br />

Deutschland’ genaueres hinschauen erfordern und sich der medial besser verwertbaren<br />

Strukturbrüche á la ‚Thatcher-Revolution’ entziehen. Wer dann dennoch nicht auf einen<br />

4 Albers, J.; Modernisierung als Peripetie des Sozialstaats?; in: Berliner Journal für Soziologie, Bd. 12, Nr. 1,<br />

2002, S. 5 – 36<br />

6


marktschreierischen Umgang mit Politik verzichten will oder kann, reklamiert lieber die<br />

‚Reformblockade’ oder die ‚verknöcherte Republik’.<br />

Ein anderer Reformbedarf<br />

Wesentliche Teile eines tatsächlichen, allerdings völlig anders gelagerten Reformbedarfs<br />

müssen erst benannt werden: Es bedarf einer Renaissance makroökonomischen Denkens und,<br />

damit dies nicht zu einem wenig hilfreichen ‚Weg zurück in die siebziger Jahre’ wird, einer<br />

Weiterentwicklung alter keynesianischer Konzepte, die die Fehler der Vergangenheit<br />

vermeiden und die Veränderungen der Rahmenbedingungen in Rechnung stellen.<br />

Für eine integrative <strong>Wirtschaftspolitik</strong> als Teil der institutionellen Modernisierung<br />

Der Keynesianismus der siebziger Jahre ist nicht etwa, wie insbesondere in<br />

sozialdemokratischen Kreisen häufig kolportiert wird, daran gescheitert, dass seine<br />

gesamtwirtschaftliche Ausrichtung – die ‚Globalsteuerung’ – zu wenig Rücksicht auf die<br />

strukturellen Probleme einer Volkswirtschaft nehme, sondern wesentlich an seiner Ignoranz<br />

gegenüber den Problemen der Inflation und der Verschuldung des Staates. In den achtziger<br />

Jahren wurde deshalb fast zwangsläufig die monetaristische Doktrin der Preisstabilität<br />

dominant, in den neunziger Jahren schließlich setzte sich die angebotspolitische Heilslehre<br />

der ‚Konsolidierungs- bzw. Sparpolitik’ durch – ohne geld- und finanzpolitische Instrumente<br />

aber schien der Keynesianismus tot. Tatsächlich verweist die Vernachlässigung von<br />

inflationären Potenzialen und der zunehmenden Verschuldung der öffentlichen Haushalte<br />

jedoch nur darauf, dass der Keynesianismus der siebziger Jahre zu wenig Augenmerk auf die<br />

Interaktion der verschiedenen Politikträger gelegt hatte – dies aber ist zumal in Deutschland<br />

von großer Bedeutung, wo die Geld- ebenso wie die Tarifpolitik von weitgehend autonomen<br />

Trägern – der Notenbank und den Tarifparteien – betrieben wird. Neuere Forschungsarbeiten<br />

wie auch die wirtschaftspolitische Realität in den beschäftigungspolitisch erfolgreichen<br />

Ländern haben deutlich gemacht, dass eine keynesianische Finanz- und Geldpolitik auch<br />

heute noch wirkungsvoll sein kann – gleichzeitig hat sich aber auch gezeigt, dass eine<br />

nachhaltige Verbesserung der Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen nur zu erreichen<br />

sein wird, wenn entweder rein zufällig eine Konstellation entsteht, die die potenzielle<br />

Blockade zwischen den autonomen Politikträgern überwinden hilft (wie in den USA) oder<br />

aber spezielle Institutionen geschaffen werden, die Anreize für eine Verhaltensabstimmung<br />

setzen – es gilt also, einen Makro-Dialog anzuregen. Nur wenn die Akteure der Geld-, Finanzund<br />

Tarifpolitik miteinander kooperieren, kann ein inflationsfreies, die öffentlichen Haushalte<br />

schonendes Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum angeregt werden, wie es sowohl von<br />

den Akteuren – also der Notenbank, der Regierung und den Tarifparteien – selbst gewünscht<br />

wird, wie es aber auch dem Gemeinwohl förderlich wäre. Ohne entsprechende Institutionen<br />

aber, z. B. einen reformierten Sachverständigenrat und einen Sozioökonomischen Rat nach<br />

holländischem Vorbild, würden die Politikträger in der so genannten ‚Kooperationsfalle’<br />

stecken bleiben. Die Gefahr nämlich, seinen Beitrag zum Gelingen der Kooperation zu<br />

erbringen, während die anderen Partner sich verweigern und somit den kooperationsbereiten<br />

Akteur ‚ausbeuten’, ist so groß, dass ohne einen festgelegten Ort der Kommunikation und<br />

Absprache keiner der Akteure seinen Beitrag bringen wird. Dieses scheinbar paradoxe<br />

Verhalten, dass dazu führt, dass alle schlechter dastehen als im Falle der Kooperation, ist als<br />

‚Gefangenen-Dilemma’ in den Sozialwissenschaften nur zu gut bekannt und durch<br />

tausendfache Experimente bestätigt.<br />

Wenn diese Überlegungen zum Makro-Dialog auch an die ‚Konzertierte Aktion’ der frühen<br />

siebziger Jahre unter Karl Schiller erinnern, so mag dies daran liegen, dass die Erinnerung an<br />

7


die ‚Konzertierte Aktion’ mittlerweile weitgehend verblasst ist. Ansonsten müsste man sich<br />

ins Gedächtnis rufen, dass diese Form der Verhaltensabstimmung an der unklaren<br />

Zielsetzung, der mangelhaften Institutionalisierung und inadäquaten Politikregeln gescheitert<br />

ist. Während der Initiator Karl Schiller hoffte, durch Wahrung der ‚sozialen Symmetrie’ den<br />

Verteilungskonflikt zu entschärfen, wurde schnell deutlich, dass auch etwas anderes dahinter<br />

stecken könnte. Der frühere Chef-Ökonom der Bundesbank und somit selbst Akteur der<br />

‚Konzertierten Aktion’, Norbert Kloten 5 , bekannte freimütig: „Sie sollte stabilitätskonformes<br />

Handeln der Sozialpartner durch die normensetzende Kraft staatlicher Orientierungsdaten und<br />

die disziplinierende Vernunft einer Diskussion zwischen den Beteiligten gewährleisten.“ Es<br />

ging also um eine Ent-Politisierung der Tarifpolitik, nicht aber eine Kooperation<br />

verschiedener Politikträger. In dieser Hinsicht ähnelte die ‚Konzertierte Aktion’ also mehr<br />

dem gescheiterten ‚Bündnis für Arbeit’ als einem Makro-Dialog.<br />

Damit das Ergebnis eines Makro-Dialogs sich nicht nur in ‚Leerformeln’ erschöpft, bedarf es<br />

deshalb nicht einer Wiederbelebung dieser nach dem Stabilitätsgesetz aus dem Jahre 1967<br />

noch heute jederzeit einberufbaren ‚Konzertierten Aktion’, sondern einer wahrhaftigen<br />

Reformanstrengung für eine integrative <strong>Wirtschaftspolitik</strong>, deren Zentrum eine<br />

kooperationswillige und kooperationsfördernde Bundesregierung bildet. Damit könnte endlich<br />

auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass moderne <strong>Wirtschaftspolitik</strong> nicht länger<br />

für sich in Anspruch nehmen kann, nach simpler Zweckrationalität absolute<br />

Steuerungsfähigkeit zu besitzen, sondern vielmehr Initiator gesellschaftlicher Kooperationen<br />

zu sein hat, die konsequenterweise nur die Rahmenbedingungen für gewünschte<br />

gesellschaftliche Konstellationen schaffen können.<br />

Neue Wege der europäischen Integration<br />

Die Steuerungsfähigkeit nationaler <strong>Wirtschaftspolitik</strong> wird natürlich auch durch zunehmende<br />

globale Integrationsprozesse und, ganz konkret, die europäischen Einigung beschränkt. Seit<br />

1999, also mit Beginn der Europäischen Währungsunion (EWU), haben die teilnehmenden<br />

Nationalstaaten ihre Hoheitsrechte auf Ausgabe einer eigenen Währung und damit das<br />

Betreiben einer eigenständigen Geldpolitik aufgegeben und einer supra-nationalen Behörde,<br />

der Europäischen Zentralbank (EZB) übergeben. Der notwendige Makro-Dialog kann<br />

deshalb nicht mehr allein auf nationaler, also z. B. auf deutscher Ebene eingerichtet werden,<br />

weil die EZB ihre Geldpolitik nicht nur mit Blick auf die Bundesrepublik, sondern mit Blick<br />

auf die Inflationsentwicklung in der gesamten EWU betreibt. Die richtige Ebene für einen<br />

Makro-Dialog wäre deshalb die EU-Ebene. Und tatsächlich wurde im Jahr 1999, auf Initiative<br />

der damals gerade erst ins Amt gewählten Bundesregierung unter Gerhard Schröder und<br />

seinem damaligen Finanzminister Oskar Lafontaine im Rahmen der EU-<br />

Beschäftigungspolitik der so genannte ‚Kölner Prozess’ auf den Weg gebracht, der exakt<br />

jenes Ziel verfolgte, dass ich oben beschrieben habe: eine Verhaltensabstimmung zwischen<br />

der Geld-, der Finanz- und der Tarifpolitik - der EU-Makrodialog.<br />

Die Tatsache, dass der ‚Kölner Prozess’ weder im politischen Alltagsgeschäft, noch in<br />

wissenschaftlichen Abhandlungen oder Zukunftsvisionen der EU irgendeine Rolle spielt,<br />

zeigt allerdings, dass irgendetwas schief gegangen sein muss: Einerseits hat man aus den<br />

deutschen Erfahrungen mit der ‚Konzertierten Aktion’ nichts gelernt. Wieder fehlt es dem<br />

EU-Makrodialog an einer adäquaten institutionellen Struktur, die nicht nur die unumgängliche<br />

Kommunikation zwischen den Akteuren sicherstellt, sondern auch die Ausformung von<br />

5 Kloten, N.; Erfolge und Mißerfolge der Stabilisierungspolitik (1969 – 1974); in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.);<br />

Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876 – 1975, Frankfurt 1976, S. 643 – 690<br />

8


akzeptierten Politikregeln und, besonders wichtig, deren Kontrolle ermöglicht. Außerdem<br />

passt der EU-Makrodialog, der ja eine Abstimmung der Politikbereiche voranbringen soll,<br />

nicht zu den starren Politikregeln des ‚Stabilitäts- und Wachstumspaktes’, der genau<br />

genommen ja ein Restriktions- und Austeritätspakt ist. Ganz offensichtlich kollidieren an<br />

dieser Stelle die wirtschaftspolitischen Vorstellungen einer abgestimmten Interaktion des<br />

‚Kölner Prozesses’ aus dem Jahre 1999 mit den Verfahrensvorstellungen zur Finanzpolitik<br />

nach dem ‚Stabilitäts- und Wachstumspakt’ aus dem Jahre 1997, als noch Theo Waigel die<br />

Richtlinien europäischer <strong>Wirtschaftspolitik</strong> bestimmte. Dass es im Gefolge des ‚Kölner<br />

Prozesses’ nicht zu einer klaren Kurskorrektur und damit auch zu einer Revision des<br />

‚Stabilitäts- und Wachstumspaktes’ kam, muss wohl auf das schnelle Schließen des ‚Fensters<br />

der Möglichkeiten’ nach Lafontaines Rücktritt zurückgeführt werden.<br />

Die europäische Integration ist ein politisches Großprojekt, das bei den Menschen in Europa<br />

bislang nicht so recht angekommen ist. Die Zustimmung zur Europäischen Währungsunion<br />

war in allen Teilnehmerländer eher dürftig, der Prozess der Schaffung eines einheitlichen<br />

Binnenmarktes wird häufig auf die Flut von Brüsseler Verordnungen reduziert. Nachdem in<br />

den achtziger Jahren die europäische Integration auf gutem Wege schien und deutlich an<br />

Zustimmung bei den Menschen gewann, müssen die neunziger Jahre – trotz oder gerade<br />

wegen der Einführung einer gemeinsamen Währung – als Rückfall in den Euroskeptizismus<br />

verstanden werden: Die regelmäßige Befragung der Europäer zeigt jedenfalls eine wieder<br />

zunehmende Distanz zur Europäischen Union.<br />

Zustimmung und Bewertung der EU-Mitgliedschaft<br />

1983 1990 1996 2000 2001<br />

EU-Mitgliedschaft ist eine ‚gute<br />

Sache’<br />

54 72 47 50 48<br />

EU-Mitgliedschaft ist vorteilhaft<br />

für mein Land<br />

52 59 44 47 45<br />

Quelle: Eurobarometer<br />

Statt die Europäische Union als historische Chance des friedlichen Zusammenlebens der<br />

Menschen in Europa und der notwendigen Positionierung in einer globalen Wirtschaft zu<br />

begreifen, überwiegt die Angst vor der Aufgabe nationaler Eigenheiten und Sonderinteressen,<br />

aber auch die ganz unmittelbare Befürchtung, durch die europäische Einigung Abstriche bei<br />

der sozialen Sicherung machen zu müssen – dies betrifft die Bürger in den reicheren<br />

Mitgliedsstaaten sicher mehr als an der südlichen Peripherie. Den abstrakten Erwartungen und<br />

Versprechen stehen also ganz konkrete, individuelle Ängste gegenüber. Natürlich ist die<br />

Politik an dieser Entwicklung nicht schuldlos: Es ist ihr nicht in ausreichendem Maße<br />

gelungen, ökonomische Rationalität in politische Zustimmung übersetzen zu können,<br />

vielmehr hat sie allzu häufig versucht, den Weg einer ordentlichen Vorbereitung eines<br />

politischen Themas (das sogenannte Agenda-Building) mit anschließender gesellschaftlicher<br />

Diskussion dadurch zu verkürzen und im Ergebnis zu präjudizieren, dass auf europäische<br />

Notwendigkeiten verwiesen wurde. Über den Prozess der europäischen Währungsintegration<br />

sind in den achtziger Jahren zunächst Preisstabilitätsimpulse, in den neunziger Jahren dann<br />

Haushaltskonsolidierungsimpulse durch ganz Europa gegangen – nur allzu gerne band man<br />

sich die Hände, um damit einer schwierigen und unberechenbaren Diskussion im eigenen<br />

Lande aus dem Weg gehen zu können. So aber lässt sich keine Legitimation für europäische<br />

Institutionen oder (De-)Regulierungen herstellen. Schon erst recht nicht, wenn die Verweise<br />

auf Brüssel – z.B. die Disinflationspolitik zur Aufrechterhaltung eines abstrakten<br />

9


Europäischen Währungssystems, die Sparpolitik als Folge des ‚Stabilitäts- und<br />

Wachstumspaktes’ oder die Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik zur Vollendung des<br />

europäischen Binnenmarktes – mit negativer gesamtwirtschaftlicher Entwicklung verbunden<br />

war.<br />

Wenn es nicht gelingt, den europäischen Integrationsprozess mit spürbar positiven<br />

Auswirkungen auf individueller oder gesamtwirtschaftlicher Ebene in Verbindung zu bringen,<br />

wird es früher oder später zu einem ‚Backlash’, also einem Rückschlag, kommen, der nicht<br />

nur die weitere Integration in Frage stellen könnte, sondern sogar zu re-nationalisierenden<br />

Bestrebungen zu führen droht. Tendenzen dazu sind überall in Europa durch die Wahlerfolge<br />

nationalistischer Parteien und populistischer Führer und EU-Kritiker bereits heute zu<br />

erkennen. Hier nun könnte eine konstruktive Nutzung des EU-Makrodialogs endlich einmal<br />

einen positiven Zündfunken von der europäischen Integration und Institutionenbildung zur<br />

nationalen Entwicklung auslösen, der die Europäische Union mit der wohlklingenden<br />

Konnotation eines tatsächlichen Wachstumsschubes verbände. Statt wie bisher von der<br />

europäischen Bühne aus eine neoliberale Infiltration der Deregulierung, Liberalisierung und<br />

Privatisierung zu inszenieren, könnte der EU-Makrodialog als Vorbild für vergleichbare<br />

Kooperationsforen auf nationaler Ebene dienen, auf der auch in absehbarer Zukunft noch die<br />

Akteure der Tarif- und Finanzpolitik handeln werden. Dazu allerdings bedarf es dann auch<br />

einer wachstums- und beschäftigungsfreundlichen Revision des ‚Stabilitäts- und<br />

Wachstumspaktes’ – dies ist vor allem für die Bundesrepublik von größter Bedeutung, denn<br />

die historische Aufgabe der doppelten Einigung – deutsche und europäische – ist in der<br />

Zwangsjacke des ‚Stabilitäts- und Wachstumspaktes’ nicht zu bewältigen.<br />

Vielfach ist davon gesprochen worden, die europäische Integration sei ein ‚Projekt des<br />

Kapitals’, diene also den Interessen der Unternehmen, nicht aber der Menschen in Europa.<br />

Dies ist in seiner Frontstellung sicherlich überzogen, denn schließlich profitieren auch die<br />

Menschen in Form von Arbeitsplätzen und Einkommen davon, dass sich die Unternehmen an<br />

Standorten in der Europäischen Union auf den globalen Wettbewerb vorbereiten. Und<br />

zweifellos kann aus einer zunehmenden Integration der Güter- und Arbeitsmärkte, vor allem<br />

aber auch durch die Schaffung eines gemeinsamen Währungsraumes im Saldo mehr Nutzen<br />

gezogen werden, als es an Kosten oder Unwägbarkeiten mit sich bringt. Aber dieses Urteil<br />

gilt nur, wenn die europäische <strong>Wirtschaftspolitik</strong> sich nicht in den Dienst der Leistungselite<br />

stellt oder von dieser – bewusst oder unbewusst – in die Pflicht nehmen lässt.<br />

Inflationsbekämpfung und Haushaltskonsolidierung waren wichtige Themen auf dem Wege in<br />

die Europäische Währungsunion, jetzt geht es um Wachstum und Beschäftigung, um die<br />

Schaffung von Einnahmesicherheit der öffentlichen Hände durch Steuerharmonisierung und,<br />

natürlich, um ein ‚europäisches Modell’ des Sozialstaates, dem sich auch die Menschen in<br />

Europa gerne anvertrauen wollen. Dazu aber muss der bisherige Integrationspfad deutlich<br />

geändert werden.<br />

Moderner Staat = aktiver Staat<br />

Das neoliberale Dogma des zunehmend handlungsunfähigen Staates ist ein ziemlich<br />

geschicktes Täuschungsmanöver. Einerseits soll damit die interventionistische Kraft eines<br />

defizitären Haushalts zugunsten einer ‚soliden’ Sparpolitik bestritten werden, andererseits<br />

wird aber auch verschleiert, dass auch die neoliberale Angebots- bzw. Standortpolitik einen<br />

äußerst handlungsfähigen und steuerungsmächtigen Staat voraussetzt. Allerdings soll die<br />

staatliche Selbstbeschneidung mit dem Ziel der Umverteilung zugunsten der Leistungselite<br />

nicht als aktives Handeln erkannt werden, sondern als notwendige Anpassung an die sich<br />

verändernden Rahmenbedingungen erscheinen. Auch das sozialdemokratische ‚Dritte-Weg-<br />

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Konzept’ eines ‚aktivierenden Staates’ hat sich dieser Logik untergeordnet, hofft aber auf die<br />

Selbstorganisationskraft der Menschen, die der Staat durch finanzielle Anreize allenfalls<br />

fördern könne. Gerhard Schröder und Tony Blair haben in ihrem vieldiskutierten<br />

Strategiepapier zur Zukunft sozialdemokratischer Politikvorstellungen das schöne Bild<br />

geprägt: ‚Der Staat solle nicht mehr selber rudern, sondern nur mehr steuern’.<br />

Dieses Ideal geht aber von der grundsätzlichen Selbstregulierungskraft der Märkte aus, die der<br />

neoliberalen Sichtweise entspricht, von der Realität allerdings täglich aufs Neue widerlegt<br />

wird. Der Steuerungs- und Interventionsbedarf in modernen Volkswirtschaften ist viel größer,<br />

als es der gegenwärtige Zeitgeist wahr haben will, die Steuerungsfähigkeit von<br />

Nationalstaaten, vor allem aber eines Staatesverbundes wie der Europäischen Union ist auch<br />

heute noch viel größer als es die Globalismus-Theoretiker behaupten. Der moderne Staat<br />

muss heute viel mehr leisten als in den glorreichen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts –<br />

dem so genannten ‚goldenen Zeitalter’. Er muss nicht nur durch finanz-, regional- oder<br />

strukturpolitische Maßnahmen in die Abläufe der Volkswirtschaft eingreifen, er muss darüber<br />

hinaus Kooperationen organisieren: Kooperationen auf supra-nationaler Ebene, um die<br />

Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene zu erhalten oder wiederherzustellen,<br />

Kooperationen auf nationaler Ebene, um die gegenseitige Blockade der verschiedenen<br />

Politikbereiche zu verhindern und Kooperationen auf regionaler Ebene, um die in der<br />

Standortkonkurrenz entscheidenden Branchen-Cluster – ein Netzwerk aus Zulieferern und<br />

Abnehmern, spezifischen Qualifikationsangeboten der Arbeitnehmer und -erfordernissen<br />

dynamischer Unternehmen – zu gewährleisten. Derartige Cluster sind viel bedeutungsvoller<br />

als die Lohnkosten eines Standortes.<br />

Im Rahmen einer integrativen <strong>Wirtschaftspolitik</strong>, wie sie oben beschrieben wurde, muss die<br />

öffentliche Hand ihre Finanzpolitik an den Kriterien ‚Nachhaltigkeit, Beschäftigung und<br />

Wachstum’ ausrichten. Dass bedeutet einerseits, dass einem simplen ‚defict spending’ – also<br />

einer defizitfinanzierten Nachfrageerhöhung – nicht mehr das Wort geredet werden kann,<br />

andererseits aber auch ein ausgeglichener Haushalt nicht als dauerhafte Finanzregel akzeptiert<br />

werden muss. Vielmehr muss eine Umstrukturierung zugunsten der öffentlichen Investition<br />

stattfinden, die in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich zurückgefahren wurde und<br />

mittlerweile zu einem eigenständigen Teil der deutschen Wirtschaftsproblems geworden ist.<br />

Dieter Vesper 6 , Finanzexperte des Berliner Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, legt<br />

den Finger in die Wunde: „Das Investitionsvolumen der öffentlichen Hand in Deutschland hat<br />

ein besorgniserregend niedriges Niveau erreicht. Inzwischen investieren Bund, Länder und<br />

Gemeinden nur noch 1,8% des nominalen Bruttoinlandsproduktes, nachdem in den sechziger<br />

Jahren die Quote noch bei 5% gelegen hatte. Infolge der Vereinigung wurde die Talfahrt der<br />

öffentlichen Investitionen nur vorübergehend gestoppt. Nach dem Abklingen dieser<br />

Sonderentwicklung war die Wirtschaft in eine Rezession geraten, von der sie sich nur<br />

zögerlich erholte. Die staatlichen Finanzprobleme verschärften sich und hatten zur Folge, dass<br />

die Investitionsausgaben gesenkt wurden, und zwar in West wie in Ost. Während die<br />

westdeutschen Länder und Gemeinden ihre Sachinvestitionen (...) von 1992 bis 2000 um<br />

knapp ein Fünftel verringerten, reduzierten die ostdeutschen Länder und Gemeinden ihr<br />

Investitionsvolumen um fast ein Drittel. ... Alles in allem spiegelt die Entwicklung der<br />

öffentlichen Investitionsausgaben die finanzpolitische Ausrichtung im letzten Jahrzehnt.“<br />

Diese Entwicklung hat zwei gleichermaßen nachteilige Konsequenzen: Zum einen<br />

korrespondiert sie in fataler Weise mit der ohnehin rückläufigen privaten Investitionstätigkeit<br />

6 Vesper, D.; Finanzpolitik und Modernisierung der Infrastruktur: Defizite und Ausgestaltungsmöglichkeiten in<br />

Deutschland und der EU; in: Truger, A., Welzmüller, R. (Hrsg.); Chancen der Währungsunion nutzen –<br />

koordinierte Politik für Beschäftigung und moderne Infrastruktur, Düsseldorf 2002, S. 105 – 119<br />

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und verstärkt damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwäche, statt ihr entgegen zu<br />

wirken. Der Versuch jedenfalls, mittels einer Kürzung der Investitionen eine Konsolidierung<br />

der öffentlichen Haushalte einleiten zu wollen, dürfte etwa so schlau sein, wie das berühmte<br />

Milchmädchen. Zum anderen sind öffentliche Investitionen notwendige Voraussetzungen für<br />

die erfolgreiche Wirtschaftstätigkeit von Unternehmen. Rückläufige staatliche Investitionen<br />

dürften also einer – neben anderen – der Faktoren sein, die die private Investitionsschwäche<br />

erklären helfen. Dass die bereits lang währende Zurückhaltung der öffentlichen Hände zu<br />

deutlichen Standortschwächen geführt hat, lässt sich leicht erkennen, wenn der Zustand<br />

deutscher Schulen, Hochschulen und Universitäten betrachtet wird. Es hätte nicht erst der<br />

PISA-Studie zum internationalen Vergleich der Fähigkeiten deutscher Schüler bedurft, um<br />

wahrzunehmen, dass in Deutschland bereits seit Jahren zu wenig in Bildung, Forschung und<br />

Entwicklung investiert wird. Öffentliche Investitionen müssen also am Anfang des 21.<br />

Jahrhunderts nicht unbedingt als ‚Teer- und Betonpolitik’ gedacht werden, wenngleich auch<br />

die öffentliche Verkehrsinfrastruktur bereits Verrottungserscheinungen zeigt.<br />

Öffentliche Investitionen müssen nicht vollständig aus dem laufenden Steueraufkommen<br />

finanziert werden – dies würde, im Gegenteil, sogar zu einer übermäßigen Belastung der<br />

gegenwärtig steuerzahlenden Generation führen, denn schließlich stehen die so erzeugten<br />

Angebote wie Autobahnen, Hochschulen oder Fiberglaskabel auch späteren Generationen<br />

noch zur Verfügung. Eine Kreditfinanzierung verlangt deshalb späteren Generationen nur<br />

gerechterweise einen Preis für die Nutzung eines öffentlichen Angebotes ab. Auch die<br />

Finanzierung der deutschen Einheit vollständig aus dem laufenden Steueraufkommen würde<br />

nur spätere Generationen, die vom Ergebnis eines geglückten Zusammenwachsens der beiden<br />

Teile Deutschlands erheblich profitieren könnten, unnötigerweise von einem eigenen<br />

Finanzierungsbeitrag freistellen. Eine Umstrukturierung der staatlichen Ausgaben in Richtung<br />

eines größeren Anteils an Investitionen käme also einer stärkeren Betonung der<br />

Zukunftsvorsorge gleich, entließe aber die politischen Verantwortlichen nicht aus ihrer Sorge,<br />

Einschnitte bei den laufenden Ausgaben rechtfertigen zu müssen, wenn die Steuerwiderstände<br />

in der Bevölkerung hoch bleiben.<br />

Eine andere Reformpolitik stellt also nicht die bewährten Strukturen des ‚Modells<br />

Deutschland’ in Frage, sondern versucht diese vielmehr durch ein neues Verständnis von<br />

staatlichem Handeln zu ergänzen. Der moderne Staat kann nicht als Steuerungsinstanz<br />

verstanden werden, der Zielvorstellungen durch effizienten Instrumenteneinsatz in<br />

gewünschte politische Ziele transformiert, damit wäre er angesichts der Handlungsautonomie<br />

anderer Politikträger vollständig überfordert. Der moderne Staat muss in erster Linie die<br />

Kooperationsbereitschaft verschiedener Akteure – der Tarifparteien, der Notenbank, der<br />

Unternehmen und der betrieblichen Sozialpartner – auf allen Ebenen fördern und in diesem<br />

Rahmen natürlich auch einen eigenen Beitrag zum Gelingen demokratisch bestimmter Ziele<br />

beitragen. Er kann, mit anderen Worten, nur versuchen, die Rahmenbedingungen für ein<br />

inflationsfreies Wachstum und eine bessere Beschäftigungsentwicklung zu schaffen. Dazu<br />

muss er aber auch selbst von der finanzpolitischen Bremse gehen. Und er muss die<br />

europäische Zusammenarbeit auf wirtschafts-, steuer- und sozialpolitischem Gebiet suchen,<br />

denn der Nationalstaat verliert seine eigenständige Steuerungskompetenz mit fortschreitender<br />

Integration zusehends. Erst eine solcherart reformierte Staatlichkeit ist überhaupt in der Lage,<br />

die ebenfalls notwendige Reform der sozialen Systeme und deren Finanzierung in einer Weise<br />

zu betreiben, die nicht als interessenpolitisch motivierte Deformpolitik verstanden werden<br />

muss. Erst sie schafft gewissermaßen Verhandlungsmöglichkeiten ‚auf gleicher Augenhöhe’.<br />

Kulturelle und gesellschaftliche Voraussetzungen<br />

12


Reformpolitische <strong>Alternative</strong>n sind also denkbar. Niemand sollte deshalb zusammenzucken,<br />

wenn in der Diskussion von den neoliberalen Dogmatikern argumentiert wird: There Is No<br />

<strong>Alternative</strong> – Es gibt keine <strong>Alternative</strong>. Hier werden Sachzwänge konstruiert, um<br />

argumentative Schwächen und empirische Falsifikationen zu überdecken. Und wenn Politiker<br />

mit der TINA-Rhetorik kommen, wird es abenteuerlich, impliziert doch der Politikbegriff die<br />

Auswahl zwischen Ziel- und Instrumentenoptionen – alles andere wäre lediglich<br />

Administration und lieferte keine Legitimation demokratischer Meinungsbildungsprozesse.<br />

Reformpolitische <strong>Alternative</strong>n sind notwendige Bedingungen für die Rückkehr zu einer<br />

vernünftigen <strong>Wirtschaftspolitik</strong> und den Erhalt des ‚Modells Deutschland’, sie sind<br />

keineswegs eine hinreichende Bedingung. Die Legitimation der Institutionen des deutschen<br />

Arbeits- und Tarifvertragssystems wird wohl so lange in Zweifel gezogen werden, wie<br />

anhaltend hohe Arbeitslosigkeit besteht – oder anders: Die Rückkehr vom Dogma des<br />

neoliberalen Wettbewerbsstaates zum solidarischen, konsensorientierten Wohlfahrtsstaat ist<br />

ohne eine vollbeschäftigungsorientierte <strong>Wirtschaftspolitik</strong> nicht vorstellbar. So wie der<br />

Keynesianismus der siebziger Jahre die Basis der westlichen Wohlfahrtsstaaten im<br />

sogenannten ‚goldenen Zeitalter’ war, so ist ein reformierter Keynesianismus die Grundlage<br />

des reformierten Wohlfahrtsstaates des 21. Jahrhunderts. Allerdings können keynesianische<br />

Politikversatzstücke auch gewissermaßen nachsorgend eingesetzt werden, um einen im Sinne<br />

der Leistungseliten deregulierten, liberalisierten Wettbewerbsstaat zu stabilisieren – dies<br />

zeigen die Beispiele Großbritanniens und der USA unter den Thatcher- bzw. Reagan-<br />

Administrationen nur allzu deutlich. Also ist auch nicht keynesianischer Instrumenteneinsatz<br />

per se, sondern eine vorsorgende und umfassende wirtschaftspolitische Konzeption von<br />

Nöten, die die integrative <strong>Wirtschaftspolitik</strong> zum Ausgangspunkt nimmt.<br />

Wenn die Analyse ansatzweise stimmig ist, dann erfordert die (externe) Legitimation einer<br />

solchen Politik allerdings einen radikalen Wandel des herrschenden gesellschaftlichen<br />

Meinungsklimas. Solange ein überbordender Individualismus, eine ganz allgemeiner,<br />

intuitiver Staatsskeptizismus und Sozialneid herrscht und die ‚öffentliche Meinung’ prägt,<br />

gelingt es der Leistungselite leicht, ihre Verteilungsinteressen zum Interesse des<br />

Allgemeinwohls zu stilisieren. Unter diesen Bedingungen ist die Aufkündigung des<br />

‚historischen Kompromisses’ nur zwangsläufig, oder anders ausgedrückt: Die Herstellung<br />

eines solchen Makro-Klimas war die notwendige Voraussetzung dafür, dass die Leistungselite<br />

ohne gesellschaftlichen Imageverlust einen fast zum Gründungskonsens der Bundesrepublik<br />

zählenden Verteilungskompromiss aufkündigen konnte. Dass sie dies mittlerweile ohne<br />

Rücksicht auf das Allgemeinwohl tut, darf nicht länger verborgen bleiben und könnte zu<br />

einem Meinungswandel führen.<br />

So abgegriffen die Begriffe auch sein mögen, sie treffen doch den Kern des Arguments, wenn<br />

der DGB-Vorsitzende Michael Sommer einen neuen ‚Gesellschaftsvertrag’ einfordert. Damit<br />

ist ja nicht ein ausformuliertes Regelwerk gemeint, sondern ein neuer<br />

Verteilungskompromiss, der von den Gesellschaftsmitgliedern – den Arbeitnehmern und den<br />

Arbeitgebern, den Real- und den Humankapitalbesitzern, den Arbeitenden und den Nicht-<br />

Arbeitenden, den Jungen und den Alten - zumindest soweit akzeptiert wird, dass seine<br />

Ergebnisse nicht ständig in Zweifel gezogen und attackiert werden. Es bedarf so etwas wie<br />

einer neuen ‚Kultur der Solidarität’, die über Lippenbekenntnisse hinausgeht: „Denn ein<br />

überzeugendes Bekenntnis zum demokratischen Sozialstaat würde die Einsicht voraussetzen,<br />

daß die Effizienz einer kapitalistischen Marktwirtschaft einer umfassenden staatlichen ,<br />

demokratisch legitimierten Korrektur bedarf, die auch in Krisenzeiten – zumindest im<br />

13


Grundsatz – nicht zur Disposition stehen dürfte“, so Ralf Ptak 7 . Es wird sich früher oder<br />

später zeigen, dass die kulturelle Fähigkeit zu Solidarität und Kompromiss, die Bereitschaft<br />

und institutionelle Förderung des kooperativen Ausgleichs keineswegs nur ‚weiche’ Kriterien<br />

einer wirtschaftlich erfolgreichen Gesellschaft sind, sondern als ‚Sozialkapital’ die<br />

entscheidende gesellschaftliche Differenz zwischen den Nationalökonomien in der globalen<br />

Welt ausmachen.<br />

Gewiss, gegenwärtig scheinen wir weit entfernt von einer solchen ‚Kultur der Solidarität’.<br />

Doch gibt es bereits zahlreiche Anzeichen, dass das Zick-Zack gesellschaftlicher Stimmungen<br />

und hegemonialer Weltbilder schon bald wieder in eine kollektivere, solidarischere Richtung<br />

ausschlagen könnte. So berichtet DIE ZEIT 8 , die ansonsten nicht müde wird, die deutsche<br />

Stillstandsgesellschaft zu geißeln, von erstaunlichen Entwicklung in Großbritannien: „Die<br />

Chancenlosigkeit der Konservativen (bei den Parlamentswahlen 2001, A.H.) spiegelt einen<br />

bemerkenswerten Stimmungswandel wider. Marktprinzip und Privatisierung, ideologische<br />

Markenzeichen der Thatcher-Revolution, von New Labour bejaht und für den Gebrauch der<br />

Mitte-links-Partei modifiziert, werden nunmehr auf der Insel wieder in Frage gestellt.<br />

Urplötzlich geistert sogar ein längst tot geglaubter Begriff durch die Lande: Verstaatlichung.<br />

Mehr als zwei Drittel der Briten wünschen, die Privatisierung der Eisenbahn möge rückgängig<br />

gemacht werde (...). Die Lehren der Eisernen Lady haben ausgedient.“ Und in Deutschland<br />

war die Globalisierungsdiskussion ganz offensichtlich ein letzter, als Befreiungsschlag<br />

geplanter Versuch der Wettbewerbsapologeten, ihre unter dem Kampfbegriff der<br />

‚Angebotspolitik’ fast schon gescheiterte Weltinterpretation zu retten. Tatsächlich aber lösten<br />

sie nicht zuletzt damit eine Reihe von sozialen Bewegungen aus, die als Katalysator und<br />

Verstärker neuer Gesellschaftsbilder dienen. Man kann allerdings nur hoffen, dass sich die<br />

vernünftigen gegenüber den radikalen Gesellschaftsverbesserern durchsetzen können.<br />

7 Ptak, R.; Verordnet – geduldet – erledigt? Zur Entwicklung des deutschen Sozialstaates im historischen<br />

Kontext; in: Butterwegge, Chr., Hickel, R., Ptak, R.; Sozialstaat und neoliberale Hegemonie, Berlin 1998, S. 9 –<br />

60<br />

8 Krönig, J.; Die Insel der Katastrophen; in: Die Zeit v. 08.03.2001, S. 14<br />

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Bisher erschienene STANDPUNKTE<br />

Nr. 1 Sozialaufruf<br />

Nr. 2 Arne Heise: Endlich Luft. Oder: (Vielleicht) das Ende eines Mythos<br />

Nr. 3 Arne Heise: Die Chance der Krise nutzen – jetzt einen Makro-Dialog einrichten<br />

Nr. 4 Arne Heise: Wann ist endlich Schluss mit dem Mythos vom Niedriglohn-<br />

Beschäftigungswunder?<br />

Nr. 5 Arne Heise: Ist Schröder gescheitert?<br />

Nr. 6 Arne Heise: Weg mit der Zwangsjacke<br />

Nr. 7 Arne Heise: Versprochen und gehalten?<br />

Nr. 8 Arne Heise: Teile und herrsche<br />

Nr. 9 Dietrich Budäus: Berliner 20 Punkte Programm zur Reform des öffentlichen Sektors<br />

Nr. 10 Arne Heise: Gewerkschaften und ihre neoliberale Herausforderung<br />

Nr. 11 Leonhard Hajen: Wachsende Stadt und globalisierte Märkte: Exklusion und Inklusion<br />

am Beispiel Hamburgs<br />

Nr. 12 Leonhard Hajen: Ein Jahr Fallpauschalen – Segen oder Ruin für Hamburgs<br />

Krankenhäuser?<br />

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