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HERAUSGEGEBEN VON ANDREAS BOCHMANN UND KLAUS-J. VAN TREECK MIT JOHANN GERHARDT<br />

IM<br />

AUFTRAG DER THEOLOGISCHEN HOCHSCHULE FRIEDENSAU


Herausgeber: Andreas Bochmann und Klaus-J.van Treeck<br />

im Auftrag der <strong>Theologische</strong>n <strong>Hochschule</strong> Friedensau<br />

unter der Gesamtleitung von Johann Gerhardt<br />

Korrektorat und Lektorat: Claudia Ottschoffsky<br />

O 2000<strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong> Friedensau, D-39291 Friedensau<br />

Herstellung: Grindeldruck GmbH, D-201 44 Hamburg<br />

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Herausgebers unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere<br />

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die<br />

Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany<br />

ISBN 3-935480-01 -6


ANDREAS BOCHMANN,<br />

KLAUS-J. VAN TREECK (HG.)<br />

UND<br />

EIN PASTORAL-THEOLOG ISCHES


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort der <strong>Hochschule</strong><br />

Johann Gerhardt .............................................................................9<br />

Vorwort der Herausgeber<br />

Andreas Bochmann, Klaus-J. van Treeck ....................................11<br />

Grundlagen<br />

Andreas Bochmann:<br />

Zwischen Ideal und Realität. Ehescheidung und Wiederheirat<br />

<strong>als</strong> Herausforderung der Gemeinde Jesu ......................................17<br />

Klaus Schmitz:<br />

Das biblisch-christliche Grundverständnis von „Ehe“ und seine<br />

Bedeutung für die Frage nach Scheidung und Wiederheirat.<br />

Eine hermeneutisch-theologische Betrachtung gemeindlicher<br />

Dokumente und biblischer Texte .................................................33<br />

Klaus-J. van Treeck:<br />

Der Scheidungsprozess. Ein psychologisches und<br />

soziologisches Blitzlicht ..............................................................81<br />

Andreas Erben:<br />

Eine Untersuchung zur Glaubensreife geschiedener Christen in<br />

drei konservativen protestantischen Kirchen in den USA .........101<br />

Andreas Erben:<br />

Beobachtungen zur Situation von geschiedenen evangelischen<br />

Christen – ein Blick in die Daten der 2. Welle des<br />

Familiensurveys des DJI ............................................................123<br />

Matthias Kramer:<br />

Scheidung und Begleitumstände. Eine anwaltliche<br />

Stellungnahme zur Thematik .....................................................137


Bibelarbeiten<br />

Klaus Schmitz:<br />

Ehe, Scheidung und Wiederheirat in Evangelien- und<br />

Paulustexten im NT ...................................................................147<br />

Klaus Schmitz:<br />

Anmerkungen zu Matthäus 5, 32f. aus philologischer und<br />

sozialer Sicht...............................................................................163<br />

Klaus Schmitz:<br />

Die Funktion und Bedeutung der menschlichen<br />

Geschlechtlichkeit/Sexualität nach 1. Korinther 6, 12-20 .........167<br />

Klaus Schmitz:<br />

Umgang mit Fragen der Ehe und Ehescheidung am Beispiel<br />

von 1.Korinther 7 .......................................................................183<br />

Klaus Schmitz:<br />

Die Unmöglichkeit der Scheidung und eine andere biblische<br />

Unmöglichkeit. Ein Einfall zur Struktur-Analogie mit<br />

Hebräer 6,4-6 .............................................................................197<br />

Werner Lange:<br />

Die Aussagen von Jesus und Paulus über Scheidung und<br />

Wiederheirat ..............................................................................203<br />

Hartmut Wahl:<br />

Ehescheidung und Wiederheirat.<br />

Bibelarbeit zu 1.Korinther 7, 10-16 ...........................................225


Seelsorge und Gemeindetheologie<br />

Andreas Bochmann:<br />

Abschlussrituale .........................................................................255<br />

Lothar Wilhelm:<br />

Korrigierende Seelsorge bei Ehescheidung und Wiederheirat.<br />

Überlegungen zu Bedeutung und Anwendung der<br />

Gemeindeordnung (Gemeindehandbuch) der Gemeinschaft<br />

der STA im Falle von Ehescheidung und Wiederheirat ............265<br />

Lothar Wilhelm:<br />

„...das soll der Mensch nicht scheiden“? Fragen zu den<br />

Aussagen der Evangelien über Ehescheidung und<br />

Wiederverheiratung ....................................................................287<br />

Praktische Hilfen<br />

William Loveless:<br />

Scheidungsbegleitung durch die Gemeinde ...............................305<br />

William Loveless:<br />

Ehe, Scheidung und Wiederverheiratung an der Loma Linda<br />

University Church. Einschätzungen der Richtlinien ..................311<br />

Ada Garcia:<br />

Eine erfolgreiche Ehe bauen ......................................................317<br />

Ada Garcia:<br />

Scheidung und Wiederverheiratung an der Pioneer Memorial<br />

Church. Beurteilung der Richtlinien ..........................................331<br />

Andreas Erben:<br />

Pädagogische Beratungskonzepte für Ehekonflikte und<br />

Scheidungsprobleme ..................................................................335<br />

Klaus Schmitz:<br />

Mediation im Trennungs- und Scheidungskonflikt <strong>als</strong><br />

ergänzendes seelsorgerliches Angebot bzw. <strong>als</strong><br />

weiterführende pastorale Begleitung .........................................343


Anhang<br />

Dokumente<br />

Tabu. Geschiedene Pastoren-Ehen<br />

Drei Frauen blicken zurück .......................................................353<br />

Ada Garcia<br />

Eine erfolgreiche Ehe bauen. Gliederung...................................359<br />

William Loveless:<br />

Was ist Treue/Kreative Treue ....................................................373<br />

Erinnerungen an deine Liebesgeschichte (17 Fragen) .....................<br />

Bevor du dich trennst - 30 Fragen zum Nachdenken ......................<br />

Eine gemeinsame Bilanz ziehen ......................................................<br />

Was macht Patchwork-Familien erfolgreich? .................................<br />

Bericht der Studienkommission der Generalkonferenz<br />

der STA „Ehescheidung und Wiederheirat“ .............................385<br />

Pioneer Memorial Church, Andrews University:<br />

Richtlinien bei Scheidung und Wiederverheiratung ..................399<br />

Loma Linda University Church:<br />

Richtlinien über Ehe, Ehescheidung und den Heilungsprozess<br />

nach einer Scheidung .................................................................407<br />

Abkürzungsverzeichnis und Begriffserklärungen ............................415<br />

Die Autoren ..........................................................................................417


Vorwort der <strong>Hochschule</strong><br />

Die <strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong> Friedensau hat vorliegende Veröffentlichung<br />

gerne in ihre Reihe Spes Christiana aufgenommen. Andreas Bochmann und<br />

Klaus-J. van Treeck sind Mitglieder im hochschuleigenen Institut für Familien-<br />

und Sozialforschung. Die Thematik ist auch über die Grenzen der Freikirche<br />

der Siebenten-Tags-Adventisten hinweg von hohem aktuellem Wert. Forschungsbeiträge<br />

bedürfen angesichts der brennenden Fragen um den Stellenwert<br />

von Familie und Ehe in einer offenen Gesellschaft einer größeren<br />

Verbreitung. Die Veröffentlichung geschieht in der Hoffnung, dass die Beiträge<br />

nicht nur ein Spiegelbild einer gelungenen Veranstaltung sind, sondern dass<br />

die Diskussion in der Kirche offen gehalten wird und dass Betroffene auf ihrem<br />

schwierigen Weg kompetente Begleitung finden.<br />

Johann Gerhardt<br />

Dekan, Fachbereich Theologie<br />

9


Vorwort der Herausgeber<br />

Vom 20. bis zum 23. März 2000 veranstaltete der Norddeutsche Verband der<br />

Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten ein Symposium zu dem brisanten<br />

Thema „Ehescheidung und Wiederheirat“. Referenten der Gemeinschaft<br />

aus dem In- und Ausland waren eingeladen, zum dem Thema Stellung zu beziehen.<br />

Die etwa 60 Teilnehmer bei dem Symposium waren Pastoren der Adventgemeinde,<br />

aber auch Pastoren, Seelsorger und Seelsorgerinnen anderer<br />

Freikirchen und bildeten trotz mancher Unterschiedlichkeit eine lernbereite<br />

Gemeinschaft.<br />

Als Organisatoren haben wir bei der Veranstaltung bewusst den Schwerpunkt<br />

auf seelsorgerliche Gesichtspunkte gelegt. Die Tatsache, dass zwischen<br />

dem biblischen Ideal für die Ehe und der Realität eine große Diskrepanz liegt,<br />

ist das eigentliche Spannungsfeld in Seelsorge und Gemeindearbeit. Das Ideal<br />

darf nicht verwässert werden! Die Realität muss gleichfalls zur Kenntnis genommen<br />

werden! Wie gehen wir praktisch damit um? Mit welcher theologischen<br />

oder anderweitigen Begründung handeln wir in der Seelsorge? In Anbetracht<br />

dieser Fragestellung wurden vor allem Theologen <strong>als</strong> Referenten eingeladen,<br />

die sowohl durch ihre Ausbildung <strong>als</strong> auch ihren Tätigkeitsbereich im<br />

Bereich Seelsorge besonders qualifiziert und erfahren sind. Wir stellen sie am<br />

Ende dieses Bandes kurz vor.<br />

Ohne jeden Zweifel öffnete sich das Symposium nicht nur einem brisanten<br />

Thema, sondern enthielt auch in der Unterschiedlichkeit von Referenten und<br />

Teilnehmern eine Menge Zündstoff. Wie brisant und zeitgemäß das Thema<br />

war, zeigte sich auch auf der Generalkonferenz, der Weltkirchensynode der<br />

Adventisten, die im Sommer 2000 in Toronto stattfand. Das Thema Ehescheidung<br />

und Wiederheirat erhitzte dort die Gemüter wie kein anderes Thema.<br />

Beim Symposium wollten wir Erfahrungsaustausch und Diskussion in großer<br />

Offenheit. Um die entsprechende Freiheit zu ermöglichen, wurden die Diskussionen<br />

nicht mitgeschnitten und können somit auch nicht veröffentlicht werden.<br />

Wir denken aber, dass die Vorträge auch über das Symposium hinaus<br />

zum Nachdenken und zur Diskussion anregen werden. Auch das ist gewollt.<br />

Dieses Buch will nicht letztgültige Antworten geben, sondern einen Beitrag in<br />

der Suche nach Antworten bieten. Dabei können auch Missverständnisse,<br />

Meinungsverschiedenheiten oder sogar Irritationen auftreten. Dieses Risiko<br />

11


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

sind wir um der Sache willen bereit einzugehen. Wir hoffen aber auf einen<br />

fairen, christlichen Umgang miteinander, wo es um „Auseinandersetzung“ mit<br />

dem Thema und unterschiedlichen Thesen geht. In jedem Fall weisen wir ausdrücklich<br />

darauf hin, dass die dargestellten Positionen keine offiziellen Verlautbarungen<br />

der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, sondern Beiträge<br />

zu einem notwendigen Dialog sind.<br />

Wir haben die Referate des Symposiums, die in diesem Band vorliegen,<br />

durch einige Beiträge ergänzt. Das Buch ist inhaltlich und nicht in der Reihenfolge<br />

der Beiträge während des Symposiums geordnet. In den Grundlagen im<br />

ersten Teil des Buches geht es vor allem um die Darstellung des „Ist-<br />

Zustandes“ und um jene Fragestellungen, die sich daraus ergeben. Hier haben<br />

nicht nur Referenten über das Symposium hinaus Beiträge geliefert, sondern<br />

wir haben eine juristische Stellungnahme hinzugefügt. Es folgt der Teil Exegetische<br />

Bibelarbeiten, mit den theologischen Studien von Klaus Schmitz,<br />

die uns beim Symposium begleitet haben. Daneben haben wir auch eine umfangreiche<br />

Bibelarbeit zu 1. Kor. 7 von Hartmut Wahl hinzugenommen, die<br />

ursprünglich vor Pastoren der Evangelisch-freikirchlichen Gemeinde gehalten<br />

wurde. Die Literaturliste von Hartmut Wahl ist eine wahre Fundgrube zum<br />

Thema und kann den interessierten Leser auf der Suche nach weiterführenden<br />

Anregungen Hilfestellung geben. In einem weiteren Teil, Seelsorge und Gemeindetheologie,<br />

werden Fragen der praktischen und auch administrativen<br />

Umsetzung erörtert und z.T. ungewöhnliche Vorschläge zur Diskussion gestellt.<br />

Schließlich werden ganz Praktische Hilfen für die Seelsorge und Gemeindearbeit<br />

vorgetragen. Im Anhang werden verschiedene Dokumente abgedruckt.<br />

Da sind zum einen sehr persönliche Stellungnahmen von geschiedenen<br />

Pastorenfrauen, zum anderen aber auch Vorlagen für den Einsatz in der Gemeindearbeit<br />

und schließlich Dokumente aus verschiedenen Gremien und Bereichen<br />

der Gemeinschaft der Siebenten-Tags Adventisten. Besonders bedanken<br />

wir uns bei Ulrich Frikart, dem Präsidenten der Euro- Afrika-Division der<br />

Gemeinschaft der STA, der sich für die Freigabe des Berichtes der GK-<br />

Kommission zum Thema „Ehescheidung und Wiederheirat“ für uns eingesetzt<br />

hat. Wir empfehlen dringend, den Anhang nicht zu überblättern!<br />

Ein Wort zur Leserschaft: Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Pastorinnen<br />

und Pastoren, Seelsorgerinnen und Seelsorger. Deshalb freuen wir uns<br />

besonders, dass die <strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong> Friedensau, die<br />

Ausbildungsstätte für Pastorinnen und Pastoren der Gemeinschaft der<br />

Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland, sich zur Veröffentlichung dieses<br />

12


VORWORT<br />

Adventisten in Deutschland, sich zur Veröffentlichung dieses Bandes innerhalb<br />

ihrer Schriftenreihe „Spes Christiana“ bereit erklärt hat. Wir hoffen aber,<br />

dass auch interessierte Gemeindeglieder sich von der Fachlichkeit der Beiträge<br />

nicht abschrecken lassen, sondern teilhaben und teilnehmen(!) an der Diskussion.<br />

Dank sei schließlich denen gesagt, die neben den Referenten zum Entstehen<br />

des Buches beigetragen haben. Ganz besonders danken wir Claudia Ottschoffsky<br />

für ihr kompetentes gründliches und engagiertes Lektorat sowie für<br />

ihre Übersetzungsarbeiten. Nicole Kuhn danken wir für unermüdliche<br />

Schreibarbeiten und freundlichen Erinnerungen, doch die Manuskripte zu senden.<br />

Wir danken den Übersetzern, die vor, während und nach dem Symposium<br />

engagiert mitgearbeitet haben.<br />

Wenngleich sich die Veröffentlichung hinausgezögert hat, ist dieses Buch<br />

und erst recht sein Thema noch lange nicht „fertig“. Wir wünschen uns Reaktionen<br />

zum Buch und einen Dialog mit den Lesern, aber vor allem eine klare,<br />

differenzierte und zugleich barmherzige Auseinandersetzung mit dem Thema,<br />

dem wir uns zu stellen bemüht haben.<br />

Friedensau, im Dezember 2000<br />

Andreas Bochmann<br />

Klaus-J. van Treeck<br />

13


Grundlagen


Zwischen Ideal und Realität<br />

Ehescheidung und Wiederheirat<br />

<strong>als</strong> Herausforderung der Gemeinde Jesu<br />

Andreas Bochmann<br />

Was setzt man an den Anfang eines Symposiums über „Ehescheidung und<br />

Wiederheirat“? Ein Referat? Einen Vortrag? Eine Predigt? Ich habe mich für<br />

ein geistliches Wort zur Einstimmung auf unser Thema entschieden, bevor ich<br />

vielleicht mehr zu einem Überblicksreferat komme.<br />

Das geistliche Wort zur Einstimmung kommt aus der Bibel und hat mit unserem<br />

Thema überhaupt nichts zu tun - jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Diesen<br />

Teil der Einführung möchte ich mit den Worten überschreiben:<br />

„Wenn wir zwischen schlecht und schlechter zu wählen haben“<br />

Dieser Titel ist eine Provokation. Als Christen haben wir doch zwischen „gut“<br />

und „böse“ zu wählen, zwischen „Recht“ und „Unrecht“, zwischen „Tod“ und<br />

„Leben“. Aber doch nicht zwischen schlecht und schlechter!? Was ich hier impliziere,<br />

ist unerhört! Ich behaupte, manchmal können wir nur zwischen zwei<br />

Übeln wählen, zwischen schlecht und noch schlechter! Und genau hier wird ein<br />

aufmerksamer Hörer bereits ahnen, was jetzt kommt:<br />

Da sind Hans und Inge, ein fiktives Paar, aber eine nicht wirklich fiktive Geschichte.<br />

Hans und Inge haben sehr jung geheiratet. War es das schlechte Gewissen,<br />

weil sie schon vorher miteinander geschlafen hatten, war es der Druck<br />

der Eltern und Freunde, die beide für so ein tolles Paar hielten - sie waren jedenfalls<br />

sehr jung. Schon bald nach der Hochzeit merkten sie, dass sie einen<br />

Fehler gemacht hatten. Hans tröstete sich mit Alkohol, Inge mit den Kindern.<br />

Jeder lebte nur für sich, zwischen Hans und Inge lief bald gar nichts mehr. Ich<br />

will jetzt gar nicht zusätzlich dramatisieren, z.B. nach dem Motto: Immer wenn<br />

Hans betrunken war, schlug er die Kinder. Nein, Hans und Inge hatten sich auseinandergelebt,<br />

haben eigentlich nie richtig gelebt. Scheidung? Nein, das kam<br />

für die beiden nicht in Frage. Sie waren ja Christen.<br />

Ein adventistischer Professor hat es mal auf diese Formel gebracht: An Scheidung<br />

habe er in seiner ganzen Ehe noch nie gedacht..... An Mord schon, aber<br />

17


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

nicht an Scheidung. Scheidung ist tabu für viele Christen! Das ist auch gut so!<br />

Immer?<br />

Hans und Inge. So lebten sie. Leben und volle Genüge? Anspruch des Evangeliums?<br />

Die Ehe war längst keine Ehe mehr. Das Leben war eher ungenügend<br />

<strong>als</strong> „volle Genüge“, eine Farce, eine Beleidigung für die Kraft des Evangeliums.<br />

Zum Zerbruch der Beziehung kam zusätzlich die Sünde der Heuchelei, mit der<br />

Hans und Inge nach außen das Trugbild einer intakten Familie aufrecht erhielten<br />

- und was hat Jesus alles über die Heuchelei gesagt?!<br />

Will ich hier etwa Scheidung <strong>als</strong> Lösung für unglückliche Ehen propagieren?<br />

Nein, nein, nein! Das Ziel dieses Symposiums darf nicht Resignation sein, ein<br />

Aufruf gar, da ja eh alles keinen Sinn hat, doch endlich tolerant gegenüber<br />

Scheidungen zu werden. Aber manches Mal können wir nicht zwischen gut und<br />

böse wählen, sondern nur zwischen schlecht und schlechter. Scheidung ist<br />

furchtbar, ein Zerbruch einer Beziehung. „Was Gott zusammengefügt hat, soll<br />

der Mensch nicht scheiden.“ Das ist das eindeutige Ideal der Bibel. Übrigens<br />

„soll“, nicht „kann“ und auch nicht „darf“. Es geht um das Ideal in diesem Satz,<br />

nicht um die Realität. Die sieht anders aus, das wissen wir.<br />

Es ist aber eben auch das Ideal der Bibel, ohne Heuchelei zu leben, unser Gott<br />

gegebenes Potential, unsere Gaben zu nutzen. Wie werde ich dem Ebenbild<br />

Gottes gerecht, wenn ich nichts kann <strong>als</strong> ständig leiden, mit gebückter Haltung,<br />

vielleicht sogar gespielter Demut mir jegliche Lebendigkeit verkneife oder verkneifen<br />

muss?<br />

Das ist doch gerade das Dilemma! Das eine ist nicht gut - in meinem Beispiel<br />

die Scheidung. Das andere ist auch nicht gut - in meinem Beispiel das Leben<br />

nur mit Scheinheiligkeit und Heuchelei, nicht aber mit Evangelium und Leben<br />

zu füllen. Wir müssen zwischen schlecht und schlechter wählen.<br />

Hier kommt das geistliche Wort. Da wird doch in 2. Samuel 24 eine Geschichte<br />

berichtet, in der der König David sogar zwischen drei Übeln zu wählen<br />

hat. Er muss wählen zwischen drei Jahren wirtschaftlicher Rezession, für drei<br />

Monate von einem Killerkommando verfolgt zu werden und einer biologischen<br />

Bombe, die sich über drei Tage mit einer verheerenden Seuche ausbreitet. Ich<br />

weiß nicht, wie du dich entschieden hättest, aber es ist eigentlich relativ egal,<br />

weil jede dieser Optionen schlecht ist! Übrigens legt Gott selbst diese Optionen<br />

durch seinen Propheten vor ... Gott lässt wählen zwischen schlecht und schlechter?<br />

Passt das überhaupt in unser Gottesbild hinein?<br />

Was war die Vorgeschichte? David hat eine ganze Reihe erfolgreicher militärischer<br />

Aktionen hinter sich. Er hat Attentate und Putschversuche überstanden.<br />

Er war ein gestandener Staatsmann. Aber irgendwie wollte er es noch einmal<br />

18


BOCHMANN: IDEAL UND REALITÄT<br />

wissen. Er wollte wissen, wie stark er eigentlich war - d.h. militärisch. Und so<br />

wollte er die Wehrfähigkeit mit einer Volkszählung überprüfen. Vielleicht gäbe<br />

es ja doch noch irgendwo einen Krieg zu gewinnen, schaden kann’s ja nicht,<br />

seine Stärke zu kennen. Komisch nur: ausgerechnet seine Militärberater raten<br />

ihm ab und sagen: „Mach das bloß nicht, David.“ Ich weiß nicht warum, die<br />

Bibel sagt es nicht. Eigentlich sind Militärs ja immer ganz versessen darauf, ihr<br />

Kriegsspielzeug - und dazu gehören eben auch die Menschen - einzusetzen.<br />

Aber diese Militärberater hatten offensichtlich genug vom Krieg, oder Sorge,<br />

die Menschen könnten verärgert reagieren. Sie warnen David. Der will aber<br />

trotzdem.<br />

Kaum ist die Volkszählung vollbracht - und die dauert Monate! -, schlägt dem<br />

David das Gewissen: „War vielleicht doch keine so gute Idee.“ Mehr noch, er<br />

erkennt darin Schuld. Er bittet Gott um Vergebung! Und hier beginnt der Teil<br />

der Geschichte, den ich <strong>als</strong> Auftakt für unser Symposium gewählt habe:<br />

Und <strong>als</strong> David am Morgen aufstand, kam des HERRN Wort zu Gad, dem Propheten,<br />

Davids Seher: Geh hin und rede mit David: So spricht der HERR:<br />

Dreierlei lege ich dir vor; erwähle dir eins davon, dass ich es dir tue.<br />

Gad kam zu David und sagte es ihm an und sprach zu ihm: Willst du, dass<br />

drei Jahre lang Hungersnot in dein Land kommt oder dass du drei Monate vor<br />

deinen Widersachern fliehen musst und sie dich verfolgen oder dass drei Tage<br />

Pest in deinem Lande ist? So bedenke nun wohl, was ich antworten soll dem,<br />

der mich gesandt hat. (2. Samuel 24,11-13)<br />

Wie würdest du entscheiden? Drei Jahre Hungersnot zerstört ein Land. Drei<br />

Monate Verfolgung - die würde David wohl kaum überleben, außerdem gäbe es<br />

Anarchie im Land. Drei Tage Seuche, das fordert sehr viele Menschenleben.<br />

Wie würdest du entscheiden?<br />

David entscheidet sich für die Biobombe, die Seuche, die drei Tage lang wütet<br />

und 70.000 Menschen tötet! Unvorstellbar! Die Volkszählung des David<br />

kostet 70.000 unschuldigen Menschen das Leben! Hier tun sich viele Fragen<br />

auf, Fragen, die ich nicht beantworten kann.<br />

Und dennoch können wir etwas aus der Geschichte lernen. Deshalb habe ich<br />

sie ja <strong>als</strong> Einstieg für unser Thema gewählt. Ich habe jetzt eine längere Liste<br />

von Punkten, die ich vortragen möchte, mit der Bitte, sie persönlich zu reflektieren.<br />

Einigen dieser Punkte werden wir im Laufe des Symposiums wieder<br />

begegnen ...<br />

19


BOCHMANN: IDEAL UND REALITÄT<br />

Punkt 3: Verantwortung übernehmen statt Schuld zuzuweisen<br />

Als aber David den Engel sah, der das Volk schlug, sprach er zum HERRN:<br />

Siehe, ich habe gesündigt, ich habe die Missetat getan; was haben diese Schafe<br />

getan? Laß deine Hand gegen mich und meines Vaters Haus sein!<br />

(2. Samuel 24,17)<br />

Das, meine Lieben, ist selten. David versucht gar nicht erst, sich herauszureden.<br />

Schon Adam machte es ja anders: Das Weib, das du mir gegeben hast ...<br />

Fehlersuche bei anderen ist immer deutlich leichter. Schuld anderer zu benennen<br />

ist einfacher, <strong>als</strong> die eigene Schuld zu bekennen. Das bezieht sich zunächst<br />

auf die Partner, die durch eine Scheidung gehen und durch das Waschen von<br />

schmutziger Wäsche versuchen, sich selbst sauber zu halten. Aber es gilt gleichermaßen<br />

für die Gemeinde, die ihre Mitverantwortung und Mitschuld dadurch<br />

zu relativieren sucht, dass sie Fragen von Ehescheidung und Wiederheirat<br />

in die Privatsphäre delegiert, zu der sich Gemeinde nicht zu äußern habe.<br />

Punkt 4: Jede Entscheidung hat ihre Gründe<br />

David sprach zu Gad: Es ist mir sehr angst, aber lass uns in die Hand des<br />

HERRN fallen, denn seine Barmherzigkeit ist groß; ich will nicht in der Menschen<br />

Hand fallen. (2. Samuel 24,14)<br />

Ich weiß nicht, ob David tatsächlich das kleinste Übel gewählt hat. Ich meine,<br />

70.000 Tote klingt nach einer sehr schlechten Wahl. Aber wer bin ich, das zu<br />

beurteilen. David hat sich die Sache sehr genau überlegt. Die Begründung gefällt<br />

mir sogar. Obwohl Gott ihm so harte Strafen vorlegt, sagt David: Lieber<br />

Barmherzigkeit von Gott erwarten <strong>als</strong> sich in die Hände von Menschen begeben.<br />

Bemerkenswert, was David für ein Gottesbild hat!<br />

Auf unser Thema übertragen heißt das wohl, wir sollten nicht nur vom Ergebnis<br />

einer Sache her urteilen. Das wäre vermessen. Motivationen und Begründungen<br />

sind nicht unwesentlich im Versuch, das kleinere Übel zu wählen. Ob<br />

es das kleinere Übel war, lässt sich oft auch im Nachhinein nur ahnen. Doch<br />

„hinterher ist man immer klüger ...“.<br />

Punkt 5: Wer zwischen schlecht und schlechter zu wählen hat, dem geht es<br />

schlecht!<br />

Das klingt banal. David hat Angst, haben wir gerade gelesen. Wie leicht wird<br />

aber dieser Punkt übersehen! Wer selbst schon einmal eine Scheidung hautnah<br />

21


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

erlebt hat, <strong>als</strong> Betroffener, <strong>als</strong> begleitender Seelsorger, <strong>als</strong> Therapeut, der weiß<br />

dies eigentlich. Und wie reagiert die Gemeinde, wie sieht die Realität aus?<br />

Menschen, die durch eine Scheidung gehen, werden in der Gemeinde isoliert,<br />

das Geschehene wird ignoriert oder aber bestraft, mit Vorwürfen belegt, bis hin<br />

zur Ausstoßung. Wer zwischen schlecht und schlechter zu entscheiden hat, dem<br />

geht es schlecht, der braucht Beistand und Hilfe und Trost! Vorwürfe und Ausgrenzung<br />

sind kaum geeignet, die Angst oder die Verzweiflung zu lindern, die<br />

in der Phase einer Trennung einen Menschen bewegen. Die Scheidung selbst ist<br />

Strafe genug! Da brauchen wir nicht noch eins draufzusetzen mit irgendwelchen<br />

Sanktionen.<br />

Punkt 6: Gottes Zorn hat Grenzen!<br />

Wir reden ja manchmal umgekehrt davon, oftm<strong>als</strong> mit einer heimlich schadenfrohen<br />

Genugtuung: Gottes Geduld hat Grenzen. Wie aber geht unsere Geschichte<br />

weiter?<br />

Als aber der Engel seine Hand ausstreckte über Jerusalem, um es zu verderben,<br />

reute den HERRN das Übel, und er sprach zum Engel, der das Verderben<br />

anrichtete im Volk: Es ist genug; Lass nun deine Hand ab! (2. Samuel 24,16)<br />

Mit diesem Satz verstehe ich die Strafaktion noch immer nicht bis ins Letzte.<br />

Aber eins wird deutlich: Jerusalem wird verschont. Ihr könnt weiter darüber<br />

nachdenken, was das bedeutet. Wofür steht Jerusalem? Barmherzigkeit setzt<br />

neu ein - in Jerusalem! Ganz nebenbei bemerkt, der Berg, wo der Engel gerade<br />

steht, <strong>als</strong> Gott ihn stoppt, wurde später zum Tempelberg. Dort, wo dann der<br />

Gnadenthron der Bundeslade stand. Dort, wo Gott war. Dort, wo Gott ja sagt zu<br />

seinem Volk. Vergebung, Gnade, Barmherzigkeit! Das steht am Ende der Geschichte.<br />

Nur so wird das Erleben zu einer heilsamen Erfahrung. Wie steht es mit<br />

Barmherzigkeit, wenn es um unser Thema geht? Wo und wie gibt es einen<br />

Schlussstrich? Woran lassen wir deutlich werden, dass wir <strong>als</strong> Gemeinde allesamt<br />

Sünder sind, allesamt auf die Gnade Gottes angewiesen sind? Theologisch<br />

gesprochen: Wo bleibt unsere Soteriologie, wenn wir über Scheidung und Wiederheirat<br />

reden? Wo ist die Gnadenlehre? Gilt sie hier nicht?<br />

Zwischen Ideal und Realität<br />

Um zu meinem Gesamtthema zurückzukommen: „Zwischen Ideal und Realität<br />

...“. Gott unterscheidet zwischen Ideal und Realität. Auch der Erlösungsplan<br />

22


BOCHMANN: IDEAL UND REALITÄT<br />

war keineswegs das Ideal Gottes. Es war sein Umgang mit der Realität, weil<br />

Ideal und Realität nicht im Einklang waren!<br />

Ideal<br />

Das Ideal der Bibel zum Thema Ehescheidung bedarf hier wohl kaum der ausführlichen<br />

Begründung und des Nachweises. Der Text in 1. Mose 2,24, der sowohl<br />

von Jesus <strong>als</strong> auch von Paulus zitiert wird (Matthäus 19,5; Epheser 5,31),<br />

spricht von einer unauflöslichen Zusammenfügung, einem quasi Zusammenleimen.<br />

„Ehe“ wird im biblischen Sprachgebrauch <strong>als</strong> von Gott zusammengefügt<br />

verstanden und soll deshalb nicht geschieden werden (Matthäus 19,6).<br />

Weitere Texte ließen sich anfügen. Das Ideal der Bibel ist klar: Ehe ja, Scheidung<br />

nein! Selbst die Ausnahmeklausel bei Matthäus ändert nichts an dem<br />

Ideal. 1<br />

Realität<br />

Nach Angaben des statistischen Bundesamtes wurden 1998 417.000 Ehen geschlossen<br />

und 192.438 Ehen geschieden. Errechnet man aus diesen Zahlen den<br />

Quotienten, so ergibt sich eine Scheidungsrate von 46 %. Inwieweit dieser Quotient<br />

tatsächlich aussagekräftig ist, ist in der Literatur umstritten, denn er lässt<br />

die Länge des Bestandes der Ehe ebenso unberücksichtigt wie die Frage, ob es<br />

sich um eine Erst-, Zweit-, Drittehe usw. handelt. Die Scheidungsrate ist in jedem<br />

Fall in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Rechnung „jede dritte Ehe<br />

wird geschieden“ stimmt schon lange nicht mehr. Der Wert von 46% gibt uns<br />

jedoch einen Anhaltspunkt, der schnell nachvollziehbar ist und einen Eindruck<br />

von der Dimension des Problems gibt. Eine weniger dramatisch klingende Statistik<br />

lautet: Von 1.000 bestehenden Ehen wurden 1998 zehn geschieden.<br />

Scheidungswaisen, <strong>als</strong>o minderjährige Kinder in Scheidungsfamilien, waren<br />

1 Wie auch immer diese „Ausnahmeklausel“ interpretiert wird, sie kann nur <strong>als</strong> eine Abweichung<br />

vom Ideal verstanden werden, nicht aber <strong>als</strong> Teil des Ide<strong>als</strong>. Die Tatsache, dass diese<br />

Ausnahmeklausel ausgerechnet bei Matthäus zu finden ist, der sich sehr streng an das Gesetz<br />

hielt und sein Evangelium an Judenchristen richtete, gibt Grund zur Annahme, dass diese Ausnahmeklausel<br />

gerade kein Freibrief war, der nur auf dem Fehltritt des Partners beruhte. Wohl<br />

aber macht die Ausnahmeklausel deutlich, dass schon in der frühen Gemeinde Abweichungen<br />

vom Ideal bekannt waren und in einer möglichst seelsorgerlichen Art und Weise zu bearbeiten<br />

versucht wurden.<br />

23


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

1998 genau 159.298 zu beklagen - ein leichter Rückgang gegenüber den Vorjahren.<br />

Dennoch: Jedes Jahr füllen wir in Deutschland eine Großstadt mit über<br />

150.000 Kindern, die mit der Problematik der Scheidung fertig werden müssen!<br />

Auch dies wird ein Thema sein, das uns im Symposium beschäftigen wird. In<br />

jedem Fall lassen sich solche Zahlen nur <strong>als</strong> dramatisch bezeichnen, zumal mit<br />

einem Schneeballeffekt zu rechnen ist. Menschen, die <strong>als</strong> Kinder eine Scheidung<br />

durchlitten haben, stehen in größerer Gefahr, dass ihre eigenen Ehen geschieden<br />

werden. Ganz abgesehen von allen anderen Aspekten ist dies allein ein<br />

wesentliches Argument für Scheidungsprävention, die auch Thema unseres<br />

Symposiums sein wird.<br />

Ehescheidung und Wiederheirat in der Adventgemeinde<br />

Gemäß der Vorgabe der Studie „The Adventist Family in Australia“ (Craig,<br />

1994) hat Klaus van Treeck (1995) eine Studie in verschiedenen Vereinigungen<br />

der Adventgemeinde innerhalb des Norddeutschen Verbandes durchgeführt, die<br />

einige recht zuverlässige Angaben hervorbrachte. 2<br />

In der Stichprobe von 644 Gemeindegliedern, die nicht ledig waren, <strong>als</strong>o verheiratet<br />

sind oder waren, haben 9,2% bereits eine Scheidung hinter sich. Die<br />

Rate ist für Frauen höher (10,5%) <strong>als</strong> für Männer (7,6%). Die Rate der Wiederheirat<br />

liegt bei 5,6% und ist übrigens bei den Männern höher (6,1% gegenüber<br />

5,2% bei Frauen). Diese Angaben stellen einen Querschnitt der gegenwärtigen<br />

Situation dar. Daraus eine tatsächliche Scheidungsrate abzuleiten (<strong>als</strong>o wie viele<br />

Paare werden irgendwann eine Scheidung erleben) ist aus verschiedenen<br />

Gründen extrem schwierig, die jeder für sich genommen ein interessantes Forschungsprojekt<br />

darstellen würde:<br />

1. Die Motivation, an der Studie teilzunehmen, musste hoch sein. Wir wissen<br />

jedoch nicht, ob sie bei „gesunden“ Paaren höher war <strong>als</strong> bei „gescheiterten“<br />

Partnern. Eine Verzerrung ist in beiden Richtungen denkbar.<br />

2. Es gibt eine große Streuung hinsichtlich der Anzahl der Ehejahre. (Sie<br />

2 Der Umfang und die Komplexität der anonymen Befragung lässt vermuten, dass Teilnehmer<br />

hoch motiviert gewesen sein müssen, den Fragebogen auszufüllen. In diesem Sinne könnte es<br />

sein, dass das Ergebnis nicht repräsentativ ist. Allerdings kann diese Verzerrung in zwei Richtungen<br />

verlaufen. Die absoluten Zahlen der Stichprobe sind jedoch hoch genug, eine einigermaßen<br />

faire Wiedergabe der gesamten Population (hier <strong>als</strong>o der Adventgemeinde im Gebiet des<br />

Norddeutschen Verbandes) vermuten zu lassen.<br />

24


BOCHMANN: IDEAL UND REALITÄT<br />

reichen von 1 bis 61, mit einem Durchschnitt von 10,4 Jahren, einem<br />

Median von 8 Jahren bei einer Standardabweichung von 8,78). Statistiken<br />

der Gesamtbevölkerung in Deutschland zeigen, dass Scheidungen<br />

im 5. Ehejahr ihren Höhepunkt erreichen. Demnach wären knapp die<br />

Hälfte der Teilnehmer noch nicht aus der besonders starken „Gefahrenzone“<br />

heraus.<br />

3. Die Scheidungsrate in der Gemeinde scheint sich der Scheidungsrate in<br />

der Gesamtbevölkerung immer mehr anzugleichen.<br />

4. Die Zahlen lassen die Fragestellung der eheähnlichen<br />

Lebensgemeinschaften unberücksichtigt. Die Daten zeigen, dass gut 3%<br />

der befragten Adventisten ohne Trauschein zusammenleben. Auch wenn<br />

es sich hier größtenteils nicht mehr um sogenannte „Probe-Ehen“<br />

handelt, wie manchmal vermutet wird, sondern um auf Dauer angelegte<br />

Beziehungen, gibt es auch in diesem Bereich Trennungen, die mit<br />

Scheidung vergleichbar sind.<br />

5. Ferner sind keine Daten vorhanden, mit welchem Familienstand jemand<br />

Adventist wurde. Die Scheidung kann vor der Bekehrung gelegen haben.<br />

Für den seelsorgerlichen Umgang mit dem Schmerz und den bleibenden<br />

Narben einer Scheidung macht dies allerdings auch kaum einen<br />

Unterschied.<br />

6. Es wurde keine Unterscheidung zwischen konfessionsgleichen und<br />

konfessionsunterschiedlichen Paaren vorgenommen. Nach meinen<br />

eigenen Forschungsergebnissen (Bochmann, 1993) gehe ich allerdings<br />

davon aus, dass hier kaum ein Unterschied besteht.<br />

Berücksichtigt man all diese Schwierigkeiten, kann eine Schätzung nur sehr<br />

grob sein. Aber selbst solche mit Vorsicht zu genießenden Zahlen müssen erschrecken,<br />

wenn man von einem „heiligen Stand der Ehe“ ausgeht. Ich gehe<br />

davon aus, dass in Deutschland jeder vierte Adventist, der je verheiratet war, im<br />

Laufe seines Lebens eine Scheidung durchlebt. 3<br />

Was uns die Statistik mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit aufzeigen kann, ist<br />

der Zusammenhang zwischen Ehescheidung und Wiederheirat. Von denen, die<br />

3<br />

Die Scheidungsrate liegt bei Adventisten in den USA bei knapp unter 50%. Kistler (1987)<br />

zitiert aus einer Querschnittsstudie eine Scheidungsrate von 15-17%. Demnach würden die<br />

amerikanischen Daten einen Faktor von 3 benötigen, um auf knapp 50% zu kommen, während<br />

hier für die deutschen Daten eher konservativ mit einem Faktor von 2,7 gerechnet wurde, um<br />

auf eine tatsächliche Scheidungsquote von 25% zu kommen.<br />

25


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

eine Scheidung durchleben, werden 60% irgendwann wieder heiraten. 4 Gesunder<br />

Menschenverstand und seelsorgerliche Erfahrung legen nahe, dass es sich<br />

bei diesen Wiederheiraten oft um den nach den Richtlinien des Gemeindehandbuches<br />

„schuldigen“ - <strong>als</strong>o sexuell untreuen Partner – handelt ... Damit wird<br />

deutlich, dass ein erheblicher Teil unserer Gemeindeerfahrung und der seelsorgerlichen<br />

Praxis nicht den Richtlinien und Vorgaben des Gemeindehandbuches<br />

entspricht.<br />

Umgang mit Scheidung und Wiederheirat in der Adventgemeinde<br />

Das Gemeindehandbuch 5 , neuerdings <strong>als</strong> Gemeindeordnung veröffentlicht,<br />

geht in seiner gegenwärtigen Fassung davon aus, dass bei Scheidungen ein<br />

„schuldiger“ und ein „unschuldiger“ Partner zu ermitteln sei. Diese Sicht wird<br />

vom deutschen Recht schon seit den frühen 70er Jahren nicht mehr angenommen<br />

und widerspricht zumindest in ihrer „schwarz-weiss“-Fassung auch eindeutig<br />

den Erfahrungen von Seelsorgern, Eheberatern und Paartherapeuten.<br />

Nach dem Gemeindehandbuch ist der schuldige Partner zu sanktionieren, und<br />

nur der unschuldige Partner hat ein „Recht“ auf Wiederheirat. „Schuld“ wird<br />

dabei am Begriff „Ehebruch“ festgemacht, wobei auf den letzten Generalkonferenzen<br />

der Versuch unternommen wurde, den Begriff der sexuellen Untreue<br />

über den „klassischen“ Ehebruch hinaus zu erweitern, offensichtlich in dem<br />

Bemühen, die rigiden Richtlinien vorsichtig zu lockern, <strong>als</strong>o mehr Menschen<br />

die Möglichkeit der Scheidung ohne Wiederheiratsverbot zu eröffnen. Dabei<br />

bleibt jedoch der Begriff Ehebruch im Wesentlichen durch eine sexuelle Handlung<br />

definiert. Die vielseitigen Schwierigkeiten, die aus dieser Sicht entstehen,<br />

dürften bekannt sein:<br />

1. Die „Ausnahmeliste“, die eine Scheidung für den „Unschuldigen“ rechtfertigt,<br />

müsste von Generalkonferenz zu Generalkonferenz immer länger<br />

werden, je mehr wir über unterschiedliche „sexuelle Perversionen“ (so<br />

4 Auch diese Angabe basiert auf Querschnittsdaten (dem jetzigen „Ist-Zustand“, ohne Berücksichtigung<br />

der Wiederheirat Geschiedener nach der Studie) und ist dementsprechend eher deutlich<br />

höher anzusetzen.<br />

5 Das Gemeindehandbuch enthält organisatorische und inhaltliche Richtlinien, an denen sich die<br />

Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten orientiert. Es kann nur durch Beschluss der<br />

Delegierten auf der alle fünf Jahre stattfindenden „Generalkonferenz“ geändert werden. Zur<br />

Generalkonferenz werden Delegierte aus aller Welt entsandt, was schon aufgrund kultureller<br />

Unterschiede Änderungen sehr erschwert. In Deutschland wurden nach Angaben des Leiters des<br />

Adventverlages Eli Diez (persönliche Kommunikation, 4. August 1997) bei rund 40.000<br />

deutschsprachigen Gemeindegliedern 4000 Gemeindehandbücher gedruckt und ausgeliefert.<br />

26


BOCHMANN: IDEAL UND REALITÄT<br />

die Formulierung des amerikanischen Gemeindehandbuches) lernen.<br />

Was Spielarten und Abarten der Sexualität angeht, ist die Phantasie der<br />

meisten Adventisten sicherlich kaum allumfassend.<br />

2. Um diese Richtlinie umzusetzen müsste eine Gemeinde zu Gericht über<br />

ein Paar sitzen und quasi eindeutig eine sexuelle Verfehlung eines Partners<br />

nachweisen, um damit den anderen Partner zu entlasten. Zu solchen<br />

„Gerichtsverhandlungen“ mit hochnotpeinlicher Befragung dürften die<br />

Paare wohl kaum zur Verfügung stehen. Zusätzliche Mittel der „Wahrheitsfindung“<br />

sind schwer vorstellbar. 6<br />

3. Liegt keine sexuelle Verfehlung vor, sondern führen andere Gründe zur<br />

Scheidung, so müssten die Partner hoffen, dass der jeweils andere Partner<br />

<strong>als</strong> erster sexuell aktiv wird, um dem anderen neue Bindungen zu<br />

ermöglichen. Theologisch ist dieser Punkt besonders problematisch, impliziert<br />

er doch so etwas wie Rechtfertigung aus Sünden!<br />

4. Selbst bei eindeutiger Klärung der Frage, wer zuerst sexuell untreu geworden<br />

ist, ist die Frage nach Verantwortung und Schuld keineswegs<br />

wirklich geklärt.<br />

Es ist wohl unnötig festzustellen, dass die Adventgemeinde in Deutschland an<br />

dieser Stelle selten dem Gemeindehandbuch im strengen Sinne folgt. Eine Absicht<br />

der Gemeindeordnung ist es übrigens, Schaden durch die öffentliche Meinung<br />

von der Gemeinde abzuwenden. In einer Kultur, in der Ehescheidung so<br />

weit verbreitet ist und (scheinbar) so selbstverständlich gehandhabt wird wie in<br />

Deutschland, können wir nicht davon ausgehen, dass die Gemeinde dadurch<br />

öffentlichen Schaden erleidet, dass sie Scheidungen nicht sanktioniert. Viel eher<br />

ist damit zu rechnen, dass der Gemeinde Unverständnis entgegengebracht wird,<br />

wenn wir <strong>als</strong> Kirche eine Position vertreten, die <strong>als</strong> unbarmherzig und wenig<br />

vergebungsbereit oder schlicht „weltfremd“ verstanden wird. 7 Das Argument,<br />

die Gemeinde vor öffentlicher Kritik schützen zu wollen, ist daher kaum geeignet,<br />

die Umsetzung der Richtlinien der Gemeindeordnung voranzutreiben.<br />

Wie aber geht die Adventgemeinde mit der Problematik um? Wenngleich mir<br />

Maßnahmen der korrigierenden Seelsorge im Zusammenhang mit Scheidung<br />

6 So wird sich eine Ortsgemeinde wohl keinen Privatdetektiven leisten können und wollen, der<br />

die sexuelle Verfehlung nachweist.<br />

7 Die katholische Kirche hat hier bezüglich ihrer Sicht zu Scheidung und Wiederheirat (aber<br />

auch Empfängnisverhütung und Abtreibung) viel öffentliche Schmähung und Verspottung zu<br />

erleiden gehabt.<br />

27


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

durchaus bekannt sind, dürfte die Anzahl der Scheidungen die Anzahl der Gemeindemaßnahmen<br />

bei weitem übertreffen. Nach meiner Einschätzung wird ein<br />

Gemeindemitglied, das sich inmitten eines Scheidungsprozesses befindet, gebeten,<br />

nicht für Gemeindeämter zu kandidieren und bestehende Ämter ruhen zu<br />

lassen oder niederzulegen. Diese Absprachen werden zumeist im Rahmen von<br />

seelsorgerlichen Bemühungen des Pastors getroffen und involvieren selten die<br />

Gemeinde. Sanktionierungen nach Abschluss des Scheidungsprozesses dürften<br />

eher die Ausnahme sein.<br />

Im Falle von Ehebruch, bei dem der sexuell betrogene Partner <strong>als</strong> leidend erlebt<br />

wird, werden oftm<strong>als</strong> Maßnahmen ergriffen. Sie bestehen oft aus dem Gemeindeaustritt<br />

der „schuldigen“ Person oder Personen auf Rat des Pastors. Nur<br />

wenn der Gemeindeaustritt nicht erklärt wird, erleben wir manchmal Maßnahmen<br />

der korrigierenden Seelsorge, vermutlich meistens Gemeindeausschluss,<br />

seltener Gemeindezucht. Die Haltung scheint die zu sein, eine Beteiligung der<br />

Gemeinde so weit wie irgend möglich zu vermeiden.<br />

Im Falle von Gemeindeausschluss oder Austrittserklärung wird eine Wiederaufnahme<br />

(selten durch Wiedertaufe) auf Wunsch vorgenommen, in der Regel<br />

nicht früher <strong>als</strong> ein Jahr nach der Beendigung der Mitgliedschaft. Besondere<br />

Maßnahmen oder Beschränkungen gibt es dabei zumeist nicht.<br />

Im Umgang mit Wiederheirat sieht die Haltung der Gemeinde ähnlich aus: Je<br />

weniger die Gemeinde an den Problemen teilhat, desto besser. Eheschließungen<br />

werden in Deutschland vom Staat vorgenommen. Die Gemeinde kann durch die<br />

Form der Trauung (oder die Verweigerung) Zustimmung oder Kritik signalisieren.<br />

Für gewöhnlich wird der Pastor mit dem Paar reden und die Position der<br />

Gemeinde vortragen. Dabei wird der Schwerpunkt darauf liegen, dem Paar in<br />

einer nicht idealen Situation zu helfen. Traugottesdienste werden häufig <strong>als</strong><br />

Haustrauungen durchgeführt, um auch den Bedenken der Gemeinde Ausdruck<br />

zu verleihen. Es wäre jedoch wohl eine Ausnahme, wenn eine Gemeinde ein<br />

Gemeindemitglied oder ein Paar aufgrund von Wiederheirat sanktioniert. Dort<br />

wo korrigierende Seelsorge für nötig erachtet wird, geschieht diese zumeist<br />

lange vor der erneuten Eheschließung.<br />

Zusammenfassung und Bewertung<br />

Dieses Symposium ist notwendig, weil eine große Diskrepanz zwischen Ideal<br />

und Realität im Hinblick auf unser Thema besteht - und zwar auf mehreren E-<br />

benen. Zum einen müssen wir erkennen und ich glaube auch bekennen, dass wir<br />

weit entfernt sind vom biblischen Ideal bezüglich Ehe. Die Scheidungszahlen<br />

28


BOCHMANN: IDEAL UND REALITÄT<br />

sind viel zu hoch. Die Ausnahme wird immer mehr zum Regelfall, ohne dass<br />

wir etwas dazu sagen würden.<br />

Die Adventgemeinschaft - und das sage ich mit einem gewissen Stolz - hat in<br />

dem Bereich Ehe und Familie in den letzten 20 - 25 Jahren viel Forschung betrieben.<br />

Zahlreiche Studien sind durchgeführt worden, die ein klares, aber auch<br />

beängstigendes Bild adventistischer Realität abgeben. 8<br />

Dass wir <strong>als</strong> Adventgemeinde nicht alleine mit diesen Problemen sind, zeigt<br />

uns Andreas Erben auf, der uns ausführlich über den Ist-Zustand informieren<br />

wird. Es wird aber auch daran deutlich, dass wir eine ganze Reihe von Schwestern<br />

und Brüdern aus anderen Kirchen und Freikirchen unter uns haben (und<br />

das, obwohl in dieser Woche Pro Christ läuft). Wir haben gelernt, die Realität<br />

nicht mehr ignorieren zu dürfen.<br />

Eine Gefahr besteht nun darin, das Ideal der Realität anzupassen oder zumindest<br />

so zu tun, <strong>als</strong> gäbe es das Ideal nicht oder <strong>als</strong> müsse es das Ideal oder müsse<br />

es Ideale nicht oder nicht mehr geben. Als die Kommission für Ehescheidung<br />

und Wiederheirat 9 noch nicht zusammengetreten war, wurde ihr bereits nachgesagt,<br />

dieses Gremium werde die christlichen Standards herabsetzen und verwässern.<br />

Dieses Gerücht kann ich weder bestätigen noch gutheißen. Ich freue mich,<br />

dass wir in Ada Garcia ein Mitglied dieser Kommission unter uns haben, das<br />

auch über die Ergebnisse dieser Arbeit berichten wird. Es geht nicht um Anpassung<br />

des Ide<strong>als</strong> an die Realität, sondern um die Integration von Realität und<br />

Ideal. Das aber geht nicht durch Herauf- oder Herunterschrauben von Standards,<br />

sondern nur durch klare Benennung von Ideal und Realität bei gleichzeitiger<br />

Zuordnung ihrer jeweiligen, m.E. sehr unterschiedlichen Funktionen.<br />

Hier möchte ich mich auch durchaus positionieren - denn ein Symposium soll<br />

Raum für Diskussion, Streitgespräche bieten. Das Ideal ist für mich eine Zielvorgabe.<br />

Es dient dazu, Perspektive und Relation zu gewinnen. Das eindeutige<br />

Ideal der Bibel ist „für Ehe“ und „gegen Scheidung“. Das Ideal ist ein Wert,<br />

den es zu erhalten gilt! Die Realität ist kein „Wert“ an sich, sondern ein „Ist-<br />

Zustand“. Lasst mich den Unterschied an einem Beispiel verdeutlichen. Wenn<br />

meine Frau eine Rechnung schreibt, dann steigert sie damit umgehend ihren<br />

8 Beispielhaft sei das Value Genesis Project genannt oder die umfangreiche Studie The Adventist<br />

Family in Australia (Strahan and Craig, 1994).<br />

9 Auf der Generalkonferenz der Siebenten-Tags-Adventisten in Utrecht (1995) wurde die Bildung<br />

dieser Kommission mit dem Ziel in Auftrag gegeben, Fragen der Ehescheidung und Wiederheirat<br />

zu bearbeiten und Vorlagen für eine Überarbeitung des Gemeindehandbuches vorzubereiten.<br />

29


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Gewinn - weil sie doppelte Buchführung betreibt. Ihre GuV und Bilanz sehen<br />

besser aus. Das ist das Ideal. Die Realität sieht jedoch so aus, dass manche<br />

Kunden die Rechnungen nicht bezahlen ... Die GuV und die Bilanz können<br />

meiner Frau im praktischen Geschäftsvollzug relativ egal sein, die sind nur für<br />

das Finanzamt interessant. Entscheidend ist, was sie tatsächlich auf dem Konto<br />

hat, weil damit die Butter aufs Brot kommt. Natürlich muss sie das Ideal kennen,<br />

aber doch nur, um sich um die Realität kümmern zu können, <strong>als</strong>o Mahnungen<br />

zu schreiben etc. Wenn sie statt dessen nur auf das Ideal blicken würde -<br />

auf die GuV und die Bilanz, würde es wohl kaum vorangehen mit ihrem Geschäft.<br />

Mit anderen Worten: Das Ideal dient der Realität, nicht umgekehrt.<br />

In einem anderen Bild gesagt: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht,<br />

nicht der Mensch um des Sabbats willen.<br />

Auf unser Thema bezogen heißt dies: Wir müssen uns damit befassen, wie wir<br />

mit der Realität umgehen, weniger mit der Frage, ob das Ideal „noch“ stimmt.<br />

Deshalb haben wir uns entschieden, den Schwerpunkt dieses Symposiums auf<br />

seelsorgerliche und praktische Aspekte zu legen. Das ist ein Novum in der Adventgemeinde.<br />

Symposien werden in der Regel eher hochtheologisch und abstrakt<br />

gehalten, <strong>als</strong>o an irgendwelchen Idealen orientiert. Unsere Referenten sind<br />

diesmal zwar alle in der Lage, theoretisch und abstrakt nachzudenken, sind Kapazitäten<br />

auf ihrem Gebiet, kommen aber eben in erster Linie aus der Praxis.<br />

Selbst die morgendlichen Bibelarbeiten werden unter dem Blickwinkel des<br />

seelsorgerlichen Anspruchs stehen. Dass die Bibel neben den Idealen vor allem<br />

die Realität und den seelsorgerlichen Umgang mit der Realität behandelt, ist<br />

uns eigentlich bekannt. Mit Klaus Schmitz wird diese Einsicht auf unser Thema<br />

angewandt werden können.<br />

Abschließend eine ganz persönliche Bemerkung:<br />

Zu der Diskussion über Scheidung und Wiederheirat innerhalb der Adventgemeinde<br />

oder innerhalb christlicher Freikirchen insgesamt beizutragen, ist ein<br />

risikoreiches Unterfangen. Die Vorstellungen über das, was sein sollte und sein<br />

müsste, gehen weit auseinander und stellen in ihrer Divergenz sicher, dass immer<br />

einige frustriert sind, während andere noch lange nicht zufrieden gestellt<br />

sind. Allein nur für den deutschen Raum sprechen zu wollen, wäre deshalb<br />

vermessen. Und dabei ist die Adventgemeinde eine weltweite Kirche ... Ein<br />

Symposium muss nicht die große Einigkeit hervorbringen. Es lebt vom Widerspruch,<br />

von der Diskussion, vom Streit. Was hier vertreten wird, ist nicht offizielle<br />

Position einer Kirche, sondern ein offener Meinungsaustausch, ein befruchtender<br />

Dialog. Ich hoffe und wünsche mir, dass uns das gelingt, im Plenum,<br />

in den Kleingruppen, in den Pausen.<br />

30


BOCHMANN: IDEAL UND REALITÄT<br />

Literatur:<br />

Bochmann, Andreas. The Impact of Religious Orientation on Premarital Couples: A Cross<br />

Cultural and Cross Denominational Comparison. Baltimore, Maryland: Unveröffentlichte<br />

Dissertation, Loyola College in Maryland, 1993.<br />

Euro-Afrika-Division der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten. Gemeindeordnung –<br />

Gemeindehandbuch. Lüneburg: Advent-Verlag, 1998.<br />

Kistler, Robert C. Marriage, Divorce and… Hagerstone, MD: Review and Herald Publishing<br />

Association, 1987.<br />

31


Das biblisch-christliche Grundverständnis von „Ehe“<br />

und seine Bedeutung für die Frage nach Scheidung<br />

und Wiederheirat<br />

Eine hermeneutisch-theologische Betrachtung<br />

gemeindlicher Dokumente und biblischer Texte<br />

Klaus Schmitz<br />

Einleitendes<br />

Bei diesen einleitenden Gedanken geht es nicht um eine Hinführung zum<br />

Thema, sondern um dessen inhaltliche Ausrichtung und theologischen Rahmen.<br />

1. Meine Darstellung ist nicht einfach eine Summe aus biblischen Texten zum<br />

Thema, sondern vielmehr der Versuch einer grundlegenden theologischen Perspektive.<br />

Aus der Exegese der Bibeltexte werden deren Ergebnisse hier im Sinne<br />

einer Grund-Konzeption vorgestellt.<br />

Die beiden auf der Tagung schon zur Sprache gekommenen Themenaspekte<br />

„Spannung von Idealität und Realität“ sowie „Entwicklung von Positionen“<br />

werden jetzt auf unser theologisches Erkennen und seine Ergebnisse bezogen,<br />

eine Herausforderung, die m.E. unverzichtbar ist.<br />

Für das Stichwort „Entwicklung“ impliziert das, dass die Glaubenserkenntnis<br />

wachsen kann und soll. Das ist biblische Verheißung. Theologie <strong>als</strong> wissenschaftliche<br />

Erkenntnis des Glaubens ist darum nie endgültig abgeschlossen und<br />

am Ziel; aber sie vollzieht sich - hoffentlich - auf einer ausgewogenen und insofern<br />

„reifen“ bzw. erwachsenen Grundlage.<br />

Die „Spannung“ findet sich wieder in unserer gegenwärtigen Gesamtlage <strong>als</strong><br />

Glaubensgemeinschaft, hier insbesondere hinsichtlich des jeweiligen Grundverständnisses<br />

von Gott und seinem Wort in der Bibel. Die eine Position vertritt,<br />

wie mir scheint, einen Supranaturalismus mit Wissens-Aussagen über Gottes<br />

absoluten Willen hinsichtlich aller Gegebenheiten im Leben, gegründet in Aussagen<br />

über das ewig-gleichbleibende An-und-für-sich-Sein Gottes. Das führt zu<br />

einem theologischen Reden, das sozusagen direkt von oben her kommt, im<br />

33


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Himmel angeknüpft ist. Für unser Thema wird auf das Paradies hingewiesen<br />

mit seinem <strong>als</strong> Grundmuster für alle Ehen beschworenen „Ehe-Ideal“.<br />

Die andere Position, die ich vertrete, ist bescheidener, aber nach meinem Dafürhalten<br />

zunächst einmal plausibler. In ihr begegnet ein geistliches Reden in<br />

und von menschlich-irdischer Realität, in der man aber <strong>als</strong> ganzer Mensch von<br />

der Gottesbegegnung erfasst ist, somit sein gesamtes Leben von dieser Realität<br />

her versteht, und darum, wo man theologisch von Gott redet, es nur so tun kann,<br />

dass man zugleich von sich selbst redet. Diese Position vertritt eine existentiale<br />

Verortung der Theologie; der Inkarnation der Gottesoffenbarung in Jesus Christus<br />

(Johannes 1,14.18) scheint das ja zu entsprechen!<br />

2. Die Darlegung beschäftigt sich mit „Ehescheidung und Wiederheirat“. Ich<br />

will dies nicht vernachlässigen 1 , möchte aber zunächst zu bedenken geben: Ehe<br />

ich über Scheidung bzw. Wiederheirat theologisch reden kann, muss ich theologisch<br />

über „Ehe“ reflektiert haben. Das ist eine sachliche Notwendigkeit,<br />

wenn ich Gründe und Beweggründe eines biblischen Redens verstehen will,<br />

weil ich mich theologisch nicht mit dem ‚Erklären’ von sprachlichen Äußerungen<br />

oder ihrer buchstäblichen ‚Anwendung’ begnügen kann und darf. Diesen<br />

Umgang mit der Bibel, der grundsätzlich am Verstehen orientiert ist, nenne ich<br />

einen hermeneutischen Zugang, von dem ich hoffe, dass er im Verlauf der Darlegungen<br />

deutlich werden wird. Darum in der Titelzeile der Hinweis auf die<br />

„hermeneutisch-theologische Betrachtung“ von Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat.<br />

3. Bezüglich des Sachverhalts „Ehe“ befinden wir uns in einer ersten - zugegebenermaßen<br />

zunächst nur vordergründig erscheinenden - Schwierigkeit:<br />

Wenn wir „Ehe“ sagen bzw. denken, haben wir ein bestimmtes Konzept, eine<br />

systematische Konzeption psychosozialer und religiöser Art vor Augen und in<br />

unserem Kopf. Das AT jedoch hat noch nicht einmal einen eigenständigen Begriff<br />

dafür; entsprechend wird der - natürlich schon im AT! - gelebte und erlebte<br />

Sachverhalt von „Ehe“ auch nicht systematisch entfaltet. Doch auch für das NT,<br />

welches einen terminus technicus für „Ehe/Heirat“ kennt, behaupte ich mit dem<br />

Hauptsstrom der wissenschaftlichen Forschung: Es gibt dort keine systematisch<br />

dargelegte Ehelehre. Selbst der einzige längere und thematisch einheitliche<br />

1 Vgl. dazu meine in diesem Band abgedruckten Bibelarbeiten.<br />

34


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

Textabschnitt 1.Korinther. 7 kann m.E. nicht in solchem Sinne verstanden werden.<br />

2<br />

Das bedeutet natürlich nicht, dass man auf der Grundlage der Bibel keine<br />

christliche Lehre über die Ehe entfalten könnte; aber dies geht eben nicht im<br />

Sinne einer direkten Aufnahme bzw. Entnahme von Einzelaussagen, die man<br />

dann synthetisch vereinigt. Abgesehen davon, dass alle biblischen Aussagen<br />

geschichtlich verankert sind und jede einzelne Aussage konkret historisch verortet<br />

ist (z.B. hinsichtlich Anlass/Zweck; Funktion; Fragehinsicht usw.), ist an<br />

jeder Einzelstelle zu fragen, inwiefern sie - kategorial gesehen - eine anthropologische<br />

Grundaussage psychosozialer oder religiöser Art zum Thema darstellt,<br />

die <strong>als</strong> solche bleibende Gültigkeit beanspruchen könnte.<br />

Die Schwierigkeiten, denen wir bei der Beschäftigung mit dem Thema gegenüberstehen,<br />

sind freilich weitreichender und grundsätzlicher. Ich widme ihnen<br />

darum den ersten Hauptteil meiner Darstellung: 3<br />

1. Erster Hauptteil<br />

Das Thema „Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat“ und das Erfordernis einer<br />

grundlegenden Reflexion des Verstehens - unseres Menschseins (Abschnitt<br />

1.1.) und der Bibel (Abschnitt 1.2.).<br />

1.1. Die Reflexion unseres Selbstverständnisses<br />

Unsere konkrete Situation - individuell, gemeindlich (kirchlich) und gesellschaftlich<br />

- ist der erkennbare Horizont unseres jeweiligen Fragens und<br />

Antwortens, ist insofern Beweggrund, Hintergrund und ‚Unter’grund 4 der<br />

Beschäftigung mit dem Thema. 5<br />

2 Als mögliche Ausnahme wird von manchen Exegeten Epheser 5,21ff. betrachtet - nicht ohne<br />

Grund, wie ich zugebe; allerdings entspricht die dortige Zielrichtung nicht unserer eigenen und<br />

eigentlichen Fragestellung bezüglich des Verständnisses von Heirat. Näheres siehe unten.<br />

3 Ich bin überzeugt, dass die zur Diskussion stehenden Fragen sowohl für Theologen <strong>als</strong> auch<br />

für Seelsorger eine Herausforderung zur kritischen Rechenschaftsgebung im Blick auf das eigene<br />

Verständnis darstellen, damit nicht persönliche ‚biblische’ Anschauungen unreflektiert zur<br />

Grundlage der pastoralen Tätigkeit werden.<br />

4 Das gilt insbesondere auch für die konkrete Zielsetzung des Symposiums: Wir haben keine<br />

quasi ‚akademisch-wissenschaftliche’ Situation wie im Hörsaal, sondern sind <strong>als</strong> „Praktiker“<br />

35


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Das Thema hat seine besondere Bedeutung speziell in seinen Schwierigkeiten<br />

bzw. Herausforderungen für uns - und zwar in doppelter Weise: personbezogen<br />

(Abschnitt I) und sachbezogen (Abschnitt II).<br />

Meine Grundthese bringt zugleich mein Grundverständnis zum Ausdruck:<br />

Das Grundthema in der Frage von Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat ist<br />

kein soziales oder rechtliches, überhaupt kein sekundäres, sondern ein<br />

anthropologisch primäres und existential grundlegendes: die Sexualität. In der<br />

christlichen Betrachtung der menschlichen Sexualität wird dabei eine weitere<br />

Grunderfahrung menschlichen Seins aktiviert: die Religiosität. 6<br />

1.1.1. Personbezogene Aspekte des Themas<br />

1.1.1.1. Wir <strong>als</strong> menschliche Individuen<br />

Für uns Menschen ist das Thema Sexualität ein umfassendes Lebensthema -<br />

nicht nur ein intellektueller Sachverhalt; und wir begegnen ihr im Sinne einer<br />

Gabe, die - das scheint ein wesentlicher Unterschied zum Tier - zur Aufgabe<br />

wird: Unser Umgang ‚damit’ steht in unauflöslichem Zusammenhang mit der<br />

Frage nach sinnvoller Lebensgestaltung. Ehe bzw. Ehescheidung ist <strong>als</strong>o kein<br />

reiner „Sachverhalt“, dem wir uns objektiv, gleichsam <strong>als</strong> Beobachter, nähern<br />

könnten - jedenfalls noch viel weniger <strong>als</strong> bei manch anderen Themen, wo wir<br />

das (vermeintlich) tun können! Sexualität ist eine vitale Größe unserer Lebenswelt;<br />

wir haben nicht nur Sexualität, sondern wir sind Geschlechtswesen und<br />

insofern durch das Thema unmittelbar in unserer Existenz betroffen und darin<br />

mit unseren Erfahrungen konfrontiert. Zum Thema haben wir sofort bestimmte<br />

Bilder vor Augen; sozusagen konkrete Beispiele oder „Fälle“; ich behaupte:<br />

dabei auch (mehr oder weniger bewusst) unseren eigenen! In diesen Bildern<br />

steht uns sowohl Schönes und Erfreuliches wie auch weniger Erfreuliches vor<br />

Augen, näherhin insbesondere Schmerzliches im Sinne von vergeblichem Bemühen,<br />

<strong>als</strong>o Scheitern oder Versagen, sowie Abgründiges, Unverständliches,<br />

angeredet, <strong>als</strong> Menschen in einem Beruf oder in einer Funktion, wo wir in spezifischer Weise in<br />

der „Sache“ engagiert, mit ihr verbunden, vielleicht sogar in sie verstrickt sind.<br />

5 Darum meine Herausforderung in diesem ersten Teil - mehr <strong>als</strong> nur überhörbare Vor-<br />

Bemerkungen, vielmehr eine nachdrückliche Einladung und Aufforderung zur Selbstreflexion.<br />

6 Das Folgende mag psychologisch und philosophisch klingen, ist aber existentiell-grundlegend<br />

christlich gemeint und (m)eine Einsicht angesichts der theologischen Beschäftigung mit der<br />

Bibel und ihren heilvollen Grundaussagen sowie mit den amtlichen Verlautbarungen unserer<br />

Glaubensgemeinschaft zur Sache. Leider haben diese - so muss ich sagen - ein beträchtliches<br />

theologisches und seelsorgerliches Defizit hinsichtlich ihrer Bemühung um hilfreich-heilendes<br />

Verstehen, sei es der Bibel, sei es des Lebens.<br />

36


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

Unbegreifbares - bei anderen und uns selbst. Es begegnet uns hier gewissermaßen<br />

‚das Leben, wie es wirklich ist’, wir erleben mit und nach: die Macht der<br />

Gefühle; die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen von Entscheidungen,<br />

von Haltung und Verhalten; darin nicht zuletzt auch unsere Erfahrung von Hilflosigkeit<br />

angesichts einer Über-Macht von Liebe/Eros/Sexus (Hohelied 8,6f.).<br />

Eigentlich können wir uns dem Thema intellektuell nur sinnvoll nähern, wenn<br />

wir es mit einer Selbsterfahrung verknüpfen, mindestens jedoch mit der Bereitschaft<br />

dazu bzw. Offenheit dafür. Ich vermute: je mehr und je ausschließlicher<br />

wir (angeblich) rein sachlich und objektiv und absolut formulieren („das ist so“<br />

usw.), desto mehr sind bzw. bleiben wir eigentlich (unbewusst) persönlich involviert!<br />

Der ‚Sachverhalt’ unseres persönlichen Betroffenseins wird konkret<br />

aktualisiert und verstärkt durch unser Einbezogensein in die Gesellschaft.<br />

1.1.1.2. Wir in unserer Gesellschaft<br />

Jeder von uns wurde in eine Gemeinschaft hineingeboren, jeder hat Blutsverwandte,<br />

Vater/Mutter, eine Familie. Für das menschliche Leben ist diese lebensmäßige<br />

Verknüpfung mit anderen Menschen im Sinne einer definierten<br />

biologischen und/oder sozialen Zugehörigkeit nicht einfach nur eine natürliche<br />

Gegebenheit, sondern vielmehr eine grundlegend existentiale Notwendigkeit,<br />

jedenfalls ein existentieller Fakt. Es „gibt“ den Menschen nicht ohne den Mit-<br />

Menschen - auch und gerade im biblischen Verständnis des Menschseins im<br />

Sinne von Personalität, Angesprochen-Sein bzw. Sprachlichkeit, Freiheit, Verantwortung,<br />

grundlegender Relationalität usw.<br />

Solche Grunderfahrung wird durch die konkreten Formen gesellschaftlicher<br />

Organisation menschlichen Lebens geprägt. 7 . In Antwort darauf ist das Christentum<br />

wiederum gesellschaftlich re-aktiv; 8 wobei nicht zu leugnen ist: Auch<br />

die Kirchen sind von den Veränderungen im Sexualverhalten erfasst. In solchem<br />

Kontext hat die Berufung auf die Bibel die Funktion der Anrufung einer<br />

gültigen Autorität. Selten jedoch werden die zur Debatte stehenden Sachverhal-<br />

7 Es ‚genüge’' vielleicht einige allgemeine Hinweise auf gesellschaftliche Entwicklungen der<br />

letzten Jahrzehnte, um die Relevanz der Fragestellung unseres Themas Ehe/Ehescheidung zu<br />

verdeutlichen. Die Stichworte sind: Die sexuelle Revolution der 60er/70er Jahre; die sexuelle<br />

Freizügigkeit/Schrankenlosigkeit, die heute quasi normal bzw. allgemein ist; die Vermarktung<br />

von Sexualität, sowie überhaupt der Wertewandel und der Verlust von (einst) gültigen Normen.<br />

8 Wie es überhaupt, insbesondere in der römisch-katholischen Kirche und in den freikirchlichbibeltreuen<br />

Konfessionen oder Gruppierungen auch hinsichtlich der eigenen Mitglieder in dieser<br />

Angelegenheit hauptsächlich abwehrend und apologetisch auftritt.<br />

37


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

te <strong>als</strong> solche - lebensweltlich umfassend und existential grundlegend - hinreichend<br />

plausibel gemacht.<br />

Die gesellschaftliche Wirklichkeit zum Thema ist zwar deutlich anders <strong>als</strong><br />

früher, aber doch m.E. nicht überall eindeutig oder in jeder Hinsicht eindeutig<br />

negativ zu werten.<br />

Betrachten wir neueste Zahlen und Fakten bezüglich Ehe und Ehescheidung<br />

für unsere Lebenswelt, so fällt zunächst einmal eine Pluralität von Familienbzw.<br />

Lebensformen ins Auge, welche den gesellschaftlichen Wandel signalisiert.<br />

Dass die im traditionellen Sinne verstandene Ehe ein gesellschaftliches<br />

Auslaufmodell sei, ist zwar immer wieder behauptet worden, lässt sich aber so<br />

nicht eindeutig feststellen. Jedenfalls gibt es immer noch den Wunsch nach und<br />

auch die Bereitschaft zu dauerhafter Bindung und treuer Verlässlichkeit im Sinne<br />

einer festen, partnerschaftlich gelebten Liebes- und Lebensgemeinschaft<br />

von Mann und Frau - wenn auch die statistischen Erkenntnisse und die daraus<br />

resultierenden Zukunftsprognosen für die faktische Dauer solcher Gemeinschaften<br />

ernüchternd sind. Das kann einen <strong>als</strong> Menschen und <strong>als</strong> Christen nicht<br />

gleichgültig lassen.<br />

1.1.1.3. Wir <strong>als</strong> religiöse Menschen - individuell und gemeindlich (ein)gebunden<br />

Das Religiöse wie das Sexuelle scheint in der Persönlichkeit tief verankert,<br />

nahe am Persönlichkeitskern, beide sind Kennzeichen unserer Kernpersönlichkeit.<br />

Daraus resultiert einerseits ihre große Wirkung und vitale Bedeutung, denn<br />

sie stellen größte menschliche Antriebskräfte dar bzw. bereit. Andererseits sind<br />

diese Bereiche im Erleben <strong>als</strong> sehr nahe beieinander liegend erfahrbar. Das<br />

Machtvolle beider Bereiche hängt anscheinend auch damit zusammen, dass in<br />

ihnen vieles dem direkten Zugriff des Bewusstseins entzogen ist; die Antriebe<br />

sind häufig verdeckt, uns bleibt Wesentliches verborgen.<br />

Hinsichtlich unserer Thematik haben wir es mit einer Kopplung beider Bereiche<br />

zu tun, es kommt dabei zu einer Summierung, ja Potenzierung im Erleben,<br />

die sich m.E. auch in der intellektuellen Auseinandersetzung auswirkt; man<br />

beachte die typische „Aufgeregtheit“ bei solchen Themen im kirchlichchristlichen<br />

Bereich, die bis in die amtlichen Verlautbarungen durchschlägt.<br />

Man erkennt, wie sehr man selbst in seinen Werten oder Normen tangiert ist.<br />

Das direkte Betroffensein macht es nicht leicht, eine Sexualethik <strong>als</strong> eine realistische<br />

und umfassend lebensdienliche Darstellung menschlicher Existenz zu<br />

entwickeln. Sie kann m.E. nur gelingen, wenn in der theologischen Grundlegung<br />

die anthropologischen Grundkonstanten von den - existentiell und sozial<br />

38


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

gesehen - geschichtlichen Variablen unterschieden werden. Dies <strong>als</strong> solches<br />

plausibel zu machen erscheint mir möglich, aber auch unabdingbar nötig, wenn<br />

wir mit unseren sexualethischen Äußerungen nicht einem utopisch-lebensfernen<br />

Ideal in religiöser Einkleidung verhaftet sein wollen.<br />

1.1.1.4. Wir <strong>als</strong> religiöse Funktionsträger<br />

Wir sehen und verstehen unsere Aufgabe und unseren Auftrag vielleicht <strong>als</strong><br />

Seelsorger oder <strong>als</strong> Administratoren in unterschiedlicher konkreter Zuspitzung.<br />

Gemeinsam ist uns die Bezugnahme auf die Bibel <strong>als</strong> religiöse Grundlage. Unsere<br />

Sorge und Aufmerksamkeit gilt der biblisch-christlich ausgerichteten Kirche/Gemeinde<br />

im Blick auf das dem Glauben entsprechende rechte Leben.<br />

Hierin ist ein Dienst eingeschlossen, der sowohl prophetische wie seelsorgerliche<br />

Züge in sich vereint: prophetisch zur Umkehr mahnend, gegen zerstörerische<br />

Tendenzen und Trends in Kirche und Welt anzureden und seelsorgerlich<br />

heilend und hilfreich wirksam zu sein.<br />

Welche Rolle und Funktion jede(r) Einzelne dabei ausfüllt, muss er/sie selbständig<br />

entwickeln: sehr plakativ formuliert: Ankläger oder Anwalt; Richter<br />

oder Retter; Henker oder Helfer - oder, da jedes Extrem problematisch (sprich:<br />

neurosegefährdet) ist, eine goldene Mitte finden. Ich versehe die Rolle mit der<br />

Aufgabenstellung: <strong>als</strong> verstehende Begleiter der Menschen da sein - nicht durch<br />

Vertretung programmatisch inhaltlicher Positionen in konstruierter Gesetzesregelung,<br />

sondern durch Verkörperung hilfreicher innerer Haltung in konstruktiver<br />

Glaubensreflexion im Dienst eines mit sich/dem Nächsten/dem Leben/mit<br />

Gott versöhnten Lebens.<br />

Sind wir mit unserer Sexualität und in unserer Religiosität ausgesöhnt?<br />

1.1.1.5. Unser Herausgefordert-Sein durch Gott und den Nächsten verstehen -<br />

und anerkennen<br />

Unser Geprägtsein in den beiden Bereichen Sexualität und Religiosität sowohl<br />

<strong>als</strong> Individuen wie <strong>als</strong> Sozialwesen ‚müssen’ wir anerkennen und damit positiv,<br />

d.h. versöhnt leben lernen. Das verlangt eine Selbstreflexion sowohl hinsichtlich<br />

des Religiösen wie des Sexuellen. Thema sind: unsere Ideale, Sehnsüchte<br />

und Wünsche; aber auch unsere Enttäuschungen und Frustrationen; unsere<br />

Angst wie unsere Angstabwehr; unsere Werte; die für uns geltenden Normen<br />

und Regeln; unser Grundverständnis der Bibel, unsere Sicht von Gott, Mensch<br />

und Welt usw. Darin und damit verknüpft ist unsere eigene Funktion und Rolle<br />

<strong>als</strong> christlicher Seelsorger oder gemeindlicher Administrator. Alles ist zu ver-<br />

39


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

stehen und anzuerkennen <strong>als</strong> geschichtliches Gewordensein unserer Existenz<br />

mit der Option eines Wachsens und Werdens in der Zukunft.<br />

Hierin wie überall geht es grundlegend ums Verstehen, <strong>als</strong> Weg und <strong>als</strong> Ziel -<br />

auch und gerade in der Seelsorge. Da geht es nicht bloß ums Regeln, Handhaben<br />

und Vollziehen. Und ebenso in der Theologie: Es geht ums Verstehen von<br />

Glaubens- und Lebensäußerungen, nicht bloß ums historische Erklären und<br />

dogmatische korrekte Anwenden von Bibeltexten. Denn: das Absolute/Göttliche<br />

ist nicht an und für sich greifbar, sondern spiegelt sich geschichtlich<br />

(1.Korinther 13,9).<br />

Die biblischen Zeugnisse machen mir deutlich: Die Begegnung mit Gott in<br />

seinem erlösenden Wort ist prinzipiell nicht losgelöst verstehbar von unserem<br />

Eingebundensein in unsere Mitwelt und Umwelt. Nach gesamtbiblischem Verständnis<br />

gibt es eine integrale Zusammengehörigkeit von Gottesbeziehung und<br />

Menschenbeziehung. Dies kommt u.a. darin zum Ausdruck, dass die grundlegenden<br />

Begriffe, die eine gelingende Beziehung unter den Menschen kennzeichnen,<br />

zugleich auch die Hauptbegriffe der existenziellen Gemeinschaft mit<br />

Gott beschreiben: Liebe; Gnade, Vergebung, Versöhnung; Glaube, Vertrauen,<br />

Treue; Gerechtigkeit; Friede, Heil; Wahrheit, Wahrhaftigkeit usw. Weiterhin<br />

betrachtet die Bibel unseren Umgang mit Menschen <strong>als</strong> Ausdruck bzw. praktischen<br />

Prüfstein unserer Gottesbeziehung (1.Johannes 4).<br />

In den beiden Sachaspekten Sexualität und Religiosität sind potentiell und<br />

prinzipiell Herausforderungen für uns enthalten; das ist der innerste und eigentliche<br />

Kern der ‚Schwierigkeiten’ mit diesem Thema. In beidem werden wir in<br />

existenziell grundlegender Weise mit dem Leben selbst konfrontiert. Dieses<br />

aber ist - bis zu unserem Tode - grundsätzlich unabgeschlossen.<br />

Praktisch-theologisch bedeutet das: Es gibt keine faktisch endgültigen Modelle<br />

oder Lösungen, in denen das gesamte Leben systematisiert und dann durch<br />

Regelbeachtung gehandhabt werden könnte. Das Leben im eigentlichen und<br />

wahren Sinn ist in keinem Regelwerk zu erfassen! Systematisch-theologisch<br />

bedeutet das: Das Leben im eigentlichen und wahren Sinne besteht nicht im<br />

definierenden Betrachten objektiver Sachverhalte eines richtigen An-und-fürsich-Seins.<br />

Das Leben besteht im Vollzug des Lebens. In der christlich verstandenen<br />

Religiosität geht es dabei gerade darum, in einem bestimmten, aber umfassenden<br />

Sinne nicht „bei sich selbst“ zu bleiben und gerade dadurch sein wahres<br />

Sein zu gewinnen.<br />

Dieses Heraus-gefordert-Sein erreicht uns einerseits in der Gottesbegegnung,<br />

<strong>als</strong> Herausgefordert-Sein zum Glauben (Römer 14,7f.), andererseits in der Be-<br />

40


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

gegnung mit dem Mitmenschen <strong>als</strong> Herausgefordert-Sein zur Liebe (Römer<br />

13,8-10) Das Erstere wie das Zweite bleibt beständige Bewegung. 9<br />

1.1.2. Sachbezogene Aspekte des Themas<br />

1.1.2.1. Die Zuspitzung auf das Problem „Ehescheidung und Wiederheirat“<br />

Ehescheidung ist nichts Erfreuliches, wie schon der Volksmund sagt: „Scheiden<br />

tut weh“, bedeutet es doch einen Abschied vom einst geliebten Menschen;<br />

ist doch ein Sich-Trennen aus solcher Zusammengehörigkeit immer auch ein<br />

Verlust. Veranschaulichen wir uns das bildhaft: trennen wir zwei graphisch<br />

ineinander liegende Ringe von einander, dann bleibt zunächst auf keiner Seite<br />

etwas Ganzes und Rundes übrig! Es bleibt eine Delle in jedem Ring bzw. Kreis.<br />

Je größer die vorherige Intensität oder Qualität und Dauer des Zusammenlebens,<br />

desto größer zunächst auch die Beschädigung der Identität, der erlebte<br />

Verlust.<br />

Nicht umsonst spricht man von Scheidungs'opfern' - vor allem sind es die<br />

Kinder, sie sind am wenigsten ursächlich verantwortlich für Trennung oder<br />

Scheidung; denken wir auch an die Menschen des näheren oder weiteren Umfelds:<br />

Familie/Verwandte; Freunde, Bekannte; Glaubensgeschwister der Gemeinde.<br />

Aber eben nicht zuletzt man selbst <strong>als</strong> Geschiedene(r) - wie sehr man<br />

auch faktisch ‚Täter’ sein mag.<br />

Die sprichwörtliche Rationalisierung in solchen Fällen: „Lieber ein Ende mit<br />

Schrecken <strong>als</strong> ein Schrecken ohne Ende“ hält in jedem Fall das grundsätzlich<br />

Unbefriedigende fest.<br />

Ich denke, wir alle sehen es <strong>als</strong> eine Faktizität unserer Wirklichkeit: Scheidungen<br />

werden nie aus unserer Welt zu schaffen sein, denn: es gibt kein garantiertes<br />

Glück zu zweit, kein 100% wirksames Programm gegen Ehefrust und<br />

Scheidung. Wiederverheiratung im Sinne einer zweiten Chance könnte ja etwas<br />

Erfreuliches sein!<br />

Aber es gibt, insbesondere in christlichen Kreisen, eine deutliche religiöse<br />

Negativwertung: eigentlich ist es biblisch ja nicht ‚erlaubt’, man verweist auf<br />

entsprechende Bibeltexte. Ganz sicher gehört unsere eigene Glaubensgemeinschaft<br />

in diese Gruppe.<br />

9 Gerade der im Glauben an Christus geborene kann und soll sein Selbstbild erweiternd verändern<br />

(Matthäus 13,52; 1.Thessalonicher 5,21); das Um-Lernen bzw. Um-Denken, die Neuentscheidung<br />

in Einzelfragen ist möglich durch die Erfahrung einer positiven Kraft; insofern ist<br />

„Metanoia“ (Buße, Umkehr; Markus 1,14f.) <strong>als</strong> Gabe von Gott her zugleich - wie ich meine:<br />

bleibende - existentielle Aufgabe des Menschen.<br />

41


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Im unbedingten Betonen des zu bewahrenden Gutes „Ehe“ drückt sich das<br />

Wissen und die Erfahrung des Unguten bzw. Schweren von Scheidung und Anschlussfamilien<br />

aus.<br />

Und wenn man auch - im konkreten Fall - erlebt hat, dass eine Scheidung besser<br />

ist <strong>als</strong> ein konfliktträchtiges Zusammenbleiben und dass es sogar ein neues<br />

und wirkliches Glück in einer Anschlussfamilie nach Wiederheirat gegeben hat<br />

- wir haben dennoch unseren Konflikt damit. Weil bzw. wenn die Normen, die<br />

nach adventistischem Verständnis eine Scheidung biblisch gerechtfertigt sein<br />

lassen, nicht erfüllt waren.<br />

1.1.2.2. Unsere Zwickmühle: das Menschsein und die biblisch-gemeindlichen<br />

Normen<br />

Einem einzelnen Menschen könnten wir ja mal ‚entgegenkommen’ in seiner<br />

Not. Aber: kann nicht aus einem Einzelfall ein Präzedenzfall werden? Oder:<br />

Wird womöglich der Einzelfall zum Regelfall und unterminiert ein aufrechtzuerhaltendes<br />

Prinzip? Und wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn wir nicht alle<br />

gleich behandeln? Und wenn eine biblisch-göttliche Norm um des Menschen<br />

willen ausgehebelt wird, wo bleibt dann die Ordnung des Glaubens und die<br />

Heiligkeit des Lebens?! Die Fragen sind berechtigt - und nur mit dem geistlichem<br />

Mut Jesu Christi 10 zu lösen.<br />

1.1.2.3. Mein sachlicher Ansatz im Thema<br />

Er findet sich - wie schon oben vermerkt - nicht bei der Negation „Ehescheidung“,<br />

sondern bei der Position: „Ehe“ <strong>als</strong> Lebenswirklichkeit in theologischer<br />

Betrachtung. Das biblische Grundverständnis von Ehe ist wichtig für den gesamten<br />

Bereich der Sexualethik überhaupt und unabdingbar zum Verstehen des<br />

angemessenen christlich-gemeindlichen Umgangs mit Scheidung und Wiederheirat.<br />

Doch bevor dies ausgeführt werden kann, ist - wenigstens übersichtsartig 11 -<br />

auf eine weitere Reflexionsebene zu verweisen:<br />

10 Vgl. seinen befreiten Umgang mit den „Schuldiggewordenen“ oder seine befreiende Botschaft<br />

christlicher Ethik in der Bergpredigt.<br />

11 Ich beschränke mich auch im Abdruck des Vortrags auf eine knappe Skizzierung, zum einen<br />

aus Platzgründen, zum anderen, weil ich meine, dass uns in der Regel die hier angesprochenen<br />

biblisch-theologischen Fragestellungen eher bekannt und vertraut sind <strong>als</strong> das bisher Dargelegte.<br />

Was nicht heißen soll, dass wir <strong>als</strong> STA die entsprechenden Fragen schon insgesamt angemessen<br />

methodisch reflektiert und sachgemäß beantwortet hätten - und <strong>als</strong>o gut damit umgingen!<br />

Mir scheint hier - natürlich im Einzelnen unterschiedlich - noch ein ziemlich großer<br />

Wachstumsbereich.<br />

42


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

1.2. Die Reflexion unseres Verstehens der Bibel<br />

1.2.1. Grundsätzliches<br />

Es genügt nicht, Bibeltexte wörtlich zu übernehmen und sie <strong>als</strong> solche auf<br />

heutige Lebenssituationen unmittelbar bzw. direkt anzuwenden. Aufgabe sachgemäßen<br />

Umgangs mit der Bibel ist vielmehr das Verstehen des jeweils Gesagten,<br />

um das für heute Gültige zu erkennen. Generell gilt: Verstehen ist mehr <strong>als</strong><br />

Zitieren. Das Gemeinte im Gesagten wahrzunehmen; Veranlassung, Ziel und<br />

Zweck einer konkreten Äußerung zu berücksichtigen sowie die Beweggründe<br />

des Denkens und Fühlens eines Autors zu entdecken - das sind wichtige Anliegen<br />

im Verstehensvorgang.<br />

Dazu bedarf es eines methodisch-systematischen Vorgehens in einem hermeneutischen<br />

Prozess, wobei - neben verschiedenen Einzelfaktoren - vor allem die<br />

konkrete historische Verortung und die generelle Geschichtlichkeit aller<br />

menschlichen Glaubensaussagen und Lebensäußerungen angemessen Berücksichtigung<br />

finden muss. Die Gültigkeit des so verstandenen biblischen Wortes<br />

<strong>als</strong> mich in meiner Existenz unmittelbar und grundlegend betreffend („Du bist<br />

der Mensch“, - „tua res agitur!“; 2.Samuel 12,7; vgl. 1.Korinther 10,11) ergibt<br />

sich aus dem Gesamtverständnis der Schrift, die ihre Basis, ihr Ziel und ihren<br />

Kern im Christusgeschehen <strong>als</strong> dem definitiven Heilshandeln Gottes hat.<br />

Die ‚Anwendung’ von einzelnen biblischen Worten oder einer biblisch bestimmbaren<br />

Gesamtaussage auf eine heutige konkrete Lebenssituation hängt ab<br />

von den Grundfaktoren der jeweiligen Lebenssituation im Sinne einer Struktur-<br />

Analogie bzw. der Kompatibilität mit dem im Bibeltext gemeinten Sachverhalt.<br />

1.2.2. Methodisches<br />

Beim konkreten Umgang mit den biblischen Worten geht es - methodisch gesehen<br />

- im Wesentlichen um die angemessene Berücksichtigung von vier Gesichtspunkten:<br />

1.2.2.1. Die ganze Bibel zu einem Sachverhalt zu befragen, darf nicht nur<br />

formal erfüllt werden, indem alle zugehörigen Bibeltexte konkordanzmäßig<br />

aufgenommen und gleichgewichtig nebeneinander gestellt werden. Vielmehr<br />

muss das Gewicht, welches dem Text bzw. den jeweiligen Texten im Gesamtzusammenhang<br />

zukommt, diskutiert und dargestellt werden. Dies bedeutet<br />

zugleich, dass innerhalb der biblischen Texte hinsichtlich ihrer bindenden Be-<br />

43


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

deutung im Einzelfall differenziert werden muss. Dies geschieht in Anwendung<br />

einer Zentralperspektive beim Betrachten der Bibel, über deren Anwendung<br />

und Sachgemäßheit Rechenschaft zu geben ist. Das damit gemeinte methodische<br />

Vorgehen nenne ich Auswahlprinzip.<br />

1.2.2.2. Die Zentralperspektive bzw. das Grundverständnis der Bedeutung und<br />

Zielgerichtetheit der Heiligen Schrift ergibt sich nach neutestamentlicher Überzeugung<br />

mit Christus bzw. im Christusgeschehen (vgl. Johannes 5,39). Das<br />

muss nicht immer identisch sein mit einer bestimmten Darstellung des Geschehens<br />

im Zusammenhang mit dem historischen Jesus. 12 Dieses theologische Erfordernis,<br />

über das zu reflektieren ist, nenne ich Autoritätskriterium.<br />

1.2.2.3. Das Ziel der Auslegung eines biblischen Textes, die Fragehinsicht,<br />

mit der ich ihn zu verstehen suche, kann im Einzelfall durchaus unterschiedlich<br />

sein. Methodisch zu reflektieren ist, welche Fragehinsicht mich selbst bewegt<br />

und ob bzw. inwieweit diese mit dem Anliegen der Fragestellung innerhalb des<br />

biblischen Abschnittes identisch ist. Das diesbezügliche Vorgehen verlangt Rechenschaft<br />

über das Auslegungsziel.<br />

1.2.2.4. Im konkreten Umgang mit dem Ergebnis des Verstehens, in der Anwendung<br />

auf das Leben heute, sind Konstanten und Variable zu berücksichtigen<br />

Damit die Anwendung <strong>als</strong> plausibel und angemessen erkannt werden kann, bedarf<br />

es der Reflexion über das eigene Anwendungsmodell.<br />

Die genannten Erfordernisse ermöglichen die Überprüfung der Ergebnisse<br />

hinsichtlich ihrer Sachgemäßheit am Text - so weit dies im Rahmen des<br />

menschlichen Kommunikations- und Verstehensprozesses überhaupt möglich<br />

ist 13 - und erweisen die Vorgehensweise <strong>als</strong> wissenschaftlich.<br />

12 Jesus von Nazareth war beschnitten und anscheinend unverheiratet. Beides ist z.B. christlich<br />

nicht bindend und nicht von Heilsbedeutung für uns heute.<br />

13 Die Bedeutung der Wirkung des Heiligen Geistes sehe ich in diesem Zusammenhang mehr<br />

im Blick auf das geistliche Einverstandensein im Vorgang des Verstehens, nämlich der glaubenden<br />

Zustimmung zu dem Verstandenen.<br />

44


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

1.2.3. Historisches<br />

Ich greife diesen grundlegenden Gesichtspunkt des Historischen beim Verstehen<br />

biblischer Texte noch einmal gesondert auf, weil er m.E. eine besondere<br />

Bedeutung hat. Dass unsere Welt nicht einfach identisch ist mit der „Welt der<br />

Bibel“, ist eigentlich Allgemeingut der Anschauung. Dennoch wird diesem<br />

Sachverhalt tendenziell noch zu wenig Bedeutung im Auslegungsprozess von<br />

Bibeltexten innerhalb unserer Glaubensgemeinschaft beigemessen. So wird z.B.<br />

religionsgeschichtliches und kulturanthropologisches Material nur im Einzelfall<br />

und ggf. <strong>als</strong> zusätzliche Informationsquelle zum Verstehen ‚schwieriger Texte’<br />

herangezogen statt durch solche Reflexions- und Vergleichsebene die Basis für<br />

das Verstehen der biblischen Aussagen mitbestimmt sein zu lassen.<br />

Überhaupt tendieren wir im Umgang mit der Bibel eher zu einer mehr ungeschichtlich<br />

dogmatisch-geprägten Auslegung, die für uns die eigentlich geistlich-religiöse<br />

zu sein scheint <strong>als</strong> zu einer, welche die geschichtliche Bedingtheit<br />

all dessen, was uns irdisch begegnet, umfassend berücksichtigt.<br />

Hier ist m.E. noch viel zu tun - freilich liegt gerade darin auch ein Teil des<br />

Spannungspotenti<strong>als</strong> innerhalb unserer Glaubensgemeinschaft, von dem in der<br />

Einleitung schon die Rede war! Andererseits: damit gibt es auch einen weiten<br />

Bereich des Wachstums und der Entwicklung, die Vielen zugute kommen<br />

könnte; zunächst uns selbst, dann aber auch denen, mit denen wir innerhalb und<br />

außerhalb der Gemeinde in Freuden wie in Nöten zu tun haben und die nach<br />

einem grundlegenden Wort des Herrn für ihr Leben fragen.<br />

Ich fasse diesen ersten Hauptteil zusammen und formuliere <strong>als</strong> mein Ergebnis<br />

bzw. <strong>als</strong> These:<br />

Jede theologische Reflexion bedeutet letztlich eine Reflexion des Verstehens;<br />

es geht um das Verstehen von uns selbst sowie des anderen Menschen und der<br />

Bibel, somit um das Verstehen der Zeit, der Welt, der Geschichte, des<br />

Menschseins überhaupt.<br />

Das ist nicht eigentlich nötig, wenn wir <strong>als</strong> Pastoren bzw. Seelsorger nur Anwender<br />

eines vorgegebenen normierten Programms sind; das ist bedingt nötig<br />

wenn wir <strong>als</strong> Pastoren bzw. Seelsorger die Angemessenheit der Anwendung<br />

eines normierten Programms im Einzelfall prüfen wollen; das ist aber m.E. unbedingt<br />

und grundlegend erforderlich, wenn wir <strong>als</strong> Pastoren bzw. Seelsorger<br />

kein normiertes Programm einsetzen, sondern stattdessen die echte Bemühung<br />

um das wirkliche Verstehen unser ‚Programm’ ist, und zwar in den drei Aspekten:<br />

- das Verstehen unser selbst und des/der anderen<br />

45


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

- das Verstanden-Werden von anderen sowie<br />

- anderen beim bzw. zum Verstehen ihrer selbst hilfreich zu sein.<br />

Was ergibt sich bei solcher Einstellung und Vorgehensweise <strong>als</strong> Grundverständnis<br />

für unser Thema „Ehe“? Ich stelle das diesbezügliche Ergebnis meiner<br />

hermeneutisch-theologischen Reflexion im nun folgenden zweiten Hauptteil dar<br />

und zur Diskussion.<br />

2. Zweiter Hauptteil<br />

Das biblisch-christliche Verständnis von „Ehe“ und seine Bedeutung für den<br />

angemessenen Umgang mit den Fragen von Scheidung und Wiederheirat.<br />

Ich bearbeite dies Thema wiederum in zwei Abschnitten: Der erste Abschnitt<br />

(2.1.) behandelt den Sachverhalt in den Dokumenten unserer Glaubensgemeinschaft,<br />

der zweite Abschnitt (2.2.) biblische Grundaussagen. 14<br />

2.1. Offizielle Verlautbarungen der Gemeinschaft der STA zu Ehe, Ehescheidung<br />

und Wiederheirat<br />

2.1.1. Die Dokumente und ihre Bedeutung sowie Funktion<br />

Die Dokumente stammen - in der betrachteten Fassung, welche die z.Zt. gültige<br />

ist - aus den letzten zwei Jahrzehnten. Sie werden chronologisch vorgestellt.<br />

15<br />

Das allgemeine Grunddilemma hinsichtlich der Dokumente existiert, wenn<br />

ich recht sehe, im Prinzip schon so lange, wie es unsere Glaubensgemeinschaft<br />

gibt:<br />

Theologisch gesehen sollen die Verlautbarungen, formal durch die obersten<br />

Beschlussgremien unserer Gemeinschaft verabschiedet, nicht <strong>als</strong> fest zementiertes<br />

Dogmengebäude verstanden werden, nicht im Sinne eines Glaubensbekenntnisses<br />

oder einer Glaubenslehre im engeren Sinn - trotzdem beanspruchen<br />

sie allgemeine Verbindlichkeit innerhalb der Adventgemeinde. Dieser Zustand<br />

14 Eine sachliche Vorordnung der adventistischen Dokumente vor den biblischen Texten ist<br />

mit dieser Reihenfolge natürlich keineswegs impliziert.<br />

15 Das genannte Datum bezieht sich auf die Veröffentlichung des englischsprachigen Origin<strong>als</strong>.<br />

46


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

wird in der Gemeinde nicht <strong>als</strong> Klarheit erlebt - und zwar vor allem hinsichtlich<br />

der Anwendung in Problemfällen.<br />

Die (kirchen)rechtliche Seite dieser Konstruktion, die mir theologisch an und<br />

für sich nicht unsympathisch ist - lässt sie doch einen gewissen Ermessensspielraum<br />

zum eigenständigen Beurteilen und Handeln -, hat aber zur Folge, dass die<br />

Ausführungen zu einzelnen Sachverhalten innerhalb unserer Gemeinschaft<br />

zunehmend unterschiedlich verstanden und umgesetzt werden. 16 Während die<br />

einen in der Gemeindeordnung das Instrument sehen, durch die Verpflichtung<br />

auf gemeinsame Lehraussagen und verbindliche Handlungsanweisungen die<br />

Einheitlichkeit der Glaubensgemeinschaft zu gewährleisten, sehen die anderen<br />

eher die kulturelle und individuelle Vielfalt heutiger Menschen - und betrachten<br />

das Gemeindehandbuch eher <strong>als</strong> ein Dokument geistlicher Einheit <strong>als</strong> gemeindlicher<br />

Einheitlichkeit. Entsprechend werden die darin enthaltenen Ausführungen<br />

zu ethischen Fragen und zur gemeindlichen Organisation von den einen<br />

eher <strong>als</strong> absolute Regulierung und Normierung aufgefasst, von den anderen eher<br />

<strong>als</strong> (mehr oder weniger) autoritativer Rahmen.<br />

2.1.2. Die inhaltliche Darstellung in den Dokumenten<br />

2.1.2.1. Die Glaubensüberzeugungen (1980)<br />

Die Glaubensüberzeugung # 22 spricht von Ehe und Familie zugleich.<br />

In Absatz 1 wird die Ehe behandelt: Ihre religiöse Wertigkeit erhält sie durch<br />

ihre Einsetzung von Gott im Garten Eden, die durch Jesus Christus bestätigt<br />

wurde. Diese Wertigkeit wird durch die zwei weiteren Sätze noch unterstrichen.<br />

- Ist die Ehe damit selbst eine religiöse Größe? Es hat den Anschein, zumal im<br />

abschließenden Satz auf den Abbildcharakter der Ehe für die Beziehung zwischen<br />

Christus und seiner Gemeinde verwiesen wird.<br />

Die weiteren Aussagen beschreiben die angemessene Haltung in dieser <strong>als</strong> lebenslang<br />

bindend verstandenen Gemeinschaft: Liebe, Wertschätzung/Achtung<br />

und Verantwortung.<br />

Es werden damit zwar grundlegend personale, nicht jedoch ausdrücklich bzw.<br />

spezifisch leibliche Sachverhalte (Sexualität/sexuelle Intimität) angesprochen.Die<br />

Sexualität begegnet erst im Absatz 2 über die Ehescheidung, wo zunächst<br />

auf Jesu Lehre verwiesen wird, gemäß der nur „Unzucht“ ein zulässiger<br />

Scheidungsgrund sein kann. Sodann wird in einem zweiten Satz zwar einge-<br />

16<br />

Zum sachgemäßen Umgang vgl. den kenntnis- und aufschlussreichen Aufsatz von<br />

L. Wilhelm in diesem Band.<br />

47


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

räumt, dass „manche ehelichen und familiären 17 Verhältnisse nicht ideal sind“,<br />

aber zugleich wird darauf verwiesen, dass „Ehepartner, die sich in Christus völlig<br />

einander hingeben, liebende Einheit erzielen/erreichen können“ 18 - „durch<br />

die Führung des Heiligen Geistes und durch den Zuspruch der Gemeinde“.<br />

Absatz 3 betont in allen Sätzen die geistlich-religiöse Funktion und Bedeutung<br />

der Familie.<br />

2.1.2.2. Die Kommentierung zur Glaubensüberzeugung 19 (1988)<br />

Die ursprüngliche Einsetzung bzw. Stiftung der Ehe <strong>als</strong> Institution 20 durch<br />

Gott wird unterstrichen. Beide Geschlechter zusammen 21 bilden die Gattung<br />

„Mensch“. Sie sind gleichwertig. Ihre differente Geschlechtlichkeit, die gut ist,<br />

dient der Vermehrung der Menschheit.<br />

Gott vollzieht die Vereinigung von Mann und Frau im Sinne der Schließung<br />

eines Ehebunds. Zu ihm gehören das „Ein-Fleisch-Sein“, die Liebe (Agape <strong>als</strong><br />

Grundlage) und die (geistliche) Verantwortung füreinander. Der Sündenfall<br />

machte nicht nur die relative Vorordnung des Mannes vor der Frau nötig, die<br />

seitdem für alle Ehen gültig ist, sondern brachte auch die Unzuchts-Sünden im<br />

sexuellen Bereich hervor: Polygamie, Unzucht/Ehebruch, Unreinheit der Gedanken,<br />

Inzest, Scheidung, Homosexualität. All dies wird durch die Erlösung in<br />

Christus überwunden; insofern sind christliche Ehen ihrer geistlichen Möglichkeit<br />

nach „Ehen vor dem Sündenfall“.<br />

2.1.2.3. Die Gemeindeordnung (1995)<br />

In Kap. 15 enthält das Gemeindehandbuch eine eigene Ausführung zum Thema<br />

Scheidung und Wiederverheiratung. Demgemäß ist eine Scheidung nur biblisch<br />

legitimiert, wenn sie <strong>als</strong> Folge der Unzucht eines Partners nötig wird.<br />

Dann ist für den unschuldigen Teil eine Wiederheirat möglich. Die Ausführungen<br />

enthalten vielerlei Überlegungen und Ausführungsbestimmungen zum Umgang<br />

mit Scheidung bzw. Wiederheirat, vorrangig unter gemeinderechtlichen<br />

Aspekten („Gemeindezucht“/“korrigierende Seelsorge“).<br />

17 Das Original spricht von „family relationships“.<br />

18 So die wörtliche Übersetzung aus dem Englischen. Der deutsche Text formuliert etwas anders.<br />

19 Kein offiziell-kirchenamtliches Dokument, aber - durch die Predigtamtsabteilung der GK<br />

herausgegeben und von einem weltweiten Gutachterkreis beurteilt - doch eine repräsentative<br />

Darstellung.<br />

20 Auslassung im deutschen Text.<br />

21 So eindeutig im Original, im deutschen Text abgeschwächt und geglättet.<br />

48


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

Es gibt darin nur einen quasi beiläufigen einleitenden Hinweis 22 auf die Bedeutung<br />

der Ehe, die <strong>als</strong> „heiliges bzw. himmlisches Ideal“ bezeichnet wird,<br />

weil Gott im Garten Eden ihr Gründer bzw. Stifter war.<br />

2.1.2.4. Eine Erklärung des Generalkonferenz-Ausschusses (1996)<br />

Hier findet sich in den ersten zwei Absätzen die Beschreibung „des göttlichen<br />

Eheide<strong>als</strong>“, dem dann in den Absätzen drei und vier eine Beurteilung und Bewertung<br />

folgt, ausdrücklich verstanden <strong>als</strong> eine voll-inhaltliche Bekräftigung<br />

und Bestätigung der unverminderten Gültigkeit dieses Ide<strong>als</strong>.<br />

Zunächst wird auch hier wieder auf das Religiöse abgehoben: Die Ehe ist ein<br />

geistliches Symbol, zum einen für die „Einheit der Gottheit in Vielfalt“ 23 , zum<br />

anderen für die Verbindung der Gottheit zur Menschheit. Sodann wird auf die<br />

soziale und biologische Bedeutung der Ehe abgehoben. Es wird hier - einzig in<br />

den Dokumenten - auch reflektiert, dass nicht alle Menschen in Ehe leben; sie<br />

ist nicht „der einzige Plan Gottes“ im Blick auf menschliche Sozialität: Singles<br />

„gehören auch zum göttlichen Plan“.<br />

Abschließend wird das „biblische Eheverständnis“ im Sinne der christlichen<br />

Notwendigkeit der Wiederherstellung des ursprünglichen Ide<strong>als</strong> eingeschärft.<br />

Eine Lockerung dürfe es in keiner Weise geben, da sonst das göttliche Ideal<br />

herabgesetzt werde.<br />

2.1.2.5. Der Änderungsvorschlag zur Gemeindeordnung (1999/2000)<br />

Zur Vorlage bei der Vollversammlung der Delegierten aus allen Teilen der<br />

weltweiten Glaubensgemeinschaft der STA, im Sommer 2000 in Toronto, gibt<br />

es einen vom Exekutiv-Ausschuss der Generalkonferenz in Abstimmung mit<br />

den Weltfeldern der Gemeinschaft der STA gebilligten Vorschlag, der das gesamte<br />

Kap. 15 des Gemeindehandbuches neu fassen soll. 24 Die zunächst auffal-<br />

22<br />

Vergleiche aber unten die veränderte Fassung <strong>als</strong> Vorschlag für die Delegierten-<br />

Vollversammlung in Toronto 2000.<br />

23 So weit ich sehe, eine einmalige Äußerung im Adventismus, die ich für biblisch unbegründet<br />

und systematisch-theologisch äußerst bedenklich halte.<br />

24 Der hier besprochene Vorschlag, welcher in Toronto eingebracht wurde, stellt eine im einzelnen<br />

z.T. gravierende Änderung einer Vorlage dar, welcher eine bei der vorangegangenen Generalkonferenz<br />

(Utrecht 1995) beauftragte Kommission erarbeitet hatte. Hier war - in theologisch<br />

sachgemäßer und zugleich vor allem seelsorgerlich kompetenter Weise - ein Ansatz gewählt<br />

worden, der z.B. hinsichtlich der Gesamtproblematik von Ehescheidung und Wiederheirat auf<br />

eine Kasuistik in der korrigierenden Seelsorge weitgehend verzichtete und statt dessen stärker<br />

die echten Bedürfnisse und konkreten Verhältnisse der betroffenen Personen im Blick auf eine<br />

gelingende Zukunft berücksichtigt wissen wollte. So war z.B. vorgeschlagen, Paaren nach einer<br />

49


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

lendste Änderung ist der ‚Vorbau’ einer Ehelehre vor dem Thema Scheidung<br />

und Wiederheirat.<br />

Außerdem geht damit eine in der Darstellung kenntlich gemachte Zweiteilung<br />

der Gesamtthematik einher: Nach den „biblical teachings“ zu den drei Sachverhalten<br />

werden die konkreten Ausführungsbestimmungen unter der Überschrift<br />

„die Haltung der Gemeinschaft“ dargestellt.<br />

2.1.2.5.1. In den Ausführungen zum Eheverständnis begegnen wir allen Argumenten<br />

noch einmal, die schon in den früheren Dokumenten Verwendung<br />

fanden und <strong>als</strong>o <strong>als</strong> typisch betrachtet werden dürfen:<br />

Der Ursprung der Ehe liegt im Paradies und ihre Bedeutung wird richtig verstanden<br />

im Sinne gottgewollten umfassenden Einsseins von Mann und Frau in<br />

einer Liebes- und Lebensgemeinschaft. Die Erlösung in Christus bringt die<br />

Wiederherstellung des durch den Sündenfall verdunkelten göttlichen Eheide<strong>als</strong>.<br />

Hinsichtlich der Scheidung wird konzediert: „Die Heilige Schrift anerkennt,<br />

dass tragische Umstände eine Ehe zerstören (destroy) können“.<br />

Als biblische Trennungs- bzw. Scheidungsgründe werden zwei aufgeführt:<br />

Unzucht (Matthäus 5,32) und - soweit ich sehe erstm<strong>als</strong> - die Entlassung eines<br />

christlichen Eheteils durch den heidnischen Partner (1.Korinther. 7,10ff.).<br />

Zur Wiederheirat gibt es gemäss der knappen Auskunft „keine direkten biblischen<br />

Lehren“!<br />

2.1.2.5.2. Hinsichtlich der gemeindlichen Regelungen und Ausführungsbestimmungen<br />

im Umgang mit Scheidung und Wiederheirat bleibt es im Wesentlichen<br />

bei den bisherigen Regeln, Grundsätzen, Vorschriften oder Anweisungen<br />

bzw. Prinzipien und Praktiken, 25 die mit dem vielfach erfolgenden Hinweis auf<br />

<strong>als</strong> unvermeidlich erkannten und insoweit akzeptierten Ehescheidung und ebenso nach einer<br />

späteren Wiederverheiratung eine seelsorgerliche Begleitung im Sinne eines „healing ministry<br />

which provides divorce recovery for adults and children“ anzubieten. Ausdrücklich war vorgesehen,<br />

Paare in bzw. nach Scheidung zu ermutigen „to remain within the fellowship of the<br />

church“. Außerdem war beabsichtigt, Paaren in Trennung und Scheidung mediative Hilfe zuteil<br />

werden zu lassen, um einen zusätzlichen Schaden aus dem schmerzhaften Auflösungsprozess<br />

der Ehe nach Möglichkeit gering halten zu können. - Es ist zu wünschen, dass die hier geleistete<br />

wegweisende Arbeit nicht aufgrund der erfolgten anderweitigen Entscheidung durch die Gremien<br />

völlig ohne theologisches Echo und pastorale Wirkung bleibt. Das pastoral-theologische<br />

Gespräch wird durch diesen Kommissionsbericht jedenfalls sehr befördert und die Gemeinde<br />

zum Weiterdenken im Geiste Jesu Christi herausgefordert.<br />

25 Dies alles Begriffe des Dokuments.<br />

50


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

die geistliche Notwendigkeit zur Erlangung einer Versöhnung bzw. Wiederherstellung<br />

der Ehe versehen sind.<br />

Völlig neu jedoch ist ein Schlussteil über den Dienst der Ortsgemeinde für<br />

Familien, in dem präventive und kurative Maßnahmen („support for broken<br />

families“) <strong>als</strong> unabdingbare Notwendigkeit dargestellt werden.<br />

Weitere Änderungen in der Beschlussvorlage 26 im Einzelnen sind:<br />

- Die Forderung nach einem gleichgewichtigen seelsorgerlichen Einwirken<br />

auf beide Seiten in der von einer Störung betroffenen Ehe;<br />

- in diesem Zusammenhang wird konsequent der moralisch wertende Begriff<br />

„schuldig/unschuldig“ gestrichen;<br />

- stattdessen wird durchgängig im Text eine Bezugnahme vorgenommen<br />

auf die Formulierung „Untreue gegenüber dem Ehegelübde“, mit der schon in<br />

der alten Fassung in Form eines Zitates aus dem Schrifttum von Ellen G.<br />

White die Aussage Jesu aus Matthäus 5,32 („wegen Ehebruch/Unzucht“) erläutert<br />

wurde.<br />

- Diese „Untreue gegenüber dem Ehegelübde“, die schon in früheren Fassungen<br />

der Gemeindeordnung im Sinne von Ehebruch bzw. Unzucht, und <strong>als</strong>o<br />

im Rahmen sexueller Perversionen oder Übergriffe (neu benannt werden in<br />

der Aufzählung: Inzest und sexueller Missbrauch von Kindern) verstanden<br />

wurde, wird <strong>als</strong> einziger biblisch zulässiger Grund für Trennung bzw. Scheidung<br />

mit der Berechtigung zu nachfolgender Wiederheirat angesehen: „The<br />

spouse who has remained faithful to the spouse who violated the marriage<br />

vow has the biblical right to secure a divorce, and <strong>als</strong>o to remarry“.<br />

- Eine Erweiterung an späterer Stelle spricht auch von „factors such as physical<br />

violence“, womit - meines Wissens erstm<strong>als</strong> - der Bereich des rein Sexuellen<br />

verlassen wäre! Für diesen Fall gibt es aber in der Beschlussvorlage kein<br />

Recht zur Wiederheirat, womit nun doch - weiterhin - ausschließlich das körperlich<br />

Sexuelle <strong>als</strong> alleiniges Kriterium für eine rechtmäßige Auflösung der<br />

Ehe (verbunden mit der Möglichkeit zur Wiederheirat) gilt.<br />

- Zerrüttung von Ehen, selbst der Einsatz körperlicher Gewalt in der Ehe,<br />

lösen diese jedenfalls nach gültiger Ansicht unserer Gemeinschaft nicht auf 27<br />

26 Inzwischen durch die Vollversammlung in einem teilweise widersprüchlichen Prozedere und<br />

begleitet von heftigen Debatten und Meinungsäußerungen, einschließlich böswilliger Unterstellungen<br />

durch einzelne Teilnehmer, die vom Vorsitzenden gerügt wurden, insgesamt - mit einigen<br />

Änderungen - gebilligt und so in Kraft gesetzt. Hinsichtlich des Wortlauts und der konkreten<br />

Inhalte der Änderungen vgl. die Protokolle der Generalkonferenz-Vollversammlung in den<br />

Sonderausgaben des „Adventist Review“.<br />

51


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

52<br />

- wohl aber ist deswegen die Trennung (ggf. auch Scheidung) vorstellbar und<br />

möglich. Nur die sexuelle Untreue bzw. sexuelle Perversion - oder aber der<br />

Tod (so mit Verweis auf Römer 7,2f.) - kann eine Ehe aufheben.<br />

- Die schon im Teil der biblischen Darstellung erwähnte Entlassung durch<br />

einen nichtgläubigen Partner erlaubt nach Meinung der Vorlage zur Beschlussfassung<br />

bei der Delegiertenvollversammlung eine Wiederheirat.<br />

- Der Begriff für Ausschluss von Mitgliedern heißt jetzt, sprachlichsachlich<br />

angemessener, „remove from church membership“(im Deutschen<br />

etwa: die Mitgliedschaft aufheben) statt „disfellowship“ (im Deutschen etwa:<br />

aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausschließen), welches eine stärker mitmenschliche<br />

Bedeutungskomponente hat.<br />

Es bleibt aber ansonsten bei der gewohnten Praxis:<br />

- Wer gegen das Ehegelübde im Sinne der obigen Erläuterungen verstoßen<br />

hat, muss unter korrigierende Seelsorge gestellt oder, im Fall, dass dies nicht<br />

zu einer Veränderung des Verhaltens führt, ausgeschlossen werden. Dies gilt<br />

in jedem Fall bei einem Verstoß gegen das Ehegelübde, der besonders krass<br />

oder öffentlich ist. Beschlussfassendes Organ ist die Ortsgemeinde.<br />

- Wer gegen das Ehegelübde verstossen hat, kann erst dann wieder heiraten,<br />

wenn der ehemalige Partner verstorben ist oder selbst wieder geheiratet hat,<br />

womit die einstige Ehe definitiv aufgehört hat zu bestehen.<br />

- Wiederaufnahme in die Glaubensgemeinschaft ist für solche Personen nur<br />

mit Zustimmung der Kirchenleitung auf Vereinigungsebene - und in der Regel<br />

nach erneuter Taufe - möglich.<br />

2.1.3. Systematische Zusammenfassung der adventistischen Position<br />

Es handelt sich dabei um so etwas wie eine „Normaldogmatik“ hinsichtlich<br />

der Fragen der Ehe, die faktisch mit einer Bezugnahme auf wenige biblische<br />

Standardtexte auskommt.<br />

2.1.3.1. Vor allem anderen wird sowohl sachlich-inhaltlich wie logischargumentativ<br />

die religiöse Seite bzw. Komponente der Ehe herausgestellt.<br />

Dies geschieht in fünffacher Weise, und zwar mit dem Verweis auf<br />

- den Ursprung der Ehe bei Gott, für den Menschen eingesetzt im Paradies<br />

27 Dies ist bei der Delegiertentagung 2000 nach zum Teil heftiger kontroverser Diskussion vor<br />

allem über die Frage der Misshandlung durch physische Gewalt in der Ehe nun doch so<br />

beschlossen worden.


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

vor dem Sündenfall (Genesis 2,24);<br />

- das auch - wahrscheinlich ist zu verstehen: vor allem - IHM gegenüber<br />

gegebene Ehegelübde;<br />

- das durch Gott vollzogene Zusammengefügt-Sein (Genesis 2,21ff.; Matthäus<br />

19,4-6 28 );<br />

- die Zusammenfassung aller Aspekte durch Betonung des göttlichen/himmlischen<br />

Eheide<strong>als</strong>, verstanden <strong>als</strong> Grundmuster aller Ehen, die lebenslang<br />

(Markus 10,2-9) in sexueller Intimität (Genesis 2,24; Matthäus<br />

19,4.5) und Treue zu führen ist;<br />

- die Erlösung in Christus, wodurch das Erreichen des Eheide<strong>als</strong> für Christen<br />

geboten bzw. möglich ist (Epheser 5,22ff; 2.Korinther 5,19)<br />

2.1.3.2. Die personale Komponente der Ehe, die mit dem Gesichtspunkt des<br />

„Einswerdens“ bzw. „Einsseins“ verknüpft wird, benennt vorrangig Liebe (auf<br />

der Grundlage der Agape), umfassende Intimität, Wertschätzung/Achtung und<br />

Verantwortung. Diese erscheinen aber nicht so sehr <strong>als</strong> gleichrangige Konstitutiva<br />

der Ehe, sondern nur <strong>als</strong> deren notwendige bzw. aus biblischer Sicht erstrebenswerte<br />

inhaltliche Füllung. Die genannten Haltungen und Verhaltensweisen<br />

werden anscheinend nicht <strong>als</strong> gleichgewichtige Grundwerte angesehen, welche<br />

<strong>als</strong> solche die Grundbedingung bzw. Grundvoraussetzung für die biblisch verstandene<br />

Ehe bilden. Als diese gilt letztlich nur die sexuelle Treue - was m.E.<br />

darin zum Ausdruck kommt, dass nur auf der Grundlage sexueller Untreue bzw.<br />

Perversion eine Ehe geschieden werden kann.<br />

2.1.3.3. Im sozialen Bereich wird neben der Entscheidung für den Partner<br />

(„Eltern verlassen, ihm anhangen“) und der Notwendigkeit zum dauerhaft eingegangenen<br />

Ehebund auch immer wieder auf die Kinder verwiesen.<br />

2.1.3.4. Die Sexualität begegnet - in ausdrücklicher Benennung - erstm<strong>als</strong> im<br />

neuen Abschnitt zur Ehe in der Gemeindeordnung im Absatz: Sexuelle Intimität<br />

in der Ehe - ansonsten aber vorrangig in Abschnitten, wo über das Nicht-<br />

Erreichen des Ide<strong>als</strong> gehandelt wird: <strong>als</strong>o einerseits in den Darstellungen über<br />

die diesbezüglichen Auswirkungen des Sündenfalls, andererseits im Zusammenhang<br />

der Ehescheidung, die allein wegen des Grundes „Unzucht“ (Matthäus<br />

5,32) <strong>als</strong> erlaubt bzw. möglich erscheint.<br />

28 Das entspricht Markus 10,6-9. In der Regel begegnet in den Dokumenten bei den Evangelientexten<br />

der Verweis auf den Wortlaut nach Matthäus.<br />

53


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

2.1.3.5. Wenn in der adventistischen Position faktisch von einer Unauflöslichkeit<br />

der Ehe durch den Menschen (Ausnahme: der von Jesus <strong>als</strong> dem Schöpfer<br />

selbst ausgesprochene Sachverhalt der sexuellen Deviation/Unzucht durch<br />

den anderen Ehepartner) ausgegangen wird, wird dadurch noch einmal die religiöse<br />

Komponente stark unterstrichen: Gottes eigenes Handeln konstituiert die<br />

Ehe, der personale Aspekt bezüglich der Entscheidungen des Menschen bezieht<br />

sich ausschließlich auf die Ausgestaltung der Ehe, nicht aber auf ihr Zustandekommen<br />

und Bestehen.<br />

Es legt sich der Gedanke nahe, dass die Ehe - einmal an einem Paar vollzogen<br />

- wie ein magisch-sakramentales Mysterium betrachtet wird, eine „unio mystica“<br />

durch Gott.<br />

2.1.4. Kritische Würdigung<br />

2.1.4.1. Positiv zu werten ist die permanente Bezugnahme auf die Bibel und<br />

der ernsthafte Versuch, hinsichtlich des Verständnisses ein möglichst breites<br />

Bild zu erlangen, gewissermaßen ein Panoramabild, jedoch mit Zentralperspektive.<br />

Die Darstellung ist insgesamt geistlich-christlich und im einzelnen durchaus<br />

seelsorgerlich-erlösungsorientiert, insofern auch christusbezogen ist<br />

Ist sie damit schon insgesamt christuszentriert und erlösungsfundamentiert?<br />

Vielleicht hinsichtlich ihrer Gestalt, m.E. jedoch nicht in ihrem innersten Gehalt.<br />

Die theologischen und seelsorgerlichen Defizite scheinen mir grundlegend,<br />

auch wenn Art bzw. Funktion der Dokumente berücksichtigt wird, die ja keine<br />

Systematische Theologie, keine schulmäßige Dogmatik bzw. Ethik sein sollen.<br />

Aber: Es ist für mich in den Dokumenten nicht (ausreichend) erkennbar, dass<br />

‚hinter’ den Dokumenten solche theologisch tiefschürfende, grundlegende Reflexion<br />

steht! Es ist alles biblisch-dogmatisch bzw. gemeindlich-pragmatisch<br />

und zielt auf die - möglichst überall einheitliche - Regelbarkeit von Sachverhalten<br />

ab.<br />

2.1.4.2. Meine Anfrage und Kritik aus theologischer Perspektive lässt sich im<br />

Einzelnen in fünf Aspekte gliedern:<br />

2.1.4.2.1. Hinsichtlich der Ehe werden standardmäßig im wesentlichen drei<br />

Bibeltexte verwendet: Genesis 2,24; Markus 10,2-9; Epheser 5,21-33; in Bezug<br />

auf die Scheidungsmöglichkeit immer wieder (nur) Matthäus 5,32 („Unzuchts-<br />

54


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

klausel“). Die Auswahl wird nicht begründet, die Gewichtung nicht verdeutlicht.<br />

2.1.4.2.2 Es gibt - hermeneutisch gesehen - keine fundamentaltheologische<br />

Reflexion, sondern einen Dogmatismus auf der Grundlage eines naiven Supranaturalismus.<br />

Der dogmatische Hauptgedanke bezüglich des „Ehe-Ide<strong>als</strong>“ ist<br />

die „Schöpfungsordnung“, die <strong>als</strong> strikte übergeschichtliche Vorgabe verstanden<br />

wird.<br />

2.1.4.2.3 Im Blick auf die Geschichtlichkeit unseres Lebens gibt es zwar vereinzelte<br />

Verweise auf historische Bedingtheiten, aber weder für die Bibel noch<br />

für unser Menschsein wird dies im Blick auf die Ehe grundlegend in Ansatz<br />

gebracht. Die Ehe erscheint vielmehr wie ein himmlisch-überzeitliches Mysterium,<br />

29 sie wird <strong>als</strong> (nur) irdisch-zeitliche Gegebenheit menschlichen Existierens<br />

nicht wirklich reflektiert.<br />

2.1.4.2.4 Bezüglich des Menschenbildes wird das Personsein zwar andauernd<br />

benannt, aber nicht grundlegend berücksichtigt. Menschliche Entscheidungen<br />

für den Partner (z.B. Liebe; Treue; Wahrhaftigkeit) konstituieren die Ehe anscheinend<br />

nicht in gleicher Weise wie die dem biblischen Auftrag entsprechend<br />

richtig gelebte Sexualität, sondern dienen nur ihrer Ausgestaltung bzw. Aufrechterhaltung.<br />

Dementsprechend gibt es Ehescheidung nur nach „Ehe-Bruch“<br />

durch sexuelle Untreue/Perversion <strong>als</strong> Verstoß gegen das diesbezügliche Ehegelübde,<br />

nicht jedoch <strong>als</strong> Ergebnis einer ‚Auf-Lösung’ der Ehe durch (einseitige<br />

oder zweiseitige) Auf-Kündigung von Liebe, Treue, Wahrhaftigkeit. Keine Berücksichtigung<br />

<strong>als</strong> Scheidungsgrund findet ein Verhalten im Gesamtbereich der<br />

Beziehung, welches das eheliche Einssein andauernd und nachhaltig stört und<br />

zerstört und somit die Ehe <strong>als</strong> Lebensgemeinschaft zweier personaler Wesen<br />

grundlegend zerrüttet und zunichte macht.<br />

Ebenso wird die Sozialität, das Eingebundensein in die Gesellschaft, nur<br />

pragmatisch-praktisch im Blick auf Kinder in der Familie betrachtet, nicht aber<br />

grundlegend anthropologisch verortet und grundsätzlich geschichtlich verarbeitet.<br />

29 Das liegt sehr nahe beim traditionellen römisch-katholischen Verständnis der Ehe <strong>als</strong> Sakrament<br />

- wobei wir bedenken mögen, dass mit diesem lateinischen Begriff die griechische Bezeichnung<br />

„Mysterion“ für die Ehe in Epheser 5,32 aufgegriffen wird. Ich vermute, dass unser<br />

landläufiges Verständnis der Ehe <strong>als</strong> STA insofern nicht eigentlich ‚katholisch’ ist, sondern<br />

gewissermaßen nur bibeltreu-wörtlich sein will.<br />

55


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

2.1.4.2.5 Schließlich entdecke ich hinsichtlich der in den Dokumenten begegnenden<br />

Ethik eine deutliche Tendenz zu gesetzlicher Kasuistik, insofern vor<br />

allem auf Normen - nicht jedoch auf Grundwerte - abgehoben wird, die ihrerseits<br />

im Wesentlichen einer Dogmatisierung biblischer Texte bzw. einer religiösen<br />

Idealisierung der Ehe entspringen Eine Grundlegung der biblischchristlichen<br />

Ethik im Sinne einer christlich-theologischen Reflexion in Berücksichtigung<br />

der anthropologischen Grundkonstanten von Personalität und Relationalität<br />

bzw. Sozialität in ganzheitlicher Verantwortung vor Gott vermisse ich<br />

dagegen schmerzlich.<br />

2.1.4.3. Ich ziehe für diesen Abschnitt ein doppeltes Fazit:<br />

- Das theologische Eheverständnis wird in den Dokumenten dargeboten im<br />

Sinne einer A-Seität, eines „An-und-für-Sich“, durchgängig objektivabsolut<br />

und weithin ungeschichtlich. Demgegenüber ist es m.E. der Bibel<br />

angemessen(er), die Ehe im Sinne einer Relationalität darzustellen, d.h. <strong>als</strong><br />

Ausdruck einer grundlegenden menschlichen Bezogenheit auf einander, auf<br />

Grundwerte, auf Gott - und zwar im Lebensvollzug. Dies verlangt Geschichtlichkeit<br />

statt Metaphysik <strong>als</strong> Darstellungskategorie.<br />

- Es muss zudem geklärt werden, wie die biblischen Texte zur Ehe und Ehescheidung<br />

grundlegend zu verstehen und zu beurteilen sind. Sie sprechen<br />

von einer gottgegebenen Ordnung, die in Schöpfung und Erlösung erkennbar<br />

wird <strong>als</strong> Gottes Ziel, Plan, Absicht bzw. Wille mit dem Menschen.<br />

Meint dies eigentlich und letztlich eine An-Ordnung Gottes mit konkreter<br />

Setzung positiven Rechts in/durch definitiv-gültige allgemeine Normen -<br />

wie es unser Verständnis <strong>als</strong> STA gemeinhin annimmt? Oder sind solche<br />

biblischen Aussagen zu interpretieren im Sinne einer Grund-Ordnung Gottes,<br />

welche Basis und Rahmen des Lebens markiert mit den zugehörigen<br />

Grund-Werten personaler und sozialer Art und den sich daraus ergebenden<br />

ethischen Grund-Regeln?<br />

Dann wären die entsprechenden biblischen Grundaussagen zu verstehen in<br />

Analogie zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik<br />

Deutschlands mit der zugehörigen Verfassung und den entsprechenden<br />

Grundrechten auf der Grundlage der allgemeinen Menschenrechte, nicht jedoch,<br />

- um weiterhin bei diesem Vergleich im Bereich des Rechts zu bleiben<br />

- vorrangig im Sinne des Bürgerlichen Gesetzesbuches oder gar der<br />

Strafprozessordnung <strong>als</strong> Teil unserer Rechtspflege.<br />

56


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

Die Frage spitzt sich zu auf die Bewertung sexueller Untreue <strong>als</strong> alleinigem<br />

Scheidungsgrund. Dies macht in gewisser Weise Sinn und ist logisch - wenn<br />

man die Ehe durch das Sexuelle, d.h. den Geschlechtsverkehr <strong>als</strong> solchen konstituiert<br />

sieht. Das ist aber doch biblisch nicht der Fall - und stimmt doch anscheinend<br />

schon gar nicht, wenn die erste Eheschließung im Paradies vollzogen<br />

wurde, denn im Zusammenhang von Genesis 2,23f. wird nichts vom Geschlechtsverkehr<br />

berichtet! Und vor allem: Sexualität ist doch nur gleichsam<br />

eine Faser in dem personalen Band, das die Eheleute miteinander verbindet!<br />

Wie steht es um die angemessene Berücksichtigung der anderen Bindungselemente<br />

innerhalb einer Ehe?!<br />

Mag sein, dass unser adventistischer Ansatz hinsichtlich des Verständnisses<br />

von Ehe hier doch zu kurz greift - mit der bedauerlichen Folge, dass unsere Art<br />

der ‚wörtlichen Befolgung’ von Bibeltexten (z.B. Matthäus 5,32) den von<br />

Scheidung Betroffenen und ggf. zur Wiederheirat Entschlossenen nicht gerecht<br />

wird.<br />

2.2. „Ehe“ <strong>als</strong> Ausdruck der guten Grund-Ordnung der Welt durch Gottes<br />

Wirken in Schöpfung und Erlösung nach biblisch-christlichem Verständnis<br />

Ich versuche, die Grundfrage der Bedeutung von Personalität und Sozialität,<br />

von Grundwerten und Grundregeln für das Eheverständnis und den daraus folgenden<br />

Konsequenzen für das Verständnis von Scheidung und Wiederheirat<br />

einer Klärung zuzuführen, indem ich im NT ansetze. Ich sehe hier (nur) zwei<br />

Textabschnitte, die man <strong>als</strong> im Kern ‚lehrhaft’ und grundsätzlich zum Thema<br />

Ehe heranziehen kann: Markus 10,2ff. mit den synoptischen Parallelstellen und<br />

Epheser 5,21ff..<br />

Ich beginne beim Evangelientext, der zwar hinsichtlich seiner Abfassung<br />

nicht historisch früher anzusetzen ist <strong>als</strong> der Brieftext Epheser 5, aber m.E. eine<br />

historisch ursprünglichere Fragestellung und grundsätzlichere Aussageebene<br />

beinhaltet. Im Sinne der in der theologischen Wissenschaft weithin üblichen<br />

traditionsgeschichtlichen Annahmen gehe ich von der Markus-Priorität aus.<br />

In Markus 10,1-27 findet sich ein Abschnitt von Lehre Jesu (V. 1!), die nacheinander<br />

Ehe (V. 2-12), Kinder (V. 13-16) und Besitz (V.17-27; mit Anhang<br />

28-31) zum Inhalt hat. Wir haben es mit einer Form von Sozialethik zu tun,<br />

welche das antike „Haus“ <strong>als</strong> Lebenseinheit betrifft („Haustafelethik“, auch<br />

„Ständeethik“, vgl. die entsprechenden Abschnitte in 1.Petrus 2,11ff. und in den<br />

„Pastoralbriefen“ Timotheus/Titus).<br />

57


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Markus 10,2ff. ist konkret veranlasst in der Begegnung Jesu mit Pharisäern<br />

und ihrer Frage nach der (religiösen) Erlaubtheit von Ehescheidung (V. 2 formuliert<br />

in traditionell jüdischer Manier; das Recht auf Scheidung steht - allein -<br />

dem Mann zu). Diese konkrete Zuspitzung der Perspektive wird zwar im Gesamtabschnitt<br />

sichtbar (und vor allem in V. 10-12 ausdrücklich aufgegriffen),<br />

aber vor dem Aufgreifen der konkreten Frage von Ehescheidung <strong>als</strong> religiös<br />

legitimer Möglichkeit gibt Jesus eine grundlegende theologische Reflexion in<br />

Bezug auf Ehe (V. 6-8) und Ehescheidung (V. 9).<br />

2.2.1. Das Grundverständnis von Ehe in Markus 10,6-9<br />

2.2.1.1. In V.6 verweist Jesus zeitlich auf den Anfang, bedeutungsmäßig auf<br />

das Ursprüngliche im Schöpfungswillen Gottes: Gottes kreatives Wirken erschafft<br />

den Menschen in Form zweier unterschiedlicher Geschlechtswesen:<br />

„männlich und weiblich“. So ist es - <strong>als</strong> Schöpfungswirklichkeit - in der Geschichte<br />

immer gegeben.<br />

Hier findet sich ein Zitat von Genesis 1,27 nach dem Text der Septuaginta,<br />

der allerdings mit dem masoretischen Text voll übereinstimmt. Die Übersetzung<br />

„<strong>als</strong> Mann und Frau“ suggeriert dem naiven Leser durch die Wortwahl die<br />

Zusammengehörigkeit der beiden Wesen <strong>als</strong> Ehepaar: „Wir sind Mann und<br />

Frau“. Das ist natürlich nicht unbegründet, schließlich ist die Differenzierung in<br />

die beiden Geschlechter ja die Grund-Ermöglichung von dem, was man Ehe<br />

nennt. Aber das steht hier so noch nicht im Blick. Es geht zunächst um die Sexualität,<br />

die Geschlechtlichkeit <strong>als</strong> solche. Der Mensch ist ein leiblich-sexuelles<br />

Wesen, das gehört wesenhaft zu seinem Personsein. Das ist gute Schöpfung<br />

Gottes.<br />

Solche Grundauffassung ist zugleich die biblische Grundlage der Abwehr jeder<br />

Art von Dualismus der Gnosis; vgl. 1.Timotheus 4,3-5; 5,14; 2,15.<br />

2.2.1.2. V. 7f. bringt ein Zitat aus Genesis 2,24. Mit der Unterschiedenheit der<br />

Geschlechter ist zugleich deren gegenseitige Anziehung, ihr Zueinander-Finden<br />

und Zueinander-Passen gegeben.<br />

Auch dies ist anthropologisch allgemein formuliert; keineswegs machen wir<br />

die Erfahrung, dass jeder Mann und jede Frau in jeder Hinsicht zu einander<br />

finden oder gar lebensmäßig zu einander passen!<br />

Dabei wirkt aber Anziehung durch das andere Geschlecht stärker <strong>als</strong> die<br />

Blutsbande! Die personale Entscheidung für eine Liebes- und Lebensgemeinschaft<br />

ist stärker <strong>als</strong> das ‚schicksalhafte’ Eingebundensein in die Herkunftsfami-<br />

58


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

lie. Das stimmt - psychologisch und sozial - nicht in jedem Fall und immer;<br />

aber es stimmt allgemein menschlich bis heute!<br />

Wie allgemein und umfassend hier formuliert wird, erkennt man am griechischen<br />

Text im Unterschied zur Lutherübersetzung:<br />

- Der „Mensch“, nicht: der „Mann“ verlässt Vater und Mutter<br />

- Die Fortführung des Satzes im Luthertext findet sich entsprechend nur in<br />

späteren Handschriften. Da der „Mensch“ männlich oder weiblich sein<br />

kann, kann der Nachsatz „und seiner Frau anhangen“ nicht mehr sinnvoll<br />

gebracht werden.<br />

Die neue Einheit: das personale Einssein, zu verstehen quasi <strong>als</strong>/wie ein neuer<br />

Mensch, wird im Zitat und im kommentierenden Nachsatz thematisiert. Das<br />

„Einssein“ ist <strong>als</strong>o der eigentliche Zielgedanke der Argumentation. Personales<br />

Einssein ist das Ziel des Schöpfungswillens Gottes. Im Einssein von Mann und<br />

Frau im Sinne einer Liebes- und Lebensgemeinschaft ist dabei sowohl das Körperlich-Sexuelle<br />

wie das Geistig-Seelische inbegriffen; es geht um ein völliges<br />

personales Einswerden in der Zweierbeziehung, es entsteht eine neue gemeinsame<br />

Identität.<br />

2.2.1.3. Die Grundgedanken aus dem biblischen Schöpfungsbericht (Genesis<br />

1,27 und 2,24) sind damit sachlich angemessen und theologisch richtig aufgegriffen.<br />

2.2.1.3.1. In Genesis 1,27 ist nämlich eigentlich noch nicht die Ehe selbst im<br />

Blick, sondern die anthropologische Vorbedingung dazu, die Geschlechtlichkeit.<br />

Der Vers, im Judentum häufig und im Wesentlichen <strong>als</strong> Ehegebot verstanden,<br />

spricht (nur) von der ontologischen Ermöglichung der Ehe. Im AT wird er<br />

allerdings unmittelbar mit dem Gedanken der Nachkommenschaft verknüpft (V.<br />

28!). Dies ist weithin bestimmendes Grundverständnis von Sexualität und eigentlicher<br />

Inhalt bzw. Ziel von Ehe in alttestamentlich-jüdischer Perspektive,<br />

insbesondere auch durch die zusätzliche Theologisierung des Gedankens der<br />

Fortpflanzung in der Bundesverheißung an Abraham (Genesis 12,1-3).<br />

Zwar findet sich im Judentum in der Zeitenwende auch eine Betonung der<br />

Sexualität unter dem personalen Gesichtspunkts einer Liebesehe und ohne Betonung<br />

der Zeugungsnotwendigkeit, und es gibt religiöse Strömungen bzw.<br />

Gruppierungen oder einzelne Fromme, die für sexuelle Askese und/oder Eheverzicht<br />

plädieren. Solcherart Lebenshaltung (wie bei Jesus oder Paulus, vgl.<br />

1.Korinther. 7) ist somit im NT auf jüdischem Boden keineswegs <strong>als</strong> singulär<br />

(oder faktisch religiös ‚unmöglich’) zu bezeichnen. Aber es bleibt aufs Ganze<br />

59


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

gesehen doch im Judentum zu allen Zeiten eine besondere Betonung der Nachkommenschaft<br />

im Zusammenhang mit Liebe/Sexualität und Ehe.<br />

Im NT ist diese Konnotation bzw. Identifikation von Sexualität/Ehe mit Nachkommenschaft<br />

an den Stellen, an denen Ehefragen thematisiert werden, nicht<br />

an- bzw. ausgesprochen. Das geschichtlich-personale Element des Einsseins<br />

erscheint dem - gegenüber dem AT spürbar ‚individueller’ ausgerichteten - NT,<br />

wesentlich bedeutsamer. Zudem ist das Christentum des NT - auch darin anders<br />

<strong>als</strong> weite Teile des AT - von einem religiösen Universalismus geprägt, weshalb<br />

auch insofern das personale Einssein in der Ehe vorrangig ist vor dem biologischen<br />

‚Produkt’ von Ehe.<br />

2.2.1.3.2 Die Funktion von Genesis 2,24 im AT-Zusammenhang ist klar: Es<br />

wird mit diesen Worten etwas geschildert, das den ‚Normalfall’ von Liebe <strong>als</strong><br />

Lebensgemeinschaft darstellt: die soziale Größe „Ehe“.<br />

Aber damit wird hier weder die „Institution Ehe“ von Gott „eingesetzt“ noch<br />

ein nachzuahmendes „Modell“ dargestellt im Sinne eines moralisch-sozialen<br />

Vorbildes nach Gottes Norm. Wir wissen doch faktisch nichts über das „Eheleben“<br />

im Paradies! Dass V. 24a für Adam und Eva gerade nicht zutrifft - was<br />

unsere adventistische dogmatisierende Auslegung aber geflissentlich ‚übersieht’<br />

-, muss den Leser jedoch überhaupt nicht stören. Er mag wissen: Urgeschichtliches<br />

Geschehen will bzw. soll nicht über eine früher-‚jenseitige’ Zeit informieren,<br />

sondern gegenwärtige Wirklichkeit in ihren negativen und positiven<br />

Grundmöglichkeiten des Lebens beschreiben.<br />

Im Erzählzusammenhang von Genesis 2,18ff. ist zunächst übrigens V. 23 der<br />

eigentliche Zielgedanke, sprachlich angezeigt auch durch die poetischrhythmische<br />

Sprachform. Was hier ausgesagt ist, gilt auf zwei verschiedenen<br />

Ebenen des Miteinanders von Menschen gleichermaßen grundlegend, im allgemeinen<br />

vom Mitmensch-Sein wie im speziellen von Ehe: Der Mensch gehört<br />

gemäß Gottes Schöpfungswillen zum Mitmenschen. Es gibt kein Ich ohne das<br />

Du, dem entsprechend ist der Mensch nach biblischem Verständnis kein vereinzeltes,<br />

isoliertes „Individuum“, sondern ein Einzelner in der Gemeinschaft von<br />

Mit-Menschen.<br />

Neben der Personalität in Leiblichkeit/Sexualität wird damit die Relationalität<br />

in Sozialität zur grundlegend ontologischen Kategorie des Menschseins. Beides<br />

sind in der Tat anthropologische Grundkonstanten und <strong>als</strong> solche die unwandelbare<br />

Grundbedingung des Menschseins. Sie sind zugleich die Grundvoraussetzung<br />

für die Möglichkeit von Ehe wie ihrer grundlegenden Ermöglichung <strong>als</strong><br />

dauerhafte Lebensgemeinschaft. Nur in einem zugleich grundlegenden wie auch<br />

60


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

umfassenden personalen Sinne kann man überhaupt von einem Einssein sprechen.<br />

Das eheliche Einswerden kommt durch personale Entscheidung zustande,<br />

wird durch Entschiedenheit gepflegt durch Verantwortung erhalten. Keineswegs<br />

lässt es sich reduzieren auf einen rein körperlich verstandenen Sachverhalt<br />

„Geschlechtsverkehr“!<br />

2.2.1.4. Jesus betrachtet diese Grundbedingung(en) menschlichen Seins <strong>als</strong><br />

unbedingt positiv. Darin sieht er eine schöpfungsmäßige Vor-Gabe 30 Gottes, die<br />

für den Menschen eine gute Gabe darstellt, welche dieser auf der Basis und im<br />

Rahmen der Grund-Ordnung Gottes <strong>als</strong> Aufgabe zur Lebensgestaltung<br />

(an)erkennt. Alles ist <strong>als</strong> Gabe realistisch-konkret - und uns grundsätzlich gegeben;<br />

und zugleich ist alles auch <strong>als</strong> Aufgabe geschichtlich-konkret - und uns<br />

grundsätzlich aufgegeben. Nichts daran ist per se metaphysisch, nichts ist eine<br />

im engeren Sinne speziell religiöse Wirklichkeit, die nur dem Verstehen des<br />

Gläubigen offen stünde.<br />

Folglich verstehe ich die Ehe <strong>als</strong> mehr auf der Seite der geschichtlichen, irdischen<br />

Gabe bzw. Aufgabe stehend; denn das „Einsseins“ der Zwei ist unzweifelhaft<br />

eine geschichtliche Entscheidung und kein uns überfallendes Naturgeschehen,<br />

für das wir keine Verantwortung hinsichtlich der Gestaltung hätten.<br />

Allerdings hängt diese Entscheidung an (machtvoll-‚übermächtigen’) naturgegebenen<br />

Faktoren und setzt nachfolgend in der Zeugung ein „Naturgeschehen“<br />

kreativ aus sich heraus. 31<br />

Insofern sehe ich eine Singularität in dieser Lebenswirklichkeit; der Liebesbeziehung<br />

kommt nichts an Bedeutung gleich. Dieser Einzigartigkeit der Beziehung<br />

entspricht die besondere Bindung bzw. Verbindlichkeit; sie ist aus anthropologischen<br />

Gründen, d.h. um des Menschen willen, m.E. unverzichtbar. In<br />

biblischer Sprache heißt dies: „Ein Fleisch = Eine Person sein“.<br />

2.2.1.5. Der diesen Teilabschnitt abschließende V.9 spricht von dieser irdischen,<br />

aber unvergleichlich-einzigartigen Zu-einander-Gehörigkeit zweier<br />

Menschen:<br />

30 Der Bindestrich soll anzeigen, dass es sich nicht einfach um eine Vorgabe im Sinne einer<br />

gesetzlichen Anordnung Gottes handelt.<br />

31 Beides spiegelt sich in den biblischen Weisungen, welche dem besonderen Schutz dieser<br />

Wirklichkeit dienen: der Verpflichtung zur Verbindlichkeit und zur Verlässlichkeit bzw. Dauerhaftigkeit<br />

der Beziehung - m.E. auch in Berücksichtigung der sozialen und emotionalen Sicherheit<br />

für die Nachkommenschaft. Solcher Sicherung dient das Verbot der Ehescheidung in<br />

erster Linie!<br />

61


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die geschichtliche Liebes- bzw. Lebensentscheidung für den anderen <strong>als</strong> mein<br />

Du schafft bzw. setzt eine neue - gleichsam unbedingt gültige - Wirklichkeit.<br />

Die neue Wirklichkeit ist die Wirklichkeit einer neuen ‚Person’, des ehelichen<br />

„Wir“.<br />

Der Vers denkt dabei nicht an konkrete Einzelfälle, auch nicht an die mathematische<br />

Summe aller Einzelfälle im Sinne der statistischen 100% aller Fälle,<br />

sondern spricht - wie die vorigen Verse - von der anthropologischontologischen<br />

Grundbedingung, unter welcher der Mensch lebt; wobei hier<br />

Gottes schöpfungsmäßige Ermöglichung (V. 9a) und des Menschen Un-<br />

Möglichkeit ( V. 9b) schroff entgegengesetzt werden.<br />

Das Verbot der Ehescheidung entspricht insofern allen anderen ethischen Geboten<br />

der zweiten Tafel: Das „Du sollst nicht scheiden/ehebrechen“ berücksichtigt<br />

die Personhaftigkeit des Ehebundes in derselben Weise wie das „Du sollst<br />

nicht töten“ das Personsein jedes Menschen berücksichtigt und unbedingt wertvoll<br />

macht.<br />

2.2.1.5.1. Das bedeutet: Ehe und Ehescheidung können nicht anthropologischontologisch<br />

derselben Bedeutungs-Kategorie zugeordnet werden. Zusammenfügen<br />

und Trennen - insbesondere von etwas miteinander Verklebtem 32 - sind<br />

nicht gleichwertig! Die Unterschiedlichkeit in der Bedeutungskategorie von<br />

„Zusammenfügen und Trennen“ hinsichtlich des ehelichen Miteinanders lässt<br />

sich auf verschiedene Weise ausdrücken.<br />

Mythologisch gesprochen: Die Ehe kommt von Gott. Die Scheidung ist/wäre<br />

eine menschliche Sache. Diese könnte bzw. kann faktisch-real, d.h. geschichtlich<br />

durchgeführt werden, das „soll“ aber nicht geschehen. 33<br />

Existential gesprochen: Obwohl Ehe und Ehescheidung gleichermaßen<br />

menschlich-geschichtliche Möglichkeiten durch personale Entscheidung sind,<br />

sind sie nicht prinzipiell anthropologisch gleichrangig oder gleichwertig. Ehe ist<br />

„möglich“ 34 (wenn auch nicht eigentlich und für alle Menschen unbedingt „nötig“),<br />

Scheidung bzw. Trennung ist nicht gleichermaßen „möglich“ - sondern<br />

„nötig“: nämlich aus der Not geboren und darum im konkreten Fall manchmal<br />

32 So die Ursprungsbedeutung des „anhangen“ der Zusammengefügten!<br />

33 Die Formulierung hat den Charakter eines Gebots, nicht nur eines Wunsches.<br />

34 Nämlich eine gute Möglichkeit, sprich: Ermöglichung für das Menschsein.<br />

62


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

unabwendbar, ja sogar not-wendig 35 . Ehe ist die Ermöglichung zu etwas Gutem,<br />

Scheidung eine Notwendigkeit aus etwas Schlechtem. 36<br />

Religiös gesprochen: Die schöpfungsmäßigen Bedingungen des Menschseins<br />

durch Gottes Vor-Gabe, welche zur Ehe führen, sind unbedingt gut zu nennen.<br />

Gleiches gilt nicht von den Bedingungen, welche zur Trennung führen könnten.<br />

Ehe hängt mit göttlicher Gnade zusammen, Trennung hängt mit menschlicher<br />

Schuld zusammen (vgl. V. 5).<br />

Psychosozial gesprochen: Ehe schafft etwas Neues: Ich + Du = WIR. Aus<br />

dem gewachsenen WIR ergeben sich durch/bei Trennung („Zerteilung“) keine<br />

zwei unbeschädigten Ichs. Trennung/Scheidung ermöglicht nicht einfach wieder<br />

den ursprünglichen Zustand vor der Ehe. Eine geschichtliche Wirkung des<br />

gemeinsamen Lebens bleibt bestehen - wiederum auch vor allem durch die<br />

Kinder!<br />

Rechtlich gesprochen: Auch nach der Scheidung/Trennung bleibt eine Verbindung,<br />

nämlich in den wechselseitigen Verbindlichkeiten!<br />

2.2.1.5.2. Also: Zusammengefügtes zu trennen bedeutet einen unerlaubten<br />

Eingriff in bzw. Übergriff auf die „Eheperson“. Das kann überzeugen. Damit ist<br />

aber noch wenig darüber ausgesagt, was es bedeutet, wenn das früher Zusammengefügte<br />

<strong>als</strong> solches durch die Haltung der Partner zueinander nicht mehr<br />

besteht! Genau dies aber ist schmerzliche Wirklichkeit unserer Welt, übrigens<br />

schon in biblischer Zeit: dass die gemeinsame Grundlage des Zusammengefügtseins<br />

nicht immer hält oder aufrechterhalten werden ‚kann’ - und zwar auch<br />

ohne den Fall von sexueller Untreue oder Perversion! Kann bzw. ‚darf’ das bei<br />

Glaubenden nicht geschehen? Wünschenswert ist es gewiss nicht - aber Wirklichkeit,<br />

der wir uns auch <strong>als</strong> Gemeinde stellen müssen. Ich meine, wir können<br />

dies umso besser, wenn wir die Aussagen Jesu zunächst <strong>als</strong> anthropologische<br />

Fundamentalaussagen verstehen und nicht <strong>als</strong> ekklesiologische<br />

Handlungsanweisungen.<br />

2.2.1.6. Das Grundverständnis von Ehe gemäß Markus 10,6-9 besagt:<br />

Der vielfältig beschreibbare, anthropologisch grundlegende Tatbestand einer<br />

personalen und sozialen Zusammengehörigkeit von Mann und Frau, die in der<br />

Ehe ihren intensivsten Ausdruck findet, kann durch den Menschen, d.h. im<br />

35 Auch hier steht der Bindestrich mit Bedacht!<br />

36 Dann nämlich, wenn es in der Ehekrise nicht gelingt, das gemeinsame Gute wiederzugewinnen<br />

bzw. auf Dauer im Sinne einer Liebesbeziehung aufrecht zu erhalten.<br />

63


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Raum der irdischen Welt und Geschichte, nicht aufgelöst werden. Das meint: er<br />

kann bzw. soll nicht unwirksam gemacht werden.<br />

„Kann nicht“ - das bezeichnet das ontologisch Grundlegende: Der Mensch ist<br />

ein geschlechtliches Sozialwesen. Er kann - <strong>als</strong> Gattung - nur mit dem anderen<br />

leben und überleben. „Soll nicht“ - das bezeichnet das ontisch Grundlegende:<br />

Der Mensch bedarf der Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in Liebe und Ehe -<br />

für sich selbst und für seine Nachkommen.<br />

Mit bzw. bei der Ehescheidung geht etwas Grundlegendes entzwei - nicht nur<br />

die Ehe <strong>als</strong> gesellschaftliche Form des Zusammenlebens von Frau und Mann; es<br />

zerbricht ein großes Stück des eigenen und des allgemeinen Menschseins und<br />

der positiv gelebten Relationalität. Eine zerbrochene Gemeinsamkeit wiegt<br />

schwer auf der negativen Seite der Skala menschlichen Lebensglücks. Dies darf<br />

unter keinen Umständen ‚vergessen’ werden. Für den Christen ist deutlich: E-<br />

hescheidung ist kein Normalfall des Lebens; es ist keine im eigentlichen Sinne<br />

‚gute’ Sache - und dennoch könnte sie im Einzelfall ‚besser’ sein <strong>als</strong> eine<br />

‚schlimme/böse/Unheil stiftende’ Ehe.<br />

Diesen seelsorgerlichen Gesichtspunkt hat Jesus hier aber nicht im Blick. 37 Er<br />

wählt einen anderen Zugang zum Thema. Er spricht grundlegend. In der ‚Unmöglichkeit’<br />

der Scheidung <strong>als</strong> Gebot Gottes drückt sich die hohe Wertschätzung<br />

des Angebotes Gottes in Geschlechtlichkeit und Gemeinschaft <strong>als</strong> unbedingt<br />

positive Ermöglichung zum Menschsein aus. Der Textabschnitt argumentiert<br />

von Schöpfung und Erlösung her gleichsam christlich fundamental über die<br />

Ehe.<br />

Gilt dies in ähnlicher Weise auch von dem Abschnitt Epheser 5,21ff.? Ihm<br />

wende ich mich jetzt zu.<br />

2.2.2. Ehe <strong>als</strong> geistliches Symbol und geschichtliche Wirklichkeit nach<br />

Epheser 5,21ff.<br />

2.2.2.1. Wir haben es hierbei mit dem Teil einer „Haustafelethik“ oder<br />

„Ständeethik“ zu tun, die sich in 5,21-6,9 findet (vgl. Kolosser 3,18-4,1;<br />

1.Petrus 2,13ff.). Das antike „Haus“, die konkrete Lebens- und Arbeitsgemeinschaft<br />

unter einem Dach, wird <strong>als</strong> eine soziale Einheit erlebt, zu der neben<br />

der Familie, wie wir sie heute verstehen, auch unverheiratete Angehörige sowie<br />

Sklaven und Sklavinnen gehörten. Epheser 5,22-33 spricht darin die Eheleute<br />

an.<br />

37 Offenbar deutet er das innere Anliegen der Fragesteller (V. 2.4) so, dass sie in der Ehescheidung<br />

mit der Regelung des Scheidebriefes eine ganz normale Sache sahen - wodurch die Wertschätzung<br />

der Ehe <strong>als</strong> dauerhafte Lebensgemeinschaft untergraben wurde!<br />

64


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

Die Gliederung ergibt ein klares Bild:<br />

V. 22-24 wendet sich an Ehefrauen, V. 25-28 an Ehemänner; V. 29-33 spricht<br />

die Eheleute gemeinsam an. Die argumentative Struktur ist ähnlich eindeutig:<br />

Der Aufforderung zu einem speziellen Verhalten bzw. einer Grundhaltung folgt<br />

die Begründung, die wiederum in eine Schlussfolgerung einmündet, weshalb<br />

der ursprünglichen Aufforderung, <strong>als</strong> einer nunmehr sachlich begründeten, Folge<br />

geleistet werden soll.<br />

2.2.2.2. Hinsichtlich der Aufforderungen wie der Begründungen ist eine doppelte<br />

Beobachtung zu machen: Kennzeichnend für die Darstellungen sind eine<br />

sozusagen gesellschaftlich-‚konservative’ Haltung und eine durchgängige<br />

Theologisierung, die <strong>als</strong> Bezugnahme auf christologische Aussagen begegnet.<br />

Mit V. 21 ist eine Überschrift bzw. ein Obersatz formuliert, der nicht nur den<br />

ersten Abschnitt über die Ehe, sondern den gesamten Themenbereich betrifft.<br />

Dieser Vers eröffnet die gesamte Haustafelethik und gründet sie auf ein christliches<br />

Fundament bzw. bezieht sie auf ein betont christliches Grundverständnis<br />

von Ethik. Unzweifelhaft wird hier allgemein formuliert; dennoch tut man gut<br />

daran, die Aussage nicht <strong>als</strong> eine ungeschichtlich-zeitlose (miss)zu verstehen.<br />

Jedenfalls werden in V. 21 beide leitenden Gesichtspunkte der Darstellung in<br />

einem Satz miteinander verknüpft.<br />

Im Vorder- bzw. Obersatz, der zur gegenseitigen (wechselseitigen) „Unterordnung“<br />

auffordert, <strong>als</strong>o in gewisser Weise eine gleichsam prinzipielle<br />

‚Gleichwertigkeit’ im Umgang miteinander postuliert, findet sich der Begriff<br />

„unterordnen“, der im NT ansonsten vor allem in den Pastoralbriefen (Timotheus<br />

und Titus) und innerhalb der Haustafel des 1.Petrus begegnet. Der Begriff<br />

bezeichnet ein Sich-Einfügen in eine vorgegebene „Ordnung“, 38 meint <strong>als</strong>o eine<br />

bestimmte Art des Sich-Einordnens in den ‚normalen’ gesellschaftlichen Kontext.<br />

2.2.2.3. Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass mit solchem<br />

Verhalten eine konkret bestehende Gesellschaftsordnung <strong>als</strong> prinzipiell gültig<br />

akzeptiert werden soll. Für solch eine Haltung kann es gute Gründe geben; aber<br />

sie müssen weder in den gesellschaftlichen Sachverhalten selbst noch im christlichen<br />

Bekenntnis selbst liegen. Sie könnten vielmehr durch die konkreten Zeitumstände<br />

veranlasst bzw. aus Sicht des Autors geradezu geboten sein.<br />

38 Vgl. Römer 13,1!<br />

65


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die Richtigkeit solcher Annahme kann vielleicht ein Blick auf den<br />

1.Petrusbrief zeigen. Hier wird nachdrücklich auf die Unanstößigkeit christlichen<br />

Verhaltens hingewiesen bzw. dies gefordert; dies geschieht mit dem Argument,<br />

dadurch die soziale ‚Ungefährlichkeit’ des Christentums der nichtchristlichen<br />

Umwelt gegenüber demonstrativ und überzeugend zu beweisen<br />

(1.Petrus 2,11f.16; 3,13ff.). In ähnlicher Weise verstehe ich die Aussagen des<br />

Epheser, dem es - nach den eigenen Aussagen in Kap. 2,1ff. - darum zu tun ist,<br />

die Einheit der Gemeinde aus Juden und Heiden nachdrücklich herauszustellen.<br />

Ich nehme in meiner Deutung an, dass dies nicht nur ein zeitloser dogmatischer<br />

Topos ist, sondern wahrscheinlich im Blick auf eine ganz reale zeitgeschichtliche<br />

Situation formuliert ist, nämlich im Blick auf den Zusammenschluss bzw.<br />

die Zusammenführung von juden- und heidenchristlichen Gemeinden zur einen<br />

„Kirche“ Jesu Christi 39 gegen Ende des ersten Jahrhunderts. - Dann aber hätten<br />

wir es mit einer Aufforderung zu tun, die sich speziell und vorzugsweise an<br />

heidenchristliche Gläubige richtet (2,11!) und ihnen ein sozial unanstößiges<br />

Rollenverhalten nahe legt bzw. abverlangt. In der konkreten Situation im Zusammenleben<br />

mit judenchristlich geprägten Christen ist dies vermutlich eine<br />

vernünftige und angemessene Vorgehensweise, wie sie ähnlich den ethischen<br />

Ausführungen in Römer 14 und 15 zugrunde liegt.<br />

Sowohl die ‚konservative’ gesellschaftspolitische Position wie die betonte<br />

Theologisierung dienen, so verstanden, der Ermöglichung eines friedvollen<br />

Miteinanders im schwierigen Prozess der Vereinigung heterogener Gemeindegruppen.<br />

Ihnen wird die gemeinsame ethische Ausrichtung und das christologische<br />

Bekenntnis <strong>als</strong> Basis des Miteinanders nahegebracht. Es geht folglich nicht<br />

um die Einschärfung der gesellschaftlichen Positionen <strong>als</strong> solche, sondern um<br />

deren Nutzbarmachung im Sinne der Liebe und des Gemeindeaufbaus (vgl.<br />

Römer 15,2.5-7). - Wenn solche Erwägungen nicht <strong>als</strong> völlig verfehlt abgetan<br />

werden (müssen), sind wir jedenfalls gut beraten, die anthropologischen Grundforderungen<br />

von fürsorglicher Liebe der Ehemänner zu ihren Frauen (Epheser<br />

2, 25. 28.33a), und von respektvoller Unterordnung der Ehefrauen unter ihre<br />

Männer (V. 22. 33b) zunächst auf dem Hintergrund ihrer (wahrscheinlichen)<br />

konkreten Veranlassung zu verstehen und nicht einfach zu verallgemeinern und<br />

<strong>als</strong> Norm für heutiges Rollenverhalten in ganz anderen gesellschaftlichen<br />

Bedingungen zu reklamieren.<br />

39 Es ist schon lange erkannt und zugestanden, dass - anders <strong>als</strong> sonst in den Paulusbriefen üblich<br />

- die Verwendung des Begriffs „Ekklesia“ (Gemeinde) im Epheser unter universalem Gesichtspunkt<br />

zu verstehen ist. Hier ist nicht eine örtliche Gemeindeversammlung gemeint, sondern<br />

eben die christliche „Kirche“ <strong>als</strong> Ganze.<br />

66


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

2.2.2.4. Andererseits lässt sich aber der Textabschnitt auch nicht allgemein für<br />

das Thema „Ehe“ vereinnahmen; das ist insofern deutlich <strong>als</strong> er - und das nun<br />

expressis verbis! - an entscheidender Stelle, nämlich im Zusammenhang des<br />

AT-Zitates Genesis 2,24 (in V. 31f.), darauf hinweist, dass er mit seinen steilen<br />

theologischen Überlegungen eigentlich gar nicht über die Ehe <strong>als</strong> irdische<br />

Wirklichkeit sprechen möchte, sondern sie hauptsächlich <strong>als</strong> Bild bzw. Gleichnis<br />

für die himmlische Wirklichkeit der Lebensgemeinschaft zwischen Christus<br />

und der Kirche gebrauchen möchte. Die Relation Ehemann/Ehefrau dient <strong>als</strong>o<br />

dem theologischen Vergleich Christus/Gemeinde - und hier ist nun unmittelbar<br />

einleuchtend, warum wir eine fundamentale Christologisierung in unserem Text<br />

vorfinden! Sie dient der theologischen Ausrichtung im Zusammenhang der von<br />

mir für wahrscheinlich gehaltenen Gemeindezusammenlegung.<br />

Von daher ist die selbstverständlich-unproblematisierte Benutzung von Epheser<br />

5,21ff. in unseren Dokumenten nicht wirklich sachlich erhellend und hilfreich.<br />

Es geht hier um eine symbolhafte Wirklichkeit, die nicht einfach auf die<br />

Ehe an und für sich eins zu eins übertragen werden darf.<br />

Hintergrund solch gleichnishafter Redeweise sind alttestamentlichprophetische<br />

Botschaften über das Verhältnis Gottes zu seinem Volk im Bild<br />

des Ehebundes inklusiv der Verwendung des Ehebruchmotives zur Darstellung<br />

der Abwendung des Volkes von seinem Gott und (Ehe)Herrn (vgl. Hesekiel 16;<br />

23; Hosea 1-3; Jeremia 2,2; 3,1).<br />

2.2.2.5. Allerdings aber bleibt natürlich grundsätzlich gültig, was unser Abschnitt<br />

hinsichtlich der christlichen Lebensführung formuliert: Die Christuswirklichkeit<br />

prägt den christlichen Glauben generell und grundlegend. Diese<br />

Wirklichkeit ist eine einheitliche, die nicht in einen sakralen und einen profanen<br />

Bereich aufgesplittet werden darf. Insofern gilt - auch im Blick auf die Eheführung<br />

von Christen - die Herrschaft des Christus (1.Korinther. 6,13b; 7,35.39;<br />

vgl. 11,11 ; Kolosser 3,18) im Sinne einer personalen Beziehung zu unserem<br />

ewigen Heil und irdischen Wohl.<br />

Welche Grundeinsichten verbinden sich mit solchen theologischen Reflexionen<br />

hinsichtlich des Verständnisses von Ehe?<br />

2.2.3. Christliche Grundeinsichten zum biblischen Eheverständnis<br />

Ich formuliere hier, den zweiten Hauptteil abschließend, mein biblischchristliches<br />

Grundverständnis von Ehe in zusammenfassenden Sätzen mit Fol-<br />

67


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

gerungen für den gemeindlichen Umgang mit den Fragen von Ehe und Ehescheidung.<br />

Beides hat thesenartige Bedeutung.<br />

2.2.3.1. Die Ehe ist Ausdruck einer bestimmten personalen Ausgestaltung der<br />

gottgegebenen Zu-Ordnung der Menschen in ihrer verschiedenen Geschlechtlichkeit<br />

zu einander. Sie ist insofern eine menschliche, irdische Möglichkeit<br />

bzw. Wirklichkeit. Sie ist nicht in sich eine Heilsangelegenheit, betrifft aber das<br />

Wohl des bzw. der Menschen in einem einzigartig zu nennenden, umfassenden<br />

und grundlegenden, wahrhaft ganzheitlichen Sinne. Ihr kommt damit relativ<br />

höchste Bedeutung - wenn auch keine absolute und faktisch unbedingte - unter<br />

anthropologisch-ontologischen Gesichtspunkten zu.<br />

Entsprechend der biblischen Rangordnung von ewigem Heil und zeitlichem<br />

Wohl bedarf es auch einer Abstufung in der Beurteilung von Sachverhalten im<br />

Bereich der Ethik. Die Einstufung ergibt sich aus dem inneren Zusammenhang<br />

von menschlichem Verhalten, genauer gesagt aus des Menschen Haltung zu den<br />

anthropologischen Grundwerten bzw. zu ontologischen Grundgegebenheiten<br />

nach biblischem Verständnis: Was ontologisch-anthropologisch wesentlich ist,<br />

wird ethisch <strong>als</strong> unbedingt verpflichtend zu betrachten sein; was fürs<br />

Menschsein wichtig ist, ist in der Ethik <strong>als</strong> allgemein verbindlich anzusehen;<br />

was anthropologisch wünschenswert ist, muss im Bereich der Ethik seine individuelle<br />

und konkrete Vertretbarkeit erweisen. So ergibt sich eine Abstufung<br />

von den Werten über die Normen bis zu Geboten und Regeln.<br />

Differenzierung und Gewichtung ist notwendig, sonst werden die entstandenen<br />

Nöte - und mit ihnen haben wir es in der Seelsorge weithin zu tun - noch<br />

verschärft!<br />

2.2.3.2. Wesentlich für das Menschsein ist nach biblisch-christlichem Verständnis<br />

die Personalität in Leiblichkeit und die Relationalität in Sozialität.<br />

Beides zusammen ergibt die Geschichtlichkeit menschlicher Existenz: der<br />

Mensch versteht sein Leben immer auch <strong>als</strong> Aufgabe, die er in Verantwortung<br />

vor sich, den Mitmenschen, der Mit-Welt und Gott zu leben hat.<br />

Im Bereich der Ethik ist folglich zunächst zu fragen, welche Inhalte bzw.<br />

Werte so verstandenes Menschsein verwirklichen helfen. Welche Realität ist<br />

gut, welche ist besser angesichts einer konkreten Situation? Was fördert das<br />

Gute, was hilft das Böse eindämmen bzw. vertreiben? Wodurch wird ein eingetretener<br />

Schaden behoben? Was tun, wenn ein Schaden nicht behoben werden<br />

kann?<br />

68


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

Solcherart Fragen verlangen wohl praktikable Antworten. Aber sie können<br />

nicht in einem Gesetzeskatalog gefunden werden, sondern nur unter grundlegender<br />

Berücksichtigung der betroffenen Menschen und des für sie Guten (Näheres<br />

dazu unten).<br />

2.2.3.3. Die biblische Grundaussage von Markus 10 verweist hinsichtlich der<br />

Ehe auf den guten Schöpfungswillen Gottes, der nach neutestamentlichchristlichem<br />

Verständnis in der Erlösung durch Christus aktualisiert und realisiert<br />

wird, im Einzelfall auch radikalisiert, d.h. auf das uranfänglich Grundlegende<br />

bezogen (Markus 10,5f.).<br />

Konkret ist dies zugleich auch ein Protest gegen eine andersartige Einschätzung<br />

der Ehe durch die damalige religiöse Welt, hier z.B. gegen eine laxe Haltung<br />

hinsichtlich von Ehescheidungen aus (fast) beliebigem Grund. 40<br />

Die Äußerungen Jesu sollen jedoch nicht dogmatisierend eng geführt und nun<br />

auf die gegenteilige rigorose Position im Konkretfall begrenzt werden, dergemäß<br />

keinerlei Scheidung unter keinen Umständen denkbar und möglich wäre.<br />

In unserem Text geht es um einen religiösen Grundsatz, der zu einer grundsätzlichen<br />

Sichtweise herausfordert, nämlich zur prinzipiellen Wertschätzung der<br />

Ehe, deren Bedeutung für das Menschsein nicht ungestraft nivelliert werden<br />

kann<br />

Jesus begegnet uns hier <strong>als</strong> der Christus, der von Gott her die Schöpfung erlöst,<br />

nicht jedoch einfach <strong>als</strong> ein neuer Mose. Seine „Lehre“ (Markus 10,1) ist<br />

im Zuspruch wie im Anspruch, im Angebot wie im Gebot „das Evangelium“<br />

(Markus 1,14f.), das zu einer Grundentscheidung auffordert und diese zugleich<br />

ermöglicht. Ihn <strong>als</strong> bloßen Gesetzeslehrer zu konsultieren ist die Absicht seiner<br />

gegnerischen Fragesteller (Markus 10,2). Auf diese Sicht lässt Jesus sich nicht<br />

reduzieren. Aber auch die christliche Sicht von ihm <strong>als</strong> Gesetzgeber wäre zu<br />

wenig. Sein Anliegen ist tiefer und weiter.<br />

Im Textzusammenhang Markus 10 ist dies auch daran erkennbar, dass die<br />

konkrete Diskussion einer möglichen Scheidung, <strong>als</strong>o das Thema Scheidung im<br />

engeren Sinne, mit V. 10 in einer neu gesetzten Szene angeboten wird!<br />

2.2.3.4. Auch die Aussagen von Epheser 5,21ff. können nicht einfach <strong>als</strong> biblisches<br />

„Gebot“ oder christliche Norm verstanden und zur unmittelbaren Anwendung<br />

in der Gemeinde gebracht werden. Dazu bedarf es einer tieferen<br />

Grundlage bzw. Begründung, die sich auf positive Werte im Blick auf das Per-<br />

40 So die Position der Hillel-Schule in Anwendung von Deuteronomium 24,1.<br />

69


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

sonsein des Menschen bezieht; solche ist freilich in unserem Text mit dem<br />

Verweis auf die Liebe gegeben - wobei sie doch wohl in der Ehe auf Gegenseitigkeit<br />

angelegt ist bzw. beruht. Nur in solcher Betrachtung und Berücksichtigung<br />

wird der immer im Munde geführten „Christlichkeit“ wahrhaft Genüge<br />

getan.<br />

Und wenn die eheliche Liebe erlöscht und das Miteinander nicht aufrechterhalten<br />

werden kann? Ist dann auch die christliche Liebe außer Betrieb (ich beziehe<br />

mich hier zunächst auf die Liebe der Gemeinde solchen Betroffenen gegenüber)?<br />

Wie sind die ‚Verbote’ bezüglich Scheidung und Wiederheirat gemeint?<br />

3. Schlussteil<br />

Ich komme zum Schluss meiner grundsätzlichen Überlegungen zum Thema<br />

Ehe, indem ich aus meinem bisher dargestellten Grundverständnis von Ehe<br />

Folgerungen ziehe im Blick auf die Möglichkeit von Ehescheidung und Wiederverheiratung.<br />

Ich tue dies im folgenden Abschnitt (3.1.) und formuliere abschließend<br />

Leitsätze zur Ethik (Abschnitt 3.2.), die uns den Umgang mit diesen<br />

schwierigen Fragen erleichtern können.<br />

3.1. Das biblisch-christliche Verständnis und die Wertschätzung der Ehe -<br />

eingeschärft durch die „Verbote“ zu Scheidung und Wiederverheiratung<br />

3.1.1. Ehe <strong>als</strong> personale Lebensgemeinschaft wird biblisch verstanden <strong>als</strong> in<br />

Liebe, Treue und Wahrhaftigkeit gelebtes umfassendes Einssein zweier<br />

gegengeschlechtlicher Menschen. Sie ist <strong>als</strong> „ideale“ wie <strong>als</strong> reale eine irdische,<br />

menschliche Angelegenheit. Gottes Handeln in Schöpfung und Erlösung bedeutet<br />

ihre grundsätzliche Ermöglichung bzw. die grundlegende Ermächtigung zur<br />

Ehe für uns. Es gibt keinen Heilswillen Gottes zur Ehe, aber einen heilvollen<br />

Willen Gottes dazu - wie zu unserem gesamten Leben.<br />

Diese menschliche Beziehungsmöglichkeit wird in der Bibel insofern <strong>als</strong> einzigartig<br />

betrachtet <strong>als</strong> sie aus zwei selbständigen menschlichen Person-<br />

Einheiten eine neue gemeinsame Einheit erschafft. Ihre faktische Besonderheit<br />

wird in der Bibel, hier vor allem im AT, auch darin gesehen, dass die geschlechtliche<br />

Vereinigung zweier Menschen imstande ist, neues Leben (biologisch)<br />

hervorzubringen.<br />

70


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

Beides ist von grundlegend und umfassend anthropologischer und existentialer<br />

Bedeutung; auf den Einzelnen bezogen im psychosozialen Sinne, auf die<br />

Menschheit bezogen im Sinne des Fortbestands und Weiterentwicklung der<br />

Gattung. Im AT gewinnt die Fortpflanzung darüber hinaus noch unter dem speziellen<br />

Gesichtspunkt der Segensverheißung Gottes an Abraham bzw. an Israel<br />

spezifisch religiöse Bedeutung.<br />

Beide Grundgesichtspunkte ermöglichen es den biblischen Autoren, die Ehe<br />

bzw. die Liebesbeziehung <strong>als</strong> Gleichnis für das Verhalten Gottes zum Menschen<br />

(AT: zu seinem Volk) zu verwenden: unbedingt in der positiven Zuwendung,<br />

allein aus Liebe und in unverbrüchlicher Treue, ganz heilvoll und lebensspendend<br />

- was freilich im christlichen Gesamtverständnis von Heil nicht auf<br />

das irdisch Materielle oder gar nur auf das Biologische reduziert werden darf.<br />

Die menschlichen Regelungen zur konkreten Gestaltung dieser Lebensform<br />

sollen sowohl ihrer irdisch-zeitlichen Besonderheit wie auch ihrer religiösgleichnishaften<br />

Bedeutung bestmöglich Rechnung tragen. So wird der heilvolle<br />

Wille Gottes, dessen gute Gaben in unserer leiblichen Personalität und der psycho-sozialen<br />

Relationalität erlebt werden, in dieser Hinsicht erfüllt. Darum die<br />

Forderung der Unverletzlichkeit bzw. Unantastbarkeit einer bestehenden Ehe<br />

und ihr Schutz durch das Ehebruchsverbot aus dem Dekalog, das von Jesus in<br />

der Bergpredigt vertieft wird (Matthäus 5,27f.).<br />

Soziale Sicherungen und rechtliche Regelungen für die Partner und die Kinder<br />

sind - wie auch die sonstige konkrete Ausgestaltung des Ehelebens - in<br />

Form und Gestalt variabel. Auch insofern ist die Ehe Abbild und Teil einer geschichtlich<br />

geformten Lebenswelt. Ihre Bedeutung erlangen und behalten solche<br />

Regelungen und Normierungen nur, insoweit sie die Grundlagen der Ehe schützen<br />

helfen: nämlich die personalen Entscheidungen füreinander im Sinne von<br />

Liebe, Vertrauen/Treue und Wahrhaftigkeit im Rahmen sozialer Angemessenheit<br />

bzw. Unanstößigkeit (vgl. Matthäus 5,27ff.).<br />

3.1.2. Das generelle Scheidungsverbot (1.Korinther. 7,10; Lukas 16,18a) besagt<br />

die Unbedingtheit im Willen der Partner zur Zusammengehörigkeit in der<br />

Ehe und zum Zusammenhalten: Zum Halten der Beziehung bei/in/trotz Störungen<br />

und zur Heilung der Beziehungen bei Störungen.<br />

Das Scheidungsverbot ist eine grundsätzliche Einschärfung des Zusammenbleiben-Sollens<br />

- wegen der Partner und wegen der Kinder. Es ist eine Herausforderung<br />

unserer Bereitschaft zur Ehe - in der konkreten Form ihrer Fortführung.<br />

71


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Religiös wird dies mit dem unbedingten Willen Gottes begründet; dieser<br />

aber ist bezogen nicht auf eine bestimmte Norm, sondern auf die Grundlagen<br />

des Menschseins, der Geschöpflichkeit und der Personalität.<br />

Ebenso wie Jesus in Markus 2,27 in der Frage nach der Bedeutung und dem<br />

Umgang hinsichtlich des Sabbats den Willen Gottes grundsätzlich <strong>als</strong> auf den<br />

Menschen, d.h. die Ermöglichung wahren Menschseins, gerichtet sieht, so gilt<br />

dies m.E. analog auch für die Ehe: Die Ehe ist für den Menschen da, nicht der<br />

Mensch für die Ehe. Das Menschsein selbst - im umfassenden wie im jeweils<br />

sehr konkreten Sinne, seine gute Ermöglichung, seine Gefährdung oder gar<br />

Schädigung - ist <strong>als</strong>o letzter Maßstab bei der Beurteilung eines angemessenen<br />

Handelns - auch in der möglichen Entscheidung zu einer Ehescheidung und<br />

damit <strong>als</strong>o in der möglichen ‚Übertretung’ eines Gebots (vgl. Markus 2,23ff.).<br />

Wenn dadurch das Gute bzw. Bessere erlangt wird, ist es nicht geistliche Willkür,<br />

sondern göttliche Weisheit, den Menschen höher zu achten <strong>als</strong> das Gebot<br />

bzw. die Norm.<br />

3.1.3. Das generelle Wiederheiratsverbot (1.Korinther. 7,10f.; Lukas 16, 18b)<br />

besagt die Unbedingtheit im Willen der Partner zu ihrer Versöhnung und zur<br />

Fortsetzung der Ehe nach einer Versöhnung bei Heilung bzw. Veränderung -<br />

ggf. (auch) nach einer Trennung(szeit).<br />

Das generelle Wiederheiratsverbot ist eine grundsätzliche Einschärfung des<br />

Zusammenfinden-Sollens unter der Frage des Zusammenbleiben-Könnens im<br />

Sinne des ursprünglich bzw. vorm<strong>als</strong> guten Zusammenseins in der Ehe im Blick<br />

auf die Partner und die Kinder. Es ist eine Herausforderung unserer Bereitschaft<br />

zur Ehe - in der konkreten Form ihrer Fortführung.<br />

Praktisch muss sich die Umsetzung dieser Forderung messen lassen an den<br />

Grundwerten menschlichen Lebens, welche in der Ehe im Spiele sind bzw. auf<br />

dem Spiel stehen sowie am Grundkriterium biblischer Ethik: der Liebe (Agape).<br />

Bei der prüfenden Beurteilung ist das Zerstörerische der Störung(en) zu untersuchen<br />

in Hinsicht auf den eingetretenen Schaden und die bestehende bzw. zukünftige<br />

Schädigung; es ist auch zu fragen nach Heilung und Veränderung.<br />

Beides ist jeweils personal und sozial im Blick auf die Partner, die Kinder, das<br />

mitmenschliche Umfeld zu analysieren. Die seelsorgerliche Diagnose hat sowohl<br />

das eingetretene Negative wie das mögliche Positive praktisch, potenziell<br />

und prinzipiell zu benennen.<br />

72


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

3.1.4. In beiden Fällen des generellen Verbots, das auf Jesus und die Urgemeinde<br />

zurückgeht, welche meiner Überzeugung nach ursprünglich nur die<br />

Einzigehe <strong>als</strong> einzig legitime christliche Form des Ehelebens kannten, geht es<br />

nach meinem Verständnis um Einschärfungen der Wertschätzung des positiven<br />

Gutes „Ehe“. Es beziehen sich <strong>als</strong>o die Aussagen mit ihrer Negation von Scheidung<br />

und Zweitehe eigentlich auf die Position „Ehe“.<br />

Eine rechtliche Regelung ist damit ursprünglich nicht eigentlich gegeben;<br />

wenn man die entsprechenden Verbote bzw. Gebote <strong>als</strong> Ausdruck einer biblisch-christlichen<br />

Norm versteht, muss sich diese jedenfalls auf personale<br />

Grundwerte, die mit der Ehe verknüpft sind, zurückbeziehen. Nur auf dieser<br />

Grundlage lässt sich dann m.E. eine angemessene Beurteilung der Gesamtproblematik<br />

Scheidung und Wiederverheiratung treffen. Das Verharren bei der<br />

Norm selbst, hier beim Wortlaut der Gebote oder Verbote, greift in jedem Fall<br />

zu kurz und wird weder dem eigentlichen Willen Gottes noch dem Menschen<br />

gerecht.<br />

3.1.5. Die Gemeinde Jesu Christi und der Seelsorger/die Seelsorgerin <strong>als</strong> deren<br />

Repräsentant ist in einem Anwalt der personalen biblischen Werte hinsichtlich<br />

der Ehe wie auch der Beistand des Menschen. Dies muss uns nicht zerreißen,<br />

weil beides letztlich zusammengeht. Der pastorale Dienst an von Ehenöten<br />

Betroffenen geschieht in der Freiheit und Gebundenheit an den Geist Gottes<br />

(Galater 5,1.6.13), der im eigentlichen und wahren Sinne der in aller menschlichen<br />

Not zur Hilfe gerufene Beistand ist - in Vertretung des leibhaftigen Christus<br />

(Johannes 14,26; 16,13ff.).<br />

Diese Haltung wird ermöglicht und vertieft durch ein evangeliumsgemäßes<br />

Verständnis biblisch-christlicher Ethik, das ich abschließend zur Diskussion<br />

stellen möchte.<br />

3.2. Grund-Gesichtspunkte einer biblisch-christlichen (Sexual-)Ethik<br />

Worum geht es der christlichen Ethik allgemein und im konkreten Einzelfall?<br />

Ich meine: um die Erhaltung und Förderung bzw. Wiederherstellung der guten<br />

Grundordnung Gottes zum Wohl des Menschen. Sie bedient sich dabei auch der<br />

Regeln, Gebote und Normen, die allerdings nie Selbstzweck werden bzw. sein<br />

dürfen.<br />

Was sind die Grundwerte ethischen Verhaltens, nach denen wir uns <strong>als</strong> Einzelne<br />

und <strong>als</strong> Gemeinde auszurichten haben? Ich benenne sie <strong>als</strong> Haltung und<br />

Verhalten unter den folgenden Gesichtspunkten:<br />

73


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

3.2.1. Nicht das ängstlich-sorgenvolle Beachten einzelner Gebote/Verbote<br />

(Kasuistik), sondern eine einheitliche Grundhaltung ist die Grundlage jenes<br />

menschlichen Verhaltens, das dem Willen Gottes gemäß ist. Absolute Gültigkeit<br />

und <strong>als</strong>o letztlich unbedingten Verpflichtungscharakter hat darin - allein -<br />

die Liebe (Agape). (Römer 13,8-10; Galater 5,13f; vgl. Matthäus 5; 7,12;<br />

22,36-40).<br />

Im Falle eines ethischen Dilemmas, d.h. der Wahl zwischen zwei Übeln 41 , ist<br />

dasjenige <strong>als</strong> der Liebe gemäß zu wählen und zu tun, was unter Abwägung aller<br />

zur Verfügung stehenden Erkenntnisse, <strong>als</strong>o nach bestem Wissen und Gewissen,<br />

unmittelbar und mittelbar den geringeren Schaden verursacht bzw. den<br />

eingetretenen Schaden am meisten verringern oder beseitigen helfen kann.<br />

Dies kann und wird auch Scheidung sowie Wiederheirat einschließen - und<br />

zwar auch über die Ausnahmeklausel Matthäus 5,32 hinausgehend.<br />

3.2.2. Zur Haltung und zum konkreten Verhalten der Liebe sind im Bereich<br />

der menschlichen Lebensgemeinschaften im Sinne der Ehe <strong>als</strong> Grundwerte konstitutiv:<br />

Vertrauen/Treue (in prinzipieller Monogamie), Bereitschaft zur unbedingten<br />

Dauer und persönliche Wahrhaftigkeit - <strong>als</strong>o echte Verbindlichkeit und<br />

Verlässlichkeit (vgl. Matthäus 5,27-32.33-37).<br />

3.2.3. Weitere unabdingbare Grundwerte christlichen Verhaltens sind: innere<br />

persönliche Freiheit; möglichst soziale Unanstößigkeit - <strong>als</strong>o gelebte Verantwortlichkeit<br />

vor Gott und den Menschen (vgl. Galater 5; 2.Korinther 5,10; Römer<br />

14,10-19.22f.; Philipper 1,10; 4,8).<br />

Ehe bedeutet nach diesem Verständnis eine Lebens- und Liebesgemeinschaft<br />

von Mann und Frau in freier Verpflichtung zu echter Verbindlichkeit und dauerhafter<br />

Verlässlichkeit, d.h. in gelebter Verantwortlichkeit. Dem soll die Seelsorge<br />

in geeigneter Weise realistisch dienen.<br />

3.2.4. Christlicher Ethik geht es um konkretes Leben gemäß dem Willen Gottes<br />

zum wahren Wohl des Menschen in allen seinen Lebensbezügen: ganzheitlich<br />

verstandene und nachhaltig positive Wirkung im Sinne einer umfassenden<br />

Lebens-Tauglichkeit bzw. Lebensdienlichkeit ist wesentliches Kriterium zur<br />

Beurteilung eines Verhaltens bzw. einer Haltung - <strong>als</strong>o religiöse und praktische<br />

Vernünftigkeit, auch im Sinne einer Verhältnismäßigkeit der Mittel bei Bewer-<br />

41 Wie es bei Fragen der Ehescheidung im Zusammenhang einer intensiven und andauernden<br />

Ehekrise an der Tagesordnung ist!<br />

74


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

tung und ggf. ‚Bestrafung’ bei erfolgter Abweichung von Normen und der<br />

Missachtung von Werten (vgl. Römer 12,1.2; 1.Korinther 6,12; 7,29-31;<br />

10,23f.).<br />

Kein Lebensbereich ist von der christlich-wertenden Beurteilung/Prüfung unter<br />

dem Gesichtspunkt der Verpflichtung zur Liebe, der Verbindlichkeit, der<br />

Verantwortlichkeit und der Vernünftigkeit und damit der Ausrichtung auf die<br />

Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ausgenommen (1.Thessalonicher<br />

5,23), und alles bzw. jedes Handeln soll bedacht sein auf das Konkrete hin.<br />

Denn: nur im konkreten Tun des jeweils Guten ist die Liebe wirklich.<br />

Dies aber kann und wird auch Scheidung und Wiederheirat einschließen,<br />

wenn sie für die Beteiligten der bessere Weg sind <strong>als</strong> eine formale Aufrechterhaltung<br />

von Ehe oder ein zwangsweises Allein-bleiben-Müssen - „besser“ im<br />

Sinne der Liebe unter Berücksichtigung der grundlegenden personalen Werte,<br />

welche die Bibel vertritt und Christus verteidigt.<br />

Die hier aufgeführten ethischen Gesichtspunkte berücksichtigen zum einen<br />

positiv die Schöpfungsordnung Gottes in einem fundamentalen Sinne, insoweit<br />

sie auf Werte abzielen, die dem eigentlichen Wesen des Menschen gemäß sind<br />

und dem Menschsein insgesamt dienen. Zum anderen sind solche Grund-Werte<br />

auch insofern christlich von besonderer Bedeutung, <strong>als</strong> sie dem Handeln Gottes<br />

in Christus zum Heil der Welt korrespondieren. Mit den Begriffen Liebe, Treue<br />

und Wahrheit wird ja auch die Beziehung Gott:Mensch beschrieben!<br />

3.2.5. Wo aber wirklich die in solchem Sinn verstandene „Liebe“ geschieht,<br />

d.h. der Glaube seine der Welt zugewandte Seite zeigt (Galater 5,6), herrscht<br />

nicht länger „die Sünde“ - im grundlegenden Sinne verstanden <strong>als</strong> Beschreibung<br />

der Gottesferne des Menschen bzw. der Entfremdung des Menschen von<br />

seinem eigentlichen (biblisch gesprochen: „wahren“) Sein. Zugespitzt lässt sich<br />

sagen: „In der Liebe“ ist ‚alles möglich’, weil es dem wahrhaft Guten des Menschen,<br />

seinem irdischen Wohl, dient und seinem Heil nicht entgegensteht - <strong>als</strong>o<br />

im Konkretfall auch eine Scheidung und Wiederheirat.<br />

Wohl werden wir durch Fehler und Versäumnisse, persönliche Verirrung und<br />

gesellschaftliche Verstrickung immer wieder schuldig werden - und insofern nie<br />

völlig schuldlos bleiben können -, auch im Bereich der Lebensgemeinschaften<br />

und beim Thema Sexualität.<br />

Solches (bleibende) Schuldigwerden von Christen und innerhalb der Gemeinde<br />

Christi steht - wie natürlich auch das Schuldiggewordensein vor der Glaubensbindung<br />

an Christus! - unter der göttlichen Verheißung der Vergebung. Die<br />

Vergebung <strong>als</strong> Zusage der Gnade Gottes und der Ermutigung zum Neuanfang<br />

75


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

wird dem Glaubenden, Liebenden und auf Gott Hoffenden geschenkt und will<br />

ihn - geistlich ermahnend und ermutigend - ermächtigen (so viel an ihm liegt),<br />

ein neues, besseres Leben zu führen. Im Konkretfall auch nach einer Scheidung<br />

und in neuer Ehe - ohne innere Zerrissenheiten, sondern in geistlicher Gewissheit,<br />

weil Glaube und Liebe tragfähige Hilfe und Hoffnung für das Leben bedeuten<br />

- auch im Scheitern irdischen Glücks und durch dieses hindurch bzw.<br />

über dieses hinaus.<br />

Literatur (in Auswahl) 42<br />

Psychosozialer Bereich:<br />

Arndt, M. et al. (Hgg); Heiraten - oder nicht?; GTB-Siebenstern, Gütersloh 1978.<br />

Hamburger, A.; Wenn Paare sich im Traum begegnen. Paarträume - Die verborgenen Seiten<br />

der Partnerschaft; Herder, Freiburg 1995.<br />

Hendrix, H. H.; Getting the Love You Want. A Guide for Couples; Harper, New York 1990.<br />

Luczak, H.; Familien-Psychologie. Die Macht des Clans; in der Zeitschrift: GEO, 3/2000,<br />

S.16ff.<br />

O'Neill, G. und N.; Die offene Ehe. Konzept eines neuen Typus der Monogamie; Rowohlt; Reinbek<br />

1976.<br />

Rogoll, R.; Nimm dich, wie du bist. Wie man mit sich einig werden kann; Herder, Freiburg 3.<br />

Aufl. 1977.<br />

Ders.; Nimm mich, wie ich bin. Lieben und Lassen in der Partnerschaft; Herder, Freiburg 4.<br />

Aufl. 1996.<br />

Schenk, H.; Freie Liebe - wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe;<br />

Beck, München 1987.<br />

Schwäbisch, L./Siems, M.; Anleitung zum sozialen Lernen für Paare, Gruppen und Erzieher.<br />

Kommunikations- und Verhaltenstraining; Rowohlt, Reinbek 1992.<br />

Shorter, E.; Die Geburt der modernen Familie; Rowohlt, Reinbek 1983.<br />

Willi, J.; Therapie der Zweierbeziehung. Analytisch orientierte Paartherapie; Rowohlt, Reinbek<br />

1991.<br />

Ders.; Was hält Paare zusammen? Der Prozess des Zusammenlebens in psycho-ökologischer<br />

Sicht; Rowohlt, Reinbek 1993.<br />

42 Auch gültig für die Bibelarbeiten meiner „<strong>Theologische</strong>n Reflexionen“ in diesem Band.<br />

76


SCHMITZ: GRUNDVERSTÄNDNIS „EHE“<br />

<strong>Theologische</strong>r Bereich:<br />

Darstellungen<br />

Artikel: Ehe/Eherecht/Ehescheidung; Religionsgeschichtlich; Altes Testament; Judentum; Neues<br />

Testament; Alte Kirche; Mittelalter; Reformationszeit; Ethisch; Praktisch-Theologisch;<br />

(Lit!), in: TRE IX, 1982, (Studienausgabe 1993), de Gruyter, Berlin; S. 311 - 362.<br />

Bacchiocchi, S.; The Marriage Covenant. A Biblical Study on Marriage, Divorce and Remarriage;<br />

Bibl. Perspect.9, Berrien Springs 1991.<br />

Baltensweiler, H.; Die Ehe im Neuen Testament. Exegetische Untersuchung über Ehe, Ehelosigkeit<br />

und Ehescheidung; (Habil. 1965); Zwingli, Zürich 1967<br />

Friedrich, G.; Sexualität und Ehe. Rückfragen an das Neue Testament; Bibl.Forum 11; Kathol.<br />

Bibelwerk, Stuttgart 1977.<br />

Frisch, H.; „Wilde Ehe“ mit kirchlichem Segen?; Mohn, Gütersloh 1990.<br />

Gerstenberger E./Schrage, W.; Frau und Mann; Bibl. Konfront.; Kohlhammer, Stuttgart 1980.<br />

Gestrich, Chr. (Hg); Geschlechterverhältnis und Sexualität. Werner Reihlen-Vorlesungsreihe an<br />

der Theol. Fakultät der HU Berlin; Wichern, Beiheft 1997 zur BThZ.<br />

Greeven, H./Ratzinger J. et al.; Theologie der Ehe; ökumen. Arbeitskreis; Pustet/Vandenhoeck,<br />

Göttingen 2.Aufl. 1972.<br />

Kleinschmidt, F.; Ehefragen im Neuen Testament. Ehe, Ehelosigkeit, Ehescheidung, Verheiratung<br />

Verwitweter und Geschiedener im Neuen Testament; (Diss.1997);<br />

ARGU 7; Peter Lang, Frankfurt/M. 1998. (Hier neueste Literatur!)<br />

Lüthi, K.; Luther, Calvin und die Probleme der Sexualmoral; in: Wiener Jb für Theol.; 1996; S.<br />

313ff.<br />

Malina, Bruce J.; Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten; Kohlhammer,<br />

Stuttgart 2.Aufl. 1993.<br />

Niebergall, A.; Ehe und Eheschließung in der Bibel und in der Geschichte der alten Kirche;<br />

MThSt 18; Elwert, Marburg 1985.<br />

Niederwimmer, K.; Askese und Mysterium. Über Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht in den<br />

Anfängen des christlichen Glaubens; FRLANT 113; Vandenhoeck, Göttingen 1975.<br />

Ostmeyer, K.-H.; Die Sexualethik des antiken Judentums im Licht des Babylonischen Talmuds;<br />

in: BThZ, 1995; S. 167ff.<br />

Pearson, M.; Millennial Dreams and Moral Dilemmas. Seventh-day Adventism and Contemporary<br />

Ethics; (Diss), Cambridge Univers. Press, 1990.<br />

Schmith<strong>als</strong>, W.; Die Gnosis in Korinth. Eine Untersuchung zu den Korintherbriefen; FRLANT<br />

66; Vandenhoeck, Göttingen 3. Aufl. 1969.<br />

Schrage, W.; Ethik des Neuen Testaments; NTD, Grundrisse 4; EVA, Berlin 1985.<br />

77


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Träder, L. E. (Hg.); Die Stellung der Adventgemeinde zu aktuellen Eheproblemen; AGG, 4;<br />

Adventistisch. Wissenschaftlicher. Arbeitskreis (AWA), Darmstadt 1974.<br />

Wendland, H.-D.; Ethik des Neuen Testaments; NTD, Grundrisse 4, Vandenhoeck, Göttingen<br />

1970.<br />

Wilhelm, L.; „... das soll der Mensch nicht scheiden“. Fragen zu den Aussagen der Evangelien<br />

über Ehescheidung und Wiederverheiratung; in: Glauben heute; Advent-Vlg, Lüneburg<br />

1999.<br />

Wilkens, E., et al.; Ehe und Ehescheidung. Ein Symposion; Furche, Hamburg 1963.<br />

Wolff, H. W.; Anthropologie des Alten Testaments; Kaiser, München 1973.<br />

Dokumente<br />

Erklärungen, Richtlinien und andere Dokumente; Generalkonferenz der Gemeinschaft der<br />

Siebenten-Tags-Adventisten; Advent-Vlg., Lüneburg 1998.<br />

Gemeindeordnung. Gemeindehandbuch; Euro-Afrika-Divison der Gemeinschaft der STA; Advent-Vlg,<br />

Lüneburg 1998 (englische Originalfassung 1995).<br />

Protokolle und Berichte der 57. Vollversammlung in Toronto; GC Bulletin 1-10; Adventist<br />

Review, 20.-27. Juli 2000.<br />

Seventh-day Adventists Believe. A Biblical Exposition of 27 Fundamental Doctrines; Ministerial<br />

Ass. of SDA, Silver Spring 1988.<br />

Was Adventisten glauben. 27 Biblische Grundlehren umfassend erklärt; Advent-Vlg, Lüneburg<br />

1996.<br />

Kommentare und Nachschlagewerke<br />

Artikel: „Gameo“/ „Heiraten“; in: ThWBNT, I, 646 ff; (E. Stauffer); Kohlhammer, Stuttgart<br />

1933.<br />

Artikel: „Gameo“/ „Heiraten“; in: EWNT, I, 564ff; (K. Niederwimmer); Kohlhammer, Stuttgart<br />

1980.<br />

Artikel: „Moicheuo“ / „Scheiden“; in: ThWBNT, IV, 737ff (Hauck); Kohlhammer, Stuttgart<br />

1942.<br />

Artikel: „Moicheuo“ / „Scheiden“; in: EWNT, II, 1073ff (E. Plümacher); Kohlhammer, Stuttgart<br />

1980.<br />

Bauer, W.; Wörterbuch zum Neuen Testament; Töpelmann, Berlin 5. Aufl. 1963.<br />

Barrett, Ch. K./ Thornton, C.-J.; Texte zur Umwelt des Neuen Testaments; UTB Nr. 1591;<br />

Mohr, Tübingen 2. Aufl. 1991.<br />

Billerbeck, P.; Kommentar zum NT aus Talmud und Midrasch; Beck, München 8. Aufl. 1982.<br />

78


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Conzelmann, H.; Der erste Brief an die Korinther; KEK ,V; Vandenhoeck; Göttingen 1969.<br />

Conzelmann, H./Lindemann, A.; Arbeitsbuch zum Neuen Testament; UTB 52, Mohr, Tübingen<br />

6. Aufl. 1982.<br />

de Vaux, R.; Das Alte Testament und seine Lebensordnungen, I; Herder, Freiburg, 2. Aufl.<br />

1964.<br />

Fascher, E.; Der erste Brief des Paulus an die Korinther; ThHK, 7,1; EVA; Berlin1975.<br />

Gnilka, J.; Das Evangelium nach Markus; EKK, II; Neukirchener Vlg, Neukirchen.<br />

Goppelt, L.; Der erste Petrusbrief; KEK, XIII,1; Vandenhoeck, Göttingen 1978.<br />

Grundmann, W.; Das Evangelium nach Markus, ThHK, 2; EVA, Berlin 1977.<br />

Lohmeyer, E.; Das Evangelium des Markus; KEK I,2; Vandenhoeck; Göttingen 1963.<br />

Luz, U.; Das Evangelium nach Matthäus; EKK, I,1; I,3; Neukirchener Vlg, Neukirchen 1985.<br />

Ott, H.; Die Antwort des Glaubens. Systematische Theologie in 50 Artikeln; Kreuz, Stuttgart<br />

1972.<br />

Roloff, J.; Der erste Brief an Timotheus; EKK, XV; Neukirchener Vlg.<br />

Mußner, F.; Der Brief an die Epheser; ÖTK, 10; GTB Siebenstern, Gütersloh 1982.<br />

Schmith<strong>als</strong>, W.; Die Briefe des Paulus in ihrer ursprünglichen Form; Theol. Vlg, Zürich 1984.<br />

Ders.; Das Evangelium nach Markus; ÖTK, 2; GTB Siebenstern, Gütersloh 2. Aufl. 1986.<br />

Rad, G. von; Das erste Buch Mose/Genesis; ATD, 2-4; Vandenhoeck, Göttingen 9. Aufl. 1972.<br />

Schulz, S.; Q. Die Spruchquelle der Evangelisten; Theol. Vlg.; Zürich 1972.<br />

Weiss, H.-F.; Der Brief an die Hebräer; KEK, XIII; Vandenhoeck, Göttingen 1. Neuaufl. 1991.<br />

Weiss, J.; Der erste Korintherbrief; KEK, V; Vandenhoeck; Göttingen (1910), 2. Neudruck<br />

1977.<br />

Westermann, C.; Genesis, Kap. 1-11; BK I,1; Neukirchener Vlg; Neukirchen 2. Aufl. 1976.<br />

Zimmermann, H.; Neutestamentliche Methodenlehre; Kathol. Bibelwerk; Stuttgart 7. Aufl.<br />

1972.<br />

79


Der Scheidungsprozess<br />

Ein psychologisches und soziologisches Blitzlicht.<br />

Klaus - J. van Treeck<br />

Was macht Ehe aus biblischer und persönlicher Sicht aus? Was passiert mit<br />

zwei Menschen, die eine enge Beziehung miteinander eingehen? Welche<br />

Hoffnungen und Vorteile verbinden sie damit?<br />

Bei einer Scheidung zerbrechen Erfahrungen und Hoffnungen. Scheidung ist<br />

eine traumatische Erfahrung. Sie führt in einen langfristigen und vielschichtigen<br />

persönlichen und sozialen Prozess. Scheidung ist eine existenzielle<br />

persönliche und soziale Krise. Sie ist gleichzeitig eine Chance zum<br />

persönlichen und sozialen Wachstum.<br />

Der Scheidungsprozess ist für jedes Paar und für jeden Betroffenen einmalig.<br />

Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken, die mehr oder weniger intensiv<br />

durchlebt werden. Der Prozess beginnt mit dem ersten Gedanken an<br />

eine Trennung und endet mit der Wiederaufnahme eines gestärkten persönlichen<br />

und sozialen Lebens. Verschiedene Modelle sind entwickelt worden, um<br />

die Vielschichtigkeit des Scheidungsprozesses zu verstehen und Menschen<br />

darin zu begleiten. Unabhängig vom gewählten Forschungs- und Erklärungsansatz<br />

gehen die Modelle von unterschiedlichen Stufen oder Phasen eines<br />

Scheidungsprozesses aus. Sie alle zeigen, dass eine Scheidung<br />

- eine persönliche und eine familiäre Krise ist<br />

- zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Situationen sowohl<br />

<strong>als</strong> Bedrohung und Krise <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Herausforderung und Chance<br />

empfunden werden kann<br />

- auch wenn sie <strong>als</strong> traumatisch empfunden wird, ein stabiles neues<br />

Leben nach sich ziehen kann.<br />

Nachfolgend werden fünf Modelle kurz vorgestellt.<br />

81


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Modell 1: Scheidung <strong>als</strong> Trauerprozess nach Wiseman 1<br />

Scheidung ist ein Trauerprozess, der mit der Trauer beim Verlust eines nahestehenden<br />

Menschen zu vergleichen ist. Zwei Punkte sind unterschiedlich:<br />

- die Zurückweisung und Ablehnung, die in der Scheidung vom Partner<br />

erlebt wird<br />

- sich weiterhin begegnen und miteinander Absprachen und Regelungen<br />

treffen zu müssen.<br />

Wisemann unterteilt den Scheidungsverlauf in folgende Phasen: Leugnung,<br />

Verlust und Niedergeschlagenheit, Ärger und Ambivalenz, Neuorientierung<br />

und Annahme.<br />

Leugnung<br />

Durch enttäuschte Erwartungen und unerfüllte Hoffnungen entstehen in der<br />

Beziehung Konflikte. Die Probleme werden zwar wahrgenommen, aber nicht<br />

zufriedenstellend gelöst. Eine bedrohende Auswirkung auf die Beziehung wird<br />

vom Paar geleugnet. Durch kontinuierliche Leugnung einer Beziehungskrise<br />

aber wird die Ehe dauerhaft in zweifacher Weise geschwächt:<br />

- das Paar hält die Ehe trotz der Schwierigkeiten für stabil<br />

- das Paar weiß um die Schwierigkeiten, schreibt sie aber äußeren Umständen<br />

zu (wirtschaftliche Situation, Kinder, Eltern, Beruf etc.)<br />

Gerät die Ehe durch neue Umstände - für Außenstehende manchmal banale<br />

Dinge - aus dem Gleichgewicht, kann das Paar die Krise nicht länger leugnen.<br />

Das Fass läuft über und der Gedanke an eine Scheidung wird erstmalig erwogen.<br />

Verlust und Niedergeschlagenheit<br />

Wird dem Paar bewusst, dass „sie selbst“ die Krise hervorrufen und damit<br />

die Verantwortung für den Verlust ihres eigenen Beziehungside<strong>als</strong> tragen, beginnen<br />

sie zu trauern. Die Trauer mag die unerfüllten Erwartungen, die eigenen<br />

Grenzen oder auch die Unfähigkeit betreffen, die Probleme nicht angemessen<br />

lösen zu können. Ähnlich wie beim Verlust eines geliebten Menschen<br />

durch Tod empfinden die Partner: Kummer, Trauer, Niedergeschlagenheit und<br />

Einsamkeit. Findet das Paar in dieser Phase keine Möglichkeit, miteinander<br />

1<br />

R. S. Wiseman, Crisis Theory and the Process of Divorce, zitiert in J. Guttmann Divorce in<br />

Psychosocial Perspective: Theory and Research, 1993, Hillsdale, New Jersey, S. 32 – 36.<br />

82


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

angemessen darüber zu reden, gerät die Ehe unweigerlich in den Sog der<br />

Scheidung.<br />

Ärger und Ambivalenz<br />

Die Trauer und Niedergeschlagenheit gehen in Frustration, Wut und Ärger<br />

über, wenn sie nicht aufgearbeitet werden. Den Gedanken an eine Trennung<br />

folgen nun die ersten praktischen Schritte. Diese verstärken die Frustrationen.<br />

Die Schmerzgefühle nehmen spiralförmig zu. Können die Gefühle in dieser<br />

Zeit nicht angemessen ausgedrückt werden, kommen sie in den späteren Stufen<br />

unkontrolliert und bedeutend heftiger zum Ausbruch. Deshalb wird in dieser<br />

Phase ein grundlegender Stein für einen erfolgreichen Abschluss des<br />

Scheidungsprozesses gelegt. In dieser Stufe klären die Partner jeder für sich,<br />

ob sie auch alles zur Rettung der Ehe getan haben. Manchmal kommt es auch<br />

zum letzten Versuch, die Beziehung zu retten - ein wichtiger Schritt, um die<br />

eigene Handlung später vor sich selbst rechtfertigen zu können. Fällt die Entscheidung<br />

zur Trennung, beginnt die Neuorientierung.<br />

Neuorientierung<br />

Die Trennung ist Realität. Die Identität der eigenen Persönlichkeit, der<br />

beruflichen Rolle, der Sexualität und der sozialen Beziehungen werden nicht<br />

mehr durch die Ehe definiert, sondern müssen neu geklärt werden. Alle in den<br />

vorangegangenen Phasen ungeklärten Fragen und unbearbeiteten Gefühle tauchen<br />

wieder auf. Neue berufliche Perspektiven werden angedacht und getestet.<br />

In diese Phase fallen auch kurze sexuelle Abenteuer, die Intimität vermeiden<br />

und dennoch eine sexuelle Rollenklärung ermöglichen sollen.<br />

Annahme<br />

Die Betroffenen haben eine angemessene Einstellung zu sich selbst und ihren<br />

neuen Rollen gefunden. Der Kontakt zum ehemaligen Partner erfolgt ohne<br />

belastende Gefühle wie Ärger, Wut und Schuld, die noch aus Erfahrungen der<br />

zerbrochenen Beziehung stammen.<br />

Der erfolgreiche Verlauf dieser Phasen ist Voraussetzung für eine neue Partnerschaft.<br />

Dieses Modell gibt einen Einblick in die individuellen psychologischen Abläufe<br />

im Scheidungsprozess. Es vernachlässigt die Beziehung der Partner zueinander<br />

und zu ihrem sozialen Umfeld. Wisemans Modell richtet sich von<br />

seinem Ursprung her stark an aufeinanderfolgenden Stufen aus. In der Praxis<br />

83


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

wird sich dieser Verlauf nicht immer exakt in der beschriebenen Reihenfolge<br />

zeigen.<br />

Modell 2: Sechs parallele Phasen der Scheidung nach Bohannan 2<br />

Sechs parallele Phasen kennzeichnen nach Bohannan eine Scheidung: emotionale<br />

Scheidung, gesetzliche Scheidung, wirtschaftliche Scheidung, Eltern-<br />

Kind Scheidung, gesellschaftliche Scheidung und die psychische Scheidung.<br />

Diese Stationen werden zu unterschiedlichen Zeiten und teilweise überlappend<br />

erlebt. Ihre Schwierigkeiten und Herausforderungen sowie ihre emotionalen<br />

Auswirkungen können parallel in jeder einzelnen Phase präsent sein. Das Paar<br />

gerät in den Prozess der Scheidung, wenn in der Beziehung ein persönliches<br />

Wachstum oder ein Wachstum in der Paarbeziehung gehemmt wird.<br />

Die emotionale Scheidung<br />

Die Erwartungen und Hoffnungen an die Ehe werden nicht befriedigend erfüllt.<br />

Es gelingt dem Paar nicht, die daraus resultierenden Konflikte zu lösen.<br />

Daher wird das emotionale Engagement für die Beziehung verringert. Einer<br />

oder beide Partner vermeiden nun das gemeinsame und/oder persönliche<br />

Wachstum innerhalb der Beziehung. Scheinbar mag die Beziehung dadurch<br />

stabilisiert werden. Die ungelösten Probleme nehmen aber an Intensität zu. Sie<br />

sind für einen oder beide Partner nicht mehr zu ertragen. Weil das Bedürfnis<br />

nach persönlichem Wachstum oder Fortschritt in der Partnerschaftsbeziehung<br />

nicht erfüllt wird, beginnt die emotionale Trennung.<br />

Die gesetzliche Scheidung<br />

Die gesetzliche Scheidung markiert den formalen Bruch der Paarbeziehung.<br />

Aufgabe des Staates ist es, so Bohannan, den Paaren nicht nur einen guten<br />

Beginn und Schutz der Ehe zu gewähren, sondern auch eine möglichst „saubere“<br />

Scheidung zu ermöglichen. Die gesetzlichen Verfahren fördern manchmal<br />

mehr die Feindschaft und die negativen Gefühle <strong>als</strong> dass sie dem Paar zu einer<br />

produktiven Klärung und Verarbeitung verhelfen. Scheidung wird von den<br />

Beteiligten und der Gesellschaft noch allzu oft <strong>als</strong> „schlecht“ und „schmutzig“<br />

angesehen.<br />

2<br />

P. J. Bohannan, Divorce and After, zitiert in J. Guttmann, Divorce in Psychosocial Perspective:<br />

Theory and Research, 1993, Hillsdale, New Jersey, S. 36 – 39.<br />

84


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Die wirtschaftliche Scheidung<br />

In dieser Phase werden die wirtschaftlichen Folgen der Trennung geklärt.<br />

Die Scheidung <strong>als</strong> Eltern<br />

Die Trennung der Elternteile von den Kinder verursacht nach Bohannan die<br />

größten Schmerzen. Die Regelungen um das Sorge- und Besuchsrecht lösen<br />

oft harte Kämpfe aus und vertiefen die Kluft zwischen den Elternteilen. Wurden<br />

in der Ehe Unterschiede im Erziehungsstil noch diskutiert und verhandelt,<br />

führen unterschiedliche Auffassungen in dieser Phase oft zu subtilen Auseinandersetzungen<br />

und zu Kränkungen. Misstrauen und Verdächtigungen belasten<br />

die Elternteile und die Beziehung zu den Kindern.<br />

Die gesellschaftliche Scheidung<br />

Durch die Scheidung verändert sich die Beziehung zu gemeinsamen Freunden<br />

und zur Verwandtschaft. Die getrennten Partner haben Erwartungen - z.B.<br />

weiterhin eingeladen zu werden, zum Freundeskreis zu gehören, die uneingeschränkte<br />

Sympathie der alten Freunde auf ihrer Seite zu haben. Diese Erwartungen<br />

können enttäuscht werden, und man fühlt sich verlassen. Durch einen<br />

möglichen Ortswechsel können alle vertrauten Netzwerke wegbrechen.<br />

Die psychische Scheidung<br />

Die psychische Scheidung ist die Trennung und Abgrenzung vom Einfluss<br />

des ehemaligen Ehepartners. Neben der Loslösung gilt es, aus sich heraus eine<br />

neue Stabilität, Ganzheit und Unabhängigkeit zu erwerben. Längst verschüttete<br />

Muster aus der Ursprungsfamilie brechen wieder auf, und müssen in das<br />

neue Leben eingearbeitet werden. Einerseits ist das gemeinsame Leben in der<br />

Ehe gescheitert, andererseits haben die Partner den Mut gehabt, nicht an dem<br />

schlechten Zustand der gescheiterten Ehe festzuhalten.<br />

Bohannans Modell gliedert den Scheidungsprozess in überschaubare Abschnitte.<br />

Bohannan beleuchtet aber nicht in allen Phasen die psychische Situation<br />

der Betroffenen.<br />

85


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Modell 3: Scheidung <strong>als</strong> psychologischer Prozess nach Kessler 3<br />

Das Modell der psychologischen Scheidung beschreibt sieben emotionale<br />

Stufen der Scheidung: Desillusionierung, Aushöhlung, Ablösung, räumliche<br />

Trennung, Trauern, zweite Jugend und Eroberung. Diese Phasen werden von<br />

jedem Partner in unterschiedlicher Intensität, Dauer und Reihenfolge erlebt.<br />

Desillusionierung<br />

Nach der ersten romantischen Zeit der Ehe müssen die Partner die idealistischen<br />

Erwartungen an die Realität des Ehealltags anpassen. Gelingt dieser<br />

andauernde Prozess, führt er zu einer tieferen Beziehung. Misslingt er, beginnt<br />

unscheinbar, aber unaufhaltsam die emotionale Scheidung. Werden die Gedanken<br />

stärker auf die Enttäuschung gelenkt, verändern sich die Gefühle dem<br />

Partner und der Ehe gegenüber. Für Außenstehende ist die Beziehung immer<br />

noch stabil, aber die Gefühlslage beider oder eines Partners kann sich verändern.<br />

Gelingt es dem Paar nicht, die Erwartungen an die Realität in einer für<br />

beide Seiten zufriedenstellender Weise anzupassen, beginnt die Aushöhlung<br />

der Beziehung.<br />

Aushöhlung<br />

Vielen Paaren fehlt die soziale Kompetenz und das praktische Handwerkszeug,<br />

um ohne Hilfe aus der Phase der Desillusionierung herauszukommen.<br />

Die Schmerzen, die Frustrationen und der Ärger der vorherigen Phase werden<br />

nun spürbar ausgedrückt – auch wenn die eigentlichen Ursachen für die quälenden<br />

Schmerzen unklar sind. Da die Partner emotional immer noch voneinander<br />

leben, sind diese Verletzungen sehr schmerzlich. Allmählich schleicht<br />

sich ein verbaler und nonverbaler Umgangsstil ein, der den Partner ignoriert,<br />

verletzt und provoziert. Als Nebeneffekt ermöglichen diese Verhaltensweisen<br />

auch noch Zusatzgewinne (Vermeidung von Nähe, das Recht auf starke Emotionsausbrüche,<br />

sexuelle Verweigerung oder Schweigen etc.). Dennoch möchte<br />

das Paar sich selbst und anderen Gegenüber noch nicht zugeben, dass mit<br />

der Beziehung etwas nicht stimmt. Die Partner versuchen nun, mehr Nutzen<br />

aus der Beziehung zu ziehen <strong>als</strong> sie an Anstrengung in die Beziehung investieren.<br />

Außereheähnliche Beziehungen stillen manchmal das Bedürfnis nach<br />

emotionaler Nähe.<br />

3<br />

S. Kessler, The American Way of Divorce: Prescription for Change, zitiert in J. Guttmann.<br />

Divorce in Psychosocial Perspective: Theory and Research, 1993, Hillsdale, New Jersey, S.<br />

39 – 44.<br />

86


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Ablösung<br />

Eine Verminderung des (emotionalen) Engagements für die Partnerschaft<br />

beschleunigt die Ablösung vom Partner. Die Anteilnahme und Fürsorge für<br />

den Partner nehmen ab. Es müssen nicht unbedingt neue Probleme auftreten,<br />

aber die Konflikte werden intensiver wahrgenommen. Lebensfreude, Begeisterung,<br />

Geduld und gegenseitige Anteilnahme werden auf den Beruf, das Hobby<br />

oder andere soziale Beziehungen verlagert.<br />

In der Regel nehmen beide Partner den Zeitpunkt der emotionalen Ablösung<br />

unterschiedlich wahr, obwohl die Anzeichen für beide unübersehbar sind: angespannte<br />

Ruhe, gereizte Kommunikation, Vermeidung von Nähe und ähnliches.<br />

Erste Phantasien oder Gedanken an ein Leben ohne den jetzigen Partner<br />

werden wach. Die eigene Wirkung auf das andere Geschlecht wird getestet.<br />

Die Atmosphäre in der Beziehung wechselt wie bei einer Achterbahnfahrt<br />

zwischen gegenseitiger Anziehung und totaler Frustration. Die negativen Gedanken<br />

und Gefühle nehmen an Häufigkeit und Intensität zu.<br />

Räumliche Trennung<br />

Für Kessler ist die räumliche Trennung der traumatischste Teil des Scheidungsprozesses.<br />

Die räumliche Trennung ist gefühlsmäßig mit dem ersten<br />

Verlassen des Elternhauses gleichzusetzen. Gefühle der Einsamkeit, der Angst<br />

und der Unsicherheit befallen die Partner. Wird die neue Selbstfindung gelingen?<br />

Partner, die den Schritt der Trennung zuerst erwogen haben, sind auf<br />

diesen Schritt besser vorbereitet, weil sie sich innerlich länger damit auseinandergesetzt<br />

haben. Der andere Partner muss sich oft unvorbereitet der räumlichen<br />

Trennung stellen. Wer die Trennung zuerst vollzieht, dessen Selbstwert<br />

wird weniger bedroht. Andererseits ruft der erste Schritt Gefühle der Schuld<br />

und des Versagens hervor, die leicht in Ärger und Wut (auch gegen sich<br />

selbst) umschlagen. Die Schuldgefühle kommen aus zwei Richtungen: die<br />

Trennung fügt dem Partner und den Kindern Schmerzen zu; die Trennung<br />

führt zur Wut über die Unfähigkeit, die Probleme zu lösen und die Beziehung<br />

zu retten und zur Wut darüber, an der Ehe gescheitert zu sein.<br />

Die Einsamkeit nach der Trennung ist an Intensität bedeutend höher <strong>als</strong> die<br />

emotionale Einsamkeit in der Ehe. Die Überwindung dieser Einsamkeit ist ein<br />

wichtiger Schritt im Scheidungsprozess.<br />

Die Angst und Furcht vor der Einsamkeit haben drei Ursachen:<br />

- die Unsicherheit, wie das soziale Umfeld auf die Trennung reagiert<br />

und die Ungewissheit, ob das neue Leben alleine gelingt<br />

87


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

- die ungeklärte Frage, ob der Wegfall alter Sicherheiten, Gewohnheiten<br />

und Routinen aufgefangen werden kann<br />

- die Anforderung, sich selbst neu zu finden und ein neues, zufriedenstellendes<br />

Leben aufzubauen.<br />

Die Bearbeitung dieser Ängste ist eine unabdingbare Grundlage für ein weiteres<br />

Wachstum.<br />

Trauer<br />

Der Trauerprozess ist die Verarbeitung von Gefühlen der Wut, des Schmerzes,<br />

der Verletztheit, der Einsamkeit und der Hilflosigkeit. Dieser Prozess befreit<br />

von der psychologischen und gedanklichen Abhängigkeit vom ehemaligen<br />

Partner. In dieser Phase müssen sich die Ursachen für die Trauergefühle<br />

von der Vergangenheit in die Gegenwart verlagern. Die Suche nach Fehlern<br />

des Partners aus der Vergangenheit führen zu einem zerstörerischen Ärger.<br />

Wut und Ärger, die aus der gegenwärtigen Situation entstehen (Frustrationen<br />

aus der eigenen Lage, aus aktuellen Konflikten des Besuchs- und Sorgerechts<br />

etc.) sind heilsam und konstruktiv. Werden Ärger und Wut nach innen gerichtet,<br />

führen sie zu Niedergeschlagenheit und anhaltender, lähmender Trauer.<br />

Die Herausforderungen dieser Phase lauten: Vom zerstörerischen zum aufbauenden<br />

Ärger, von der Niedergeschlagenheit zur befreienden Verarbeitung der<br />

Trauer. Die Annahme dieser Herausforderungen legen einen wichtigen Grundstein<br />

für einen gelungen Scheidungsprozess.<br />

Zweite Jugend<br />

Nach Überwindung der Trauerphase entwickelt sich eine neue Freiheit. Der<br />

Blick in die Vergangenheit wird objektiver. Gegenwart und Zukunft werden<br />

jetzt aktiv gestaltet. Gelegentliche gefühlsmäßige Ausrutscher weichen einer<br />

ausgewogenen Stimmung. Dem Wunsch, vergangene Entbehrungen nachzuholen,<br />

wird Raum gegeben. Er steht in einer gesunden Spannung zur Furcht vor<br />

dem Verlust des eigenen Selbst.<br />

Eroberung<br />

Die Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit hat zugenommen. Die sozialen<br />

Beziehungen werden aus einer inneren Stärke heraus gestaltet. Das neue<br />

Selbstbewusstsein hat sich gefestigt. Der Scheidungsprozess wird sowohl <strong>als</strong><br />

ein schmerzhafter Prozess <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> ein gelungener Weg zu einem neuen<br />

Leben gesehen.<br />

88


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Durch Kessler haben wir einen tiefen Einblick in den psychologischen Prozess<br />

der Scheidung gewonnen. Sie gibt uns aber nur wenige Einblicke in die<br />

sozialen Folgen der Scheidung.<br />

Modell 4: Ein Entwicklungsmodell nach Smart 4<br />

Smart beschreibt den Scheidungsprozess anhand des Persönlichkeitsentwicklungsmodells<br />

nach Erikson. Eriksons Modell beschreibt in aufeinander folgenden<br />

Entwicklungsstufen die Haltungen sich selbst und anderen gegenüber. Auf<br />

jeder Stufe steht ein bestimmter Konflikt zur Bearbeitung an. Obwohl er nie<br />

vollständig gelöst wird, muss er doch hinreichend bearbeitet sein, um die Konflikte<br />

der nächsten Stufen erfolgreich zu bewältigen. Jeder Konflikt stellt dabei<br />

eine Entscheidung zwischen Fortschritt und Rückschritt dar. Eine gelungene<br />

Lösung überdauert aber nicht das ganze Leben. In späteren Krisen - wie im<br />

Scheidungsprozess – kann die Person in frühere Entwicklungsstufen zurückfallen,<br />

um dort Entwicklungen nachzuholen. Je tiefer die Krise ist, um so stärker<br />

und intensiver ist die Regression. Smart wendet dieses Entwicklungsmodell<br />

auf die Scheidungskrise an und zeigt, wie die Betroffenen im Scheidungsprozess<br />

in alle Stufen zurückfallen können.<br />

Zwischen Vertrauen und Misstrauen<br />

In der frühen Beziehung der Mutter sucht das Kind seinen Platz zwischen<br />

Vertrauen und Nähe sowie Misstrauen und Distanz zu anderen Menschen. Es<br />

entwickelt ein Urvertrauen. Durch die Erschütterung des Vertrauensverhältnisses<br />

im Scheidungsgeschehen werden die Partner gezwungen, ihr Urvertrauen<br />

neu zu definieren. Diese Neubestimmung entscheidet über die Qualität zukünftiger<br />

Beziehungen. Eine gelungene Lösung führt zu Hoffnung.<br />

Zwischen Eigenständigkeit und Selbstzweifel/Scham<br />

Eigenständigkeit wird durch die freie Wahl zwischen Alternativen ermöglicht.<br />

Wird diese Wahlfreiheit eingeengt, entstehen Selbstzweifel und Scham.<br />

Abhängigkeit und Kontrolle durch andere fördern den Selbstzweifel. Manche<br />

nehmen ihre Selbstzweifel mit in die Ehe und übertragen die Abhängigkeit<br />

von den Eltern auf den Partner. Andere fühlen sich in der Ehe wie in einer<br />

4<br />

L. S. Smart, An Application of Erikson´s Theory to the Recovery-from-Divorce Process,<br />

zitiert in J. Guttmann. Divorce in Psychosocial Perspective: Theory and Research, 1993,<br />

Hillsdale, New Jersey, S. 44 – 50.<br />

89


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Falle, die ihnen keine Freiheiten ermöglicht. Andere benutzen die Ehe, um<br />

über den Partner Kontrolle auszuüben.<br />

Durch die Scheidung werden die Betroffenen gezwungen, ihr Verhältnis von<br />

Eigenständigkeit und Selbstzweifel in der Beziehung zu anderen Menschen<br />

neu zu bestimmen. Das Selbstbewusstsein, ein neues Leben aus eigener Kraft<br />

gestalten zu können und die Zweifel, der neuen Situation nicht gewachsen zu<br />

sein, wechseln einander ab. Eine gelungene Lösung stärkt den Willen.<br />

Zwischen Eigeninitiative und Schuld<br />

In dieser Stufe entdecken Kinder ihre Stellung in ihrer Umwelt. Sie messen<br />

ihre körperlichen Kräfte und erobern neue Welten. Vieles ist von einer „Antihaltung“<br />

geprägt, um die eigene Position zu finden. Schuld in Form von nach<br />

innen gerichtetem Ärger entsteht, wenn diese Versuche fehlschlagen oder behindert<br />

werden. Sie können in Zwanghaftigkeit münden. Im Scheidungsprozess<br />

kommt es darauf an, sowohl verborgene Kräfte neu zu entdecken und sich<br />

durch Eigeninitiative mit dem neuen Leben und dessen Herausforderungen zu<br />

messen <strong>als</strong> auch das Scheitern dieser Versuche zu verarbeiten. Eine gelungene<br />

Lösung führt dazu, dass die Betroffenen wieder Absichten verfolgen.<br />

Zwischen Leistung und Minderwertigkeit<br />

Der Heranwachsende erfährt die Bedeutung von Leistung und Anstrengung<br />

für sein Selbstwertgefühl. Können Schwierigkeiten durch eigene Anstrengungen<br />

überwunden werden? Wer sich für schwach hält, erlebt sich auf Dauer <strong>als</strong><br />

zur Mittelmäßigkeit verdammt. Erlittene Verletzungen in der Ehe und ein angeknackstes<br />

Selbstbewusstsein durch das Trennungsgeschehen im Scheidungsprozess<br />

bringen erneut die Frage ins Spiel, ob man durch Fleiß und Anstrengung<br />

seine Situation verändern kann oder unfähig ist, das Leben zu beeinflussen.<br />

Eine gelungene Lösung führt zu Kompetenz.<br />

Zwischen Identität und Rollenunsicherheit<br />

Die Suche nach einer neuen und mit sich selbst stimmigen Identität ist die<br />

größte Anforderung in der Pubertät, bringt die größten Unsicherheiten bezüglich<br />

der eigenen Rolle mit sich und ist auch eine der größten Herausforderungen<br />

im Scheidungsprozess. Die Scheidung erschüttert das Selbstbild und führt<br />

in die Stufe der Identitätsfindung (Pubertät) zurück. Alte Selbstkonzepte werden<br />

durch die neue Situation in Frage gestellt und führen zu Rollenkonflikten.<br />

Die erneute Auseinandersetzung mit der persönlichen, sozialen, sexuellen und<br />

beruflichen Identität fordert heraus. Eine gelungene Lösung befähigt zu Treue.<br />

90


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Zwischen Intimität und Isolierung<br />

Der junge Erwachsene geht intime und verlässliche Beziehungen und Partnerschaften<br />

ein, in denen er sich zu behaupten und selber einzuschränken lernt.<br />

Die andere Seite ist die Abgrenzung gegenüber Menschen, um die eigene<br />

Freiheit und Identität zu bewahren. Dies kann im Extremfall zu tiefer Einsamkeit<br />

führen. Im Scheidungsprozess durchlebt der Betroffene emotionale Ablehnung<br />

und körperliche Distanz. Freunde lassen ihn alleine oder lehnen ihn<br />

ab. Er geht neue intime und verlässliche Beziehungen ein. In anderen Situationen<br />

entscheidet er sich für förmlichere Beziehungen. Eine gelungene Lösung<br />

führt zu Liebe.<br />

Zwischen Wachstum und Stagnation<br />

Wachstum bedeutet beides: Furcht, Frustrationen und Risiko, aber auch A-<br />

benteuer, Befreiung und Fortschritt. Daraus erwächst die Möglichkeit zu Produktivität<br />

einerseits und Fürsorge andererseits. In Beziehungen wägen Menschen<br />

ab, welchen Preis sie für Veränderungen bezahlen wollen. Sie durchdenken<br />

den möglichen Gewinn oder Verlust einer Veränderung und müssen<br />

das Leben neu gestalten. Auch im Scheidungsprozess wägen die Partner den<br />

Gewinn oder Verlust ihrer Handlungen ab. Eine gelungene Lösung befähigt<br />

zu Fürsorge.<br />

Zwischen Ichstärke und Verzweiflung<br />

Hier erntet der Mensch die Frucht der früheren Phasen. Er hat seine emotionale<br />

Identität gefunden. Ichstärke ist die Fähigkeit, die Möglichkeiten und<br />

Schwierigkeiten des Alltags für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu<br />

nutzen. Verzweiflung ist das Gefühl, zu wenig Zeit, Energie, Möglichkeiten<br />

und Fähigkeiten zu haben, um ein befriedigendes Leben zu gestalten. Ichstarke<br />

Menschen lassen sich durch die Emotionen der Vergangenheit nicht daran<br />

hindern, die Chancen und Risiken in der Gegenwart offen zu nutzen. Eine gelungene<br />

Lösung führt zu Weisheit.<br />

Smart ermöglicht ein differenziertes Verständnis der emotionalen Konflikte<br />

und Reaktionen. Er gibt aber nur wenig Auskunft über die sozialen Reaktionen<br />

der Partner zueinander und der Umwelt zum Paar.<br />

91


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Modell 5: Das psychosoziale Modell der Scheidung nach Guttmann 5<br />

Nach Guttmann beginnt der Scheidungsprozess mit einer Ehekrise und ist<br />

abgeschlossen, wenn<br />

- die Vorteile der neuen Lebenssituation im Vergleich zu den Vorteilen<br />

der ehemaligen Ehesituation höher sind<br />

- die Betroffenen ihre Zufriedenheit aus festen und beständigen Grundlagen<br />

erhalten<br />

- das Verhalten dem ehemaligen Partner und den gemeinsamen Kindern<br />

gegenüber den eigenen beständigen Werten und Einflüssen entspricht.<br />

Der Scheidungsprozess verläuft in vier Stufen: entscheiden, trennen, auseinandersetzen<br />

und gewinnen.<br />

Entscheiden<br />

Die zwei größten Herausforderungen in einer Ehe bestehen in der befriedigenden<br />

Klärung der unterschiedlichen Erwartungen an die Ehe, an den Partner<br />

und sich selber sowie darin, den Freiraum für ein persönliches Wachstum zu<br />

behalten. Wunsch und Realität führen zu Spannungen und Konflikten. Bleibt<br />

die Spannung für beide Partner auf einem erträglichen Niveau, kann Ehe gelingen.<br />

Finden die Partner oder ein Partner keinen Weg, diese Spannung angemessen<br />

zu verringern, kommen die ersten Gedanken an eine Trennung. Die<br />

weiteren Konsequenzen hängen davon ab,<br />

- wie hoch die Partner ihre emotionalen und sozialen Ressourcen zur<br />

Klärung der Krise einschätzen<br />

- wie hoch die emotionale und soziale Bedeutung der Ehe eingeschätzt<br />

wird<br />

- und wie stark die emotionalen und sozialen Barrieren eingeschätzt<br />

werden, die eine Scheidung mit sich bringen.<br />

Persönliche und soziale Ressourcen<br />

Ressourcen sind die Kräfte und Möglichkeiten, auf die ein Mensch in einer<br />

bestimmten Situation zurückgreifen kann. Je mehr Ressourcen zur Verfügung<br />

stehen, desto weniger wird eine stressige Situation <strong>als</strong> Krise empfunden.<br />

5<br />

J. Guttmann, Divorce in Psychosocial Perspective: Theory and Research, 1993, Hillsdale,<br />

New Jersey,S.51-81.<br />

92


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Persönliche Ressourcen liegen in der Person selbst. Zu ihnen gehören:<br />

- finanzielle Zufriedenheit<br />

- die kognitive Fähigkeit, die Situation und die Ressourcen zur Überwindung<br />

angemessen einzuschätzen<br />

- die körperliche Gesundheit und das körperliche Wohlbefinden<br />

- die psychologischen Voraussetzungen wie Persönlichkeit und Charakter.<br />

Soziale Ressourcen werden durch Freunde, Nachbarschaft, nahe Familienangehörige<br />

und Verwandtschaft geprägt.<br />

Die Bewertung der persönlichen und sozialen Ressourcen kann in unterschiedlichen<br />

Lebenslagen und zu unterschiedlichen Zeiten ganz verschieden<br />

ausfallen. Wie hoch die Ressourcen wirklich sind, zeigt sich erst in der konkreten<br />

Krise.<br />

Partner, die ihre Ressourcen hoch einschätzen, lassen sich eher auf den Prozess<br />

der Scheidung ein. Trotzdem vollziehen Partner, die ihre Ressourcen gering<br />

einschätzen, häufig den ersten sichtbaren Schritt (räumliche Trennung,<br />

Mitnahme der Kinder, Ausräumen der Wohnung) der Scheidung. Vermutlich<br />

wollen sie ihre Ressourcen nicht noch weiter schwächen.<br />

Psychologische und soziale Attraktionen und Barrieren<br />

Neben der Einschätzung ihrer persönlichen und sozialen Ressourcen werfen<br />

die Betroffenen auch die Attraktionen und Barrieren der Ehe sowie die Attraktionen<br />

und Barrieren der denkbaren Alternativen in die Waagschale.<br />

Wenn die Barrieren in der Ehe höher sind <strong>als</strong> deren Attraktionen und/oder<br />

die Attraktionen einer Alternative höher sind <strong>als</strong> deren Barrieren, dann erhöht<br />

sich die Scheidungswilligkeit. Eine Trennung kann attraktiv sein, weil die Alternative<br />

mehr persönliche Freiheit, eine höhere sexuelle Erfüllung, mehr finanziellen<br />

Spielraum oder mehr soziale Kontakte ermöglicht. Zu den Barrieren<br />

der Alternative gehören u.a. religiöse Ansichten, Verpflichtungen gegenüber<br />

den Kindern oder dem Partner, Kosten der Scheidung, Druck durch Verwandtschaft,<br />

Freunde oder Familie. Gleichen sich die Attraktionen und Barrieren der<br />

Ehe und der Alternativen für die Betroffenen einigermaßen aus, können unglückliche<br />

Menschen eine stabile Ehe führen.<br />

Untersuchungen von Albrecht und Kunz (1980) ergaben, dass die stärksten<br />

Barrieren, die gegen eine Trennung sprechen, finanzielle Sicherheit (stärker<br />

bei Frauen), Sorge um die Kinder (stärker bei Männern) und religiöse Überzeugungen<br />

sind. Als die schlimmsten Folgen bei einer Fortsetzung der Ehe<br />

zeigen sich: verletzt zu werden, wenn der andere Partner zuerst geht, körper-<br />

93


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

lich missbraucht zu werden, nicht mehr geliebt zu werden, finanzielle Unsicherheit<br />

und emotionale Beschwerden. Barrieren, die eine Trennung verhindern,<br />

werden abgebaut, wenn eine alternative finanzielle Absicherung möglich<br />

ist, eine alternative Liebesbeziehung entsteht und sich neue Quellen der emotionalen<br />

und sexuellen Wertschätzung eröffnen.<br />

Wird die Spannung für einen Partner zu groß und will er den sichtbaren<br />

Schritt der Trennung nicht <strong>als</strong> erster gehen, kann er den anderen Partner so<br />

manipulieren, dass der die sichtbare Trennung vollzieht:<br />

- der Partner wird so behandelt, dass er die Entscheidung für eine<br />

Trennung trifft<br />

- der Partner überbietet das Verhalten (Fremdgehen) des anderen so,<br />

dass der andere Partner die Scheidung vollzieht.<br />

Weil in beiden Fällen der andere Partner den ersten Schritt geht, kann der<br />

manipulierende Partner das Scheitern der Beziehung dem anderen zuschreiben<br />

und damit seinen Überzeugungen treu bleiben. In der Regel fällt es Partnern<br />

jedoch „leichter“ zu gehen <strong>als</strong> im Stich gelassen zu werden. In dieser Phase<br />

kann eine entscheidende Wende eintreten, wenn sich das Verhalten und die<br />

Einstellungen zueinander und zur Ehe so verändern, dass die Attraktionen und<br />

Barrieren der Ehe die der möglichen Alternativen übersteigen. In den meisten<br />

Fällen erreichen die Partner den Punkt „of no return“ zu unterschiedlichen<br />

Zeitpunkten.<br />

Hat ein Partner diesen Punkt überschritten, ist eine Eheberatung selten erfolgreich.<br />

Trennen<br />

Die wenigsten Paare entscheiden gemeinsam über den Zeitpunkt der Trennung.<br />

Obwohl Frauen sich eher für eine Trennung entscheiden, gehen Männer<br />

häufiger <strong>als</strong> erste den sichtbaren Schritt der Trennung. Die Phase der Trennung<br />

ist der traumatischste Schritt im Scheidungsprozess. Er gleicht dem Verlassen<br />

des Elternhauses.<br />

Die Trennung wird vom aktiven und passiven Partner unterschiedlich verarbeitet.<br />

Wer die räumliche Trennung einleitet, hat sich gedanklich und emotional<br />

länger auf die Trennung vorbereiten können. Deshalb fühlt sich dieser<br />

Partner stärker. Andererseits leiden die Initiatoren der Scheidung stärker unter<br />

Schuldgefühlen und erleben stärkere Ängste. Diese Gefühle sind jedoch<br />

„leichter“ zu verarbeiten <strong>als</strong> die Gefühle von Wut und Ärger, die vom verlassenen<br />

Partner durch das Trauma der Ablehnung durch den Partner und den<br />

Verlust der Achtung und Wertschätzung durch den Partner entstehen. Beide<br />

94


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Partner gehen durch ein dunkles Tal, in dem sie für den anderen keine Bedeutung<br />

mehr zu haben scheinen und trotzdem noch viele Angelegenheiten mit<br />

ihm verhandeln müssen.<br />

Persönliche und soziale Ressourcen<br />

In der Ehe werden viele Ressourcen miteinander geteilt: finanzieller Reichtum,<br />

Haushaltsgegenstände, gemeinsamer Besitz, Freunde, Verwandte und<br />

Kinder. Auch sie prägen die Bedeutung der Ehe. Bei der Trennung möchte<br />

jeder so viel wie möglich behalten. Es gibt ja schon genügend andere Verluste,<br />

die verkraftet werden müssen. Besonders hart sind die Anforderungen an Mütter,<br />

die für die Erziehung der Kinder und für die finanzielle Versorgung Verantwortung<br />

tragen. Die meisten Paare trennen sich ohne die hundertprozentige<br />

Sicherheit, ob der Schritt nur vorübergehend oder endgültig ist. Je erfolgreicher<br />

der andere Partner die neuen Herausforderungen meistert, desto sicherer<br />

wird der beobachtende Partner, dass die Trennung endgültig ist. Die eigene<br />

Unsicherheit kombiniert sich mit der Reaktion der Umwelt.<br />

Soziale und psychologische Attraktionen und Barrieren<br />

Beim Entschluss zur Trennung mögen die persönlichen und sozialen Ressourcen<br />

stärker eingeschätzt worden sein <strong>als</strong> die zu erwartenden Schwierigkeiten<br />

der Alternative. Die Erlebnisse nach der Trennung werfen die Frage auf,<br />

ob die Entscheidung „richtig“ war. Eine Frau mag erhofft haben, dass die persönliche<br />

Freiheit <strong>als</strong> Single größer sein würde <strong>als</strong> die persönliche Freiheit in<br />

der Ehe. Ein Mann mag die Reaktion der Kinder auf die Trennung unterschätzt<br />

haben und leidet nun unter den Folgen, die er verursacht hat. Die kognitive<br />

und emotionale Abwägung zwischen Ehe und Alternative werden neu entfacht.<br />

Die Attraktionen und Barrieren der Ehe und der Alternativen werden<br />

neu bewertet. Vielleicht werden die Erwartungen an die Ehe auch zurückgeschraubt.<br />

Diese Erfahrung kann Paare in die Ehe zurückführen. Manche von<br />

ihnen sind sich allerdings nach kurzer Zeit um so sicherer, dass eine Trennung<br />

die einzige Alternative ist.<br />

Kampf<br />

Die Gefühle der Wut, des Ärgers und des Verlassenseins treten auch in dieser<br />

Phase - zeitweise sehr intensiv - auf. Die neue Situation und die noch nicht<br />

gefestigten neuen Gewohnheiten verunsichern immer noch. Den größten<br />

Stress bereitet nun die endgültige Klärung der gegenseitigen Verpflichtungen<br />

finanzieller Art, das Sorge- und Besuchsrecht sowie der Vollzug der gesetzli-<br />

95


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

chen Scheidung. Eine empfundene Abhängigkeit vom Anwalt mindert die erhoffte<br />

Selbstsicherheit. Hinzu kommen die noch nicht gefestigten veränderten<br />

sozialen Beziehungen zur Verwandtschaft, den Freunden und der Nachbarschaft.<br />

Die Angst vor dem erneuten Verlust von Beziehungen geht ständig mit.<br />

Der Verlust des Status <strong>als</strong> „Verheirateter“ trägt zur Niedergeschlagenheit bei.<br />

Phantasien über eine mögliche erfolgreiche Rückkehr in die Ehe treten auf.<br />

Singles haben eine eigene Kultur und Lebensform. Als Geschiedener muss die<br />

neue Lebensart erlernt werden, die verunsichert, die aber auch eine neue<br />

Chance in sich birgt. Obwohl Scheidung in der Gesellschaft immer mehr akzeptiert<br />

wird, wird dennoch der Charakter der Geschiedenen mehr oder weniger<br />

deutlich hinterfragt.<br />

Die Veränderung der Elternrolle<br />

Jeder Elternteil nimmt nach der Trennung den Kindern gegenüber eine neue<br />

Rolle ein. Durch das Sorge- und Besuchsrecht wird die Beziehungen zu den<br />

Kindern und zwischen den Elternteilen neu definiert. Der Partner, bei dem die<br />

Kinder bleiben, erlebt die Kinder <strong>als</strong> einen wichtigen stabilisierenden Halt.<br />

Trotzdem erlebt dieser Elternteil in der neuen Rolle auch Stress, Verletzlichkeit,<br />

Niedergeschlagenheit und Ärger. Am Ende dieser Phase sollte es gelungen<br />

sein,<br />

- die finanziellen Kosten der Scheidung um der Kinder willen so gering<br />

wie möglich zu halten<br />

- sich selbst wieder ganzheitlich gefunden zu haben<br />

- ein inneres gefühlsmäßiges und gedankliches Gleichgewicht zurückgewonnen<br />

zu haben.<br />

Gewonnen<br />

Das psychosoziale Modell nennt vier Bereiche, in denen eine Anpassung an<br />

das neue Leben gelingen muss:<br />

- die alten persönlichen und sozialen Ressourcen müssen wiederentdeckt<br />

und neue Ressourcen hinzugewonnen wurden, durch die ein<br />

eigenständiges Leben möglich ist,<br />

- eine innere Stimmigkeit muss zwischen Denken, Fühlen und Handeln<br />

erreicht werden,<br />

- neuen Verhaltensmuster müssen die Kontrolle über das neue Leben<br />

ermöglichen,<br />

- Selbstannahme und persönliches Wachstum müssen sich weiterentwickeln.<br />

96


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Der Scheidungsprozess <strong>als</strong> Krise löst Wachstum aus. „Gewonnen“ hat die<br />

Person dann, wenn sie nach der Krise (durch Anstrengung, Arbeit und Kampf)<br />

stärker und besser lebt <strong>als</strong> vorher. Gemessen werden kann dieser Erfolg in vier<br />

Bereichen:<br />

- alte und neue Ressourcen sind aktiviert<br />

- die Belohnung der Scheidung ist höher <strong>als</strong> deren Kosten<br />

- die alten und neuen Ressourcen sind an stabile Grundmuster gebunden<br />

- das Verhalten den Kindern und dem ehemaligen Partner gegenüber<br />

stimmt mit den eigenen Erwartungen an das eigene Verhalten überein.<br />

Persönliche und soziale Ressourcen<br />

Je mehr Ressourcen der Partner besitzt, verstärkt oder entwickelt, desto höher<br />

sind die Belohnungen und desto günstiger fällt der Kosten-Nutzen Vergleich<br />

aus. Dabei spielen folgende Faktoren eine Rolle:<br />

- je besser die finanzielle Situation, desto besser gelingt die Anpassung<br />

an das neue Leben;<br />

- der Bildungsstand steht in einem Zusammenhang mit einem positiven<br />

Rollenwechsel vom Verheirateten zum Single, mit der Einstellung<br />

zu den Geschlechterrollen und mit der Bereitschaft, therapeutische<br />

Hilfe zu beanspruchen;<br />

- gesellschaftliche Kontakte - wobei nicht klar ist, ob gute Kontakte<br />

die Situation verbessern oder die verbesserte Situation neue stärkende<br />

Kontakte ermöglicht.<br />

Psychologische und soziale Attraktionen und Barrieren<br />

Die Attraktionen und Barrieren richten sich in dieser Phase auf die Gegenwart<br />

und Zukunft - auf das neue Leben <strong>als</strong> Single oder in einer neuen Partnerschaft.<br />

Eine erneute Partnerschaft kann zwei Zielen dienen:<br />

- den Prozess der Scheidung zu bewältigen<br />

- aus der „Gewinnerposition“ heraus einen neuen Wachstumsprozess<br />

zu beginnen.<br />

Eine Partnerschaft zur besseren Bewältigung der eigenen Scheidung belastet<br />

die neue Beziehung durch unaufgearbeitete Gefühls-, Denk-, Verhaltens- und<br />

Abhängigkeitsmuster. Gewinnen kann, wer die eigenen Muster erkannt hat,<br />

die zur Scheidung führten und fördernde Veränderungen vorgenommen hat.<br />

97


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Zuordnung und kognitive Stimmigkeit<br />

Die Qualität des neuen Lebens hängt entscheidend davon ab, wie die geschiedene<br />

Person die eigene Rolle im Scheidungsprozess in der Rückschau<br />

deutet. Es kommt darauf an gelernt zu haben, was schwierig war und warum<br />

es schwierig war. In diesem Prozess kommt es zum Wechsel zwischen Beschuldigungen<br />

und Verurteilungen - der eigenen Person und der des Partners<br />

oder auch Dritter - und einer gereiften Interpretation der Krise. Die neue Verantwortlichkeit<br />

ist nicht mehr eine Reaktion auf Umstände, sondern ein wachstumsförderndes<br />

Agieren aus einer inneren Stärke, die mit den neuen Gedanken-<br />

und Gefühlsmustern übereinstimmt. Aus der traumatischen Erfahrung der<br />

Scheidung ist durch Anstrengung und Kraft eine Quelle des persönlichen<br />

Wachstums geworden.<br />

Abschlussbemerkungen<br />

In all diesen Modellen wird die Bedeutung der religiösen Einstellungen der<br />

Betroffenen, ihre Beziehung zur Kirche und den Pastoren nur am Rande erwähnt.<br />

Deshalb sind die Forschungsergebnisse von Erben (Glaubensreife) und<br />

die Ergebnisse der DJI-Studie (Beobachtungen...) stärker in das Verständnis<br />

der psychologischen und sozialen Scheidungsfolgen einzubeziehen.<br />

Im Scheidungsfall wird ein Christ die gleichen traumatischen Erfahrungen<br />

machen wie jeder andere. Auch er wird sich dieser Krise aussetzen müssen,<br />

um durch Anstrengung, Kraft und Ausdauer seine Wachstumspotentiale für<br />

ein neues Leben zu nutzen. Seine persönliche Krise ist jedoch gleichzeitig eine<br />

Glaubenskrise. Gerade durch die Betonung der kirchlichen Trauung <strong>als</strong> Ehebund<br />

unter dem Schutz Gottes und in der Gegenwart der Gemeinde <strong>als</strong> Leib<br />

Christi bindet er seine Erwartungen und Hoffnungen an eine Macht, die über<br />

ihn selbst und seinen Partner hinausgeht. Eine Krise in der Ehe muss dann<br />

auch nach der größeren Macht und deren Unterstützung fragen.<br />

Einerseits wird er Kraft, Ermutigung, Trost, Hilfe und Wunder von Gott erfahren.<br />

Andererseits wird er auch von seinem Gottesbild, seinem eigenen<br />

Glauben und dem Glauben des Partners sowie von seinem christlichen Eheverständnis<br />

bitter enttäuscht werden. Die Lebenskrise ist insofern gleichzeitig<br />

eine Glaubenskrise, in der die Attraktionen und Barrieren des bisherigen<br />

Glaubens neu bewertet werden. Auch der Leib Christi, die Gemeinde wird ihm<br />

beides vermitteln: Annahme, Unterstützung und Hilfe sowie Unverständnis,<br />

Ablehnung und Kritik. Die Attraktionen und Barrieren der Gemeindezugehörigkeit<br />

werden in der Scheidungskrise neu bewertet und geordnet.<br />

98


VAN TREECK: SCHEIDUNGSPROZESS<br />

Die Arbeit, der Kampf, die Anstrengung zur Bewältigung der Scheidungskrise<br />

kommen auch auf einen Christen zu. Der Glaube und die daraus erwachsene<br />

Kraft entbinden nicht davon, sondern befreien und ermutigen zum Handeln<br />

und Wachsen. Gebet, Glaube und Vergebung erhalten eine neue Tiefe,<br />

die zuerst und alleine von Gott geschenkt wird und vom Menschen ins Glaubens-<br />

und Alltagsleben übertragen werden muss.<br />

Gewonnen hat der Mensch, wenn<br />

- alte und neue persönliche und soziale Ressourcen aktiviert sind<br />

- alte und neue religiöse Überzeugungen bereitstehen<br />

- die Lebenskrise sinnvoll in das Glaubensleben und Gemeindeleben<br />

integriert ist<br />

- die Belohnung der Scheidung höher ist <strong>als</strong> die Kosten<br />

- die alten und neuen Ressourcen an stabile Glaubens- und Lebensgrundmuster<br />

gebunden sind<br />

- das Verhalten den Kindern und dem ehemaligen Partner gegenüber<br />

mit den eigenen Erwartungen an das eigene Verhalten übereinstimmen.<br />

Literatur:<br />

A. J. Cherlin, Marriage, Divorce, Remarriage, Harvard University Press, Cambridge, 1992.<br />

E. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Klett – Cotta, Stuttgart, 1982.<br />

J. Guttmann, Divorce in Psychosocial Perspective: Theory and Research, Lawrence Erlbaum<br />

Associates Publishers, Hillsdale, New Jersey, 1993.<br />

H. Meyer, Sexualität und Bindung, Beltz, Weinheim, 1994.<br />

L. Yeagley, Herzweh ist heilbar, Grindeldruck, Hamburg, 1997.<br />

G. C. Kitson, W. Holmes, Portrait of Divorce, The Guilford Press, New York, 1992.<br />

J. S. Wallenstein, Men, Women and Children a Decade After Divorce, Ticknor and Fields,<br />

New York, 1982. 1992.<br />

99


Eine Untersuchung zur Glaubensreife<br />

geschiedener Christen in drei konservativen<br />

protestantischen Kirchen in den USA<br />

Andreas Erben<br />

Geschiedene Christen sind auch in konservativen protestantischen Kirchen<br />

keine Seltenheit (Kosmin & Lachman, 1993; Erben, 1997). Über religiöse Einstellungen<br />

und Praktiken geschiedener Christen gibt es jedoch bislang nur wenig<br />

Informationen. Staff (1974) gibt in seiner qualitativen Studie an, dass 6 von<br />

9 geschiedenen Müttern erlebten, dass ihr Glaube durch die Scheidungserfahrung<br />

gestärkt wurde. Barna (1993a) berichtet, dass sich geschiedene Menschen<br />

in den USA in ihren religiösen Überzeugungen und privaten religiösen Praktiken<br />

kaum von Verheirateten unterschieden. Barna (1993b) zeigt, dass 12% der<br />

Verheirateten, die Kirchgänger sind, sagen, dass sie wahrscheinlich zu einer<br />

anderen Kirche wechseln wollen, während 35% der geschiedenen Kirchgänger<br />

diese Aussage machen. Seligman (1991) berichtet, dass Kinder geschiedener<br />

Eltern häufiger erleben, dass ein Elternteil seine Religionszugehörigkeit wechselt,<br />

<strong>als</strong> es bei Kindern aus intakten Ehen der Fall ist.<br />

Die gegenwärtige Studie soll helfen, einen besseren Einblick in das religiöse<br />

Leben geschiedener Christen in konservativen protestantischen Kirchen zu gewinnen.<br />

Erstens soll untersucht werden, ob die Glaubensreife geschiedener<br />

Christen in verschiedenen protestantischen Kirchen unterschiedlich ausgeprägt<br />

ist. Zweitens wird vermutet, dass ein Zusammenhang zwischen dem Gruppenstatus<br />

der Religionszugehörigkeit (Kontinuierliche Religionszugehörigkeit,<br />

Wechsel der Religionszugehörigkeit, Neues Mitglied) und der Stärke der Glaubensreife<br />

besteht. Da der Wechsel zu einer anderen christlichen Kirche oder die<br />

Zuwendung zu einer christlichen Kirche überhaupt von einem Wachstum an<br />

Glaubensreife begleitet sein müsste, wird erwartet, dass die Glaubensreife der<br />

Wechsler und der neuen Mitglieder größer ist <strong>als</strong> die Glaubensreife der Nichtwechsler.<br />

Drittens wird vermutet, dass ein Zusammenhang zwischen dem<br />

Gruppenstatus der Religionszugehörigkeit und dem Glaubensreifeverlauf besteht.<br />

Unter Glaubensreifeverlauf wird eine Änderung der Glaubensreife verstanden,<br />

die entweder gleich bleiben oder geringer oder stärker werden kann.<br />

101


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Viertens soll versucht werden, empirisch ein Modell zu entwickeln, dass mögliche<br />

Einflüsse auf die Glaubensreife geschiedener Christen darstellt. Wohl jeder<br />

Pastor möchte die Glaubensreife aller Gemeindeglieder fördern, <strong>als</strong>o auch die<br />

Glaubensreife geschiedener Christen. Es soll untersucht werden, welche Faktoren<br />

ihre Glaubensreife beeinflussen könnten. Die Kenntnis dieser Faktoren<br />

könnte es erleichtern, positiv auf die Glaubensreife Geschiedener Einfluss zu<br />

nehmen.<br />

Das auf Grund von theoretischen Erwägungen entwickelte Modell zeigt mögliche<br />

Einflüsse auf die Glaubensreife geschiedener Christen. Fünf Elemente<br />

werden im Modell berücksichtigt: Selbstwertgefühl, die persönliche Haltung zu<br />

den Scheidungsproblemen, Teilnahme am Gemeindeleben, der Pastor <strong>als</strong> Seelsorger<br />

und die Haltung der Gemeinde zur geschiedenen Person.<br />

Das Selbstwertgefühl wird <strong>als</strong> etwas Grundlegendes gesehen, wenn es um die<br />

Entwicklung von Glaubensreife geht. Wer eine positive Haltung zu sich selbst<br />

hat, ist wohl auch aufgeschlossener für das Leben außerhalb von sich selbst,<br />

<strong>als</strong>o auch für Gott. Hood, Spilka, Hunsberger und Gorsuch (1996, S. 384)<br />

schreiben, dass „a solid intrinsic religious commitment and favorable images of<br />

God are positively associated with self-esteem“ 1 . Weil Glaube vermutlich<br />

wächst, wenn er auf aktuelle Lebensprobleme bezogen wird, wurde <strong>als</strong> zweites<br />

Element persönliche Strategien im Umgang mit der Ehescheidung ausgewählt.<br />

Das dritte Element ist die Teilnahme am Gemeindeleben. Die aktive Teilnahme<br />

am Gemeindeleben ist ein wichtiges Anwendungsfeld für einen dynamischen,<br />

lebensbezogenen Glauben. Wer seinen Glauben aktiv im christlichen Kontext<br />

ausdrückt, könnte damit seinen Glauben stärken.<br />

Da Pastoren in konservativen protestantischen Kirchen auf Grund der hierarchischen<br />

Strukturen häufig im Gemeindeleben eine zentrale Rolle spielen, wurde<br />

der Pastor <strong>als</strong> Seelsorger <strong>als</strong> viertes Element in das Modell eingefügt. Es<br />

wird angenommen, dass seelsorgerlich orientierte Pastoren ihren Gemeindegliedern<br />

helfen, ihre Probleme zu bewältigen und somit einen positiven Einfluss<br />

auf die Glaubensreife haben. Als fünftes Element wurde die Haltung der Ortsgemeinde<br />

zum geschiedenen Gemeindeglied einbezogen. Andere Gläubige<br />

könnten auch Einfluss auf die Entwicklung der Glaubensreife nehmen.<br />

Selbstwert, Strategien und Teilnahme werden <strong>als</strong> Faktoren gesehen, die mehr<br />

den persönlichen Lebensbereich betreffen. Pastor <strong>als</strong> Seelsorger und Haltung<br />

1 „Eine solide, von innen kommende religiöse Hingabe und positive Gottesbilder sind deutlich<br />

verbunden mit Selbstachtung“.<br />

102


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

der Gemeinde werden <strong>als</strong> Faktoren gesehen, die mehr außerhalb der Verantwortung<br />

des Einzelnen liegen.<br />

Modell: Einflüsse auf die Glaubensreife geschiedener protestantischer<br />

Christen<br />

Selbstwert<br />

â<br />

Strategien im Umgang<br />

mit der Scheidung<br />

â<br />

Teilnahme am<br />

Gemeindeleben<br />

â<br />

Glaubensreife<br />

Pastor <strong>als</strong> Seelsorger<br />

â<br />

Haltung der Gemeinde<br />

â<br />

Je größer der Selbstwert, umso größer sollte auch die Glaubensreife sein. Positive<br />

Strategien im Umgang mit der Scheidung sollten sich fördernd auf die<br />

Glaubensreife auswirken, während negative Strategien die Ausbildung von<br />

Glaubensreife hemmen. Je stärker eine geschiedene Person am Gemeindeleben<br />

teilnimmt, desto mehr sollte auch ihre Glaubensreife ausgeprägt sein. Bezüglich<br />

des Pastors <strong>als</strong> Seelsorger wird erwartet, dass Menschen, die den Pastor <strong>als</strong><br />

wichtige seelsorgerliche Hauptperson sehen, eine höhere Glaubensreife haben<br />

<strong>als</strong> Menschen, die nicht diese Angabe machen. Je mehr eine Gemeinde stützend<br />

auf ein geschiedenes Gemeindeglied eingeht, umso größer sollte auch die<br />

Glaubenreife der geschiedenen Person sein.<br />

103


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die Studie<br />

Die Daten für die gegenwärtige Analyse stammen aus der „Divorce in Protestant<br />

Churches Study“, die von Erben (1997) in den USA durchgeführt wurde.<br />

Drei konservative protestantische Kirchen in den USA waren an dieser Studie<br />

beteiligt: die Lutherische Kirche – Missouri Synode, die Kirche des Nazareners<br />

und die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten. Nach dem Zufallsprinzip<br />

wurden Ortsgemeinden der drei an der Studie beteiligten Kirchen ausgewählt.<br />

Die zuständigen Geistlichen (oder gelegentlich Gemeindeleiter im Fall<br />

einer Vakanz) wurden gebeten, Fragebögen an alle geschiedenen (nicht wiederverheirateten)<br />

Gemeindeglieder zu schicken. Die Datenerhebung erstreckte<br />

sich vom Frühjahr 1995 bis zum Frühjahr 1996.<br />

Eine erhebliche Anzahl von Geistlichen war nicht bereit, der Bitte um Zusammenarbeit<br />

mit dem Forscher nachzukommen (zwischen 36% und 75% Prozent<br />

je nach Teilstichprobe antworten nicht auf den Brief, in dem um Mitarbeit<br />

gebeten wurde). Einige Stellungnahmen von lutherischen oder adventistischen<br />

Pastoren, die dem Forscher antworteten, aber eine Zusammenarbeit verweigerten,<br />

legen nahe, dass einige Pastoren nicht kooperierten, wenn es in der Ortsgemeinde<br />

Probleme mit Geschiedenen gab.<br />

Insgesamt 5804 Fragebögen wurden an 474 Ortsgemeinden geschickt. Mindestens<br />

2126 Fragebögen wurden in 271 Stichproben-Gemeinden (und regelwidrig<br />

in etwa 8 weiteren Ortsgemeinden) tatsächlich an Gemeindeglieder weitergegeben.<br />

Möglicherweise wurden bei den Nazarenern Fragebögen auch an<br />

Geschiedene weitergegeben, die noch nicht wirklich Vollmitglieder waren.<br />

Fünfhundertfünfzig (25.9%) gültige Fragebögen wurden an den Forscher zurückgeschickt.<br />

Zehn Prozent der Antworten kamen von Menschen, die nicht<br />

geschieden waren (6.4% von getrennt lebenden Verheirateten, 3.3% von Geschiedenen,<br />

die wieder geheiratet hatten).<br />

Die Stichprobe<br />

Die Stichprobe für die gegenwärtige Analyse besteht aus 449 geschiedenen<br />

(und nicht wiederverheirateten) Menschen, die vollständige Angaben zu den 16<br />

Aussagen einer Glaubensreife-Skala gemacht hatten. Zum Sample gehören 341<br />

Frauen (76%) und 108 Männer (24%). Die Altersschichtung ist wie folgt: 18<br />

Geschiedene (4%) waren zwischen 24 und 30 Jahren alt, 105 (23%) waren zwischen<br />

31 und 40 Jahren alt, 173 (39%) waren zwischen 41 und 50 Jahren alt, 69<br />

(21%) waren zwischen 51 und 60 Jahren alt und 56 (13%) waren 61 Jahre alt<br />

104


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

oder älter. Die Mehrheit der Geschiedenen (62%) war im Alter von 31 bis 50<br />

Jahren. Menschen in diesem Alter tragen häufig Verantwortung in christlichen<br />

Gemeinden. Diese Gruppe ist für Pastoren oft von besonderem Interesse, wenn<br />

es um Gemeindeentwicklung geht.<br />

Hundertsechsundfünfzig Geschiedene (35%) kamen aus adventistischen Gemeinden.<br />

Die meisten in dieser Gruppe (85%) waren in der Zeit der Entscheidung<br />

zur Ehescheidung Siebenten-Tags-Adventisten. Acht (5%) gaben an, dass<br />

sie dam<strong>als</strong> einer anderen Kirche angehörten. Zehn (6%) gaben an, dass sie keiner<br />

Kirche angehörten, <strong>als</strong> sie sich zur Ehescheidung entschieden. Fünf (3%)<br />

gaben keine Auskunft.<br />

Hundertfünfundneunzig Geschiedene (43%) waren Mitglieder der Lutherischen<br />

Kirche – Missouri Synode. Die Mehrheit dieser Gruppe (84%) war zur<br />

Zeit der Entscheidung zur Ehescheidung auch Mitglied dieser Kirche. Einundzwanzig<br />

Personen (11%) gaben an, dass sie dam<strong>als</strong> einer anderen Kirche angehörten<br />

(17 waren dam<strong>als</strong> Mitglieder einer anderen protestantischen Kirche, 2<br />

waren Katholiken, 2 machten keine weiteren Angaben). Nur 9 (5%) gaben an,<br />

dass sie keiner Kirche angehörten, <strong>als</strong> sie sich zur Ehescheidung entschieden.<br />

Zwei (1%) gaben keine Auskunft.<br />

Achtundneunzig Geschiedene (22%) kamen aus Gemeinden der Kirche des<br />

Nazareners. Die Mehrheit dieser Gruppe (60%) war zur Zeit der Entscheidung<br />

zur Ehescheidung auch Mitglied dieser Kirche. Siebzehn Personen (17%) gaben<br />

an, dass sie dam<strong>als</strong> einer anderen Kirche angehörten (15 waren in einer anderen<br />

protestantischen Kirche, 2 waren Katholiken). Einundzwanzig (21%) gaben an,<br />

dass sie keiner Kirche angehörten, <strong>als</strong> sie sich zur Ehescheidung entschieden<br />

(allerdings hatten 7 einen christlichen Hintergrund). Eine Person (1%) gab keine<br />

Auskunft.<br />

Zwischen 5% und 21% der Geschiedenen in den drei konfessionellen Teilstichproben<br />

waren zum Zeitpunkt, <strong>als</strong> sie sich zur Ehescheidung entschlossen,<br />

nicht konfessionell gebunden. Zwischen 5% und 17% gehörten einer anderen<br />

Kirche an. Ehescheidung scheint einen Einfluss auf die Zugehörigkeit zu christlichen<br />

Kirchen zu haben.<br />

Jeweils 4 Personen in jeder der drei kirchlichen Gruppen waren nach eigenen<br />

Angaben bereits aus der Kirche ausgeschieden. Sie wurden aber offenbar von<br />

den kirchlichen Amtsträgern immer noch <strong>als</strong> Mitglieder angesehen. Die Mehrzahl<br />

der Geschiedenen (83%) ging dreimal oder häufiger pro Monat in die Kirche.<br />

Barna (1993b) berichtet, dass 43% der Geschiedenen in einer seiner USamerikanischen<br />

Stichproben dreimal oder häufiger pro Monat zur Kirche gingen.<br />

105


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die Variablen<br />

Glaubensreife. Die Glaubensreife des Geschiedenen wurde mit einer Skala<br />

gemessen, die aus 16 Aussagen bestand. Diese Skala basiert auf der Thayer<br />

Lang-Form (Thayer, 1993) und der Erickson Form (Benson, Donahue & Erickson,<br />

1993) der ursprünglich 38 Aussagen umfassenden „Faith Maturity Scale“.<br />

Dem Beispiel von Dudley (1994) folgend, wurden in dieser Studie zwei Antwortoptionen<br />

der ursprünglichen Skala eliminiert (selten wahr, fast immer<br />

wahr).<br />

Die Skala soll einen dynamischen, Lebens-verändernden Glauben messen.<br />

Alpha Koeffizient der Reliabilität für die Glaubensreife-Skala war .93 für das<br />

Sample dieser Studie (N=449). Je höher der Wert der Skala ist, umso mehr<br />

Glaubensreife ist vorhanden. Der Wortlaut der deutschen Übersetzung der 16<br />

Aussagen findet sich in Tabelle 1.<br />

In der „Divorce in Protestant Churches Study“ (Erben, 1997) war nicht nur<br />

die Glaubensreife der Befragten zur Zeit der Umfrage erhoben worden, sondern<br />

auch retrospektiv die Glaubensreife vor der Scheidung. Die Ergebnisse dieser<br />

beiden Skalen wurde benutzt, um eine neue Variable zu konstruieren, die Glaubensreifeverlauf<br />

genannt wird. Diese Variable wurde berechnet, indem die Werte<br />

der Glaubensreife-Skala für die Zeit vor der Scheidung von den Werten der<br />

Glaubensreife-Skala für die Umfragezeit abgezogen wurden. Alle resultierenden<br />

Minusergebnisse wurden in eine Verlust-von-Glaubensreife Kategorie eingestuft.<br />

Alle Nullwerte wurden <strong>als</strong> gleichbleibende Glaubensreife eingestuft.<br />

Alle resultierenden Plusergebnisse kamen in eine Gewinn-von-Glaubensreife<br />

Kategorie.<br />

Religionszugehörigkeit. Diese Variable beschreibt die Zugehörigkeit zu den<br />

konfessionellen Gruppen: Siebenten-Tags-Adventisten, Lutheraner und Nazarener.<br />

Gruppenstatus der Religionszugehörigkeit. Zur Zeit, <strong>als</strong> die Entscheidung zur<br />

Ehescheidung fiel, war man entweder (1) Mitglied der betreffenden Kirche, (2)<br />

Mitglied einer anderen Kirche oder (3) kein Kirchenmitglied. Wer zu diesem<br />

Zeitpunkt und zum Zeitpunkt der Studie Mitglied in einer der drei an der Studie<br />

beteiligten Kirchen war, wurde <strong>als</strong> Nichtwechsler eingestuft. Wer vor seiner<br />

Scheidung einer anderen Kirche angehört hatte, aber zum Zeitpunkt der Studie<br />

Mitglied einer der drei Kirchen war, wurde <strong>als</strong> Wechsler eingestuft. Wer vor<br />

der Scheidung keiner Kirche angehört hatte, aber durch Beteiligung an dieser<br />

Studie <strong>als</strong> Kirchenmitglied angesehen wurde (die Pastoren hatten die Anwei-<br />

106


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

sung erhalten, die Fragebögen an Mitglieder weiterzuleiten), wurde <strong>als</strong> Neues<br />

Mitglied bezeichnet.<br />

Selbstwert. Selbstwert wurde mit der Rosenberg Self-Esteem Skala (SES)<br />

gemessen. Diese 10 Aussagen umfassende Skala wurde von Rosenberg (1965)<br />

entwickelt und misst den allgemeinen Selbstwert und die Selbstakzeptanz einer<br />

Person. Der Alpha Koeffizient der Reliabilität für diese Skala war .91 für das<br />

Sample dieser Studie (N=434). Je höher der Wert der Skala ist, umso mehr<br />

Selbstwert ist vorhanden.<br />

Strategien im Umgang mit der Scheidung. Vier verschiedene Strategien im<br />

Umgang mit der Ehescheidung wurden berücksichtigt:<br />

1. Fliehen/vermeiden (4 Aussagen, zum Beispiel: Ich wünschte, die Situation<br />

würde vorbei sein oder irgendwie zu Ende sein; Ich hoffte, dass ein<br />

Wunder geschieht),<br />

2. Positive Neubewertung (5 Aussagen: Ich änderte mich oder wuchs <strong>als</strong><br />

Person in guter Weise; Nach der Scheidung ging es mir besser <strong>als</strong> vorher;<br />

Ich fand neuen Glauben; Ich betete; Ich habe wiederentdeckt, was<br />

im Leben wirklich zählt),<br />

3. Soziale Unterstützung suchen (4 Aussagen, zum Beispiel: Ich sprach zu<br />

jemanden über meine Gefühle; Ich fragte einen Verwandten oder<br />

Freund, den ich schätzte, um Rat), und<br />

4. Distanzieren (4 Aussagen, zum Beispiel: Ich machte weiter, <strong>als</strong> ob<br />

nichts geschehen wäre; Ich versuchte einfach, die ganze Sache zu vergessen).<br />

Diese verschiedenen Strategien sind Teil einer 32 Aussagen umfassenden und<br />

leicht veränderten Kurzform der „Revised Ways of Coping Checklist“ (Folkman,<br />

Lazarus, Dunkel-Schetter, DeLongis & Gruen, 1986). Die Alpha Koeffizienten<br />

der Reliabilität für diese verschiedenen Skalen waren wie folgt: Fliehen/vermeiden<br />

.61 (N=438), Positive Neubewertung .68 (N=437), Soziale Unterstützung<br />

suchen .77 (N=437), Distanzieren .67 (N=437). Je höher der Wert<br />

jeder Skala ist, umso öfter wurde eine Bewältigungsstrategie benutzt.<br />

Teilnahme am Gemeindeleben. Zwei verschiedene Bereiche wurden einbezogen:<br />

1. die Kirchganghäufigkeit zur Zeit der Umfrage und 2. die Selbsteinschätzung<br />

der aktiven Teilnahme am Gemeindeleben der Ortsgemeinde.<br />

Der Pastor <strong>als</strong> Seelsorger. Wird der Pastor <strong>als</strong> eine Hauptperson gesehen, an<br />

die man sich wendet, wenn man sich „unten“, depressiv und entmutigt fühlt,<br />

wird der Wert 1 zugewiesen. Wird diese Aussage nicht gemacht, ist der Wert 2.<br />

107


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die Haltung der Gemeinde zum geschiedenen Gemeindeglied. Erben (1997)<br />

entwickelte drei verschiedenen Skalen, um die Haltung der örtlichen Gemeinde<br />

zum geschiedenen Gemeindeglied zu erfassen:<br />

1. Geistliche Unterstützung (8 Aussagen, zum Beispiel: Mein Pastor ist ein<br />

guter Zuhörer; Meine Gemeinde zeigt ihre Stärke durch ihren Dienst an<br />

den Schwachen und Verletzten)<br />

2. Akzeptanz (8 Aussagen, zum Beispiel: Ich fühle mich in meiner Gemeinde<br />

wie ein Aussätziger; Meine Gemeinde bietet viele Möglichkeiten,<br />

geistliche Gemeinschaft zu pflegen, in die Geschiedene einbezogen<br />

sind)<br />

3. Allgemeine soziale Unterstützung (3 Aussagen, zum Beispiel: Gemeindeglieder<br />

haben sich um mich geschart, um mir zu helfen).<br />

Die Alpha Koeffizienten der Reliabilität für diese Skalen waren wie folgt:<br />

Geistliche Unterstützung .88 (N=427), Akzeptanz .87 (N=428), Allgemeine<br />

soziale Unterstützung .85 (N=434). Je höher der Wert jeder Skala ist, umso<br />

stärker wird bekräftigt, dass ein entsprechendes Verhalten wahrgenommen<br />

wird.<br />

Ergebnisse<br />

Die Tabelle 1 zeigt den Anteil der 449 Geschiedenen in dieser Stichprobe, die<br />

„oft“ oder „immer“ <strong>als</strong> Reaktionen auf die Aussagen der Glaubensreife-Skala<br />

angemerkt hatten sowie die entsprechenden Mittelwerte und Standardabweichungen.<br />

Ein ANOVA Test wurde durchgeführt, um zu überprüfen, ob es zwischen den<br />

drei konfessionellen Gruppen Unterschiede in der Glaubensreife gab. Das Ergebnis<br />

war negativ. Der Mittelwert für Glaubensreife betrug 65.2 (SD=11.1) für<br />

Adventisten, 63.3 (SD=10.1) für Lutheraner und 65.4 (SD=12.1) für Nazarener.<br />

Es bestanden keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Glaubensreife<br />

der Geschiedenen aus den drei unterschiedlichen Gruppen.<br />

Es wurde vermutet, dass zwischen dem Gruppenstatus der Religionszugehörigkeit<br />

und der Stärke der Glaubensreife ein Zusammenhang besteht. Es wurde<br />

angenommen, dass die Glaubensreife der Wechsler und der neuen Mitglieder<br />

größer ist <strong>als</strong> die Glaubensreife der Nichtwechsler, da der Wechsel zu einer<br />

anderen Kirche oder das Eintreten in die Mitgliedschaft einer Kirche überhaupt<br />

mit einem Wachstum von Glaubensreife verbunden sein können. Ein ANOVA<br />

Test wurde durchgeführt, um diese Hypothese zu überprüfen. Tabelle 2 zeigt<br />

108


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

die Mittelwerte und Standardabweichungen für die drei Gruppen. Tabelle 3<br />

fasst die Ergebnisse der ANOVA zusammen.<br />

Tabelle 1<br />

Die Glaubensreife der Geschiedenen<br />

„Oft/Immer“<br />

in % Mittelwert SD<br />

Aussage<br />

1. Mein Glaube bestimmt, wie ich an jedem<br />

Tag denke und handle 84.5 4.23 0.84<br />

2. Ich helfe anderen mit ihren religiösen<br />

Fragen und Auseinandersetzungen 57.0 3.64 1.02<br />

3. Mein Glaube hilft mir, zwischen richtig<br />

und f<strong>als</strong>ch zu unterscheiden 91.8 4.55 0.73<br />

4. Ich widme Zeit, um die Bibel zu lesen<br />

und zu studieren 51.0 3.46 1.17<br />

5. Jeden Tag bemerke ich Hinweise darauf,<br />

dass Gott in der Welt aktiv ist 90.2 4.54 0.76<br />

6. Ich kümmere mich um Gelegenheiten, die<br />

mir helfen geistlich zu wachsen 63.9 3.79 1.07<br />

7. Ich nehme mir Zeit für Gebet und<br />

Meditation 69.7 3.96 1.05<br />

8. Ich fühle Gottes Gegenwart in meinen<br />

Beziehungen zu anderen Menschen 70.1 3.93 1.01<br />

9. Mein Leben ist erfüllt von Sinn und einem<br />

Lebensziel 67.0 3.86 1.13<br />

10. Ich versuche, meinen Glauben bei politischen<br />

und sozialen Problemen anzuwenden<br />

62.8 3.70 1.13<br />

11. Mein Leben gehört Jesus Christus 82.7 4.34 0.91<br />

12. Ich spreche mit anderen Menschen über<br />

meinen Glauben 64.1 3.79 1.04<br />

13. Ich gehe aus mir heraus, um Menschen,<br />

die ich treffe, in Liebe zu begegnen 67.7 3.85 0.94<br />

14. Ich spüre wirklich, dass Gott mich führt<br />

76.2 4.10 1.02<br />

15. Gemeinsam mit andern bin ich gern im<br />

Gottesdienst, um Gott anzubeten 76.2 4.09 1.06<br />

16. Ich bin geistlich bewegt von der Schönheit<br />

der Schöpfung Gottes 91.3 4.58 0.76<br />

109


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Tabelle 2<br />

Mittelwerte und Standardabweichungen für Glaubensreife bei Nichtwechslern,<br />

Wechslern und neuen Mitgliedern<br />

Gruppe N M SD<br />

Nichtwechsler 355 64.4 10.7<br />

Wechsler 46 68.8 8.8<br />

Neue Mitglieder 40 61.3 12.0<br />

Tabelle 3<br />

ANOVA Resultate: Glaubensreife der Nichtwechsler, Wechsler und neuen<br />

Mitglieder<br />

Quelle Df SS MS F Prob.<br />

Zwischen 2 1253.22 626.61<br />

5.56 0.0041<br />

Innerhalb 438 49330.17 112.63<br />

Total 440 50583.39<br />

Die Untersuchung des Grades der Glaubensreife in den drei verschiedenen<br />

Gruppen zeigte, dass tatsächlich Unterschiede vorhanden waren. Die Analyse<br />

der Varianz erbrachte eine F Ratio von 5.56, die auf dem .01 Level statistisch<br />

signifikant war. Ein Student-Neuman-Keuls Test mit einem Signifikanzlevel<br />

von .05 wurde durchgeführt. Es wurden statistisch signifikante Unterschiede im<br />

Grad der Glaubensreife zwischen der Gruppe der Wechsler auf der einen Seite<br />

und den Gruppen der Nichtwechsler und der neuen Mitglieder auf der anderen<br />

Seite gefunden. Die Hypothese konnte nur zum Teil bestätigt werden. Die<br />

Gruppe der Wechsler hatte tatsächlich eine größere Glaubensreife <strong>als</strong> die Gruppe<br />

der Nichtwechsler. Allerdings gab es keinen statistisch signifikanten Unterschied<br />

zwischen der Gruppe der neuen Mitglieder und der Gruppe der Nicht-<br />

110


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

wechsler. Menschen, die nach dem Entschluss zur Ehescheidung von ihrer Kirche<br />

in eine der drei konfessionellen Gruppen dieser Studie (Adventisten, Lutheraner,<br />

Nazarener) gewechselt waren, hatten eine größere Glaubensreife <strong>als</strong> Geschiedene,<br />

die ihrer Kirche treu geblieben waren oder <strong>als</strong> Menschen, die sich<br />

neu einer Kirche anschlossen hatten.<br />

Es wurde vermutet, dass auch zwischen dem Gruppenstatus der Religionszugehörigkeit<br />

und dem Glaubensreifeverlauf ein Zusammenhang besteht. Diese<br />

Hypothese wurde durch eine Kreuztabulation getestet. Die Tabelle 4 zeigt die<br />

Ergebnisse. Wie erwartet bestand ein Zusammenhang zwischen Gruppenstatus<br />

und Glaubensreifeverlauf. Das Ergebnis war statistisch signifikant (Chi-<br />

Quadrat: Pearson Wert 11.86677, 4 DF, Signifikanz .01837, Erwartete Minimum<br />

Häufigkeit 6.763). Die Anzahl von Menschen, die einen Zugewinn an<br />

Glaubensreife zu verzeichnen hatten, war in der Gruppe der Nichtwechsler geringer<br />

<strong>als</strong> normalerweise zu erwarten gewesen wäre. In der Gruppe der Wechsler<br />

und der Gruppe der neuen Mitglieder war der Zugewinn an Glaubensreife<br />

jedoch größer, <strong>als</strong> man hätte erwarten können.<br />

Das theoretische Modell möglicher Einflüsse auf die Glaubensreife geschiedener<br />

protestantischer Christen wurde empirisch getestet. In einem ersten<br />

Schritt wurden die Beziehungen aller unabhängigen Variablen mit der abhängigen<br />

Variable Glaubensreife untersucht. Bezüglich des Pastors <strong>als</strong> Seelsorger<br />

wurde erwartet, dass Menschen, die den Pastor <strong>als</strong> wichtige seelsorgerliche<br />

Hauptperson sehen, eine höhere Glaubensreife haben, <strong>als</strong> Menschen, die nicht<br />

diese Angabe machen. Ein t-Test für unabhängige Stichproben wurde benutzt,<br />

um diese Hypothese zu testen.<br />

Der Durchschnittswert der Skala für Glaubensreife war 67.0 (SD=9.0) für die<br />

Gruppe der Christen, die den Pastor <strong>als</strong> wichtige seelsorgerliche Hauptperson<br />

sahen (N=164). Für die Gruppe Christen, die nicht diese Angabe machten<br />

(N=285) war der Durchschnittswert der Skala 62.9 (SD=11.7). Die Differenz<br />

zwischen diesen beiden Werten war statistisch signifikant (t=4.23, df=411.42, p<br />

< .001). Wie angenommen war die Glaubensreife der Christen, die den Pastor<br />

<strong>als</strong> seelsorgerliche Hauptperson sahen, höher. Alle anderen Hypothesen, die<br />

aufgestellt worden waren, sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse sind in<br />

Tabelle 5 dargestellt.<br />

111


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Tabelle 4<br />

Die Veränderung der Glaubensreife<br />

Nichtwechsler<br />

Verlust<br />

Glaubensreifeverlauf<br />

Gewinn<br />

Anzahl 75 69 200<br />

Erwarteter Wert 70.1 61.2 212.7<br />

Prozent<br />

(Zeile) 21.8% 20.1% 58.1%<br />

Gleichbleibend<br />

Zusammenfassung<br />

Zeile<br />

344<br />

80.6%<br />

Wechsler<br />

Residual 4.9 7.8 -12.7<br />

Anzahl 5 3 37<br />

Erwarteter Wert 9.2 8.0 27.8<br />

Prozent<br />

(Zeile) 11.1% 6.7% 82.2%<br />

45<br />

10.5%<br />

Neue<br />

Mitglieder<br />

Residual -4.2 -5.0 9.2<br />

Anzahl 7 4 27<br />

Erwarteter Wert 7.7 6.8 23.5<br />

Prozent<br />

(Zeile) 18.4% 10.5% 71.1%<br />

38<br />

8.9%<br />

Zusammenfassung<br />

Spalte<br />

Residual -0.7 -2.8 3.5<br />

87<br />

20.4%<br />

76<br />

17.8%<br />

264<br />

61.8%<br />

427<br />

100.0%<br />

Chi-Quadrat: Pearson Wert 11.86677, 4 DF, Signifikanz .01837, Erwartete Minimum Häufigkeit<br />

6.763<br />

112


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

Tabelle 5<br />

Hypothesen und Ergebnisse<br />

____________________________________________________________<br />

Erwartet<br />

Gefunden<br />

____________________________________________________________<br />

1. Selbstwert + +<br />

Strategien<br />

2. Fliehen/Vermeiden – n. s.<br />

3. Positive Neubewertung + +<br />

4. Soziale Unterstützung suchen + n. s.<br />

5. Distanzieren – n. s.<br />

Teilnahme am Gemeindeleben<br />

6. Kirchganghäufigkeit + +<br />

7. Aktive Teilnahme + +<br />

Haltung der Gemeinde<br />

8. Geistliche Unterstützung + +<br />

9. Akzeptanz + +<br />

10. Allg. soziale Unterstützung + +<br />

____________________________________________________________<br />

n.s. heißt „nicht signifikant“<br />

Mit Pearson r Tests wurden die oben skizzierten Hypothesen getestet. Die<br />

Ergebnisse sowie die Korrelationen zwischen den unabhängigen Variablen finden<br />

sich in Tabelle 6. Niedrige positive Korrelationen fanden sich zwischen<br />

Glaubensreife und den folgenden Variablen: Selbstwert, Positive Neubewertung<br />

und Kirchganghäufigkeit. Zwischen Glaubensreife und Aktive Teilnahme bestand<br />

eine moderate positive Korrelation. Sehr schwache positive Korrelationen<br />

wurden zwischen Glaubensreife und den drei Variablen gefunden, die die Haltung<br />

der Gemeinde beschreiben.<br />

In einem zweiten Schritt wurde untersucht, wie die unabhängigen Variablen,<br />

für die eine statistisch signifikante Beziehung zur abhängigen Variable Glaubensreife<br />

gefunden worden war, gemeinsam die Stärke der Glaubensreife vorhersagen<br />

können. Als Testverfahren wurde eine Kombination von hierarchischen<br />

und schrittweisen Multiple Regressions-Prozeduren ausgewählt.<br />

die Annahme der Linearität nicht aufrechtzuerhalten. Beide Variablen wurden<br />

deshalb nicht in das Verfahren einbezogen. Sechs Variablen blieben übrig:<br />

Selbstwert, Positive Neubewertung, Kirchganghäufigkeit, Aktive Teilnahme,<br />

Pastor <strong>als</strong> seelsorgerliche Hauptperson und Allgemeine soziale Unterstützung.<br />

113


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Tabelle 6<br />

Bivariate Korrelationen zwischen allen Variablen (N = 373)<br />

114<br />

(2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11)<br />

1. Glaubensreife .33*** -.08 .48*** .07 .03 .44*** .53*** .16** .19*** .19***<br />

2. Selbstwert -- -.43*** .35*** .15** -.00 .11* .16** .12* .18*** .12*<br />

3. Fliehen/Vermeiden -- -.06 .08 .03 .04 -.01 -.03 -.07 -.03<br />

4. Positive Neubewertung -- .28*** .01 .22*** .22*** .05 .11* .06<br />

5. Soz. Unterstützung suchen -- -.27*** -.03 -.01 .06 .09* .13**<br />

6. Distanzieren -- .05 .06 .05 -.01 .07<br />

7. Kirchganghäufigkeit -- .63*** .31*** .29*** .30***<br />

8. Aktive Teilnahme -- .28*** .32*** .30***<br />

9. Geistliche Unterstützung -- .78*** .75***<br />

10. Akzeptanz -- .68***<br />

11. Allg. soz. Unterstützung --<br />

*p < .05. **p < .01. ***p < .001<br />

Für jedes einzelne Element der insgesamt fünf Teile des theoretischen Modells<br />

wurde ein Block im Multiple Regressionsverfahren geschaffen. Vom 2.<br />

Block an enthielt jeder Block auch die Variable(n), die in dem Block/den<br />

Blocks zuvor enthalten war(en). Diese Technik wurde gewählt, um sicherzustellen,<br />

dass keine Variablen im Regressions-Modell ver-blieben, die einen unakzeptabel<br />

hohen p-Wert hatten. Die Variablen in jedem Block wurden schrittweise<br />

in die Regression hineingebracht. Als Eintrittswahrscheinlichkeitswert für<br />

die schrittweise Komponente wurde .1 gewählt, während .101 <strong>als</strong> Austrittswahrscheinlichkeitswert<br />

verwendet wurde.<br />

Die Regressions-Prozedur wurde wie folgt programmiert:<br />

1. Block: Selbstwert<br />

2. Block: Selbstwert<br />

Positive Neubewertung<br />

3. Block: Selbstwert<br />

Positive Neubewertung<br />

Aktive Teilnahme, Kirchganghäufigkeit<br />

4. Block: Selbstwert<br />

Positive Neubewertung


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

Aktive Teilnahme, Kirchganghäufigkeit<br />

Pastor <strong>als</strong> seelsorgerliche Hauptperson (<strong>als</strong> DummyVariable)<br />

5. Block: Selbstwert<br />

Positive Neubewertung<br />

Aktive Teilnahme, Kirchganghäufigkeit<br />

Pastor <strong>als</strong> seelsorgerliche Hauptperson (<strong>als</strong> DummyVariable)<br />

Allgemeine soziale Unterstützung<br />

Ein Modell mit 4 Vorhersagewerten wurde gefunden. Nur die Variablen aus<br />

den ersten drei Blöcken gingen in das Modell ein. Nachdem mit dem 3. Schritt<br />

„Aktive Teilnahme“ in das Modell aufgenommen wurde, waren die Variablen<br />

„Pastor <strong>als</strong> seelsorgerliche Hauptperson“ und „Allgemeine soziale Unterstützung“<br />

nicht mehr signifikant. Mit dem 4. Schritt kam „Kirchganghäufigkeit“ in<br />

das Modell. Darüber hinaus konnte keine Varianz der abhängigen Variable<br />

Glaubensreife mehr erklärt werden. Tabelle 7 zeigt das Ergebnis des Multiple<br />

Regressionsverfahrens.<br />

Diskussion<br />

Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stand die Frage nach der Glaubensreife<br />

geschiedener Christen. Eine 16 Aussagen umfassende Kurzform der „Faith Maturity<br />

Scale“ wurde benutzt, um die Glaubensreife geschiedener Christen durch<br />

Selbstreport zu erheben. Erben (1997, S. 159) bietet Vergleichsdaten für die<br />

Ergebnisse dieser Glaubensreife-Skala. Zwei verschiedene Gruppen werden<br />

berücksichtigt, adventistische Erwachsene, die sich an der Valuegenesis-Studie<br />

(Benson & Donahue, 1990) beteiligten und ein Sample von Protestanten (Benson<br />

et al., 1993). Die in der Tabelle 1 gelisteten Ergebnisse könnten zum<br />

Schluss führen, dass Geschiedene eine besonders ausgeprägte spirituelle Beziehung<br />

zu Gott haben, denn jeweils mehr <strong>als</strong> 80% der Geschiedenen bestätigten<br />

- dass ihr Glaube direkten Einfluss auf ihr Leben hat (Aussage 1)<br />

- dass ihr Glaube hilft, sich zwischen richtig und f<strong>als</strong>ch zu entscheiden<br />

(Aussage 3)<br />

- dass sie täglich Hinweise dafür sehen, dass Gott in der Welt aktiv ist<br />

(Aussage 5)<br />

- dass ihr Leben Jesus gehört (Aussage 11) und<br />

115


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

- dass sie geistlich bewegt sind von der Schönheit der Schöpfung (Aussage<br />

16).<br />

Tabelle 7<br />

Ein empirisch durch Multiple Regression entwickeltes Modell für Glaubensreife<br />

von geschiedenen protestantischen Christen<br />

Schritt<br />

Endgültiges Modell<br />

Vorhersagewer<br />

t<br />

Totaler R 2<br />

Anstieg in R 2<br />

F für Anstieg in R 2<br />

p<br />

Part Sq a<br />

r b<br />

Beta<br />

p<br />

Block 1. Selbstwert .114 .114 52.07 .0000 .029 .338 .179 .0000<br />

Block 2.<br />

Block 3.<br />

Positive<br />

Neubewertung<br />

Aktive<br />

Teilnahme<br />

Kirchganghäufigkeit<br />

.244 .130 69.14 .0000 .072 .449 .288 .0000<br />

.423 .179 124.68 .0000 .078 .528 .360 .0000<br />

.432 .009 6.53 .0110 .009 .424 .123 .0110<br />

Modell F = 76.28, N = 405. a ) Part Korrelation im Quadrat<br />

(Eigener Beitrag zum R 2 ). b ) Null-Ordnung Korrelation.<br />

Der Vergleich mit den adventistischen Erwachsenen (zu denen wohl auch Geschiedene<br />

gehörten) zeigt jedoch ähnlich hohe Mittelwerte für diese Aussagen.<br />

Der Mittelwert für Aussage 1 war sogar etwas höher (4.39) <strong>als</strong> für die Geschiedenen<br />

in dieser Studie (4.23). Der Vergleich zeigt aber eine stärkere Tendenz<br />

bei den Geschiedenen, die soziale Dimension in ihrem Glaubensleben zu berücksichtigen.<br />

Die Geschieden bekräftigten stärker <strong>als</strong> die adventistischen Erwachsenen<br />

(mindestens .1 Differenz) und die Protestanten (mindestens .4 Differenz)<br />

- dass sie Gottes Gegenwart in ihren Beziehungen zu anderen Menschen<br />

spüren (Aussage 8)<br />

- dass sie ihren Glauben bei politischen und sozialen Problemen anwenden<br />

(Aussage 10) und<br />

116


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

- dass sie aus sich herausgehen, um Menschen in Liebe zu begegnen (Aussage<br />

13).<br />

Es ist möglich, dass Geschiedene durch die Scheidungserfahrung besonders<br />

für die soziale Dimension des Glaubens sensibilisiert werden. Gemeinden, die<br />

sozial isoliert sind, könnten von geschiedenen Mitchristen lernen, wie man auf<br />

die Bedürfnisse anderer Menschen eingeht.<br />

Nur etwa die Hälfte der Geschiedenen bekräftigten, dass sie sich „oft“ oder<br />

„immer“ Zeit nehmen, um die Bibel zu lesen und zu studieren. Dieses Ergebnis<br />

ist ähnlich wie bei Barna (1993b), der fand, dass 48% der Geschiedenen in seiner<br />

Studie innerhalb eines typischen Wochenablaufs zur Bibel greifen. Der<br />

Vergleich mit den Adventisten und Protestanten zeigt, dass der Mittelwert für<br />

die Aussage zum Bibellesen (3.46) bedeutend höher ist <strong>als</strong> der entsprechende<br />

Wert für die Protestanten (2.83) und nur geringfügig niedriger ist <strong>als</strong> der Wert<br />

für adventistische Erwachsene (3.51).<br />

Der Mittelwert für die Aussage 9 (Mein Leben ist erfüllt von Sinn und einem<br />

Lebensziel) war für die Geschiedenen .2 Punkte niedriger (3.86) <strong>als</strong> für adventistische<br />

Erwachsene (4.06). Die Frage nach dem Sinn ist eine Kernfrage der<br />

Scheidungsbewältigung (Hancock, 1980; Erben, 1997). Der Unterschied im<br />

Mittelwert für die betreffende Aussage zeigt, dass Geschiedene auf diesem Gebiet<br />

besonders Hilfe brauchen.<br />

Es wurden keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Glaubensreife<br />

der geschiedenen Christen in drei verschieden Kirchen gefunden (Adventisten,<br />

Lutheraner, Nazarener). Alle drei konservativen protestantischen Kirchen<br />

scheinen in ähnlichem Ausmaß zur Ausprägung von Glaubensreife beizutragen.<br />

Zwischen dem Gruppenstatus der Religionszugehörigkeit und der Stärke der<br />

Glaubensreife wurde ein Zusammenhang gefunden. Die Wechsler (N=46) hatten<br />

wie erwartet eine größere Glaubensreife <strong>als</strong> die Nichtwechsler (N=355).<br />

Allerdings gab es entgegen der Annahme keinen statistisch signifikanten Unterschied<br />

zwischen den neuen Mitgliedern (N=40) und den Nichtwechslern. Diese<br />

neuen Mitglieder hatten sogar eine niedrigere (jedoch nicht statistisch signifikant)<br />

Glaubensreife <strong>als</strong> die Nichtwechsler. Vielleicht waren einige dieser Menschen<br />

erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit Gemeindeglieder. Es sollte untersucht<br />

werden, ob für diese Gruppe ein Zusammenhang zwischen Glaubensreife<br />

und der Zeit der Mitgliedschaft besteht. Die Wechsler sind möglicherweise<br />

Menschen, die sich nach der Ehescheidung verstärkt um eine Neuorientierung<br />

ihres Lebens bemühen und deshalb auch einen religiöser Neuanfang wagen.<br />

Eine Studie über die Motive von Geschiedenen, sich einer anderen Kirche anzuschließen,<br />

wird gebraucht.<br />

117


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Auch zwischen dem Gruppenstatus der Religionszugehörigkeit und dem<br />

Glaubensreife-Verlauf wurde ein Zusammenhang gefunden. In der Gruppe der<br />

Wechsler fanden sich verhältnismäßig viele Menschen, die einen Gewinn an<br />

Glaubensreife in der Zeit zwischen der Teilnahme an dieser Studie und der Zeit<br />

vor ihrer Ehescheidung erlebt hatten (82% der Wechsler). Dagegen waren „nur“<br />

58% der Nichtwechsler in dieser Kategorie. In der Gruppe der neuen Mitglieder<br />

waren es 71%. Wer die Zugehörigkeit zu einer Kirche wechselt, scheint in<br />

den meisten Fällen damit ein Wachstum an Glaubensreife zu verbinden. Doppelt<br />

so viele Nichtwechsler (22%) wie Wechsler (11%) erlebten einen Verlust<br />

an Glaubensreife. Möglicherweise erleben Nichtwechsler einen Verlust an<br />

Glaubensreife, weil sie in ihrer Gemeinde nach Ehescheidung weniger in das<br />

Gemeindeleben einbezogen werden oder sich selbst zurückziehen. Wer dagegen<br />

seine Kirchenzugehörigkeit ändert, muss aktiv werden und auch sozialen<br />

Kontakt in der neuen Kirche suchen, was sich positiv auf die Glaubensreife<br />

auswirken kann.<br />

Auffallend ist der relativ hohe Anteil neuer Mitglieder in der Verlust-<br />

Kategorie (18%). Einige Menschen aus dieser Gruppe hatten schon vor ihrer<br />

Entscheidung zur Ehescheidung eine Beziehung zum christlichen Glauben (siehe<br />

7 der 21 neuen Nazarener). Vielleicht hatten einige Menschen in dieser<br />

Gruppe vergeblich darauf gehofft, durch Partizipation am christlichen Glauben<br />

ihre Ehe retten zu können oder rasch eine komplette Änderung ihrer psychosozialen<br />

Lage zu erleben. Es ist möglich, dass ihre Enttäuschung zu einem Rückgang<br />

der Glaubensreife führte.<br />

Auf Grund der empirischen Analyse wurde das theoretische Modell der Einflüsse<br />

auf die Glaubensreife geschiedener protestantischer Christen verändert.<br />

Nunmehr wird von einem Modell ausgegangen, das 4 verschiedene Einflüsse<br />

auf die Glaubensreife geschiedener Christen einbezieht, die gemeinsam die Varianz<br />

von Glaubensreife beschreiben. Die Variablen „Pastor <strong>als</strong> seelsorgerliche<br />

Hauptperson“ und „Allgemeine soziale Unterstützung“ konnten über die 4 im<br />

Modell einbezogenen Variablen keine zusätzliche Varianz der abhängigen Variable<br />

Glaubensreife mehr erklären. In Kombination mit anderen Variablen, die<br />

nicht in diesem Forschungsprojekt Beachtung fanden, könnten diese beiden<br />

Variablen jedoch in einem Modell enthalten sein.<br />

Eine Untersuchung, die auf der Methode der Korrelation beruht, kann keine<br />

empirisch abgesicherten Aussagen über Kausalität machen. Glaubensreife kann<br />

durchaus auch den Selbstwert, die positive Neuorientierung, die aktive Teilnahme<br />

am Gemeindeleben und die Kirchganghäufigkeit beeinflussen. Das revidierte<br />

Modell sollte vor allem deshalb Beachtung finden, weil es zur Hand-<br />

118


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

lungsorientierung von Pastoren beitragen kann. Pastoren werden wohl dann die<br />

Glaubensreife geschiedener Christen positiv beeinflussen, wenn sie das Selbstwertgefühl<br />

fördern, eine positive Neuorientierung durch Konzentration auf inneres<br />

Wachstum unterstützen und zur regelmäßigen, aktiven Mitgestaltung des<br />

Gemeindelebens einladen.<br />

Schlussbemerkung<br />

Die vorliegende Untersuchung zur Glaubensreife geschiedener Christen in<br />

drei konservativen protestantischen Kirchen in den USA zeigt, dass Geschiedene<br />

in ihrem subjektiven Selbstreport eine beachtliche Glaubensreife bekunden.<br />

Viele dieser Christen, die durch eine Ehescheidung gingen, erlebten sogar ein<br />

Wachstum der Glaubensreife. Gemeinden, denen es gelingt, Geschiedene aktiv<br />

in das Gemeindeleben einzubeziehen, werden wohl einen positiven Einfluss auf<br />

die Entwicklung der Glaubensreife geschiedener Christen ausüben. Pastoren<br />

sollten Geschiedenen dabei unterstützen, ihre schwierige Situation <strong>als</strong> Chance<br />

zu sehen, eine tiefere Beziehung zu Gott zu finden. Menschen, die durch die<br />

leidvolle Erfahrung der Ehescheidung gehen, können Gemeinden helfen, für die<br />

sozialen Bedürfnisse ihrer Umwelt sensibler zu werden.<br />

119


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Revidiertes Modell: Einflüsse auf die Glaubensreife geschiedener protestantischer<br />

Christen<br />

Selbstwert ⎯ (.029)<br />

→<br />

Positive<br />

Neuorientierung ⎯ (.072)<br />

→<br />

Glaubensreife<br />

Aktive Teilnahme am<br />

Gemeindeleben<br />

Kirchganghäufigkeit<br />

--(.078) →<br />

--(.009) →<br />

Angegeben ist die jeweilige Part Korrelation im Quadrat (Eigener Beitrag zum R 2 ).<br />

Literatur:<br />

Barna, G. Unmarried America. Los Angeles: Barna Report, 1993a.<br />

Benson, P. L., & Donahue, M. J. Valuegenesis Report I. Minneapolis, MN: Search Institute,<br />

1990.<br />

Benson, P. L., Donahue, M. J., & Erickson, J. A. The Faith Maturity Scale: Conceptualization,<br />

Measurement, and Empirical Validation. Research in the Social Scientific Study of Religion,<br />

5, 1-26, 1993.<br />

Dudley, R. L. Faith Maturity and Social Concern in College-Age Youth: Does Christian<br />

Education Make a Difference? Journal of Research on Christian Education, 3(1), 35-49.<br />

1994.<br />

Erben, Andreas. Predictors of Divorce Adjustment Among Members of Three Conservative<br />

Protestant Denominations. Berrien Springs, Michigan: Unveröffentlichte Dissertation Andrews<br />

University, 1997.<br />

Folkman, S., Lazarus, R. S., Dunkel-Schetter, C., DeLongis, A., & Gruen, R. J. Dynamics of a<br />

Stressful Encounter: Cognitive Appraisal, Coping, and Encounter Outcomes. Journal of<br />

Personality and Social Psychology, 50(5), 992-1003. 1986.<br />

120


ERBEN: GLAUBENSREIFE<br />

Hancock, E. The Dimensions of Meaning and Belonging in the Process of Divorce. American<br />

Journal of Orthopsychiatry, 50(1), 18-27, 1980.<br />

Hood, R. W., Spilka, B., Hunsberger, B., & Gorsuch, R. The Psychology of Religion: An Empirical<br />

Approach. New York: Guilford, 1996.<br />

Kosmin, B. A., & Lachman, S. P. One Nation Under God. New York: Harmony Books. 1993.<br />

Rosenberg, M. Society and the Adolescent Self-Image. Princeton, NJ: Princeton University<br />

Press, 1965.<br />

Seligman, M. Pessimisten küßt man nicht. München: Droemersche Verlagsanstalt, 1991.<br />

Staff, E. E. (1974). An Inquiry Into the Needs and Problems of the Seventh-Day-Adventist One-<br />

Parent-Family. Unveröffentlichter D.Min. Projekt Report. Berrien Springs, Michigan: Andrews<br />

University, 1994.<br />

Thayer, J. D. Measuring Faith Maturity: Reassessing Valuegenesis and Development of a<br />

Denomination Specific Scale. Journal of Research on Christian Education, 2(1), 93-113.<br />

1993.<br />

121


Beobachtungen zur Situation von geschiedenen<br />

evangelischen Christen<br />

Ein Blick in die Daten der 2. Welle des Familiensurveys des DJI<br />

Andreas Erben<br />

In Deutschland fehlen empirische Untersuchungen über geschiedene Christen.<br />

Angaben über ihre psycho-soziale Situation, ihre Ansichten und ihre Lebensweise<br />

werden dringend gebraucht. Im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts<br />

München (DJI) wurden zwischen Juli 1994 und April 1995 die 2. Welle der<br />

Studie „Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen (Familiensurvey)“<br />

durchgeführt. Drei verschiedene Stichproben (Panel West, Survey Ost, 18-<br />

30jährige West) wurden erhoben. Die für diesen Artikel benutzten Daten wurden<br />

vom Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung, Universität zu Köln,<br />

zugänglich gemacht. Die vorgenannten Institutionen tragen keine Verantwortung<br />

für die Verwendung der Daten in diesem Beitrag. Von insgesamt 10.994<br />

Befragten gaben 4.063 Befragte an, der evangelischen Kirche anzugehören.<br />

Etwa 5% dieser Gruppe waren geschieden. Einhundertdreizehn (2,8%) der Geschiedenen<br />

hatten keinen neuen Partner. Neunundneunzig (2,5%) hatten einen<br />

neuen Partner, der entweder woanders lebte oder mit der geschiedenen Person<br />

zusammen in einem Haushalt wohnte.<br />

Für erste Beobachtungen erschien diese Gesamtgruppe der geschiedenen e-<br />

vangelischen Christen groß genug. Allerdings kann kein Anspruch auf Repräsentativität<br />

erhoben werden, „weil die Relation der Fallzahlen aus den Stichproben<br />

zu denen der Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik nicht gegeben<br />

ist“ (Deutsches Jugendinstitut, o.J.). Deshalb kann diese Untersuchung nur <strong>als</strong><br />

eine grobe Annäherung an die Lebenswirklichkeit geschiedener evangelischer<br />

Christen in Deutschland angesehen werden. Beobachtungen in vier verschiedenen<br />

Bereichen werden behandelt: Beziehungen zu Freunden und anderen Menschen,<br />

Gottesdienstbesuch, die Wertung der Ehe <strong>als</strong> Institution und der Gesundheitszustand.<br />

Durch den Vergleich mit Verheirateten soll versucht werden,<br />

die besondere Lage von Geschiedenen auszuloten.<br />

123


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Beziehungen zu Freunden und anderen Menschen<br />

Ehepaare bauen sich soziale Netzwerke auf. Wenn die Ehe zerbricht, werden<br />

häufig auch die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen beeinträchtigt.<br />

Wallerstein und Blakeslee (1989) berichten, dass Scheidung die einzige große<br />

Krise im Leben einer Familie ist, bei der die soziale Unterstützung durch<br />

Freunde, Nachbarn oder Geistliche geringer wird.<br />

Der Fragebogen der 2. Welle des Familiensurveys enthielt 11 Sätze, die die<br />

Beziehung zu Freunden und anderen Menschen erfassen sollten und die damit<br />

Aussagen zur Qualität des sozialen Netzwerks ermöglichen. Es wurde vermutet,<br />

dass Geschiedene die einzelnen Aussagen negativer bewerten würden <strong>als</strong> Verheiratete.<br />

Insgesamt wurde angenommen, dass Verheiratete ein stärkeres soziales<br />

Netzwerk <strong>als</strong> Geschiedene haben.<br />

Die Tabelle 1 vergleicht den Grad der Zustimmung zu den 11 Aussagen, die<br />

das soziale Netzwerk beschreiben. Die Berechnungen beziehen sich auf 2481<br />

verheiratete (mit dem Ehepartner zusammenlebende) evangelische Christen<br />

(37% Männer, 63% Frauen) und 113 geschiedene (ohne feste Partnerbeziehung<br />

lebende) evangelische Christen (24% Männer, 76% Frauen). Aus den Daten<br />

ließ sich leider nicht genau erheben, wie viele der Verheirateten noch in ihrer<br />

ersten Ehe lebten. Es war lediglich auszumachen, dass 57% dieser Gruppe denjenigen<br />

oder diejenige geheiratet hatten, mit dem sie die erste feste Partnerschaft<br />

hatten, und dass davon 81% zum Zeitpunkt der Umfrage immer noch mit<br />

dieser Person zusammenlebten.<br />

Als Zustimmung zu einer Aussage wurden die Werte 4 und 5 gezählt auf einer<br />

Skala von 5 Werten (1=Trifft gar nicht zu, 5=Trifft voll und ganz zu). Für die<br />

Mehrheit der Aussagen wurde ein Unterschied zwischen dem Grad der Zustimmung<br />

von 10 oder mehr Prozentpunkten gefunden. Lediglich für die Aussagen<br />

5, 8, 9 und 11 war der Unterschied zwischen dem Grad der Zustimmung<br />

geringer <strong>als</strong> 10 Prozentpunkte.<br />

Die Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse der t-Tests für unabhängige Stichproben<br />

für jede einzelne Aussage. Bis auf Aussage 5 (Ich vermisse die Geselligkeit mit<br />

anderen Menschen) waren alle Unterschiede im Mittelwert statistisch signifikant.<br />

Geschiedene scheinen in gleichem Maße Geselligkeit mit anderen Menschen<br />

zu erleben wie Verheiratete. Geselligkeit ist wohl auch ohne freundschaftliche<br />

Beziehungen und soziale Verbindlichkeit möglich.<br />

124


ERBEN: GESCHIEDENE CHRISTEN<br />

Tabelle 1<br />

Beziehungen zu Freunden und anderen Menschen<br />

Aussage<br />

1. Ich habe immer jemanden in erreichbarer Nähe,<br />

zu dem ich mit alltäglichen Problemen<br />

kommen kann<br />

2. Mir fehlt ein wirklich guter Freund/eine wirklich<br />

gute Freundin<br />

3. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mich eine<br />

große Leere erfasst<br />

4. Es gibt ausreichend viele Menschen, auf die<br />

ich zählen kann, wenn ich Schwierigkeiten<br />

habe<br />

5. Ich vermisse die Geselligkeit mit anderen<br />

Menschen<br />

6. Ich glaube, der Kreis meiner Freunde und Bekanntschaften<br />

ist zu klein<br />

7. Es gibt viele Personen, denen ich voll vertrauen<br />

kann<br />

8. Es gibt genügend viele Personen, denen ich<br />

mich sehr verbunden fühle<br />

9. Ich vermisse einen häufigeren Kontakt mit<br />

meinen Familienangehörigen und Verwandten<br />

Verheiratete<br />

Zustimmung in %<br />

Geschiedene<br />

88 72<br />

13 25<br />

13 29<br />

76 63<br />

10 16<br />

13 25<br />

55 44<br />

72 64<br />

14 21<br />

10. Oft fühle ich mich im Stich gelassen 7 21<br />

11. Wenn ich meine Freunde brauche, kann ich<br />

jederzeit auf sie zählen<br />

78 73<br />

125


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Tabelle 2<br />

Vergleich der Durchschnittswerte der Reaktionen von verheirateten und<br />

geschiedenen evangelischen Christen auf 11 verschiedene Aussagen über<br />

Beziehungen zu Freunden und anderen Menschen<br />

Aussage<br />

N<br />

Verheiratete<br />

Mittel-<br />

wert<br />

SD<br />

N<br />

Geschiedene<br />

Mittel-<br />

Wert<br />

SD<br />

t-Wert<br />

1.1.1<br />

DF<br />

Signifikanz<br />

1. Probleme 2479 4.54 0.90 113 3.97 1.42 4.20 116.12 p < .001<br />

2. Freund(in) 2476 1.77 1.21 113 2.35 1.51 -4.04 118.67 p < .001<br />

3. Leere 2475 1.91 1.20 113 2.60 1.50 -4.86 118.70 p < .001<br />

4. Schwierigkeiten 2476 4.16 1.08 113 3.66 1.41 3.68 118.02 p < .001<br />

5. Geselligkeit 2478 1.77 1.11 111 1.97 1.32 -1.62 117.13 n. s.<br />

6. Kreis 2478 1.88 1.21 112 2.42 1.52 -3.68 117.47 p < .001<br />

7. Vertrauen 2474 3.60 1.25 112 3.21 1.35 3.27 2584 p < .001<br />

8. Verbunden 2478 4.03 1.03 113 3.72 1.26 2.60 118.91 p < .01<br />

9. Verwandte 2473 1.92 1.21 113 2.16 1.39 -1.83 119.98 p < .05<br />

10. Im Stich<br />

gelassen<br />

2477 1.56 0.99 113 2.18 1.45 -4.48 116.81 p < .001<br />

11. Jederzeit 2476 4.19 1.02 113 3.93 1.32 2.10 118.14 p < .05<br />

126


ERBEN: GESCHIEDENE CHRISTEN<br />

Im Vergleich mit Verheirateten geben Geschiedene an, weniger Freunde zu<br />

haben und weniger auf Hilfe von anderen zählen zu können. Mehr Geschiedene<br />

<strong>als</strong> Verheiratete berichten, dass sie eine große Leere erfasst. Wer so fühlt, hat<br />

wohl oft auch mit Sinnlosigkeit zu kämpfen. Erben (2000) berichtet von einer<br />

Untersuchung zur Glaubensreife geschiedener Christen in drei konservativen<br />

protestantischen Kirchen in den USA. Die Aussage „Mein Leben ist erfüllt von<br />

Sinn und einem Lebensziel“ war von den Geschiedenen in seiner Stichprobe<br />

nicht so stark befürwortet worden wie von adventistischen Erwachsenen in der<br />

Valuegenesis–Studie (Benson & Donahue, 1990). Die Frage nach dem Sinn ist<br />

eine Kernfrage der Scheidungsbewältigung (Hancock, 1980; Erben, 1997). Da<br />

Sinnfindung durch das Miteinander in einer Familie gefördert wird (Lantz,<br />

1993), kann der Zerfall einer Familie auch zu einer Zunahme von Gefühlen der<br />

Leere und Sinnlosigkeit führen.<br />

Auffallend ist, dass dreimal so viele Geschiedene wie Verheiratete aus den<br />

DJI-Stichproben angaben, sich oft im Stich gelassen zu fühlen. Barna (1993)<br />

fand in der „Family Views and Support” Studie von 1992 ein ähnliches Ergebnis.<br />

Nur 6% der 699 verheirateten US-amerikanischen Erwachsenen in seiner<br />

Stichprobe sahen sich selbst <strong>als</strong> „einsam“ an, während 22% der 132 Geschiedenen<br />

diese Aussage machten. Leider ist seine Stichprobe nicht homogen religiös<br />

(20% der Geschiedenen und 14% der Verheirateten gaben an, keine Christen zu<br />

sein).<br />

Die 11 Aussagen wurden zu einer Skala zusammengefasst. Für sechs Aussagen<br />

(2, 3, 5, 6, 9, 10) wurden die Werte vertauscht. Der Alpha Koeffizient der<br />

Reliabilität für diese Skala war .83 für die Gruppe der evangelischen Christen<br />

(N= 4013). Ein hohes Ergebnis an dieser Skala bedeutet, dass ein starkes soziales<br />

Netzwerk besteht.<br />

Ein t-Test für unabhängige Stichproben wurde durchgeführt. Der Durchschnittswert<br />

der Skala war 40.8 (SD=10.3) für die Gruppe der geschiedenen<br />

(ohne feste Partnerbeziehung lebenden) evangelischen Christen (N=109). Für<br />

die Gruppe der verheirateten (mit dem Ehepartner zusammenlebenden) evangelischen<br />

Christen (N=2454) war der Durchschnittswert der Skala 45.7 (SD=7.2).<br />

Die Differenz zwischen diesen beiden Werten war statistisch signifikant (t=-<br />

4.93, df=112.76, p < .001). Wie angenommen, haben in dieser Untersuchung<br />

verheiratete evangelische Christen ein stärkeres soziales Netzwerk <strong>als</strong> geschiedene<br />

Mitglieder der Evangelischen Kirche. Es ist allerdings nicht möglich, auf<br />

Grund der verwendeten Daten eine Aussage zu machen, ob das schwächere<br />

soziale Netzwerk von Geschiedenen eine Folge oder eine Ursache der Ehescheidung<br />

ist.<br />

127


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Gottesdienstbesuch<br />

Barna (1993) berichtet, dass 61% der Verheirateten in einer seiner USamerikanischen<br />

Stichproben sagen, dass sie 3mal oder noch häufiger jeden Monat<br />

in die Kirche gehen, während nur 43% der Geschiedenen diese Aussage<br />

machen. Albrecht, Bahr und Goodman (1983) untersuchten Verheiratete und<br />

Geschiedene in 8 Intermountain Staaten (Arizona, Colorado, Idaho, Montana,<br />

Nevada, New Mexico, Utah und Wyoming). In ihrer Stichprobe gingen 41%<br />

der Verheiraten wöchentlich zur Kirche, während nur 26% der Geschiedenen<br />

diese Gewohnheit hatten.<br />

Tabelle 3 zeigt, wie oft in der DJI-Stichprobe evangelische Christen zur Kirche<br />

gehen. Drei Gruppen wurden berücksichtigt: Verheiratete (mit dem Ehepartner<br />

zusammenlebend), allein stehende Geschiedene und Geschiedene, die<br />

eine neue Partnerbeziehung hatten. Mehr <strong>als</strong> doppelt so viele (12%) Verheiratete<br />

und allein stehende Geschiedene <strong>als</strong> Geschiedene mit neuem Partner (5%)<br />

gingen mindestens einmal im Monat zur Kirche. Der Anteil derer, die nie zur<br />

Kirche gehen, war bei beiden Gruppen von Geschiedenen doppelt so hoch wie<br />

bei den Verheirateten. Geschiedene, die einen neuen Partner gefunden haben,<br />

scheinen von allen drei Gruppen die größte Distanz zum kirchlichen Leben zu<br />

haben.<br />

Die Wertung der Ehe <strong>als</strong> Institution<br />

Barna (1993) berichtet, dass Geschiedene an der großen Bedeutung von Ehe<br />

und Familienstabilität festhalten. Fast genauso viele Geschiedene (76%) wie<br />

Verheiratete (80%) sind der Meinung, dass es Gottes Wille ist, dass die Menschen<br />

heiraten und in dieser Beziehung ein Leben lang bleiben. Sahlin & Sahlin<br />

(1997) zeigen, dass 48% der adventistischen Geschiedenen der Meinung waren,<br />

dass es unerlässlich ist - egal wie schmerzhaft es sein mag - zu seinem Ehepartner<br />

zu stehen. Von den adventistischen Verheirateten unterstützten 66% diese<br />

Aussage.<br />

128


ERBEN: GESCHIEDENE CHRISTEN<br />

Tabelle 3<br />

Kirchganghäufigkeit von verheirateten evangelischen Christen und zwei<br />

Gruppen von geschiedenen evangelischen Christen<br />

Kirchganghäufigkeit<br />

Mindestens einmal pro<br />

Woche<br />

Ein- bis dreimal im<br />

Monat<br />

Mehrm<strong>als</strong> im Jahr bis<br />

selten<br />

Geschieden<br />

Ohne feste<br />

Neue<br />

Verheiratet Partnerbeziehung Partnerbeziehung<br />

(N=2480)<br />

(N=113)<br />

(N=99)<br />

3.2% 3.5% --<br />

8.7% 8.8% 5.1%<br />

73.7% 56.6% 66.6%<br />

Nie 14.5% 31.0% 28.3%<br />

Der Fragebogen der 2. Welle des DJI-Familiensurveys enthielt eine Liste mit<br />

9 verschiedenen Aussagen zur Ehe. Die Reaktionen der verheirateten (mit dem<br />

Ehepartner zusammenlebenden) evangelischen Christen wurden mit den Antworten<br />

der geschiedenen (ohne feste Partnerbeziehung lebenden) evangelischen<br />

Christen verglichen. Es wurde angenommen, dass es zwischen den beiden<br />

Gruppen Unterschiede darin gibt, wie die Ehe <strong>als</strong> Institution eingeschätzt wird.<br />

Insgesamt wurde erwartet, dass Geschiedene auf Grund ihrer persönlichen Erfahrungen<br />

ein negativeres Bild von der Ehe haben <strong>als</strong> Verheiratete.<br />

Geschiedene werden sich wahrscheinlich von Verheirateten darin unterscheiden,<br />

dass sie die Ehe weniger häufig <strong>als</strong> einen Ort der Sicherheit und Geborgenheit<br />

sehen. Sie werden mehr <strong>als</strong> Verheiratete denken, dass Ehe mit Streit<br />

und Ärger verbunden ist. Sie werden weniger bestätigen, dass eine Ehe finanzielle<br />

und wirtschaftliche Vorteile bringt, werden das Aufgeben von Freiheiten<br />

höher einschätzen, weniger gesellschaftliche Anerkennung in der Ehe sehen<br />

und mehr widersprechen, dass Kinder wirklich ein Zuhause haben, nur wenn<br />

die Eltern verheiratet sind. Sie werden ein größeres finanzielles Risiko sehen,<br />

129


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

weniger bestätigen, dass Verpflichtungen übernommen werden müssen und<br />

auch weniger bekräftigen, dass Liebende auch heiraten sollen.<br />

Die Tabelle 4 zeigt das Ausmaß der Zustimmung zu den 9 verschiedenen<br />

Aussagen. Die Berechnungen beziehen sich auf 2481 verheiratete (mit Ehepartner<br />

zusammenlebende) evangelische Christen (37% Männer, 63% Frauen) und<br />

113 geschiedene (ohne feste Partnerbeziehung lebende) evangelische Christen<br />

(24% Männer, 76% Frauen). Als Zustimmung zu einer Aussage wurden die<br />

Werte 3 („Stimme überwiegend zu“) und („Stimme volle und ganz zu“) gezählt.<br />

Besonders groß waren die Unterschiede im Grad der Zustimmung bei den Aussagen<br />

1 und 2.<br />

Die Tabelle 5 zeigt die Ergebnisse des statistischen Tests. Nur bei 2 Aussagen<br />

waren keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Verheirateten und<br />

Geschiedenen festzustellen (Aussagen 5 und 7). Verheiratete und Geschiedene<br />

sahen in gleichem Maß die Ehe <strong>als</strong> eine Institution, die eine höhere gesellschaftliche<br />

Anerkennung bringt. Auch das hohe finanzielle Risiko der Ehe wegen<br />

möglicher Scheidungsfolgen wurde im gleichem Maße anerkannt.<br />

Für Geschiedene ist die Ehe jedoch weniger ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit.<br />

Sie sehen Ehe stärker mit Streit und Ärger verbunden. Der Verlust<br />

persönlicher Freiheiten wird viel stärker betont. Geschiedene sind weitaus häufiger<br />

der Meinung, dass Kinder auch ohne Ehe wirklich ein Zuhause haben<br />

können. Liebe wird seltener mit Heirat verbunden. Geringere finanzielle und<br />

wirtschaftliche Vorteile werden gesehen. Geschiedene bestätigen auch weniger,<br />

dass Ehe die Bereitschaft bedeutet, füreinander auch Verpflichtungen zu übernehmen.<br />

Wie angenommen, haben in dieser Untersuchung geschiedene evangelische<br />

Christen ein negativeres Bild von der Ehe <strong>als</strong> verheiratete evangelische<br />

Christen. Es ist allerdings nicht möglich festzustellen, ob die negativere Sicht<br />

der Ehe <strong>als</strong> soziale Institution eine Folge oder eine Ursache der Ehescheidung<br />

ist. Negative Rollenmodelle während der Ehe oder negative Haltungen zur Ehe<br />

nach der erfolgten Ehescheidung werden vermutlich nicht ohne Wirkung auf<br />

andere Menschen im sozialen Umfeld bleiben. Diefenbach (1999) machte empirische<br />

Beobachtungen zur Scheidungstransmission, die auf die Bedeutung des<br />

sozialen Lernens bei der Entstehung der intergenerationalen Scheidungstransmission<br />

hinweisen.<br />

130


ERBEN: GESCHIEDENE CHRISTEN<br />

Tabelle 4<br />

Wie Verheiratete und Geschiedene die Institution der Ehe sehen<br />

Zustimmung in %<br />

Aussage Verheiratete Geschiedene<br />

1. Eine Ehe bedeutet Sicherheit und Geborgenheit<br />

2. In einer Ehe zu leben, ist mit Streit und Ärger<br />

verbunden<br />

3. Eine Ehe bringt finanzielle und wirtschaftliche<br />

Vorteile<br />

4. Wenn man heiratet, muss man viele persönliche<br />

Freiheiten aufgeben<br />

5. In einer Ehe zu leben, bedeutet mehr gesellschaftliche<br />

Anerkennung<br />

6. Nur wenn die Eltern verheiratet sind, haben<br />

die Kinder wirklich ein Zuhause<br />

7. Die Ehe ist wegen der möglichen Scheidungsfolgen<br />

mit einem hohen finanziellen Risiko<br />

verbunden<br />

8. Ehe bedeutet die Bereitschaft, füreinander<br />

auch Verpflichtungen zu übernehmen<br />

9. Wenn zwei Menschen sich lieben, sollen sie<br />

auch heiraten<br />

93 65<br />

30 60<br />

64 53<br />

44 66<br />

50 48<br />

63 42<br />

63 60<br />

99 97<br />

74 58<br />

131


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Tabelle 5<br />

Vergleich der Durchschnittswerte der Reaktionen von verheirateten und<br />

geschiedenen evangelischen Christen auf 9 verschiedene Aussagen über die<br />

Ehe<br />

Verheiratete<br />

Geschiedene<br />

Aussage<br />

N<br />

Mittel-<br />

wert<br />

SD<br />

N<br />

Mittel-<br />

wert<br />

SD<br />

t-Wert<br />

1.1.2<br />

DF<br />

Signifikanz<br />

1. Sicherheit 2479 3.46 0.69 113 2.81 0.96 7.04 117.34 p < .001<br />

2. Streit 2478 2.16 0.88 113 2.72 0.95 -6.13 120.94 p < .001<br />

3. Vorteile 2474 2.77 0.91 113 2.58 0.95 2.22 2585 p < .05<br />

4. Freiheiten 2475 2.42 0.94 113 2.90 1.01 -5.33 2586 p < .001<br />

5. Anerkennung 2471 2.47 1.01 112 2.46 1.07 0.04 2581 n. s.<br />

6. Kinder 2477 2.82 1.11 112 2.33 1.16 4.61 2587 p < .001<br />

7. Risiko 2474 2.83 1.04 113 2.96 1.00 -1.31 2585 n. s.<br />

8.<br />

Verpflichtungen 2477 3.80 0.43 113 3.65 0.55 2.81 118.51 p < .01<br />

9.<br />

Lieben, heiraten 2472 3.10 1.00 113 2.74 0.96 3.72 2583 p < .001<br />

Gesundheit<br />

Forschungen (LaRue, Bank, Jarvik & Hetland, 1979, Mossey & Shapiro,<br />

1982) haben gezeigt, dass Selbstreport-Skalen, die den Gesundheitszustand<br />

erheben, tatsächlich im Ergebnis Vorhersagen im Hinblick auf Sterblichkeit<br />

machen können. Vorzeitige Sterblichkeit ist möglicherweise eine Folge von<br />

132


ERBEN: GESCHIEDENE CHRISTEN<br />

schweren Beziehungsproblemen. In einer Studie über das Altern und Sterben<br />

von Termans Stichprobe talentierter Kinder (Friedman, Tucker, Schwartz, Tomlinson-Keasey,<br />

Martin, Wingard & Criqui, 1995) wird gezeigt, dass diskontinuierlich<br />

Verheiratete ein höheres Risiko eines vorzeitigen Todes haben <strong>als</strong> Menschen,<br />

die in einer stabilen Ehe leben. Das Risiko ist für Menschen, die getrennt,<br />

geschieden oder verwitwet sind, sogar noch höher. Gottman (1994), der<br />

sich auch mit den möglichen negativen Folgen einer unglücklichen Ehe für die<br />

Gesundheit beschäftigt, meint, dass jede kausale Verbindung zwischen Unzufriedenheit<br />

mit der eigenen Ehe und schlechter Gesundheit in beide Richtungen<br />

gehen könnte (S. 107). Erben (1997) fand in seiner Studie über Geschiedene aus<br />

konservativen protestantischen Kirchen in den USA Beziehungen zwischen<br />

Gesundheitszustand und dem Grad der Scheidungsbewältigung.<br />

Im Fragebogen der 2. Welle des Familiensurveys des DJI war eine Frage nach<br />

dem gegenwärtigen Gesundheitszustand enthalten. Die Antwortmöglichkeiten<br />

waren: sehr gut, gut, zufriedenstellend, weniger gut, schlecht. Je höher der<br />

Wert, umso schlechter ist der Gesundheitszustand. Es wurde vermutet, dass<br />

geschiedene evangelische Christen (allein stehend oder in einer neuen Beziehung)<br />

einen schlechteren Gesundheitszustand per Selbstreport bekunden <strong>als</strong><br />

Verheiratete (zusammenlebend). Leider ließ sich aus den Daten nicht erheben,<br />

wie viele der Verheirateten noch in ihrer ersten Ehe lebten.<br />

Ein t-Test für unabhängige Samples wurde benutzt, um die Hypothese zu testen.<br />

Der Durchschnittswert für Gesundheit war 2.27 (SD=0.90) für Verheiratete<br />

(N=2481). Für Geschiedene (N=212) war der Durchschnittswert 2.52<br />

(SD=1.10). Die Differenz zwischen diesen beiden Werten war statistisch signifikant<br />

(t=-3.34, df=235.84, p < .001). Wie angenommen war der Gesundheitszustand<br />

der Geschiedenen schlechter. Allerdings lässt sich nicht erschließen, ob<br />

der schlechtere Gesundheitszustand die Folge oder die Ursache der gescheiterten<br />

Ehe ist.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Die obigen Beobachtungen regen an, mehr über die Situation von geschiedenen<br />

evangelischen Christen nachzudenken und zu forschen. Geschiedene Christen<br />

scheinen sich <strong>als</strong> Gruppe in bestimmten Erfahrungen, Haltungen und Verhaltensweisen<br />

von verheirateten Christen zu unterscheiden. Die empirische Sozialforschung<br />

in Deutschland ist gefragt, auf dem Gebiet der Scheidungsforschung<br />

auch für religiöse Subkulturen praxisrelevante Fragestellungen zu erarbeiten<br />

und Forschungsergebnisse vorzulegen, die nicht nur für Soziologen, Psy-<br />

133


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

chologen und Sozialarbeiter, sondern auch für Theologen von Interesse sein<br />

könnten.<br />

Literatur:<br />

Albrecht, S. L., Bahr, H. M. & Goodman, K. L.; Divorce and Remarriage: Problems,<br />

Adaptions, and Adjustments; Greenwood, Westport 1983.<br />

Barna, G. The Future of the American Family, Moody, Chicago 1993.<br />

Benson, P. L., & Donahue, M. J.; Valuegenesis Report I; Search Institute, Minneapolis, MN<br />

1990.<br />

Deutsches Jugendinstitut Familiensurvey Datenstruktur; (on-line). Verfügbar:<br />

http://www.dji.de/2_familiensurvey/welle2.htm (o.J.).<br />

Diefenbach, H.;Geschichte wiederholt sich nicht!? Der Zusammenhang von Ehescheidung in<br />

der Eltern- und in der Kindgeneration. In T. Klein & J. Kopp (Hrsg.), Scheidungsursachen<br />

aus soziologischer Sicht (S. 91-118); Ergon, Würzburg 1999.<br />

Erben, A.; Predictors of Divorce Adjustment Among Members of Three Conservative Protestant<br />

Denominations; Dissertation an der Andrews Universität. Unveröffentlicht. Berrien Springs,<br />

Michigan 1997.<br />

Erben, A.; Eine Untersuchung zur Glaubensreife geschiedener Christen in drei konservativen<br />

protestantischen Kirchen in den USA; Revidierte Version eines Vortrags zum Symposium<br />

Ehescheidung und Wiederverheiratung, Mühlenrahmede, BRD 2000.<br />

Friedman, H. S., J. S. Tucker, J. E. Schwartz, C. Tomlinson-Keasey, L. R. Martin, D. L.<br />

Wingard & M. H. Criqui; Psychosocial and Behavioral Predictors of Longevity : The Aging<br />

and Death of the “Termites.” American Psychologist; 50(2), 69-78, 1995.<br />

Gottman, J. M.; What Predicts Divorce?:The Relationship Between Marital Processes and<br />

Marital Outcomes; Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1994.<br />

Hancock, E.; The Dimensions of Meaning and Belonging in the Process of Divorce. American<br />

Journal of Orthopsychiatry, 50(1), 18-27. Christian Education, 2(1), 93-113, 1980<br />

Lantz, J.; Existential Family Therapy: Using the Concepts of Victor Frankl. Jason Aronson<br />

Northvale 1993.<br />

LaRue, A., Bank, L., Jarvik, L., & Hetland, M.; Health in Old Age: How do Physicians’ Ratings<br />

and Self Ratings Compare? Journal of Gerontology, 34(5), 687-691, 1979 .<br />

Mossey, J., & Shapiro, E.; Self-Rated Health: A Predictor of Mortality Among the Elderly.<br />

American Journal of Public Health, 72(8), 800-808,1982.<br />

134


ERBEN: GESCHIEDENE CHRISTEN<br />

Sahlin, M., & Sahlin, N.; A New Generation of Adventist Families. Portland, OR: Center for<br />

Creative Ministry 1997.<br />

Wallerstein, J. S., & Blakeslee, S.; Second Chances : Men, Women and Children a Decade<br />

After Divorce. New York: Ticknor & Fields 1989.<br />

135


Scheidung und Begleitumstände<br />

Eine anwaltliche Stellungnahme zur Thematik<br />

Matthias Kramer<br />

Scheidung und Begleitumstände<br />

Der Anfang einer Ehe wird bekanntlich ohne anwaltliche Hilfe gesucht. Nur<br />

in wenigen Fällen schließen die zukünftigen Eheleute einen Ehevertrag. Das<br />

gefundene gemeinsame Glück steht im Vordergrund. Es wird nicht über ein<br />

mögliches Ende nachgedacht. Die Zweisamkeit soll ein Leben lang halten.<br />

Wann sich ein Paar von dem Gedanken der Unauflöslichkeit der Ehe verabschiedet,<br />

ist schwer zu beurteilen; was es dabei durchleidet, noch schwerer.<br />

Es soll aus anwaltlicher Sicht skizziert werden, welche Umstände in einem<br />

Trennungs- und Scheidungsverfahren den Eheleuten begegnen.<br />

Zunächst jedoch muss festgestellt werden, dass unsere Rechtsordnung trotz<br />

aller vollmundigen Motivformulierungen die Basis für eine lebenslange Ehe<br />

nicht stellt.<br />

Überblick Scheidungsrecht<br />

Nicht das „Prinzip der individuellen Freiheit“ im Eherecht, sondern „das Bewusstsein<br />

des sittlichen Ernstes der Ehe und die Auffassung derselben <strong>als</strong> einer<br />

von dem Willen der Ehegatten unabhängigen sittlichen Ordnung“ entspricht der<br />

christlichen Gesamtanschauung des deutschen Volkes. 1<br />

Das heißt nichts anderes, <strong>als</strong> dass die Ehe nicht den Gestaltungswünschen des<br />

Einzelnen unterliegt, sondern durch die Rechtsordnung ausgestaltet wird.<br />

So war es auch diese Rechtsordnung, die gravierende Veränderungen im Eheund<br />

Scheidungsrecht setzte.<br />

Ausgehend von der sittlichen Ordnung war die Scheidung bei Entstehung des<br />

bürgerlichen Gesetzbuches nur in besonderen Fällen möglich. Damit wurde<br />

dem Grundsatz Rechnung getragen, dass die Ehe ihrem Begriff und Wesen<br />

nach unauflöslich, die Scheidung daher stets etwas Anormales ist.<br />

1 Aus den Motiven zum BGB IV 563<br />

137


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die einzigen Scheidungsgründe waren:<br />

- Ehebruch<br />

- Böswilliges Verlassen<br />

- Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Ehe, weil ein Partner ehrloses, unsittliches<br />

Verhalten zeigt<br />

Die einzige Ausnahme vom Verschuldensprinzip stellte die Feststellung der<br />

Geisteskrankheit dar.<br />

Der Schuldige schuldete dem Partner einen Lebensunterhalt in Geld.<br />

Durch die Einführung des Ehegesetzes im Jahre 1938 kam ein Zerrüttungstatbestand<br />

neu hinzu, der jedoch damit verbunden war, einem Partner die Schuld<br />

an der Zerrüttung zuzuweisen.<br />

Des weiteren war die Scheidung zulässig, wenn ein Partner die Fortpflanzung<br />

verweigerte oder wenn ein Partner gar unfruchtbar war (Erfindung des Nation<strong>als</strong>ozialismus).<br />

Durch die nächste gravierende Veränderung des Ehegesetzes 1946 wurden die<br />

typischen NS-Inhalte des Scheidungsrechtes wieder entfernt. Erst am 18.6.1957<br />

wurde das Gesetz zur Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auf dem<br />

Gebiet des bürgerlichen Rechts eingeführt, obwohl bereits durch das Grundgesetz<br />

von 1949 gemäß Art. 3 die Gleichheit zwischen den Geschlechtern festgehalten<br />

wurde.<br />

Das für uns heute maßgebliche Scheidungsrecht wurde – erhebliche Zeit später<br />

im Jahr 1976 – eingeführt. Es war der Abschied von dem Prinzip des Verschuldens.<br />

„Die neue Konzeption trägt den gegenüber der Entstehung des Bürgerlichen<br />

Gesetzbuches um 1900 veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen, insbesondere der gewandelten Stellung der Frau, aber auch dem<br />

neuen Verständnis der Ehe <strong>als</strong> einer partnerschaftlichen Verbindung gleichberechtigter<br />

und gleichverpflichteter Ehegatten Rechnung. Durch die Einführung<br />

des Zerrüttungsprinzips wird der Grundsatz, dass die Ehe auf Lebenszeit angelegt<br />

ist, nicht angetastet.“ 2<br />

Einziger Scheidungsgrund ist nun das Scheitern der Ehe, dass bei 3-jährigem<br />

Getrenntleben unwiderlegbar vermutet wird. Sind beide Ehepaare einig über die<br />

Zerrüttetheit, kann die Ehe nach einem Trennungsjahr geschieden werden.<br />

Die Abkehr vom Schuldprinzip führte zur wirtschaftlichen Sicherheit des<br />

nichtarbeitenden Ehegatten, der seiner Ansprüche nicht verlustig ging, auch<br />

2 Aus den Motiven zum 1. EheRG, BR-Drucks. 260/73, S. 59 und 60<br />

138


KRAMER: ANWALTLICHES<br />

wenn die Trennung in seinem Ursachenbereich zu suchen war. Die Hausfrau<br />

riskierte bis dahin ihre Versorgung, wenn sie den Schuldgrund setzte. Denn nur<br />

schuldlos wurden ihr Unterhalt etc. zugesprochen.<br />

Die große Reform von 1976 führte vom Verschuldensprinzip zum Prinzip der<br />

Zerrüttetheit der Ehe. Nunmehr musste nicht an Ehen festgehalten werden, die<br />

bereits im Bereich der Partnerschaftlichkeit auseinandergelebt waren.<br />

Neu war auch die Durchführung des Versorgungsausgleichs unabhängig vom<br />

Güterstand.<br />

Durch diese Änderungen wurde es zum einen erheblich einfacher, die Ehescheidung<br />

herbeizuführen, andererseits wurde der wirtschaftlich Schwächere<br />

nicht in eine unsichere Existenzgrundlage entlassen. Zugleich wurde zwar weiterhin<br />

die Dauer der Ehe auf Lebenszeit bejaht und daran festgehalten, die<br />

Rahmenbedingungen vermittelten aber eine in der Praxis leicht herzustellende<br />

Konstellation, die zur einfachen Scheidung der Ehe führte. Diese Aussage der<br />

Einfachheit gilt natürlich nur für den juristischen Bereich.<br />

Scheidungsgrundlagen und deren Auswirkung<br />

Bei einer einverständlichen Scheidung – der am meisten anzutreffenden<br />

Scheidungsform – ist es aus juristischer Sicht schwer zu beurteilen, was das<br />

einzelne Paar durchleidet. Es wird ja gerade vom Gesetzgeber verlangt, dass<br />

Einigkeit zur Scheidung besteht, bis hin zu den sog. Folgesachen (Sorgerecht,<br />

Unterhalt, Zugewinn, Hausrat, eheliche Wohnung). Anzutreffen ist deshalb,<br />

dass Einigkeit um des Scheidungszieles wegen behauptet, vielleicht auch vorgetäuscht<br />

wird, obwohl der Umgang eine andere Stimmung zwischen den Eheleuten<br />

vermittelt.Nachdem dann „einvernehmlich“ geschieden worden ist, kann der<br />

Streit um die Folgesachen wieder aufgenommen werden nicht ganz ohne juristische<br />

Komplikationen, aber es geht.<br />

Bei der Scheidungsform, bei der nach dreijähriger Trennung die Zerrüttetheit<br />

unwiderlegbar vermutet wird, reicht es aus, dass ein Partner die Scheidung will.<br />

Nur in ganz seltenen Fällen hält unsere Rechtsordnung die Ehe trotz Trennung<br />

aufrecht. In diesen Fällen würde die Scheidung für einen Partner eine unbillige<br />

Härte darstellen. Bei der Scheidung auf den Wunsch des einen, auch gegen den<br />

des anderen werden naturgemäß offener die Differenzen auch auf den für die<br />

Scheidung relevanten Gebieten ausgetragen.<br />

Die Möglichkeit für die Gerichte, die Zerrüttetheit der Ehe festzustellen, wird<br />

darüber hinaus dadurch erschwert, dass die Aussagen beider Eheleute hierzu<br />

139


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

heranzuziehen sind, woraufhin das Gericht das Scheitern der Ehe feststellen<br />

muss. Dies kann sehr schnell dazu führen, dass die auf Lebenszeit angelegte<br />

Ehe ihre baldige Auflösung erfährt; nach dem Gutdünken der Eheleute, bei denen<br />

die Anlage der Ehe auf Lebenszeit nicht oder nicht mehr derart tief verwurzelt<br />

ist, <strong>als</strong> es sich die gesetzlichen Motive vorstellten und dies auch in der<br />

höchstrichterlichen Rechtsprechung Niederschlag gefunden hat. „Die Ehescheidung<br />

hat für die Rechtsordnung die Ausnahme zu bilden.“ 3<br />

Sicherlich wäre eine Rückkehr zum Prinzip des Verschuldens keine Lösung.<br />

Gerade die Abkehr stellte einen Meilenstein dar, hin zu einer gerechteren Lösung.<br />

Aber diese gerechtere Lösung verwirklicht nicht unbedingt das Motiv der<br />

Rechtsordnung, sondern nur den Ausgleich zwischen Parteien für die Auswirkungen,<br />

die sie das Gesetz beim Umgang miteinander erfahren lässt.<br />

Tragik einer Scheidung<br />

Durch das Verlassen der ehelichen Wohnung durch einen Partner wird häufig<br />

der Beginn der Zeit des Getrenntlebens gesetzt. Dieser Lebensgefährte, der<br />

auch der aktive Teil des gesamten Verfahrens sein wird, setzt diesen Anfang,<br />

weil er/sie es innerhalb der Ehe nicht mehr aushält oder den Entschluss für richtig<br />

erachtet. Er/Sie verlässt die eheliche Wohnung und nimmt damit am Anfang<br />

den größten Teil der Umstellung auf sich. Zum Teil kommt es zunächst zu Interimslösungen,<br />

indem zu den Eltern oder zu Freunden gezogen wird.<br />

Zwar sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, auch den nicht scheidungswilligen<br />

Partner aus der ehelichen Wohnung zu entfernen, aber juristische Mittel auszuschöpfen<br />

erscheint mir am schwierigsten am Anfang der Trennung. Die Nähe<br />

zur Ehegemeinschaft ist noch sehr groß. Oft schafft erst die räumliche und zeitliche<br />

Distanz die notwendige Nüchternheit, um eigene Rechte zu erkennen und<br />

wahrzunehmen bzw. wahrnehmen zu lassen.<br />

Sicherlich wäre ein Wahrnehmen der eigenen Rechte mit anwaltlicher Hilfe<br />

nicht notwendig, wenn eine Ehe geplant und im eigentlichen Sinne einvernehmlich<br />

auseinander ginge. Die Partner würden sich gemeinsam bemühen, den für<br />

alle Beteiligten besten Weg zu finden, und ihn umsetzen. Eine selten anzutreffende<br />

Konstellation, die aber insbesondere in Bezug auf die gemeinsame Sorge<br />

für die Kinder vom Gesetzgeber in gravierender Deutlichkeit gefordert wird<br />

und an dessen Anspruch die meisten Paare scheitern.<br />

So zieht meistens der aktive Partner aus. Wenn dies die Frau ist, dann mit den<br />

3 Urteil des BverfG v. 28.02.1980<br />

140


KRAMER: ANWALTLICHES<br />

gemeinsamen Kindern. In den wenigsten Fällen bleiben die Kinder bei den Vätern,<br />

und dann auch nur nach großem prozessualem Aufwand.<br />

Wenn <strong>als</strong>o der aktive Teil die räumliche Trennung vollzogen hat, beginnt die<br />

Behördenrundreise, bei der die steuerliche Trennung, die Ummeldung, die Anmietung<br />

von Wohnraum, Arbeitssuche oder auch der Gang zum Sozialamt im<br />

Vordergrund stehen. Das Geld, welches häufig bereits nicht üppig für die Familie<br />

reichte, soll nun für zwei Haushalte reichen. Häufig reicht es nicht, so dass<br />

Unterstützung zum Lebensunterhalt beansprucht werden muss. Familienrechtlich<br />

spricht man von sog. Mangelfällen.<br />

Je eigenständiger ein Partner ist, desto eher wird er einzelne Dinge bereits erledigt<br />

haben, bis er zum Anwalt geht. In einigen Fällen kommt dem Anwalt<br />

bereits von Anfang an die Rolle des Begleiters und Seelsorgers bei der Trennung<br />

zu. Insbesondere dann, wenn die Partner derart zerstritten sind, dass ein<br />

angemessenes Überleben beider erst einmal gesichert werden muss. Das bürgerliche<br />

Recht verlangt hier mehr <strong>als</strong> die Eheleute zu geben in der Lage sind. Während<br />

der Trennung wird von den Lebensgefährten ein höheres Maß an Verantwortung<br />

und Rücksichtnahme aufeinander erwartet <strong>als</strong> nach der Scheidung. 4<br />

Innerhalb des Scheidungsverfahrens kommt selten dem Versorgungsausgleich<br />

ein Streit zu, da er sehr logisch aufgebaut ist und auch von den wenigsten Beteiligten<br />

verstanden wird. Es handelt sich hierbei um den Ausgleich in der Ehezeit<br />

erworbener Rentenanwartschaften.<br />

Wesentlich häufiger kommt es zum Streit um den gemeinsamen Hausrat, das<br />

Sorgerecht oder das Umgangsrecht. Unterhaltsansprüche und Zugewinnausgleich<br />

sind ebenfalls Kanten im Scheidungsverfahren. Der Streit um Hausrat<br />

und Kinder wird häufig die Bühne für eine Scheidung, in der von der nüchternen<br />

Beurteilung der Zerrüttetheit abgewichen, der emotionale Streit zwischen<br />

den Eheleuten ausgetragen wird.<br />

Nicht selten wird um auch weniger wertvollen Hausrat um des immateriellen<br />

Wertes wegen gestritten, um ihn dann nach erfolgreichem Prozessieren zu verschenken<br />

oder - noch schlimmer - der Müllentsorgung zuzuführen.<br />

Dramatisch, aber deshalb nicht seltener anzutreffen, ist der Streit um Sorgeund<br />

Besuchsrecht. Getrenntleben und Scheidung werden am ehesten zu Tragödien,<br />

wenn – und das gilt für jeden Teil der einzelnen Verfahrensabschnitte –<br />

gemeinsame Kinder vorhanden sind. Auf dem Rücken der Kinder wird das unbefriedigte<br />

Streitpotential ausgetragen.<br />

Hier ist vielleicht der größte Abstand zwischen der Wirklichkeit und den ge-<br />

4 Palandt, Kommentar zum BGB § 1361, Rdn. 2, 59. Aufl. 2000<br />

141


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

setzlichen Forderungen gegeben.<br />

Nach der Kindschaftsrechtsreform vom 1. Juli 1998 wurde der Ausnahmetatbestand<br />

der gemeinsamen elterlichen Sorge trotz Scheidung die Regel. Die Eltern<br />

sollen losgelöst von ihrem partnerschaftlichen Streit die Sorge für ihre<br />

Kinder ungetrübt weiter gemeinsam ausüben und haben alles erdenkliche dafür<br />

zu tun, dass sie die Kinder nicht in einen Loyalitätskonflikt stürzen.<br />

Dass die Ehe auf Lebenszeit angelegt sein soll, wird vom Gesetz deutlich unterstützt.<br />

Die vom Gesetzgeber geforderte gemeinsame Sorge zum Wohle des<br />

Kindes kann am ehesten innerhalb einer ungetrennten Partnerschaft ausgeübt<br />

werden.<br />

Die getrennte Partnerschaft ist hierzu selten in der Lage. Vielmehr wird die<br />

Sorge für die Kinder <strong>als</strong> Machtinstrument missbraucht. Die selber erlebten<br />

emotionalen Vorkommnisse werden auf die Beziehung des Partners zu den<br />

Kindern übertragen, was wiederum zu einem Kampf gegen den Partner über das<br />

Mittel Kinder führt. Gestritten wird um das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die<br />

elterliche Sorge allgemein bis hin zum Besuchsrecht. Das Besuchsrecht bzw.<br />

Umgangsrecht stellt das letzte Bändchen Beziehung zwischen dem nicht sorgeberechtigten<br />

Elternteil und den Kindern dar und wird von den Gerichten nur in<br />

den allerseltensten Fällen ausgeschlossen. Kommt es dennoch zu einem Ausschluss,<br />

wird dieser auf Zeit ausgesprochen.<br />

Vielfach haben sich Gerichte damit zu beschäftigen, wann, wie lange, wo und<br />

wie oft das Besuchsrecht wahrgenommen werden darf. Es wird bis hin um einzelne<br />

Stunden gestritten. Ich erinnere mich an Sitzungen, wo sehr lange darüber<br />

diskutiert und auch lautstark gestritten worden war, wann der andere das Kind<br />

sehen darf. Es wurde gestritten über die Abholuhrzeit wie auch über das Ende<br />

der Besuchszeit. Es wurde darüber gestritten, ob das Kind abgeholt oder gebracht<br />

werden soll. Auch ein Streit über die Verwendung welchen Transportmittels<br />

ist in den Verfahren nicht fremd.<br />

Die Familienrichter sind in solchen Fällen extrem geduldig. Ein derart geschildertes<br />

Verhalten erscheint den nüchternen Beteiligten eben nicht vordergründig<br />

böswillig, sondern von einer Unfähigkeit geprägt, einzelne Scheidungsaspekte<br />

voneinander getrennt zu betrachten und zu behandeln. Unfähigkeit<br />

sei hier im wörtlichen Sinn verstanden, ohne den mitklingenden Vorwurf<br />

zu betonen. Es kann vorkommen, dass die gegnerische Partei den Anwalt des<br />

Partners kontaktiert statt den Partner selbst. Mutmaßlich liegt der Grund in der<br />

fehlenden Kommunikationsfähigkeit mit dem eigenen Partner. Doch auch wenn<br />

es nicht an dem Vermittlungswillen des Anwalts liegt, wird die Unfähigkeit,<br />

gemeinsame Lösungswege zu finden, nicht durch Rat und Hilfestellung durch-<br />

142


KRAMER: ANWALTLICHES<br />

brochen.<br />

Der Kampf um diesen Streit zerrt erheblich an den Eheleuten. Beide Partner<br />

haben ausreichend Argumente, warum gerade hier der andere die Kinder nicht<br />

sehen soll. Diese Streits nützen weder den Kindern noch den Eltern. Sie verhindern<br />

die Einrichtung eines gemeinsamen, wenn auch durch Auflösung der Ehe<br />

getrennten Miteinanders. Erst wenn die Scheidungsemotionen abgeklungen<br />

sind, ist der Weg frei für eine gemeinsame Linie zum Wohle der Kinder.<br />

Emotionen<br />

Die Unauflöslichkeit der Ehe ist in den Köpfen von Scheidungsmandanten<br />

selten vorhanden, jedenfalls in dem Moment, in dem der Rechtsanwalt hinzugezogen<br />

wird. Dann wird bereits von einem Lebensabschnittspartner gesprochen.<br />

Emotionen werden selten gezeigt. Es wird scheinbar nüchtern mit dem Thema<br />

Scheidung umgegangen. Allerdings sprechen Exzesse in den Verfahren eine<br />

deutliche Sprache, wie nüchtern der Umgang der Eheleute miteinander auch ist.<br />

Ist die Sicht von der Unauflöslichkeit der Ehe vielleicht am Anfang noch vorhanden,<br />

am Ende ist dies selten der Fall. Obwohl auch dies teilweise vorkommt.<br />

Am ehesten bei Partnern, die sehr stark darunter leiden, dass sie zwar dem gemeinsamen<br />

Zusammenleben noch eine Chance geben, aber der andere die Partnerschaft<br />

scheinbar bereits aufgegeben hat.<br />

Für mich <strong>als</strong> Rechtsanwalt sind es die wünschenswertesten Verfahrensausgänge,<br />

wenn ich mit beiden Parteien nach dem gerichtlichen Scheidungsurteil<br />

gemeinsam Kaffee trinken kann und zwischen den Geschiedenen eine Ebene<br />

wahrnehme, die dem anderen die Lebensberechtigung nicht missgönnt. Wenn<br />

dann bei gemeinsamen Kindern ein einheitliches Vorgehen oder zumindest das<br />

Bemühen dafür festzustellen ist, habe ich die erwartungsvollsten Zukunftshoffnungen.<br />

Diese Fähigkeit, auch nach der Beendigung der Ehe einander menschlich<br />

zu begegnen, erwächst nicht aus dem Moment. Dieser Umgang war mit<br />

Sicherheit bereits im ehelichen Miteinander anzutreffen und hat auch das gesamte<br />

Scheidungsverfahren geprägt.<br />

Je mehr allerdings im Scheidungsverfahren vor Gericht gestritten wurde, desto<br />

stärker werden die Eheleute diesen Abschnitt durchlitten haben.<br />

Logischerweise gibt es somit am Ende auch einen Gewinner und einen Verlierer.<br />

Zumindest einer wird daran schwer zu tragen haben, wobei der Scheidungsausspruch<br />

keineswegs das Ende des Leidensweges darstellt. Ein Weg, der ausgelöst<br />

wurde durch eine Verbindung, die glückliche Zweisamkeit beinhalten<br />

sollte und die auf Lebenszeit angelegt war.<br />

143


Bibelarbeiten


Ehe, Scheidung und Wiederheirat<br />

in Evangelien- und Paulustexten im NT<br />

Eine theologische Reflexion<br />

Klaus Schmitz<br />

I Einssein<br />

1. Gottes Schöpfungsgabe: menschliches Einssein (Genesis 1, 26-28 und<br />

2, 18.23.24.<br />

Der biblische Bericht von der Herkunft des Menschen - wobei die hebräische<br />

Bezeichnung für „Mensch“ („adam“) nicht <strong>als</strong> Bezeichnung für ein bestimmtes<br />

Einzelwesen, sondern <strong>als</strong> Gattungsbegriff („Mensch“) zu verstehen ist - spricht<br />

von Gottes uranfänglich schöpferischem Handeln (Genesis 1, 26.27a). Nach<br />

dem Willen Gottes wird das Menschsein von Beginn der Schöpfung an <strong>als</strong> in<br />

zwei Geschlechtern differenziert erlebt. Zur Gattung Mensch gehören männliche<br />

und weibliche Wesen gleichermaßen 1 und ohne uranfänglich erkennbaren<br />

Wertunterschied; d.h.: mit unserem Menschsein ist das Vorhandensein zweier<br />

Geschlechter <strong>als</strong> wechselseitiges „Gegenüber“ (Genesis 2, 18) schöpfungsmäßig<br />

mit gesetzt. Geschlechtlichkeit, <strong>als</strong>o Männlichsein und Weiblichsein, ist<br />

nichts Sekundäres, sondern etwas Primäres im Blick auf das Menschsein.<br />

Auf dieses Tun Gottes in der Schöpfung bezieht sich menschliches Leben und<br />

Handeln grundsätzlich, <strong>als</strong>o auch bei der Entscheidung zur ehelichen Lebensgemeinschaft<br />

von Mann und Frau. 2 Gottes Tun bedeutet die Ermöglichung für<br />

das entsprechende Handeln des Menschen, anschaulich erzählt in Genesis 2,<br />

18ff. Was sich mit der Ehe ereignet, wird verstanden <strong>als</strong> Konkretion des grundsätzlichen<br />

Auf-einander-Bezogenseins des Menschen in der Zweigeschlecht-<br />

1 Keineswegs aber kann die Aussage in Genesis 1, 27b auf eine uranfängliche Androgynität im<br />

ersten Einzelwesen Mensch bezogen werden, heißt es doch unmissverständlich: „Er schuf sie<br />

(Mehrzahl) männlich und weiblich“.<br />

2 Genesis 1, 27b spricht übrigens nicht direkt von solcher ehelichen Zusammengehörigkeit; hier<br />

heißt es nicht „Mann und Weib“ im Sinne von Ehemann und Ehefrau, sondern: „männlich und<br />

weiblich“, im Sinne der Geschlechtsdifferenzierung bei den Menschen.<br />

147


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

lichkeit: es handelt sich um ein grundlegendes und umfassendes personales, und<br />

das meint zugleich: ein geschichtliches Geschehen.<br />

In diesem Geschehen wird das eigene Menschsein im ganzheitlichen Sinne<br />

sowie der Mitmensch <strong>als</strong> Du in umfassender und spezieller Art und Weise einbezogen<br />

(Genesis 2, 23f.). Die Bibel spricht in diesem Zusammenhang vom<br />

„Einssein“ der zwei in ehelicher Lebensgemeinschaft, <strong>als</strong>o von einer neuen personalen<br />

Einheit aus den zwei Einzelwesen<br />

2. Sexuelles Einssein und der Fortpflanzungsauftrag<br />

Das Leibliche hat darin auch insofern seine besondere Bedeutung, <strong>als</strong> dadurch<br />

neues Leben entsteht. Es ist m.E. ein wesentlicher Aspekt des AT insgesamt,<br />

der in der jüdischen Auffassung von der Ehe in der Antike und tendenziell bis<br />

heute seinen Niederschlag gefunden hat, 3 dass nämlich beim Stichwort „Mann<br />

und Frau“ sofort und vorrangig der Gesichtspunkt der Fortpflanzung des Menschengeschlechts<br />

erwähnt wird (Genesis 1, 27f!). - Von hier kommt es zu einem<br />

Verständnis der Ehe, in welcher das Heiraten quasi zu einer religiösen Pflicht<br />

wird 4 und des Weiteren zur besonderen Thematisierung von Kindersegen bzw.<br />

ungewollter Kinderlosigkeit nicht nur mit einer ethnisch-nationalen, sondern<br />

vor allem mit einer religiösen Implikation (vgl. Genesis 12, 1-3).<br />

Dieses Verständnis von Ehe bzw. ehelicher Sexualität unter dem Gesichtspunkt<br />

der Fortpflanzung, in den jüdischen Ehe-Vorstellungen um die Zeitenwende<br />

nur unter übergeordneten geistlichen Gesichtspunkten für bestimmte<br />

Menschen teilweise ausgesetzt oder gemildert, 5 findet sich im NT nicht <strong>als</strong><br />

selbständiger theologischer Aspekt, der mit dem Thema Ehe unauflöslich verknüpft<br />

wäre. 6<br />

3 Abzulesen auch am Kinderreichtum der Orthodoxen Juden in Palästina.<br />

4 Zum diesbezüglichen traditionellen jüdischen Verständnis auf der Grundlage von Genesis 1,28<br />

siehe Billerbeck, II, S. 372f.<br />

5 Siehe hierzu den sehr informativen und aufschlussreichen Artikel von Karl-Heinrich Ostmeyer,<br />

Die Sexualethik des antiken Judentums im Licht des Babylonischen Talmuds!<br />

6 Wenngleich natürlich das Thema Elternschaft bzw. Kinder vielfältig im NT begegnet, aber<br />

eben nicht theologisch im Sinne der Fortpflanzungsfrage bzw. -pflicht.<br />

Der alttestamentlichen bzw. jüdischen Position sehr nahe steht bis heute die Lehrauffassung der<br />

Römisch-Katholischen Kirche mit ihrer allgemeinen Forderung der prinzipiellen Offenheit der<br />

Eheleute für Kinder und mit ihrer durch dogmatische Argumente gestützten grundsätzlichen<br />

Ablehnung z.B. der „Pille“ <strong>als</strong> künstlicher Schwangerschaftsverhütung, aber auch homosexueller<br />

Lebensgemeinschaften.<br />

148


SCHMITZ: EVANGELIEN UND PAULUS<br />

3. Ehe <strong>als</strong> einzigartige Bindung<br />

Grundsätzlich halte ich aber für die gesamte Bibel fest: Ungeachtet der besonderen<br />

religiösen Wertschätzung der Ehe <strong>als</strong> eine gute Gabe Gottes von<br />

Schöpfungsbeginn an, gilt es eine Unterscheidung in der Beurteilung vorzunehmen<br />

zwischen dem, was „ewig“ ist und das Heil des Menschen unmittelbar<br />

betrifft und dem, was „zeitlich“ ist und das Wohl des Menschen betrifft. Es<br />

kann m.E. kein Zweifel daran bestehen, dass die Bibel im Blick auf das Ehelichsein<br />

von einem zeitlichen Wohl, nicht jedoch von einer ewiggültigen Heilsgabe<br />

Gottes an die Menschen spricht, welche in sich selbst einen erlösenden<br />

Charakter hätte oder eine tatsächliche religiöse Verpflichtung darstellte.<br />

Das ändert freilich nichts daran, dass in der gesamten Bibel das menschliche<br />

Einssein bzw. faktische Einsgewordensein in der Ehe <strong>als</strong> ein personales Geschehen<br />

von unvergleichlicher, singulärer Bedeutung verstanden und dargestellt<br />

wird. Die Bindungsintensität wird dabei m.E. nicht nur <strong>als</strong> subjektiv-individuell<br />

aufgefasst, die durch neuerliche andere Entscheidungen beliebig veränderbar<br />

wäre. Vielmehr wird das Einssein <strong>als</strong> ein quasi objektiver neuer Sachverhalt<br />

gesehen, der eine gleichsam unbedingte Bedeutung hat: ‚es gibt kein Zurück’.<br />

Das gilt auch angesichts der Tatsache, dass in Frühzeit und Antike - und weithin<br />

auch bis zur Neuzeit - die Ehe nicht durch eigene, individuelle Wahl im<br />

Sinne einer romantischen Liebe zweier freier Persönlichkeiten zustande<br />

kommt. 7<br />

II Ehescheidung<br />

1. Einsbleiben <strong>als</strong> Wert<br />

Den gleichsam unverrückbar und bedingungslos gültigen Sachverhalt des<br />

Einsseins und Einsbleibens beschreibt das Wort Markus 10, 9, und zwar nicht<br />

im Blick auf einen bestimmten Einzelfall oder viele Einzelfälle, sondern <strong>als</strong><br />

quasi immer und überall mit der Ehe selbst gegeben. Das heißt: Die eheliche<br />

Lebensgemeinschaft wird von Jesus <strong>als</strong> quasi unbedingt schützenswert und<br />

quasi absolut bewahrenswert verstanden. Insofern ist nach biblisch-christlichem<br />

Verständnis zunächst nur die Grundsatzfrage von Ehe und ihrer Bedeutung<br />

theologisch relevant; die Frage nach der Auf-Lösung des Einsseins wird <strong>als</strong><br />

7 Vgl. die umfangreiche und pointierte sozialgeschichtliche Darstellung von Herrad Schenk,<br />

Freie Liebe - wilde Ehe mit ihren Implikationen für die Vergangenheit und der von ihr prognostizierten<br />

Wirkung der romantischen Liebesbeziehung auf die Ehe für die Zukunft, die im Untertitel<br />

des Buches zum Ausdruck kommt: „Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die<br />

Liebe“!<br />

149


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

gleichsam gewaltsames Zerteilen oder Trennen der Einheit gedeutet, vom Normalfall<br />

einer guten Ehe ausgegangen gewiss eine einleuchtende psycho-soziale<br />

Beschreibung, die unserer Realitätswahrnehmung entspricht: bei und nach einer<br />

Trennung sind die zwei Personen, die ehem<strong>als</strong> ein je vollständiges, ganzes<br />

„Ich“ darstellten, in der Regel - mindestens eine gewisse Zeit - deformiert und<br />

ihres Ganzheitsgefühls beraubt.<br />

Das Thema einer möglichen Wiederheirat (vgl. unten) ist damit verglichen<br />

noch einmal eine weiterführende Kategorie von Fragestellung, setzt es ja die<br />

Auf-Lösbarkeit des Einsseins <strong>als</strong> gegeben voraus und rechnet insofern mit der<br />

Auf-Lösung der Ehe <strong>als</strong> mit einer prinzipiell gleichwertigen Möglichkeit zur<br />

Ehe<br />

Die Fragehinsicht des NT auf unsere Gesamtthematik ist <strong>als</strong>o von vornherein<br />

und allgemein eine ganz grundsätzliche: Es geht grundlegend um die Bedeutung<br />

der Ehe für den Menschen, d.h. für das Menschsein im umfassenden Sinne.<br />

Es geht aber nicht um Falldiskussionen oder Grenzfälle.<br />

Nur unter dem ‚positiven’ Gesichtspunkt „Ehe“ wird auch der ‚negative’ Gesichtspunkt<br />

„Ehescheidung/Trennung“ mit behandelt. Er ist im Neuen Testament<br />

kein von Hause aus eigenständiges theologisches Thema.<br />

Wer von vornherein prinzipiell anthropologisch die Auf-Lösung des zustande<br />

gekommenen und bestehenden Einsseins von Frau und Mann in der Ehe <strong>als</strong><br />

ebenso gute Möglichkeit sieht wie das vorherige Zustandekommen des Einsseins,<br />

der hat m.E. das Wesentliche des biblisch-christlichen Ansatzes nicht<br />

wirklich begriffen.<br />

2. Das religiöse Anliegen Jesu: „Keine Scheidung!“<br />

Das ‚absolute’ Scheidungs‚verbot’ Jesu, von dem ich <strong>als</strong> von einem theologischen<br />

und historischen Faktum ausgehe (Markus 10, 9; vgl.<br />

1. Korinther 7, 10f.) ist seine tatsächliche religiöse Grundposition in der E-<br />

hefrage. Sie wird ursprünglich durch nichts eingegrenzt oder eingeschränkt. 8<br />

Jesus vertritt diese Position im Namen des ursprünglichen und <strong>als</strong> gut verstandenen<br />

Gotteswillens (Markus 10,6-9). In theologischer Interpretation bedeutet<br />

das: Jesus vertritt in dieser Angelegenheit - nach eigenem Bekunden - das uranfänglich,<br />

d.h. eigentlich von Gott Gemeinte bezüglich der Ehe. Diese Grundposition<br />

Jesu zur Frage der Ehe und Ehescheidung ist m. E. in erster Linie nicht<br />

eine ethisch-moralische Forderung, sondern zunächst eine religiöse Aussage<br />

8 Matthäus 5, 32; 19, 9 mit ihren Einschränkungen der Nicht-Scheidung sind m.E. insofern<br />

weder historisch noch theologisch gleichrangig zu sehen, sondern enthalten bereits weitergehende<br />

Erwägungen, die mit der Situation der christlichen Gemeinde zu tun haben, vgl. unten.<br />

150


SCHMITZ: EVANGELIEN UND PAULUS<br />

mit existentialer 9 Grundbedeutung. Jesus schärft mit dieser Grundposition nicht<br />

zunächst ein bestimmtes Tun oder Lassen ein, sondern verweist auf eine grundlegende<br />

Gegebenheit, die für die menschliche Existenz - generell gesehen - von<br />

überragender Bedeutung ist.<br />

Dabei hat der Ausleger sich darüber Rechenschaft abzulegen und zu entscheiden,<br />

wie er/sie die Aussage Jesu auf dem Hintergrund des Gesamtanliegens<br />

Jesu differenziert auffassen soll.<br />

Ich meine: Markus 10, 6-8 thematisiert nicht ein Gesetz im Sinne einer An-<br />

Ordnung, enthält <strong>als</strong>o keine vorgegebene absolute Norm, der sich alle Menschen<br />

<strong>als</strong> konkrete Einzelwesen in jedem Fall zu unterstellen hätten. Eher schon<br />

möchte ich Markus 10, 6 <strong>als</strong> eine Grundlage bzw. Grundlegung im Sinne einer<br />

für die bzw. den Menschen gültigen Grund-Ordnung verstehen, welche einen<br />

vorrangigen Wert erweist.<br />

Entsprechend ist Markus 10, 9 nicht eine grundsätzliche Handlungsanweisung<br />

mit gesetzlicher Normierung für jeden beliebigen Einzelfall, sondern erwartet<br />

und verlangt eine grundlegende Haltung mit einem grundlegenden Verhalten,<br />

das sich auf einen Basis-Wert zurück bezieht.<br />

Dieser Wert kann nur in jenem Bereich angesiedelt bzw. auf jenen Bereich<br />

bezogen sein, zu dem auch die Ehe selbst gehört: er ist grundlegend existential,<br />

darin grundsätzlich personal zugespitzt und zugleich umfassend relational ausgerichtet.<br />

10<br />

9 In der Regel unterscheide ich sprachlich zwischen existential und existenziell; ersteres bezeichnet<br />

jene Grundbedingungen und Grundbefindlichkeiten, welche die menschliche Existenz,<br />

das Menschsein <strong>als</strong> solches grundlegend konstituieren. Letzteres bezeichnet die je konkrete<br />

Haltung und Verhaltensweise des Menschen, das, was er aus seinem Leben je und je macht.<br />

10 Ich definiere die drei Fragehinsichten <strong>als</strong> Grundkategorien zum Verstehen des Menschseins.<br />

Die existentiale Kategorie behandelt die grundlegenden Bedingungen des Menschseins, die<br />

Grunderfahrungen des In-der-Welt-Seins; die Fragwürdigkeit der Existenz; die menschliche<br />

Suche nach Sinn bzw. Gewissheit; die Frage nach echtem, wahrem Leben; die Sprachlichkeit<br />

allen Fragens und Antwortens. - Die personale Kategorie bezieht sich auf das Selbstbewusstsein<br />

des Menschen, sein Ich-Sein, sein Du-sagen-Können. Hier geht es um das Individuum in der<br />

Gesellschaft, um Freiheit und Verantwortung usw. - Die relationale Kategorie erfasst das<br />

Menschsein <strong>als</strong> ein grundlegendes In-Beziehung-Sein, zu mir selbst und zu anderen; zur Erde<br />

bzw. Welt <strong>als</strong> ganzer; zu Werten und Ordnungen; zum Transzendenten; zu Gott. Es geht dabei<br />

um die Bedeutungs- bzw. Bedeutsamkeit von „Sachverhalten“ <strong>als</strong> Konkret-Beziehung meiner<br />

selbst. Alle Kategorien treffen zusammen unter dem Gesichtspunkt der Geschichtlichkeit<br />

menschlicher Existenz. Das meint nicht nur, dass alles im Leben einen historischen Bezug hat,<br />

sondern vor allem, dass menschliches Leben richtig verstanden wird, wenn man es vorrangig<br />

<strong>als</strong> Gabe und Aufgabe zur Lebensgestaltung versteht.<br />

151


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

3. Die Fragestellung in Markus 10<br />

Markus 10, 6-9 ist zwar, wie V. 2ff. erweist, konkret veranlasst in einem<br />

Lehrgespräch mit pharisäischen Fragestellern zur Zeit Jesu. In dem Gespräch<br />

werden geschichtlich bedeutsame und für einen Juden religiös bindende bzw.<br />

verbindliche Sachverhalte aktuell thematisiert: hier z.B. die von Mose erlassene<br />

Scheidungsregelung (V. 3f.). 11 Diese versteht Jesus aber nicht <strong>als</strong> grundlegende<br />

Werte-Ordnung, sondern nur <strong>als</strong> eine konkrete An-Ordnung, die er zudem <strong>als</strong><br />

Zugeständnis an das in Sünde geführte Leben des Menschen deutet (V. 5).<br />

Schon dieses Argument, ein expressis verbis existentiales („Verhärtung/Härte<br />

des Herzens“ 12 ), nämlich grundlegend auf die Existenz des Menschen bezogenes,<br />

verlässt die rein gesetzlich-juristisch-normative Ebene, um zum Grundlegenden<br />

vorzustoßen: zum Menschsein selbst, zum Personalen, das sich in Beziehungen<br />

der Menschen untereinander vollzieht, in Verantwortung vor Gott<br />

gelebt.<br />

Diese grundsätzliche bzw. grundlegende Darstellung passt auch insgesamt zu<br />

den drei in Markus 10, 1-31 zusammengestellten Fragen, die im Sinne der antiken<br />

Haustafel- bzw. Ständetafelethik aufgefasst werden können und sollen. Es<br />

geht um die individual- bzw. sozialethischen Fragen von Ehe (10, 1-12), Kinder<br />

(10, 13-16) und Besitz (10, 17-31). In unserem Alltag begegnen uns diese<br />

Angelegenheiten jeweils im konkreten Einzelfall, für die Menschheit aber allgemein<br />

betrachtet und für das Menschsein selbst sind sie von grundlegender<br />

Bedeutung im Blick auf die Lebensgestaltung.Dies Grundlegende wird auch in<br />

Markus 10,6-9 diskutiert, insofern - in einem theologischen Denkmodell der<br />

Entsprechung von Urzeit und Endzeit - die eschatologische Wiederherstellung<br />

des eigentlichen und <strong>als</strong> für den Menschen gut verstandenen Gotteswillens von<br />

Jesus proklamiert und vollzogen wird: Die „Verhärtung des Herzens“ ist durch<br />

den Glauben ‚aufgelöst’, der ursprüngliche Gotteswille kann und soll in der<br />

Nachfolge des Herrn Jesus Christus <strong>als</strong> empfangenes Heil erlebt und <strong>als</strong> verantwortliches<br />

Wohl gelebt werden.<br />

Das Entscheidende und für Christen Verbindliche besteht darum nicht einfach<br />

darin, dass Jesus selbst eine bestimmte Handlungsanweisung hinsichtlich des<br />

Themas Ehe bzw. Ehescheidung gibt, sondern dass bzw. wie uns die Jesus ent-<br />

11 Ursprünglich im alttestamentlichen Zusammenhang <strong>als</strong> Schutz für die Frau gedacht, die aufgrund<br />

des vom Ehemann ausgefertigten Scheidungsdokumentes eine neue Ehe eingehen konnte<br />

und damit sozial abgesichert und materiell versorgt war (Deuteronomium 24, 1).<br />

12 „Herz“ steht dabei - wie in der gesamten biblischen Anthropologie - nicht vorrangig für die<br />

Welt der Gefühle, sondern für Verstand und Wille, insofern für das Entscheidungszentrum des<br />

Menschen!<br />

152


SCHMITZ: EVANGELIEN UND PAULUS<br />

sprechende Haltung zur Ehe mit dem grundlegenden Tun Gottes in Schöpfung<br />

und Erlösung verbindet.<br />

Der umfassenden Glaubensbindung an Gott in Liebe, Treue und<br />

Wahrh(aftigk)eit soll die Verbindlichkeit des Lebens im Miteinander auch der<br />

Geschlechter entsprechen. Das ist die theologisch tiefgründige Argumentation<br />

in Markus 10, 6-9. Sie ist radikal, weil sie zu den Wurzeln der Gottesbeziehung<br />

und der Beziehung zum Mitmenschen - hier am Beispiel der Ehe <strong>als</strong> Lebensgemeinschaft<br />

von Frau und Mann dargestellt - zurückführt. Einssein bedeutet<br />

ungeteilte und uneingeschränkte Zuwendung zum andern. Dies ‚lehrt’ Jesus<br />

Christus - ohne wenn und aber!<br />

4. Die Weisung Christi gemäß 1. Korinther 7 13<br />

Der im Markusevangelium erkennbaren theologischen Grundposition Jesu<br />

hinsichtlich des Einsseins in der Ehe entspricht auch das von Paulus <strong>als</strong> „Weisung<br />

des Herrn“ 14 in 1. Korinther 7 entfaltete christliche Verständnis der Ehe:<br />

Ohne Einschränkung oder Fallpräzisierung wird von der ‚Unauflöslichkeit’ 15<br />

der Ehe gesprochen. In jeweils 5 Wörtern in V. 10c bzw. 11c werden die Ehepartner<br />

bleibend und verbindlich in die Ehe gewiesen. „Die Frau soll sich nicht<br />

trennen/scheiden lassen“; „der Mann soll seine Frau nicht entlassen“ 16 . In der<br />

beiderseitigen rechtlichen Möglichkeit zur Scheidung spiegeln sich natürlich<br />

die hellenistischen Verhältnisse wieder, wie dies ähnlich in Markus 10, 11f.<br />

ausgesprochen ist. Für die ursprünglich palästinische Situation muss man wohl<br />

von einem möglichen Recht allein des Mannes zur Scheidung ausgehen (Lukas<br />

16, 18; Matthäus 19, 9).<br />

Diese Bezugnahme auf den „Herrn“ - ohne dass ein bestimmtes Wort des irdischen<br />

Jesus erkennbar im Hintergrund stünde - entspricht ganz der Sachposition<br />

von Markus 10, 9 und Matthäus 19, 6.<br />

Angesichts der von mir geteilten Auffassung, dass die Schriften des Paulus im<br />

Neuen Testament die frühesten christlichen Zeugnisse in Schriftform sind, ist<br />

dies noch einmal eine Unterstützung der vorgetragenen Überzeugung:<br />

13 Vgl. die später folgende theologische Reflexion zu 1. Korinther 7!<br />

14 Paulus benutzt einen überaus gewichtigen Begriff aus einer für das frühe Christentum bedeutsamen<br />

Wortfamilie: „paraggellein“. Es verdeutlicht und beansprucht geistliche Autorität, ist<br />

aber eben - allein schon der Bezeichnung nach - nicht einfach normatives „Gesetz“ oder gesetzlich<br />

verstandenes „Gebot“.<br />

15 Ich setze den Begriff in Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass er in unserem Zusammenhang<br />

nicht <strong>als</strong> ein rechtlicher Terminus verwendet wird. Er ist theologische Deutung<br />

des in den Texten aber doch unzweifelhaft gemeinten Sachverhaltes.<br />

16 Im rechtlichen bzw. rechtsgültigen Sinne von „Scheidung“ zu verstehen.<br />

153


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Ursprünglich - <strong>als</strong> historische wie <strong>als</strong> theologische Aussage - kennt das<br />

Christliche nur die ‚Unauflöslichkeit’ der Ehe. Der Einweisung in die Verbindlichkeit<br />

des Einsseins werden ursprünglich-christlich keine weiteren Erwägungen<br />

religiöser, gemeindlicher oder seelsorgerlicher Art beigeordnet.<br />

Der Verweis auf das theologisch Grundlegende ist auch im Sprachgebrauch<br />

Markus 10, 7 zu erkennen: Wenn, wie es mir die Textüberlieferung wahrscheinlich<br />

sein lässt, der Nachsatz: „und seiner Frau anhangen“ nicht textlich ursprünglich<br />

und deshalb zu streichen ist, dann sollte das „anthropos“ nicht mit<br />

„Mann“, sondern mit „Mensch“ übersetzt werden. Es geht <strong>als</strong>o um etwas allgemein<br />

Menschliches! Das Einssein in der Ehe ist für den Menschen gut und<br />

wegen des Menschseins quasi unbedingt bewahrenswert.<br />

1.Korinther 7,11b blickt in diesem Zusammenhang wohl auf eine Situation,<br />

die vor dem Christwerden der Ehepartner schon eingetreten war. Hier gilt der<br />

Versöhnungswille <strong>als</strong> Weisung des Herrn Christus, mit dem Ziel des „Friedens“<br />

(vgl. V. 15c) - wobei mit dem entsprechenden theologisch wesentlichen Begriff<br />

mehr angesprochen ist <strong>als</strong> nur gute Verhältnisse auf der Grundlage von Recht<br />

und Ordnung (vgl. 1. Korinther 14, 33!).<br />

Es ergibt sich <strong>als</strong> Zusammenfassung:<br />

Im Neuen Testament steht ursprünglich die Scheidung nicht <strong>als</strong> Möglichkeit<br />

im Blick. Auf der Grundstufe der religiösen Überlieferung aus frühchristlicher<br />

Zeit, insbesondere mit der Person und dem Werk Jesu Christi verbunden, wird<br />

allein die theologische Grundlage der Ehe formuliert. Das insofern unmissverständliche,<br />

radikale ‚Nein’ zur Scheidung ist die ‚Kehrseite’ des mit Berufung<br />

auf Schöpfung und Erlösung vollzogenen uneingeschränkten ‚Ja’ zum Einssein<br />

und Einsbleiben in der Ehe. Beides ist zu verstehen <strong>als</strong> Bezugnahme auf<br />

menschliche Grundwerte - im Namen Gottes.<br />

III Wiederheirat?<br />

1. Grundsätzliches<br />

Erst mit der ausdrücklichen Frage nach einer möglichen Wiederheirat Geschiedener<br />

haben wir es nach meinem Verständnis des Neuen Testament mit<br />

einer nächsten Stufe der Fragestellung innerhalb unserer Gesamtthematik zu<br />

tun. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass hiermit auch ein erster<br />

Schritt zu einer christlichen Kasuistik begonnen wurde bzw. wird, welche sich<br />

im Verlauf der Christentumsgeschichte in den Kirchen und in der von ihnen<br />

bestimmten Gesellschaft zum Teil sehr problematisch ausgewirkt hat - und<br />

noch auswirkt.<br />

154


SCHMITZ: EVANGELIEN UND PAULUS<br />

Immerhin sollte von einem historisch verfahrenden Ausleger bemerkt und jeweils<br />

gedanklich in Rechnung gestellt werden, dass es im Einzelnen nicht immer<br />

leicht sein mag, in menschlicher Gemeinschaft nur mit einer allgemeinen<br />

Grund-Ordnung bzw. mit Grund-Werten umzugehen, und daraus im jeweiligen<br />

Einzelfall die angemessene konkrete Regelung zu ziehen oder diejenige Vorgehensweise<br />

zu wählen, die den Menschen in ihrer Not gerecht wird, sie zurechtbringt<br />

und zurechtkommen lässt.<br />

Ich behaupte jedenfalls - verallgemeinernd: Ohne Not kommt es zu keiner<br />

Trennung oder Scheidung. Wo sie bevorsteht oder erlebt wird, herrscht Not:<br />

emotional und/oder sozial, das heißt aber: zunächst nicht Ordnungen und Sachen<br />

betreffend, sondern leibhaftige Personen - eben: Menschen betreffend.<br />

Wie die Ehe ein menschliches Glück ‚ist’, so ‚ist’ das Zerbrechen der Ehe ein<br />

Unglück. Noch in der säkularsten Gesellschaft wird das so erlebt!<br />

Fragen nach Regelungen und Ordnungen sind insofern auch Ausdruck der<br />

menschlichen Hilflosigkeit angesichts der Ehe-Nöte und zugleich der verständliche<br />

Versuch, der darin begegnenden Not zu steuern.<br />

2. Die geistlichen Erwägungen in Markus 10<br />

Dass mit der Frage nach einer Wiederheirat eine neue Stufe bzw. Ebene in der<br />

Diskussion der Gesamtthematik angesteuert wird oder schon erreicht ist, kann<br />

man am vorliegenden Text erkennen. V. 1 stellt den allgemeinen Rahmen dar<br />

mit der Einbindung des berichteten Geschehens in den geschichtlichen Ablauf<br />

der Jesusgeschichte. Mit V. 2 beginnt die erste Szene, die thematisch bis V. 9<br />

reicht; hier geht es um die öffentliche Auskunft Jesu zum Thema<br />

Ehe/Ehescheidung, wozu er sich - wie immer in solchen Begegnungen - mit<br />

einem markanten Ausspruch, sozusagen einem christlichen Merksatz, äußert. In<br />

diesem Abschnitt findet sich, wenn man das so sagen will, die grundlegende<br />

christliche Ehe‚lehre’.<br />

V. 10 ist ein Einschnitt, der zugleich eine neue Szenerie eröffnet: Nun sprechen<br />

die Jünger Jesu ihn auf das Thema an - in Fortführung des bisherigen Gedankengangs.<br />

Wir haben es <strong>als</strong>o mit so etwas wie einer speziellen Gemeindeparänese<br />

zu tun, denn es kann wohl kaum ein Zweifel sein, dass der Kreis der engen<br />

Nachfolger Jesu in der Regel nicht die späteren Pastoren/Gemeindeleiter<br />

der Urgemeinde repräsentiert und symbolisiert, sondern die Gemeinde <strong>als</strong> ganze.<br />

Was in V. 11f. dargelegt wird, hat <strong>als</strong>o - allein schon durch diese szenische<br />

Unterteilung - eine andere Bedeutung <strong>als</strong> das zuvor Gesagte!<br />

Dem Grund-Satz V. 9 folgen nun quasi Ausführungsbestimmungen. Genau<br />

genommen geht es dabei nur um eine einzige weiterführende Überlegung, die<br />

155


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

allerdings in zwei Fälle aufgegliedert wird: V. 11 spricht von dem Mann <strong>als</strong><br />

Betreiber einer Scheidung, V. 12 sieht den aktiven Part in der Frau. In beiden<br />

Fällen wird dieselbe rechtlich vertraute Begrifflichkeit für „sich scheiden/aus<br />

der Ehe entlassen“ verwendet. Ein sachlicher Unterschied ist zwischen den beiden<br />

Fällen nicht zu erkennen, wenngleich im auf den Mann bezogenen Teil die<br />

Formulierung „ihr gegenüber“ die ansonsten strenge Parallelität der beiden Sätze<br />

verlässt.<br />

V. 11 hat seine sachlichen Parallelen in Matthäus 5,32 und 19,9 (abgesehen<br />

von den nur hier begegnenden einschränkenden Bezugnahmen auf „Unzucht“;<br />

vgl. unten) sowie Lukas 16, 18. V. 12, der die Scheidungsmöglichkeit durch<br />

die Frau für rechtlich gegeben hält, blickt auf ein insoweit nicht-palästinisches<br />

Rechtssystem und Lebensgefüge. 17 Hierzu gibt es nur eine einzige Parallele im<br />

NT, und zwar bei Paulus in 1. Korinther 7, 10.<br />

Die Aussagen selbst sind hinlänglich deutlich: Erst die Wiederheirat wird <strong>als</strong><br />

Bruch der (früheren) Ehe verstanden. Damit aber wird der theologische Grund-<br />

Satz V.9, der - wie ich meine - einen personalen und relationalen Grund-Wert<br />

menschlichen Existierens zur Sprache bringen soll, nun doch insofern ausgehöhlt,<br />

<strong>als</strong> über diesen Grundsatz faktisch auflösende Ausführungsbestimmungen<br />

im konkreten Alltag gesprochen wird.<br />

Einer gefährlichen, nämlich unser Menschsein zutiefst gefährdenden Kasuistik<br />

kann in solchem Zusammenhang nur dadurch gewehrt werden, dass sich die<br />

in solchen Fällen ausführenden Organe gemeindlicher Rechtspflege im Konfliktfall<br />

prinzipiell und nachhaltig am Grund-Satz und dem darin verkörperten<br />

Wertgehalt orientieren, nicht jedoch vorrangig auf die peinlich genaue Einhaltung<br />

von Einzelvorschriften achten.<br />

Wenn ich das in den Ausführungen sich ausdrückende Anliegen formulieren<br />

sollte, meine ich: Markus 10, 11.12 will mit dem ‚Verbot’ der Wiederheirat die<br />

Kraft zur Versöhnung im Ehekonflikt unter Christen herausfordern.<br />

17 Das legt die Vermutung nahe, dass die Gemeinde in Anlehnung an das Jesuswort V. 11 eine<br />

Analogiebildung vollzogen hat, um auch den bei ihr möglichen Rechtsfall abzudecken. Ein<br />

theologisch-christologisches Problem braucht man damit nicht zu haben; der Inhalt ist durch das<br />

vorhergehende Jesus-Wort ja abgedeckt; freilich wäre auch dieser Sachverhalt selbst möglicherweise<br />

im Sinne einer Kasuistik zu verstehen: Die Gemeinde möchte konkrete Einzelaussagen,<br />

die expressis verbis den konkret zur Debatte stehenden Fall betreffen und christlich klären<br />

können. Ein personaler Grundwert, der in einem theologischen Grund-Satz verankert ist, genügt<br />

nicht (mehr).<br />

156


SCHMITZ: EVANGELIEN UND PAULUS<br />

Konkret bedeutet das: Im Fall einer eingetretenen Belastung der Ehe hat die<br />

Aussöhnung quasi unbedingten Vorrang vor der Scheidung (mit eventuell folgender<br />

Wiederheirat).<br />

Dieser Text denkt jedoch, wie andere im Neuen Testament auch, nicht darüber<br />

nach, was konkret geschehen soll, kann oder muss, wenn diese Versöhnung<br />

mit dem Ziel eines erneuten gedeihlichen Miteinanders nicht erreicht<br />

wird.<br />

Auch darin wird zweifelsfrei deutlich: Die Bibel ist kein Gesetzeskatalog,<br />

selbst wenn sie Ansätze zu konkreten Ausführungsbestimmungen hinsichtlich<br />

des ehelichen Miteinanders enthält.<br />

3. Als Zusammenfassung ergibt sich für mich:<br />

Die erwähnten Stufen eins und zwei, die Grundstufe und die Weiterführung<br />

des Nachdenkens über Ehe, Scheidung und Wiederheirat wollen letztendlich<br />

gemeinsam dem Grund-Satz verpflichtet bleiben, der in Markus 10, 9 formuliert<br />

ist und die Ehe <strong>als</strong> einen menschlichen Grund-Wert eigener Kategorie und einzigartiger<br />

Bedeutung beschreibt.<br />

Die Grundstufe formuliert den singulären Wert des Einsseins in der Ehe, der<br />

nicht aufs Spiel gesetzt werden darf; die Weiterführung formuliert die Not-<br />

Wendigkeit der Bereitschaft zum Zusammenbleiben bzw. zur Aussöhnung <strong>als</strong><br />

Wert mitmenschlichen Lebens, wozu es nach christlicher Meinung keine prinzipiell<br />

gleichrangige Alternative gibt.<br />

IV Die Unzuchts-Klausel in Matthäus 5, 32 und 19, 9<br />

Die bisher behandelten Bibeltexte beinhalteten ein gemeinsames Grundanliegen<br />

in zwei verschiedenen Stufen der Fragestellung hinsichtlich der Ehe.<br />

Zunächst in grundlegender Deutung und von der positiven Seite ausgehend:<br />

Das Einssein in der Ehe soll ‚unbedingt’ aufrechterhalten werden<br />

(=Scheidungs’verbot’); zum anderen via negationis: wenn das Einssein nicht<br />

hält, soll mit nicht durch verfrühte Orientierung auf eine andere Lebensgemeinschaft<br />

das Zurückkehren bzw. Zurückfinden ins gute Miteinander der ehemaligen<br />

Lebensgemeinschaft unmöglich gemacht werden (=Wiederheirats‚verbot’).<br />

1. Verwendung der Matthäus-Klauseln bei uns Adventisten<br />

Mit den nun abschließend zu besprechenden Texten begeben wir uns auf eine<br />

andere Stufe der Behandlung der Gesamtthematik. Hier geht es m.E. deutlich<br />

erkennbar um konkrete Regelungen im Sinne einer juristischen Abgrenzung<br />

157


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

mit praktischer Bedeutung für den Ehealltag. Diskutiert wird die Grenzziehung<br />

der Anwendbarkeit des christlichen Grund-Satzes der Nicht-Scheidung bzw.<br />

Nicht-Wiederverheiratung.<br />

Für uns Adventisten liegt die Herausforderung dieser Texte, die sich nur bei<br />

Matthäus finden, insbesondere darin, dass wir in unseren offiziellen Dokumenten<br />

geradezu selbstverständlich immer nur vom Matthäus-Wortlaut zur Scheidungsproblematik<br />

ausgehen. Dieser Sachverhalt verlangt nicht nur eine Erklärung<br />

- die dürfte relativ leicht zu finden sein; er verlangt vielmehr und vor allen<br />

Dingen eine Begründung.<br />

Die Erklärung scheint mir zunächst eine ‚ganz menschliche’ zu sein: Bei Matthäus<br />

gibt es immerhin den faktischen Hinweis, dass eine Ehe geschieden werden<br />

kann, und zwar sogar mit der Möglichkeit einer christlich legitimen Wiederheirat.<br />

Kein anderer Bibeltext kommt uns, wenn ich das einmal flapsig sagen darf, in<br />

unseren Nöten mit dem Thema Ehe anscheinend so weit entgegen wie diese<br />

Texte. Hier bekommen wir nun wenigstens einen Scheidungsgrund zugesprochen!<br />

- Andererseits aber kann man m.E. nicht übersehen, wie sehr gerade diese<br />

Texte unseren Umgang mit dem Thema in eine pastorale und gemeindliche Not<br />

geführt haben. Auch bei der 57. Vollversammlung der Delegierten unserer<br />

Glaubensgemeinschaft (im Juli 2000 in Toronto) konnte man das wieder sehen:<br />

Da wurde in den Änderungen zum entsprechenden Kapitel der gültigen Gemeindeordnung<br />

darüber gestritten, welche Einzelsachverhalte oder Verhaltensweisen<br />

dem Begriff „Unzucht“ zuzuordnen seien. Bezugnehmend auf die in der<br />

Gemeindeordnung übernommene Deutung von Ellen G. White, wonach hier ein<br />

Verhalten gemeint sei, welche <strong>als</strong> „Untreue gegenüber dem Ehegelöbnis“ verstanden<br />

werden könne, wurde z.B. auch diskutiert, ob nicht körperliche Gewalt<br />

in der Ehe ein legitimer Scheidungsgrund sein könne. Das wurde dann aber<br />

durch die Mehrheit der Delegierten verneint, man wollte da doch näher am<br />

Wortlaut des Textes bleiben und vermehrte nur die Liste sexuellen Fehlverhaltens<br />

<strong>als</strong> Scheidungsgrund.<br />

Ob neben den allzu menschlich-verständlichen Gründen auch so etwas wie<br />

die im angelsächsischen Raum verbreitete Hochschätzung des Matthäusevangeliums<br />

<strong>als</strong> apostolisches Evangelium zu solcher besonderen Heranziehung der<br />

einschlägigen Texte führt? - Das wäre eine Erklärung, aber m.E. noch keine<br />

ausreichende Begründung; schließlich ist diese Annahme nicht aus der Bibel<br />

selbst gestützt.<br />

Es wäre angemessen, wenn wir zur quasi ausschließlichen Benutzung der<br />

Matthäus-Texte im Zusammenhang der Frage von Ehescheidung und Wieder-<br />

158


SCHMITZ: EVANGELIEN UND PAULUS<br />

heirat theologische Gründe anführten, um unsere Benutzung dieser Texte zu<br />

rechtfertigen. Dies habe ich aber bisher nicht erkennen können.<br />

2. Die Diskussionsebene im Judentum neutestamentlicher Zeit<br />

Richtig scheint mir immerhin an der Verwendung bei uns Siebenten-Tags-<br />

Adventisten, dass Matthäus 5, 32 und 19, 9 mit ihrer Klausel, im griechischen<br />

Wortlaut eng gefasst, nicht vorrangig auf den eingegrenzten Fall von „Ehebruch“<br />

18 abheben, sondern doch wohl auf „Unzucht“ zu beziehen sind, d.h. auf<br />

eine intensivierte, dauernde Haltung sexuellen Fehlverhaltens bzw. einer innigintimen<br />

Bindung zu einer oder mehreren anderen Personen außerhalb der Ehe,<br />

welche geeignet ist, die Bindung zum eigenen Gatten nachhaltig zu beeinträchtigen<br />

oder zu zerstören.<br />

Zu dem hier diskutierten Sachverhalt ist sodann zu berücksichtigen, dass er<br />

jedenfalls in der theologischen Diskussionslage des damaligen Judentums 19<br />

begegnet. Und zwar gab es in der Frage der legitimen Scheidungsgründe mit<br />

Verweis auf Deuteronomium 24,1 („etwas Schändliches“) zwei entgegengesetzte<br />

religiöse Positionen - nämlich die großzügig weite des Hillel und die eng auf<br />

sexuelle Vergehen abhebende strenge des Schammai. Hier im Matthäusevangelium<br />

finden wir keine laxe Position bezogen, das entspricht insoweit der Gesamtcharakteristik<br />

einer erkennbaren Ethisierung in diesem Evangelium, deren<br />

Maßstab zugleich hoch angesetzt wird (vgl. Matthäus 5, 21). Dass hier an illegitime<br />

Verwandtenehen gedacht sei, wie Heinrich Baltensweiler mit Verweis auf<br />

Apostelgeschichte 15,20.28f. meint, 20 scheint mir im Matthäus-Kontext durch<br />

nichts nahegelegt.<br />

3. Zum Verständnis der Klausel<br />

Wichtig bleibt die Frage, wie man die Klausel, die in den beiden Texten nicht<br />

im selben Wortlaut begegnet, grammatikalisch fassen soll. Neben der in unseren<br />

gängigen Übersetzungen genutzten Möglichkeit „außer wegen Unzucht“, in<br />

der die Klausel exklusiv verstanden wird, wird sie - jedenfalls bezüglich Matthäus<br />

5,32 - von römisch-katholischer Seite gerne inklusiv gedeutet: „nicht<br />

einmal bei Unzucht“ oder aber den genannten Sachverhalt ausklammernd: „Der<br />

Fall von Unzucht sei hier nicht erörtert“.<br />

18 Also ggf. auf ein einmaliges erotisch-sexuelles ‚Fremdgehen’.<br />

19 Vgl. die Darstellung bei Billerbeck, I, 303-321.<br />

20 Heinrich Baltensweiler. Die Ehe im Neuen Testament, S. 87ff. Die AT-Basis wäre Levitikus<br />

18, 6-18.<br />

159


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Das Ziel im zweitgenannten Fall scheint eindeutig: Die faktische völlige Unauflöslichkeit<br />

der Ehe soll radikal festgehalten werden - m.E. in richtiger Aufnahme<br />

des theologischen Grund-Satzes im NT, jedoch nicht in angemessener<br />

Deutung des Matthäusevangeliums, mit seiner - wie ich meine - auch andernorts<br />

erkennbaren Ethisierung oder Bemühung um konkrete ethische Handhabbarkeit.<br />

Und auch die Mittel und Wege, bei denen die Grammatik über die<br />

Theologie obsiegt, sind dazu schwerlich geeignet.<br />

Wesentlicher scheint mir jedoch die Frage, wie die Klausel theologischinhaltlich<br />

zu verstehen ist. Eins scheint mir klar: Eine gesetzliche Norm im engeren<br />

Sinn soll damit nicht gemeint sein. Wenn man dies dennoch so versteht,<br />

muss man zu erklären versuchen, wieso diese - doch in sich gewichtige - ‚Ausnahmeregelung’<br />

nur bei Matthäus erscheint, nicht jedoch im gesamten übrigen<br />

neutestamentlichen Schrifttum!<br />

Logisch kann man m.E. mindestens der Einsicht nicht entkommen, dass unter<br />

Berücksichtigung dieser Formel jedenfalls nicht alle Texte des Neuen Testaments<br />

<strong>als</strong> Aussagen mit Gesetzesbedeutung verstanden werden können: Entweder<br />

eine rechtliche Regelung kennt Ausnahmen - oder aber nicht. Beides<br />

gleichzeitig kann kein Rechtssystem ertragen!<br />

4. Zur Verwendung der Klausel<br />

Ihre christliche Weitergabe verdankt die Formel m.E. einerseits der innerjüdischen<br />

Diskussion um Ehescheidungsgründe; das frühe Christentum im palästinischen<br />

Raum wird dies in missionarischer Hinsicht nicht prinzipiell außer Acht<br />

gelassen haben können. Andererseits erkenne ich hier einen Versuch, Eheangelegenheiten<br />

mehr von der pragmatisch-praktischen Seite her zu lösen. Dass für<br />

einen solchen Ansatz die früheren christlichen Aussagen zu radikal und vielleicht<br />

auch zu weltfremd erschienen sein möchten, kann ich mir gut vorstellen.<br />

Bereits zu Beginn des Lehrgespräches in Matthäus 19 ist jedenfalls der Zusammenhang<br />

mit damaligen Fragestellungen der religiösen Umwelt erkennbar,<br />

wenn in V. 3 von den pharisäischen Fragestellern auf mögliche legitime Gründe<br />

der Ehescheidung abgehoben wird: „Ist es erlaubt, seine Frau aus beliebiger<br />

Ursache rechtsgültig zu entlassen?“ Die Bezugnahme auf praktische Regelungen<br />

des Ehealltags ist <strong>als</strong>o von vornherein die Antwortebene, die im Blick der<br />

Diskutanten ist. Die Unzuchts-Klausel vertritt inhaltlich gesehen eine strikte<br />

christliche Einschränkung von Ehescheidungsgründen, sie bezieht sich auf eine<br />

Grundfrage ehelicher Beziehung: Beziehungsstörung bzw. Beziehungsbruch<br />

durch Untreue. Dies ist hier konkret im sexuellen Rahmen angesprochen („Unzucht“,<br />

„porneia“), ist jedoch m.E. in der Linie des Matthäusevangeliums prin-<br />

160


SCHMITZ: EVANGELIEN UND PAULUS<br />

zipiell erweiterbar auf alle jene Werte, welche eine Ehe zusammenhalten bzw.<br />

deren Fehlen eine Ehe auseinander bringen können. Insofern findet sich - auch<br />

hier! - wieder die Bezugnahme auf einen personalen Wert, wenn auch im Gewand<br />

einer pragmatischen Regelung.<br />

Es geht eben im Matthäusevangelium, anders <strong>als</strong> in Markus 10,1ff. neben der<br />

Antwort auf die Frage, was die Ehe <strong>als</strong> solche bedeute, zugleich um die praktische<br />

Frage nach christlich ‚legitimen’ Ehescheidungsgründen. Vermutlich haben<br />

wir alle schon die Erfahrung gemacht: Es erscheint manchen Menschen<br />

besonders wichtig, und ist vielleicht zu manchen Gelegenheiten besonders wünschenswert,<br />

eine Liste mit Gründen für ein erlaubtes bzw. verbotenes Verhalten<br />

bei der Hand zu haben, um sich danach richten zu können.<br />

Andererseits kann ich nicht umhin, auch hier abschließend noch einmal auf<br />

die Gefahren aufmerksam zu machen, die mit dem bei Matthäus erscheinenden<br />

Wortlaut verbunden sind: Kasuistischer Gesetzlichkeit ist damit doch die Tür in<br />

einer Weise geöffnet, die aufs Ganze gesehen dem Evangelium von Christus<br />

nicht angemessen ist.<br />

Im Bereich zwischenmenschlichen Miteinanders sind juristische Regelungen<br />

von Einzelsachverhalten in Diskussion von Grenzfällen praktischen Verhaltens<br />

nicht wirklich möglich und hilfreich - es sein denn, man möchte oder muss Gesetzgeber<br />

und juristische Ordnungsmacht für eine größere Allgemeinheit sein.<br />

Insgesamt bewirkt eine positive Übernahme der Matthäus-Texte mit ihrer Unzuchtklausel<br />

in der Regel nicht, dass die Frage von Ehescheidung und Wiederheirat<br />

in eine tiefgreifend seelsorgerliche Richtung geöffnet wird, in der die<br />

grundlegenden Bedürfnisse der betroffenen Personen wert-bezogen reflektiert<br />

werden. Allzu leicht landen wir stattdessen bei Katalogen und Ordnungen mit<br />

Vorschriften richtigen Verhaltens, die einer beständigen Neu-Definition und<br />

Überarbeitung bedürfen: Eine gute Beschäftigung für Assessoren - aber doch<br />

wohl nicht für Pastoren?! Kasuistische Listen von Normen und Geboten haben<br />

den ‚Vorteil’, dass ein erwartetes Verhalten bzw. ein erkanntes Fehlverhalten<br />

‚präzise’ aufgespürt werden kann. Wenn’s ums Richten geht - auch in alltäglichen<br />

Zusammenhängen - , sind festgelegte Normen unentbehrlich und unübertrefflich.<br />

Mit den personalen Verantwortlichkeiten und Verpflichtung in mitmenschlicher<br />

Hinsicht, z. B. in der ehelichen Lebensgemeinschaft mit Liebe, Treue und<br />

Wahrhaftigkeit (vgl. Matthäus 5, 27-32. 43-48) steht es ganz anders. Sie taugen<br />

nicht zum Richten, sondern sind zum Sich-Ausrichten gegeben. Sie kann man<br />

kaum wirklich definieren; man kann sie bestenfalls existential umreißen und<br />

exemplarisch beschreiben.<br />

161


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Aber das Wichtigste: man kann sie erleben, die Liebe und Treue Christi zu<br />

uns, der keine ‚legitimen’ Scheidungsgründe sucht - und die Liebe und Wertschätzung<br />

derer, die sich in ihrem Leben an ihm ausrichten: zum wahren Wohl<br />

des Nächsten im Dienst zur Ehre Gottes.<br />

Und darum muss es jeder wirklich christlichen Theologie doch letztlich gehen!<br />

Echte christliche Seelsorge wird sich darum nicht damit begnügen können,<br />

auf Matthäus 5, 32 und 19, 9 mit der Unzuchtklausel im Sinne eines christlich<br />

legitimen Scheidungsgrundes zu verweisen und von daher die Frage einer gemeindlich<br />

legitimen Wiederheirat für den in der zerbrochenen Ehe ‚unschuldig’<br />

gebliebenen Partner zu beantworten. Vielmehr kann es jeder echt christlichen<br />

Seelsorge doch nur darum gehen, den Menschen immer wieder in seine grundlegende<br />

Verantwortung einzuweisen - zu Gott und den Mitmenschen (Römer<br />

13, 8-10) - eine Aufgabe, die - gerade indem wir sie vollziehen - nie abgeschlossen<br />

hinter uns liegt.<br />

Literatur:<br />

Baltensweiler, H. Die Ehe im Neuen Testament. Exegetische Untersuchungen über Ehe, Ehelosigkeit<br />

und Ehescheidung. (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments,<br />

Band 52). Zürich/Stuttgart: Zwingli Verlag, 1967.<br />

Ostmeyer, K.-H. Die Sexualethik des antiken Judentums im Licht des Babylonischen Talmuds;<br />

in: BThZ, 1995; S. 167ff.<br />

Schenk, H. Freie Liebe - wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe.<br />

München: Beck, 1987.<br />

Strack, Hermann. und Billerbeck, Paul. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und<br />

Midrasch. Band 1 München: Becksche Verlagsbuchhandlung, 8 1982.<br />

162


Grammatisches Passiv <strong>als</strong> sachliches Aktiv<br />

Anmerkungen zu Matthäus 5,32f. aus philologischer<br />

und sozialer Sicht<br />

Klaus Schmitz<br />

Die im vorliegenden Band abgedruckten Ausführungen von W. Lange/<br />

R. Nies beinhalten nachdenkenswerte Gedanken, die ich vor allem hinsichtlich<br />

der Schlussfolgerungen im praktisch-theologischen Bereich teile. Ebenso<br />

ist es unsere gemeinsame Überzeugung, dass es für das Verstehen der Aussagen<br />

Jesu hilfreich ist, die jüdische Scheidungspraxis seiner Zeit zu kennen.<br />

Dennoch möchte ich dazu einige Anmerkungen machen. 1<br />

Für das Verstehen ist zunächst die grammatikalische Konstruktion des Textes<br />

in Matthäus 5 wichtig. Hinsichtlich der Aussage V. 32a findet sich eine<br />

ungewöhnliche Form, nämlich ein Passiv des Verbs “ehebrechen”. Die in den<br />

Bibelübersetzungen wiedergegebene Bedeutung, der gemäß ein Mann durch<br />

Entlassung bzw. Scheidung “macht, dass sie (seine Frau) die Ehe<br />

bricht/Ehebruch begeht”, ist nach der Ansicht von W. Lange „nicht zwingend“.<br />

Wie seine weitere diesbezügliche Argumentation zeigen will, ist die Übersetzung<br />

mit dem Aktiv des aktiven Ehebrechens durch die Frau seiner Meinung<br />

nach sachlich unrichtig. Das ist für ihn der entscheidende Punkt.<br />

Ich sehe die behauptete Unrichtigkeit der Übersetzung des grammatischen<br />

Passivs im aktiven, faktischen Sinne des Ehebrechens durch die Frau <strong>als</strong><br />

nicht ausreichend begründet an. M.E. ist die Sachfrage nicht im engeren,<br />

grammatikalisch-lexikalischen Bereich zu klären, sondern nur unter Berücksichtigung<br />

einer geschlechtsspezifischen Verwendung von Verbformen und<br />

Begriffen im Bibeltext. Diese geschlechtsspezifischen Sprachformen sind<br />

Ausdruck bestimmter kulturanthropologischer Anschauungen des Vorderen<br />

Orients, welche sich an vielen Stellen auch in der Bibel finden. Ich nehme<br />

1 Anmerkung der Herausgeber: Auch wenn wir grundsätzlich auf die Veröffentlichung der<br />

Diskussionsbeiträge auf dem Symposium verzichtet haben, sehen wir die Bemerkungen von<br />

Klaus Schmitz zu Matthäus 5, 32f. <strong>als</strong> einen wichtigen Impuls für die Meinungsfindung der<br />

Leser.<br />

163


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

zur Grammatik und zur Sozialgestalt der Geschlechterbeziehung in biblischer<br />

Zeit kurz Stellung:<br />

Die Passivform übersetzen W. Lange/R. Nies mit “<strong>als</strong> ehebrecherisch angesehen<br />

werden”; das Verständnis der Form im Medium bedeutet ihnen “sich<br />

selbst <strong>als</strong> ehebrecherisch hinstellen.” Beide Sachverhalte werden <strong>als</strong>o sprachlich<br />

gewissermaßen im deklaratorischen Sinne aufgefasst, nicht jedoch im<br />

realen Sinne des faktischen Ehebrechens. Dies ist m.E. sprachlich nicht geboten,<br />

zumal die Besonderheit der Konstruktion nicht eine lexikalischgrammatikalische<br />

Einzigartigkeit darstellt.<br />

Die einschlägigen Lexika 2 weisen zum Stichwort “ehebrechen” vielmehr<br />

Folgendes aus:<br />

Das Verb begegnet im NT hauptsächlich in ionisch-attischem Sprachgebrauch,<br />

nur Markus und Matthäus benutzen die dorische Nebenform, welche<br />

hier im Medium und im Passiv erscheint. Im klassischen Griechisch hat<br />

das Verb in der Aktivform allein den Mann zum Subjekt und meint dann:<br />

“ehebrechen”, “sich <strong>als</strong> Ehebrecher betätigen” 3 . Die beiden anderen Formen,<br />

die auch in der griechischen Übersetzung des AT (Septuaginta) vorkommen,<br />

bedeuten “sich zum Ehebruch verführen lassen” bzw. “zum Ehebruch verführt<br />

werden”.<br />

In Bezug auf die Frau werden die medialen bzw. die Passivformen durchgängig<br />

im Sinne des Aktiv gebraucht und verstanden.<br />

Als Belegstellen werden angegeben: Aus der klassischen Gräzität: Aristoteles,<br />

Hist. An. 32p, 919a,10f.<br />

Aus dem biblischen Sprachgebrauch wird auf zwei Stellen verwiesen:<br />

Auf Sirach 23,23 (LXX; = 23,33 Luther); hier findet sich die Formulierung,<br />

auf eine Ehefrau bezogen: “in/durch Unzucht ehebrecherisch geworden”.<br />

Außerdem auf die Perikope von der Ehebrecherin 4 , wo es in Johannes 8,4<br />

heißt, die Frau sei “beim Ehebruch” bzw. “ehebrechend”, d.h. “<strong>als</strong> Ehebre-<br />

2 W. Bauer, Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und<br />

der übrigen urchristlichen Literatur; 5. Aufl. 1963; 1040f. E. Plümacher, in: Exegetisches<br />

Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT), II, 1073-1079. F. Hauck, in: <strong>Theologische</strong>s<br />

Wörterbuch zum Neuen Testament, IV, 737 - 747.<br />

3 Die Konstruktion ist entweder absolut oder mit einem Akkusativobjekt; sachlich meint es in<br />

allen Fällen: <strong>als</strong> Mann (mit einer Frau) “Ehebruch treiben”. Es ist immer faktisch zu verstehen.<br />

4 Die Stelle ist in unserem Argumentationszusammenhang zu beachten, auch wenn der Abschnitt<br />

<strong>als</strong> ganzer nach Ausweis der Textüberlieferung sich nicht in den frühen Manuskripten<br />

des NT findet. Dass der theologische Aussagegehalt sehr gut zu Jesus und seinem Evangelium<br />

passt, steht für mich dabei außer Zweifel. Auch insofern verdient(e) der Abschnitt eine<br />

164


SCHMITZ: GRAMMATIK<br />

chende” ergriffen worden. Unzweifelhaft scheint mir in diesen Fällen, dass<br />

Medium bzw. Passiv keineswegs nur deklaratorische Bedeutung haben (“<strong>als</strong><br />

Ehebrecherin angesehen/hingestellt werden”), sondern sich auf den faktischen<br />

Vollzug des Ehebruchs beziehen. Warum dies bei Matthäus 5,32a (und<br />

auch 32b) prinzipiell anders sein soll, kann ich nicht erkennen.<br />

Ich halte die gängigen Übersetzungen deshalb für sprachlich richtig und<br />

zudem für sachlich begründet. Dafür kann auch die allgemeine sprachliche<br />

Gepflogenheit der jüdischen Antike angeführt werden. Keineswegs nämlich<br />

wird nur beim Verb “ehebrechen” im Blick auf die Frau passivisch konstruiert<br />

- aber aktivisch verstanden. Ähnliches gilt auch für die Verben “heiraten”<br />

und “scheiden”.<br />

Zu Letzterem vergleiche man 1.Korinther 7,10, wo Paulus, an die Frauen<br />

gewandt, gebietet, dass sie “sich nicht scheiden sollen”; formuliert wird diese<br />

Aktivität der Scheidungsbegehr allerdings im Aorist Infinitiv Passiv (genau<br />

dieselbe Verbform wie bei “ehebrechen” in Matthäus 5,32a!). Paulus denkt<br />

bzw. empfindet hier wohl alttestamentlich-jüdisch: Scheiden ist - wenn überhaupt<br />

- dann nur die Aktivität des Mannes; Paulus formuliert folglich passivisch<br />

im Blick auf die Frau, obwohl er in Griechenland, im hellenistischen<br />

Kulturraum, die diesbezügliche Gleichberechtigung der Geschlechter kennen<br />

lernt und dies ja auch insofern berücksichtigt, <strong>als</strong> er überhaupt ein ‘Scheidungsverbot’<br />

in Richtung der Frauen ausspricht. Aber im Verständnis scheint<br />

mir kein Zweifel möglich: Hier ist das grammatische Passiv ein sachliches<br />

Aktiv - im Blick auf die Frauen.<br />

Ebenso steht es mit Lukas 17,27 bzw. Matthäus 24,38. Innerhalb paternalistischer<br />

Strukturen “heiraten” die Männer (grammatisches Aktiv), die Frauen<br />

“werden geheiratet” (grammatisches Passiv); aber auch hier ist das Passiv<br />

nicht die Umschreibung für das, was man von ihnen hält - <strong>als</strong> seien sie nur<br />

Verheiratete -, sondern sie sind es wirklich, faktisch, tatsächlich, und insofern<br />

aktiv. Fazit: Der passive Sprachgebrauch von “ehebrechen” im Blick auf die<br />

Frau ist nicht unüblich; im Rahmen des antiken Sozialverständnisses im gesamten<br />

Bereich der Geschlechterbeziehung sind grammatische Passivformen<br />

für die Frauen allgemein üblich. Dass gerade Matthäus dies auch beim Begriff<br />

“ehebrechen” berücksichtigt, scheint mir - trotz des einmaligen Vorgrößere<br />

Beachtung bei der Behandlung des Gesamtthemas “Scheidung und Wiederverheiratung”<br />

- - Der Leser meiner Beiträge mag freilich erkennen, dass sie dem Geist Christi, wie er<br />

in Johannes 7,53ff. sichtbar wird, Ausdruck zu geben suchen: Jesus ist nicht der autoritäre<br />

Vertreter der Legislative oder der Exekutive, sondern: der autoritative Retter.<br />

165


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

kommens in seinem Evangelium 5 - ganz erklärlich; nicht umsonst gilt diese<br />

Schrift <strong>als</strong> auf palästinisch-jüdischem Hintergrund abgefasst. Ich bleibe darum<br />

bei der üblichen Übersetzung und bei einem ‘faktischen’ Verständnis des<br />

gemeinten Sachverhalts.<br />

5 Diese Annahme wird unterstützt durch die Ausführungen bei Billerbeck, II, S. 372f. - Gewissermaßen<br />

die einzige und zugleich gewichtige Ausnahme innerhalb des AT scheint mir<br />

das „Hohelied“ zu sein; hier wird Liebe und Sexualität im personal-emotionalen und auch<br />

sozialen Bereich behandelt, nicht jedoch im Kontext von Fortpflanzung. Auch von da her ist<br />

mir die schwierige Situation im Umgang mit dieser biblischen Schrift im traditionellen Judentum<br />

und Christentum verständlich und der „Zwang“ zur symbolischen Umdeutung der<br />

erotisch-sexuellen Darstellung auf religiöse Sachverhalte erklärlich.<br />

In Matthäus 19,9 haben übrigens einige Textzeugen, darunter der ansonsten wichtige Codex<br />

Vaticanus, die Passiv-Formulierung aus Matthäus 5,32a. Für sie war die Aussage keineswegs<br />

ungewöhnlich - und zudem mit der Aussage hier an dieser Stelle in der Sache offenbar identisch.<br />

166


Die Funktion und Bedeutung der menschlichen<br />

Geschlechtlichkeit/Sexualität nach 1.Korinther 6, 12-20<br />

Ausrichtung auf ethisch-religiöse Gesetzesnormen oder Bezugnahme<br />

auf eine theologische Grund-Ordnung mit personalen Grund-Werten?<br />

Eine theologische Reflexion<br />

Klaus Schmitz<br />

I Vorbemerkungen<br />

1. Wenn wir uns mit biblischen Texten beschäftigen - wie überhaupt mit<br />

menschlicher Lebensäußerung - erscheint es wichtig, das Gesagte unter dem<br />

Gesichtspunkt zu befragen, was es besagt; mehr noch: was mit dem, was das<br />

Gesagte besagt, vom Autor beabsichtigt war bzw. ist.<br />

In der Regel haben wir es bei der menschlichen Kommunikation nicht bloß<br />

mit Sachinformationen zu tun; je mehr die angesprochenen Themen eine existentielle<br />

Bedeutung haben, umso mehr haben wir es neben der Sachmitteilung<br />

auch mit Beziehungsaussagen zu tun, die <strong>als</strong> Selbstmitteilungen oder Appelle<br />

einem konkreten Zweck dienen bzw. ein konkretes Ziel verfolgen. 1<br />

Die biblischen Texte sind Lebensäußerungen von Glaubenden, welche den<br />

Empfänger in autoritativer Weise auf den Glauben <strong>als</strong> Lebenseinstellung hin<br />

ansprechen wollen.<br />

2. Im hier behandelten Bibelabschnitt 1.Korinther 6,12ff. findet sich neben<br />

Sachmitteilungen eine explizite Beziehungsaussage; sie ist dreifach stereotyp<br />

formuliert („Wisst ihr nicht?“/“Ihr wisst doch“, Verse 15.16.19) und strukturiert<br />

den Gedankengang in erkennbarer kommunikativer und - wie sich zeigen wird -<br />

in theologisch angemessener und bedeutungsvoller Weise.<br />

3. Im Zusammenhang der Gesamtthematik des Symposiums gehen wir der<br />

aufgeworfenen Frage nach, was die Ehe konstituiere, insbesondere überprüfen<br />

wir die Bedeutung, welche der ausgelebten Sexualität, dem Geschlechtsakt <strong>als</strong><br />

1 Siehe Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen.<br />

167


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

solchem beigemessen wird (vgl. V. 16). Ist der Geschlechtsverkehr das wesentliche<br />

brutum factum zum Einssein im Sinne der Ehe?<br />

In der Regel handelt es sich jedenfalls dabei um eine „nackte Tatsache“. Aber<br />

im Sinne der Fragestellung werde ich keine eindeutige zustimmende Antwort<br />

geben. Vielmehr werde ich auf zwei unterschiedene Ebenen sowohl bei der<br />

Fragestellung <strong>als</strong> auch bei der Antwort verweisen. Zum einen geht es um das<br />

rein Materielle bzw. Körperliche an sich sowie um die Frage von bloßen Gesetzes-Normen;<br />

zum anderen geht es um das leibhaftige Existieren <strong>als</strong> personales<br />

menschliches Wesen sowie um die Bedeutung der biblischen Grund-Ordnung.<br />

Beides ist miteinander verknüpft, bedeutet aber je für sich eine enge oder eine<br />

weite Perspektive bzw. eine vordergründige oder eine tiefgründige Betrachtungsebene.<br />

II Kontext und Gliederung<br />

Der Abschnitt findet sich in einem größeren Textzusammenhang von<br />

1.Korinther 4 - 7, in dem es um Problemfälle bzw. Themen geht, welche hauptsächlich<br />

mit Fragen der Sexualität zu tun haben.<br />

Die formale Abgrenzung nach hinten ist eindeutig: Mit 7,1 beginnt ein neuer<br />

Abschnitt, in dem Paulus auf Anfragen aus der Gemeinde Korinth antwortet.<br />

Diese beinhalten - ebenso wie 6,12ff. - Fragen der Sexualethik.<br />

Die Abgrenzung nach vorne ist ebenso deutlich, jedoch findet sich unmittelbar<br />

vor unserem Text eine Aufzählung in Form eines Lasterkatalogs (6,9-11),<br />

der im Textzusammenhang eine gewisse Vorbereitung auf die Themenentfaltung<br />

in unserem Abschnitt darstellt. 1.Korinther 6, 11-20 ist insofern ein klar<br />

abgegrenztes Stück.<br />

Die Grobgliederung zeigt eine Zweiteilung:<br />

6,12-14 bringt die Entfaltung des problematischen Sachverhalts.<br />

6,15-20 entfaltet die paulinische Lösung des Problems in drei theologischen<br />

Argumentationsgängen mit einer theologisch prägnanten Abschlussbemerkung.<br />

Ich beginne mit dem im paulinischen Text an zweiter Stelle befindlichen<br />

Teil, der theologischen Argumentation. 2<br />

2 Damit sind wir unmittelbar bei der uns <strong>als</strong> Pastoren/Seelsorger nahe liegenden Sprache bzw.<br />

Sache, ohne dass wir zuvor theologisches und historisches Hintergrundwissen über den Sachverhalt<br />

in Korinth zusammentragen müssten.<br />

168


SCHMITZ: 1.KORINTHER 6<br />

III Die dreifache theologische Argumentation (1.Korinther 6,15-19)<br />

1. Das christologische Argument (V. 15)<br />

Den ersten Argumentationsgang eröffnet Paulus mit dem Verweis auf das<br />

„Wissen“ der Christen. Die griechische Frageform kann im Sinne einer positiven<br />

Aussage übersetzt werden: „Ihr wisst doch ...“.<br />

Basis und Ausgangspunkt der Argumentation ist <strong>als</strong>o ein religiöses Wissen,<br />

ein Bekenntnis, das allen Christen gemeinsam ist. Mit der anschließenden Formulierung<br />

„eure Leiber“ („soma“) wird nicht auf den Körper der Menschen <strong>als</strong><br />

deren materieller Bestandteil Bezug genommen, <strong>als</strong>o nicht auf die Gliedmaßen,<br />

Organe usw.; vielmehr werden dadurch die Menschen selbst <strong>als</strong> leibliche Wesen,<br />

<strong>als</strong> leiblich existierende Personen, <strong>als</strong> manifest geschichtliche Wesen bezeichnet.<br />

Die Menschen haben nicht nur eine physiologische bzw. physischmaterielle<br />

Seite, sie ‚haben’ nicht einen Leib, sondern ‚sind’ Leib, nämlich<br />

leibhafte Wesen. 3<br />

Die Christen werden im weiteren Aussageteil <strong>als</strong> „Glieder Christi“ bezeichnet.<br />

Das Bild ist sprachlich nicht ganz stimmig, genauer gesagt sind wir Glieder<br />

am Leib Christi. Da im ersten Argumentationsgang aber das Christologische<br />

und nicht speziell das Ekklesiologische im Vordergrund steht, mag sich die<br />

verkürzende Redeweise daraus erklären. Das „Sein“, von dem hier die Rede ist,<br />

ist ein Zugehörig-Sein zu Christus, das im Glauben an ihn realisiert ist. Glaube<br />

bezeichnet dabei die bestimmte Ausrichtung unseres Lebens <strong>als</strong> geschichtliche<br />

personale Wesen. Was damit speziell ausgesagt wird, betrifft <strong>als</strong>o keineswegs<br />

alle Menschen. Schon hier wird deutlich: Die Diskussionsebene ist eine andere<br />

<strong>als</strong> nur die rein körperliche, die allen Menschen ohne Unterschied prinzipiell<br />

gemeinsam ist.<br />

Im zweiten Teil von V. 15 wird eine Folgerung in Frageform gezogen, die<br />

sogleich <strong>als</strong> eindeutig beantwortet behauptet wird. Christen sollen nicht bzw.<br />

‚können’ nicht zugleich einer Hure angehören; dies bedeutete nämlich ein<br />

„Wegreißen“ bzw. „Wegnehmen“ von Christus. Das aber darf unter keinen<br />

Umständen eintreten; „das sei ferne!“ Im Hintergrund der Argumentation steht<br />

eine moralische Norm, die, wie überhaupt der Großteil der christlichen Sexualethik,<br />

auf dem AT basiert. Dabei gibt es eine - wie ich meine prägnante - Ak-<br />

3 Zur grundlegenden Bedeutung biblischer anthropologischer Begriffe, die der heutigen theologischen<br />

Wissenschaft <strong>als</strong> gemeinsam für das gesamte biblische Zeugnis gelten, vgl. Hans-<br />

Walter Wolff. Anthropologie des Alten Testaments; zur theologischen Deutung des Soma-<br />

Begriffs bei Paulus vgl. Rudolf Bultmann. Die Theologie des Neuen Testaments, ' 17.<br />

169


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

zentverschiebung im NT: Während man das AT hinsichtlich der Sexualität vorrangig<br />

unter dem Gesichtspunkt der Fortpflanzung und ihrer Bedeutung im religiös-nationalen<br />

Kontext verstehen muss, was tendenziell das Verständnis der<br />

Ehe <strong>als</strong> quasi religiöse Pflicht für den Juden nahelegt (Genesis 1,27f.) 4 , findet<br />

sich diese Zusammenbindung von Sexualität und Fortpflanzung im NT so nicht<br />

theologisch ausgeführt; das ist angesichts der Ausweitung des Heilsverständnisses<br />

ins Universale nicht weiter verwunderlich.<br />

Beim Stichwort Hurerei/Unzucht („porneia“) kann man an illegitime Verwandtenehen<br />

denken (Levitikus 18,6ff.), an den außerehelichen bzw. (insbesondere<br />

für die Frau) vorehelichen Geschlechtsverkehr sowie an die Prostitution.<br />

Letztere gibt es zur Zeit des AT wie des NT in einem speziell religiös motivierten<br />

und in einem rein sozialen Kontext. Während das AT für die beiden<br />

unterschiedlichen Formen eine unterschiedene, je eigenständige Begrifflichkeit<br />

hat, fehlt diese begriffliche Differenzierung im NT. Ob an unserer Stelle eher<br />

die erstere Form <strong>als</strong> wahrscheinlich anzunehmen ist oder aber die Sexualität <strong>als</strong><br />

bezahlte bzw. käufliche Dienstleistung im Sinne des Sex <strong>als</strong> Ware im Blick<br />

steht, kann nur der Zusammenhang aufgrund eines hermeneutischen Zirkelschlusses<br />

erweisen.<br />

Freilich zeigt die Aufnahme und Weiterführung des Gedankengangs im zweiten<br />

Argumentationsgang, dass die gewählte Ebene mehr besagt <strong>als</strong> nur eine<br />

moralische Norm; vielmehr steht mit dem angesprochenen Verhalten ein anthropologischer<br />

Wert zur Disposition.<br />

2. Das schöpfungstheologische Argument (V. 16-18)<br />

Der zweite Argumentationsgang behandelt das Einssein und die Bedeutung<br />

bzw. Funktion der Sexualität.<br />

Zunächst werden im bisherigen Duktus „Hure“ und „Christus“ miteinander<br />

verglichen. Vergleichspunkt ist das „Anhängen“, d.h. das Sich-dauerhaft-<br />

Verbinden. In Bezug auf die Hure wird dies <strong>als</strong> „ein Fleisch“ (V. 16 a), in Be-<br />

4 Diese Annahme wird unterstützt durch die Ausführungen bei Billerbeck, II, S. 372f. - Gewissermaßen<br />

die einzige und zugleich gewichtige Ausnahme innerhalb des AT scheint mir das<br />

„Hohelied“ zu sein; hier wird Liebe und Sexualität im personal-emotionalen und auch sozialen<br />

Bereich behandelt, nicht jedoch im Kontext von Fortpflanzung. Auch von da her ist mir die<br />

schwierige Situation im Umgang mit dieser biblischen Schrift im traditionellen Judentum und<br />

Christentum verständlich und der „Zwang“ zur symbolischen Umdeutung der erotischsexuellen<br />

Darstellung auf religiöse Sachverhalte erklärlich.<br />

170


SCHMITZ: 1.KORINTHER 6<br />

zug auf Christus <strong>als</strong> „ein Geist“ (V. 17) bezeichnet, beidem gemeinsam ist die<br />

personale Ebene: Gemeint bzw. ‚gefordert’ ist eine bestimmte Bindung im Sinne<br />

besonderer Bindungsintensität bzw. Bindungsqualität. Sexualität, das ist offenbar<br />

die Auffassung des Paulus, ist eigentlich Ausdruck einer personalen Bindung<br />

bzw. erfordert diese.<br />

Grundlage der Argumentation, die wiederum das Wissen der Gemeinde <strong>als</strong><br />

gegeben voraussetzt, ist nun aber nicht eine spezifisch christlich-christologische<br />

Erfahrung, etwa im Sinne einer sich an die christologischen Aussagen kohärent<br />

anschließende Soteriologie (vgl. dagegen V. 20!), sondern der Verweis auf die<br />

Schöpfung, die <strong>als</strong> Wirklichkeit des Lebens alle Menschen gleichermaßen betrifft.<br />

Nach biblischem Verständnis ist der Geschlechtsverkehr „eigentlich“ keine<br />

rein körperliche Sache, eben nicht z.B. nur eine schöne Art von Gymnastik! Er<br />

ist, das ist die schöpfungstheologische Einsicht der Christen, die freilich jedem<br />

Menschen prinzipiell offen steht, etwas qualitativ anderes: ein Ausdrucks-<br />

Geschehen.<br />

Rein natürlich, physiologisch betrachtet, handelt es sich um einen physischen<br />

Vorgang, der <strong>als</strong> solcher auch benannt werden kann. Im AT heißt es in solchem<br />

Zusammenhang: „bei jemandem liegen“, „mit jemandem Umgang haben“; der<br />

jeweilige Kontext präzisiert das Verständnis in sexueller oder nicht-sexueller<br />

Hinsicht. Dem entspricht unsere heutige Formulierung „mit jemandem schlafen“,<br />

was man ja - genau genommen - gerade nicht tut, wenn man „es“ tut!<br />

Als Bezeichnung des umfassend personalen Geschehens beim Vollzug der<br />

Sexualität verwendet das AT in der Regel die Bezeichnung „erkennen“ (jada).<br />

Es handelt sich dabei dann nicht um ein rationales Kennen bzw. Wissen, sondern<br />

um ein emotionales Gesamterleben seiner selbst <strong>als</strong> Mensch und der Person<br />

eines/einer anderen.<br />

Die unvergleichliche Qualität dieses Erlebens besteht nun zum einen darin,<br />

dass es sich um ein „Gestalt“-Geschehen handelt: Der Vollzug der Sexualität ist<br />

Ausdruck von bzw. für personale Innigkeit und Intimität. Auch der realkörperliche<br />

Vollzug des „In-jemandem-Sein“, nehmen wir die sexuelle Penetration<br />

hier einmal für den üblichen Fall von Sexualpraktik, verweist unmissverständlich<br />

auf diese Gegebenheit. Man vergleiche dazu, wie sehr wir es im Alltag<br />

in der Regel vermeiden, jemandem unbeabsichtigt körperlich zu nahe zu<br />

kommen! Bei unabsichtlichen Berührungen sogar in einem übervollen Bus pflegen<br />

wir uns zuweilen sogar zu entschuldigen.<br />

Insofern kann jeder Mensch wissen, dass Sex etwas personal gesehen Unvergleichliches<br />

darstellt, eben mehr <strong>als</strong> nur ein äußerlich-körperliches Sich-nahe-<br />

171


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Kommen. Das wird auch darin erkennbar, dass der Geschlechtsverkehr die<br />

Fortpflanzungsmöglichkeit beinhaltet: Sex ist (potentiell) lebenschaffend.<br />

Dieser Sachverhalt wiederum hat eine religiöse und eine soziale Komponente:<br />

Für das AT sind Leben und Tod selbst und was damit in ursächlicher Beziehung<br />

steht, Teil der heiligen, der göttlichen Sphäre. Die damit verbundene „Unreinheit“<br />

bzw. die Notwendigkeit zur „Heiligung“/„Reinigung“ verweisen auf<br />

die Unverfügbarkeit dieser Erfahrungen für den Menschen (vgl. Genesis 4,1);<br />

unsere heutige Lebenswirklichkeit mit den schier unbegrenzten medizintechnischen<br />

Möglichkeiten (auch) der Fortpflanzungsmedizin, aber auch schon der<br />

Steuerungsmöglichkeit des weiblichen Zyklus usw. führt naturgemäß zu einer<br />

anderen Empfindung und zu einem veränderten Umgang mit der Sexualität.<br />

Und wenn bzw. wo wir die religiöse Seite nicht mehr unmittelbar nachvollziehen<br />

können, sind wir doch in der Lage, die soziale Bedeutung der Sexualität<br />

<strong>als</strong> einer unvergleichbaren Erfahrung zu erkennen: dass Kinder kein Ding, keine<br />

Sache sind, nicht im engeren Sinn unser Produkt und auch nicht unser Besitz,<br />

das ist uns in der Regel vertraut.<br />

Sowohl im religiösen wie im sozialen Aspekt der Sexualität wird eine einheitliche<br />

und grundsätzliche Perspektive übernommen, die sich für mich nicht<br />

bloß <strong>als</strong> eine moralische Kategorie darstellt, sondern <strong>als</strong> ein grundlegender<br />

anthropologischer Wert, der sich mit dem Menschsein <strong>als</strong> solchem notwendigerweise<br />

ergibt.<br />

Zwar bedarf es auch der gesellschaftlichen Kontrolle dieser Urgewalt der Sexualität<br />

(vgl. Hohelied 8,6), und die daraus resultierenden bzw. zugleich darauf<br />

abzielenden Normen und Ordnungen dienen diesem Anliegen, das in der Bibel<br />

seine positive Bedeutung zugesprochen bekommt, was für den Alltag kaum<br />

jemand prinzipiell abweisen wird! Aber die Normen, Gesetze, Gebote und Ordnungen<br />

sind sekundär. Ihr Maßstab ist die konkrete Sozialverträglichkeit für die<br />

beteiligten Personen und ihre wirksame Funktionalität.<br />

Primär aber sind die anthropologischen Werte, die das Menschsein des Menschen<br />

ermöglichen, fördern und festigen sollen. Das Sekundäre, die moralische<br />

Norm, sekundiert dem Primären, den grundlegenden Werten.<br />

Entsprechend diesem Bedeutungsgefälle zwischen übergeordneten Werten<br />

und nachgeordneten Normen gilt m.E. grundsätzlich, dass Konflikte innerhalb<br />

von Normen durch Bezug auf den jeweils zugrunde liegenden Wert zu lösen<br />

sind. Von der Aktualebene ist zur Seinsebene vorzudringen.<br />

Worum es dem Paulus im Bereich der personalen Werte konkret geht, wird in<br />

unserem Argumentationsgang in V. 16 mit dem Begriff „anhangen“, „sich dau-<br />

172


SCHMITZ: 1.KORINTHER 6<br />

erhaft verbinden“ zum Ausdruck gebracht. Bevor Paulus das Zitat aus Genesis<br />

2,24 bringt, in dem er diesen Gedanken in der Schrift autoritativ ausgedrückt<br />

findet, greift er den entscheidenden Gesichtspunkt argumentativ heraus. ‚Wollen’<br />

die Gemeindeglieder in Korinth, die Prostituierte aufsuchen, mit dem Sex<br />

ihre lebensweltlich-innige Verbindung mit der Hure demonstrieren? Wollen sie<br />

ihr „anhangen“? Doch wohl nicht! Aber, so argumentiert Paulus, Sex ist doch<br />

‚eigentlich’ Ausdruck genau solcher personalen Verbindlichkeit und Intimität.<br />

Insofern vollziehen die Betreffenden mit dem Sexualakt etwas, was sie nicht<br />

‚eigentlich’ vollziehen wollen. Sie leben in einem erlebnismäßigen und vorsätzlich<br />

herbeigeführten Widerspruch mit sich selbst.<br />

Das aber bedeutet die Zerstörung des zur Diskussion stehenden „Wertes“. Ich<br />

benenne ihn <strong>als</strong> die unbedingte positive, personale Zugehörigkeit in Liebe,<br />

Treue und Wahrhaftigkeit.<br />

Dies gilt nach Auffassung des Paulus gleichermaßen sowohl hinsichtlich der<br />

religiösen Beziehung zum Herrn Christus wie der sexuellen Beziehung zum<br />

Mitmenschen.<br />

Der prinzipielle, dauerhafte und wissentliche Widerspruch zu sich selbst -<br />

d.h. seinem eigenen Bekenntnis gegenüber - führt zur Zerstörung des betreffenden<br />

Wertes sowohl in der natürlichen Welt qua Schöpfung sowie der Glaubenswelt<br />

qua Erlösung.<br />

Das Zitat aus Genesis 2,24 erscheint hier auf den ersten Blick <strong>als</strong> rein formal<br />

abgerufen, erweist sich jedoch <strong>als</strong> bedeutungsmäßig richtig eingesetzt: Mit Hilfe<br />

des Zitates wird ein innerer Widerspruch sichtbar gemacht, der auf der primären,<br />

nämlich hier: schöpfungstheologischen Ebene angesiedelt ist - nicht<br />

jedoch nur auf der ethischen Ebene!<br />

Einen ähnlichen Widerspruch, eine ‚unmögliche Möglichkeit’ hatte Paulus<br />

schon in V. 15 auf der christologischen Ebene aufgedeckt und abgewiesen.<br />

Hier folgt nun nicht nur die Abweisung solchen Verhaltens, sondern zugleich<br />

in V. 18 der Appell gegen die Unzucht („porneia“), die Paulus - entsprechend<br />

dem personalen Verständnis des Menschen - <strong>als</strong> eine Sünde gegen die eigene<br />

geschichtliche Existenz („den eigenen Leib“) <strong>als</strong> Glaubende versteht. Und zwar<br />

gilt dies nach Meinung des Paulus sowohl in Bezug auf die Schöpfung wie in<br />

Bezug auf die Erlösung.<br />

D.h. gemäß beider Argumentationsgänge versündigt sich der Glaubende gegen<br />

Gott in Christus, wenn er durch den Sexualakt der Hure „anhangt“ und damit<br />

eine innige personale Bindung zum Ausdruck bringt, die eigentlich nur rein<br />

körperlich und noch dazu nur zeitweise wirklich existiert!<br />

173


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

3. Das pneumatologische Argument (V. 19)<br />

Nach dem Verweis auf Christologie und Schöpfungstheologie folgt hier abschließend<br />

die Bezugnahme auf die Pneumatologie: „Im Geist“ bzw. „durch<br />

den Geist“ wird das Bekenntnis zu Christus zur grundlegenden Wirklichkeitserfahrung<br />

des Menschen. Die Glaubenden sind - gemäß ihrem Bekenntnis - Tempel<br />

des Heiligen Geistes; in ihrem Leben ist die Gegenwart Gottes wirksam und<br />

<strong>als</strong>o wirklich. - Darauf wird auch der Schlussvers des Abschnitts (V. 20) eingehen.<br />

Damit fährt Paulus heftigstes theologisches Geschütz auf: trinitarisch bzw.<br />

triadisch! Alles nur wegen eines ethischen Problems!? Wieso ist das notwendig?<br />

5 Was ist da in Korinth los?<br />

IV. Die religiös-ethische Problemlage in Korinth (V. 12-14)<br />

Der thematisch zusammenhängende Bibelabschnitt, aus dem wir V. 15ff bereits<br />

behandelt haben, beginnt, wie schon gesagt, in V. 12.<br />

Die in V. 12 begegnende Struktur lässt sich m.E. am besten verstehen, wenn<br />

man davon ausgeht, dass Paulus in V. 12a.c jeweils die Parole, das Motto der<br />

korinthischen Abweichler oder Gegner zitiert, auf das er in V. 12b.d thetisch<br />

abgrenzend bzw. abweisend reagiert, wobei seine Kritik bzw. sein Maßstab<br />

erkennbar wird: Der Apostel misst das Verhalten bzw. die Haltung nicht vorrangig<br />

an einer sachlich-ethischen Norm, sondern im Blick auf die personale<br />

Wertigkeit für das Menschsein selbst. In seiner Position findet sich in V. 12b<br />

die Frage nach dem für das Menschsein „Gute“, „Zuträgliche“; in V. 12d wird<br />

via negationis von der „Vollmacht“ („exousia“ in der Passivform des Verbs)<br />

gesprochen, welche kein Sachverhalt, keine Sache über mich <strong>als</strong> Mensch gewinnen<br />

darf, „es soll mich nichts gefangen nehmen“.<br />

Die hier verwendete Begrifflichkeit ist - über die allgemein theologisch pointierte<br />

Verwendung im NT hinaus - auch insofern von Bedeutung, <strong>als</strong> Paulus<br />

damit auf dieselbe Wortfamilie zurückgreift, welche in der korinthischen Parole<br />

auftaucht: „Es ist mir erlaubt“, eigentlich: „Ich habe zu allem die Macht bzw.<br />

Ermächtigung“ („panta moi exestin“).<br />

Schon in dieser Parole geht es nicht bloß um die Frage nach der Gültigkeit<br />

von Normen, sondern nach der Bewertung des Menschseins selbst.<br />

Dass diese Aussage eine zitierte Parole ist, macht auch 1.Korinther 10,23<br />

wahrscheinlich. Im Sinne eines religiösen Mottos aufgefasst, versteht man sie<br />

5 Ich setze voraus, dass Paulus im Prinzip angemessen reagiert und nicht z.B. einfach sein eigenes<br />

Problem mit Fragen der Sexualität durch theologische Überreaktion bearbeitet.<br />

174


SCHMITZ: 1.KORINTHER 6<br />

am besten <strong>als</strong> religiöse bzw. theologische Kampfformel mit umfassender Bedeutung,<br />

verwendet von gnostischen Gläubigen.<br />

V. 13a dürfte ebenfalls Zitat aus den gnostischen Kreisen sein: Konkretes irdisches<br />

Handeln und Verhalten ist ihrer Auffassung nach einer Beliebigkeit<br />

unterworfen, da es sich um rein materielle, körperliche Sachverhalte handelt,<br />

welche nicht zum Menschsein im eigentlichen Sinn gehören.<br />

Zur Beschreibung dieses Sachverhalts wird der Begriff „Bauch“ („koilia“)<br />

gewählt, womit nicht einfach der entsprechende Körperbereich der inneren Organe<br />

(Verdauung) gemeint ist, sondern gleichsam dessen Charakteristik <strong>als</strong> Typos<br />

für eine spezielle menschliche Grundhaltung gewählt wird. Den Bauch<br />

schlägt man sich voll, den H<strong>als</strong> (Schlund) kriegt man nie für immer voll, man<br />

hat nie genug, muss immer mehr haben.<br />

Es wird <strong>als</strong>o das Haben-Wollen bzw. Haben-Müssen ausgedrückt im Sinne<br />

des Lustprinzips mit eigener Bedürfnisbefriedigung (vgl. Römer 16,18; Philipper<br />

3,19; 2. Timotheus 3,4). Die Zuordnung von „Speise“ zu „Bauch“ in der<br />

gnostischen Folgerung hat in unserem Textzusammenhang keine eigenständige<br />

Bedeutung, sondern entspringt der gedanklichen Stimmigkeit des Bildwortes.<br />

Das damit angezeigte Lebensmodell kann sich im Rahmen solcher Grundhaltung<br />

auf jeden konkreten Körperteil und auf jedes konkrete Verhalten beziehen.<br />

Im Zusammenhang unseres Abschnittes ist es natürlich im sexuellen Bereich<br />

zu suchen, worauf schon V. 13c („Unzucht“ – „porneia“) unmissverständlich<br />

hinweist. Paulus hält dieser Position zunächst in V. 13b entgegen, dass das Materielle<br />

(„Bauch“ und „Speise“ im physiologisch-realistischen Sinne gemeint)<br />

der Vergänglichkeit unterworfen ist, und zwar durch Gott, wie mit Betonung<br />

gesagt wird. Das ist doch wohl - gegenüber christlich orientierten Gnostikern! -<br />

<strong>als</strong> Hinweis auf das Jüngste Gericht zu interpretieren (vgl. 2.Korinther 5,1-10).<br />

Bedeutsamer ist jedoch seine Entgegnung mit Verweis auf den „Leib“ („soma“),<br />

was ja nicht einfach dieselbe Kategorie ist wie „Bauch“, sondern eine<br />

Kategorieverschiebung darstellt.<br />

Hatten die Gnostiker auf das rein Körperliche verwiesen <strong>als</strong> in ethischen<br />

Dingen bedeutungslos, was zu ihrer Position von religiös motiviertem Libertinismus<br />

führt, so betont Paulus die „Leiblichkeit“ <strong>als</strong> die eigentliche und einzige<br />

irdische Existenzform des Menschen, die von Gott gegeben und gewollt ist,<br />

siehe die doppelte Verknüpfung in V. 13d zwischen unserem „Leib“ und „dem<br />

Herrn“.<br />

Die leibhafte Existenz des Menschen bedeutet für Paulus keinen verachtenswerten,<br />

ethisch irrelevanten „Sachverhalt“, sondern ist die eigentliche Seins-<br />

175


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

form des Menschen, die auch - wenngleich durch eine Verwandlung von Gott<br />

her - für die Ewigkeit Bestand haben wird (V. 14).<br />

Paulus argumentiert in diesen theologischen Darlegungen grundlegend existential,<br />

auf die Grundbedingungen menschlicher Existenz bezogen!<br />

Diese leibhafte Existenz aber ‚erlaubt’ keine Unverbindlichkeit bzw. keine<br />

Beliebigkeit der Bindungen: „Hurerei“ bzw. „Unzucht“ und „Herr“ <strong>als</strong> Bindungsobjekt<br />

sind miteinander unvereinbar (V. 13c.d) - die Begründung, bei der<br />

er an das christliche Wissen appelliert, liefert er sogleich in einem dreifachen<br />

theologischen Argumentationsgang (V. 15-19).<br />

Das so verstandene korinthische Problem ist allerdings in der Tat eines, das<br />

nicht eigentlich auf der Ebene der Diskussion ethischer Normen abgehandelt<br />

werden kann; es geht um eine weitreichendere bzw. tiefergehende Problematik:<br />

In den Positionen der korinthischen Abweichler und des Paulus stehen sich<br />

zwei konkurrierende Seinsverständnisse, zwei gegensätzliche Auffassungen<br />

menschlicher Existenz unausgleichbar gegenüber.<br />

Konkret ist der zur Debatte stehende Fall wohl festgemacht an der Praxis des<br />

Geschlechtsverkehrs mit Tempeldirnen („Hierodulen“), von den Zeitgenossen<br />

„heilige Frauen“ genannt, deren es in Korinth nach Ausweis antiker Schriftsteller<br />

an die 1000 gegeben hat 6 ; zur religiösen Prostitution, die im Mittelmeerraum<br />

auch homosexuelle Praktiken einschließen konnte, kamen ungezählte ‚normale’<br />

Prostituierte hinzu, die ebenfalls für das antike Korinth bezeugt sind.<br />

Auf das Sexuelle bezogen lautete <strong>als</strong>o das gnostische Motto, mal sehr drastisch<br />

und ‚zeitgemäß-derb’ ausgedrückt: „Der Penis für das B... und die Vagina<br />

für das F... - es bedeutet doch alles nichts, ist doch nur Reibung der Körper!“<br />

Religiös konnte dieses Verhalten <strong>als</strong> innere Unabhängigkeit und geistliche Unangreifbarkeit<br />

für das Böse ausgegeben werden (vgl. 1.Korinther 10,14-22),<br />

weil man sich durch das göttliche Pneuma, verstanden <strong>als</strong> die in den Pneumatikern<br />

innewohnende göttlich-himmlische Substanz, vollkommen gefeit sehen<br />

konnte. Sozial bedeutet dieses Verhalten das Ausleben der Neigungen und Begierden<br />

nach dem Lustprinzip.<br />

Der Wert, der damit <strong>als</strong> Grund-Wert menschlicher Existenz von den gnostischen<br />

Libertinisten propagiert wird, ist die Beliebigkeit bzw. Bindungslosigkeit.<br />

Das dahinter liegende Grund-Prinzip könnte man „Haben“ statt „Sein“ 7 nennen.<br />

6 Heinrich Baltensweiler. Ehe, S. 197f.<br />

7 Vgl. Erich Fromm. Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft;<br />

1979 erstm<strong>als</strong> erschienen. Im Augenblick scheint mir eher wieder (einmal) das ‚Haben’ gesell-<br />

176


SCHMITZ: 1.KORINTHER 6<br />

Aus der christlichen, d.h. einheitlich christologischen wie schöpfungstheologischen<br />

und pneumatologischen Sicht des Paulus wird mit einer solchen<br />

Grundhaltung nicht einfach nur eine soziale oder ethische Norm verletzt, wie<br />

umfassend sie auch definiert sein mag, sondern wird das Menschsein selbst, das<br />

Paulus im Sinne von Personsein und In-Beziehung-Sein versteht, im Grunde<br />

ausgehebelt. Die eigentliche Gefahr sieht Paulus folglich in dem, was man modern<br />

„Entpersonalisierung“ nennen könnte. Durch sie wird die Grundlage des<br />

Menschseins total verändert. Nicht nur der Sex wird dann zur Ware oder zu<br />

einem unverbindlichen Zeitvertreib, sondern buchstäblich „alles“ wird zu einem<br />

bloßen Sachverhalt, einem Ding, einem Objekt unserer vielfältigen Begierden,<br />

dessen ich mich beliebig bedienen kann (V. 12).<br />

Paulus hält dem - mit Erich Fromm gesprochen - das „Sein“ <strong>als</strong> Grundprinzip<br />

entgegen, und zwar nicht <strong>als</strong> religiöse oder philosophische Theorie bzw. Ideologie,<br />

sondern <strong>als</strong> das leibhaftige Menschsein in einem personalen, geschichtlichen<br />

Sinne. Um der Anthropologie willen ist dies <strong>als</strong> vorrangiges Lebensprinzip<br />

unverzichtbar.<br />

Die Gegenposition wird für unakzeptabel erachtet, wegen der in ihr enthaltenen<br />

negativen Wertigkeit im Blick auf das Menschsein seiner Grundbedeutung<br />

nach.<br />

V Die Zusammenfassung: Ausgangspunkt und Zielpunkt (V. 12.20)<br />

Die Entgegensetzung, die Paulus gegenüber den korinthischen gnostischenthusiastischen<br />

Libertinisten vollzieht, ist eine grundlegende:<br />

Das <strong>Theologische</strong> im engeren Sinne wird auf die Grund-Ebene des Existentialen<br />

bezogen; die Frage des Ethischen wird nicht einfach im Bereich der Normendiskussion<br />

angesiedelt, sondern auf die Grundfrage menschlicher Personalität<br />

zurückgeführt.<br />

Die dreifache theologische Argumentation, die nacheinander christologisch<br />

(V. 15), schöpfungstheologisch (V. 16-18) und pneumatologisch (V. 19) zugespitzt<br />

wird, erfährt ihre abschließende Zusammenfassung in der Soteriologie<br />

(V. 20). In ihr wird das Heilshandeln Gottes am Menschen <strong>als</strong> solchem theologisch<br />

zur Sprache gebracht. In gewisser Weise kann man sagen: Letztlich hat<br />

jede christliche Theologie ihren eigentlichen Zielpunkt in der Soteriologie, allerdings<br />

nicht im Sinne religiöser Aussagen über himmlische Sachverhalte,<br />

schaftlich prägend zu sein, wenngleich auch in gegenüber den Nachkriegsjahren in Deutschland<br />

gewandelter Form: Spaß-Haben ist angesagt.<br />

177


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

sondern in Anwendung der Bedeutsamkeit des Geschehens für das Lebensverständnis<br />

des Menschen. D.h., dieser Ansatz verfährt konkret, aber nicht einfach<br />

im Sinne eines speziellen Einzel- oder Sonderfalls, sondern <strong>als</strong> ‚Beispiel-Fall’<br />

für das Menschsein allgemein.<br />

Schon in den einzelnen Argumentationsgängen hatte Paulus diese Existenz-<br />

Ebene herangezogen, indem er vom „Leib-Sein“ des Menschen sprach, welches<br />

mehr und anderes besagte <strong>als</strong> nur dessen Körperlichkeit bzw. Materialität.<br />

Der Grund-Wert, den Paulus im gesamten Abschnitt vertritt bzw. den er<br />

durch die Korinther negiert sieht, findet sich im Person-Sein des Menschen, das<br />

es ihm ermöglicht, in geschichtlicher Entscheidung eine Lebensbindung einzugehen.<br />

Dies gilt sowohl hinsichtlich des alltäglich-mitmenschlichen Miteinanders<br />

wie in der Bezogenheit auf Gott. 8<br />

Der Mensch <strong>als</strong> ganzheitlich verstandenes, personales Wesen ist von Gott<br />

„erkauft“ (V. 20a), zur Freiheit berufen (vgl. Galater 5,1.13); diesem Erleben<br />

soll sein Leben Ausdruck verleihen. Die grundlegende Entfremdung von uns<br />

selbst durch die Sünde ist aufgehoben (Römer 7,18ff.); es wäre ein Widerspruch<br />

in sich, wollten wir Christen nun willentlich und wissentlich der Entpersonalisierung<br />

des Menschseins den Weg bereiten oder absichtlich Vorschub<br />

leisten! Vielmehr sollen wir in unserer personalen, geschichtlichen Existenz in<br />

innerer Ausrichtung auf den leben, der uns das Leben in Übereinstimmung mit<br />

uns selbst und sich ermöglicht - Gott (V. 20b).<br />

Das führt im ethischen Bereich zur Grundfrage nach dem, was „dem Guten<br />

dient“ (V. 12); dies aber wird biblisch nicht vorrangig sachbezogen, sondern<br />

personbezogen aufgefasst (vgl. 1.Korinther 10,23f.). Es geht mithin letztlich<br />

und eigentlich um personale Grund-Werte, nicht um sachliche Normen.<br />

VI Anwendung auf Fragestellungen der Ehe bzw. Ehescheidung<br />

Beurteilungsmaßstab eines Verhaltens bzw. einer Haltung ist letztlich die<br />

Auswirkung auf das Menschsein selbst, das nach biblischer Anthropologie <strong>als</strong><br />

personal, relational und geschichtlich gelebtes leibhaftiges Sein zu verstehen ist.<br />

Im Bereich der Ehe verlangt dieses Grundverständnis des Menschseins in erster<br />

Linie die Grundwerte von Liebe, Treue und Wahrhaftigkeit. In ihnen bzw.<br />

durch sie verkörpert sich das Einssein.<br />

8 Ich komme wieder zurück auf meine Kategorien zur Beschreibung des Menschseins: existential,<br />

personal, relational, geschichtlich; vgl. meinen voranstehenden Text, Anm. 10.<br />

178


SCHMITZ: 1.KORINTHER 6<br />

Die Sexualität ist angemessen gelebt, wenn sie in beiderseitigem gegenseitigen<br />

Einverständnis (vgl. 1.Korinther 7,3ff.) dieser Zu-einander-Gehörigkeit<br />

Ausdruck verleiht.<br />

Der Sexualakt <strong>als</strong> solcher konstituiert nicht die Ehe <strong>als</strong> personale Liebes- und<br />

Lebensgemeinschaft. Insofern ist auch die Bezugnahme allein auf sexuelles<br />

Fehlverhalten <strong>als</strong> möglichen legitimen Scheidungsgrund (bei uns Adventisten<br />

in der gültigen Gemeindeordnung wie auch in den Glaubensüberzeugungen zur<br />

Ehe und Familie mit Bezugnahme auf die Unzuchtsklauseln Matthäus 5,32;<br />

19,9) prinzipiell zu kurz gegriffen. Vielmehr müssen wir unsere Seelsorge auch<br />

im Bereich von Ehe und Familie auf die grundlegenden personalen Werte abstellen<br />

- nicht auf der Grundlage eines - möglicherweise diffusen – ‚Humanismus’<br />

und auch nicht <strong>als</strong> Tribut an den modern-modernistischen ‚Zeitgeist’,<br />

sondern im Konkretwerden des lebenschaffenden Geistes Gottes. Hier gilt es<br />

allem entgegenzutreten, was menschliches Leben nachhaltig und grundlegend<br />

am Gelingen stört oder gar dessen Lebensgrundlagen zerstört. Die Ächtung<br />

sexuellen - wie auch nicht-sexuellen - Verhaltens, welches Menschen ihrer<br />

Menschenwürde beraubt (z.B. durch Gewalt, prinzipielle Erniedrigung, Ausnutzung<br />

von Abhängigkeiten, Degradierung zum Lustobjekt, Entpersonalisierung<br />

usw.) ist um der beteiligten und (mit-)betroffenen Menschen willen - zunächst<br />

der Opfer, aber vielfach auch der Täter! - <strong>als</strong> eine christliche Konsequenz aus<br />

dem Glauben an den drei-einigen Gott zu vollziehen, den Schöpfer, den Erlöser<br />

und den bleibenden Beistand. Das ist eine große ethische Herausforderung und<br />

eine drängende Aufgabe - auch für die Adventgemeinde.<br />

Letztgültiges Kriterium der Beurteilung von irdischen Gegebenheiten und<br />

letztgültiger Maßstab des Handelns müssen bzw. können nur die „Werte“ sein,<br />

die das Menschsein grundlegend ausmachen - und nicht vorrangig soziale Normen<br />

oder sexualethische Gebote und ‚christliche’ Konventionen.<br />

Hinsichtlich der Frage der Ehescheidung geht die adventistische Gemeindeordnung<br />

bisher leider allein von dem ‚legitimen’ Scheidungsgrund „Ehebruch“,<br />

„Unzucht“, „sexuelles Fehlverhalten“ gemäß Matthäus 5,32 und 19,9 aus. Mit<br />

Bezugnahme auf eine entsprechende Formulierung von Ellen G. White wird<br />

diesem „die Untreue gegen das Ehegelübde“ gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung<br />

bzw. Zuordnung ist grundsätzlich berechtigt; aber sie ist nicht ausreichend, insofern<br />

dies auf den Bereich der Sexualität eingegrenzt wird bzw. bleibt. Insofern<br />

können wir m.E. in der Lebenstauglichkeit unserer Seelsorge nur gewinnen,<br />

wenn wir auf dem von Ellen White gewiesenen Weg der ‚Personalisierung’<br />

der Ehezerstörungs-Gründe - denn das sind die sogenannten Scheidungsgründe<br />

ja in Wirklichkeit! - konsequent und mutig voranschreiten. Insbesondere<br />

179


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

ist nach den „Werten“ Liebe, Treue und Wahrhaftigkeit <strong>als</strong> erlebter Ehe-<br />

Wirklichkeit zu fragen.<br />

Natürlich entspricht der Treue im Blick auf das Ehegelöbnis <strong>als</strong> wahrhaftigem<br />

Ausdruck der Liebe auch die sexuelle Treue bzw. das angemessene Sexualverhalten;<br />

darum wird weiterhin auf dies abgestellt werden können und müssen;<br />

aber beide Bereiche ist nicht einfach deckungsgleich. Ehen sind so vielfältig<br />

wie Einzelmenschen! Oder meinen wir: Eheprobleme seien in jedem Fall<br />

Sexualprobleme?<br />

Was Treue oder Treulosigkeit, Liebe oder Lieblosigkeit, Wahrhaftigkeit oder<br />

Unwahrhaftigkeit wirklich und eigentlich „ist“ - und wie viel vom Negativen<br />

für die Ehe konkret erträglich ist, - können letztlich nur die Partner entscheiden.<br />

Sie entscheiden übrigens auch für sich, welche Sexualpraktiken - ohne Verletzung<br />

von Liebe und Treue - gelebt werden ‚dürfen’.<br />

Darum gibt es - letztlich gesehen - keine allgemeinen feststehenden Normen<br />

oder ausgeführten Fall-Listen, nach denen die christliche Legitimität einer<br />

Scheidung wirklich zu beurteilen wäre. Alle unsere diesbezüglichen Normen<br />

sind - unterschiedlich gute - Hilfskonstruktionen. Stattdessen sind wir aufgefordert,<br />

unter positiver Berücksichtigung der biblischen Grund-Ordnung für<br />

menschliches Leben nach den eine Ehe tragenden Grund-Werten zu fragen.<br />

Aus meiner Sicht ist die Fragestellung und Beurteilung vorrangig personal,<br />

relational und geschichtlich zu vollziehen: Die Personen sind in ihrer Selbstmitteilung<br />

(Bedürfnisse; Prägung usw.) ernst zu nehmen. Die Personen sind in ihrer<br />

Beziehungsaussage zueinander ernst zu nehmen. Ist eine Beziehungsaussage<br />

wie: „Wir lieben uns nicht mehr!“ weniger ‚Grund’, eine Ehe nach entsprechender<br />

Seelsorge <strong>als</strong> ggf. gescheitert und am Ende zu betrachten <strong>als</strong> ein „Ehebruch“<br />

durch sexuelle Untreue? Das geschichtliche Gewordensein und das zukünftige<br />

Werden der Beziehung ist ernst zu nehmen (Abwägung von Stärken<br />

und Wachstumsbereichen; psychosoziale Beurteilung des Schädigungspotenzi<strong>als</strong><br />

usw.). Alle drei Gesichtspunkte anerkennen wir <strong>als</strong> maßgeblich bei der Eheschließung.<br />

Die persönliche Entscheidung eines Individuums in Übereinstimmung mit<br />

dem Partner unter positiver Berücksichtigung der biblischen Grund-Ordnung<br />

sowie der staatlichen Gesetze, welche die menschliche Ordnung im Zusammenleben<br />

sowie die Menschenwürde schützen sollen, konstituiert die Ehe <strong>als</strong><br />

rechtsgültige Lebensform. Ich sage herausfordernd: Wir tun gut daran, uns in<br />

einem zukünftigen Lernprozess dazu zu verstehen, dies auch in der Ehekrise<br />

und hinsichtlich von Trennung oder Scheidung im Prinzip so zu handhaben.<br />

180


SCHMITZ: 1.KORINTHER 6<br />

Denn: Nur Gegebenheiten derselben kategorialen Art bzw. Größe, aufgrund<br />

derer eine Beziehung legitimerweise <strong>als</strong> konstituiert betrachtet wird, sind geeignet,<br />

dieselbe Beziehung <strong>als</strong> ihrem Wesen nach gefährdet, zerbrochen, heilbar<br />

oder nicht heilbar usw. zu betrachten. Solcherlei Größen sind nach meinem Dafürhalten<br />

vorrangig nicht sachliche Normen, sondern personale Werte - auf letztere<br />

kommt es entscheidend an - im Glauben und im Leben.<br />

Literatur:<br />

Baltensweiler, Heinrich. Die Ehe im Neuen Testament. Exegetische Untersuchungen über Ehe,<br />

Ehelosigkeit und Ehescheidung. (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments,<br />

Band 52). Zürich/Stuttgart: Zwingli Verlag, 1967.<br />

Bultmann, Rudolf. Theologie des Neuen Testaments. Stuttgart: Uni Taschenbuch, 1984<br />

(8. Aufl.).<br />

Fromm, Erich. Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München:<br />

DTV, 1998.<br />

Strack, Hermann. und Billerbeck, Paul. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und<br />

Midrasch. Band 1 München: Becksche Verlagsbuchhandlung, 8 1982.<br />

Wolff, Hans Walter. Anthropologie des Alten Testaments. München: Kaiser, 1973.<br />

Schulz von Thun, Friedemann. Miteinander reden, Reinbek: Rowohlt, 1981.<br />

181


Umgang mit Fragen der Ehe und Ehescheidung<br />

am Beispiel von 1.Korinther 7<br />

Eine theologische Reflexion<br />

Klaus Schmitz<br />

Der Bibeltext formuliert das Thema konkret fallbezogen, ich will in dieser<br />

Bibelarbeit im Zusammenhang mit den exegetischen Erwägungen und im Anschluss<br />

an diese methodische Konsequenzen ziehen.<br />

A) Die Ausführungen des Paulus<br />

I Die Veranlassung des Schreibens und die Situation in Korinth<br />

1.Korinther 7,1 gibt die Veranlassung zur Abfassung deutlich zu erkennen:<br />

„Wovon ihr mir aber geschrieben habt, darauf antworte ich ...“ Es beginnt <strong>als</strong>o<br />

hier bzw. hiermit ein Antwortschreiben des Apostels an die von ihm gegründete<br />

Gemeinde in Korinth. Auch an späteren Stellen des 1.Korinther-briefes<br />

wird dies sichtbar, wie die theologische Wissenschaft erkannt hat. Signalwort<br />

ist die Formulierung „Was dies angeht ...“(„peri de ...“). 1<br />

Die konkrete Fragestellung der Korinther bzw. ihre eigene Position zu den<br />

angesprochenen Sachverhalten ist im Brief nicht expressis verbis erhalten, was<br />

nicht weiter erstaunt; schließlich braucht der Apostel in seiner Antwort die<br />

Fragen nicht wiederzugeben, er kann wohl davon ausgehen, dass die Empfänger<br />

ihre Anfragen (noch) kennen. Aus dem Gesamtduktus der Ausführungen<br />

legt sich mir die Auffassung nahe, dass die Christen in Korinth bzw. die angesprochenen<br />

Gläubigen der Gemeinde eher ein negatives Verhältnis zur Sexualität<br />

(und zur Ehe?) befürwortet haben mögen. Wenn ihre Meinung gewesen<br />

ist: „Besser kein Sex!“ dann lässt sich dies auf dem Hintergrund der Abwehr<br />

sexueller Libertinage durch Gnostiker in Korinth (vgl. 1.Korinther 6,12ff.) 2<br />

verstehen; wir hätten es dann mit einer ängstlich-asketischen Reaktion der<br />

1 Dies begegnet stereotyp in 1.Korinther 7,25; 8,1; 12,1; 16,1. Die entsprechenden Ausführungen<br />

gehören <strong>als</strong>o alle in dieselbe Situation, möglicherweise sogar zu einem ursprünglich<br />

selbstständigen „Antwortbrief“ nach Korinth.<br />

2 Vgl. meine voranstehenden Ausführungen zu 1.Korinther 6,12ff.<br />

183


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Frommen in Korinth zu tun, den Enkratiten ähnlich, welche den Fleisch- und<br />

Weingenuss verwerfen und auch hinsichtlich des leiblichen Vollzugs der Ehe -<br />

wie jüdisch-nasiräische Gruppierungen - ablehnend sind. Möglicherweise erhofften<br />

sie sich Unterstützung bzw. Zustimmung von Paulus, dessen Ledigsein<br />

ihnen doch wohl bekannt gewesen sein wird.<br />

II Aussagen zur Ehe bzw. zum Ledigsein<br />

V.1b gibt die Beurteilung des Paulus über den Ledigenstand wieder; 3 dass er<br />

hier verheiratete Männer vorrangig zum Verzicht auf eheliche Sexualität auffordere,<br />

ist weniger leicht akzeptabel und stimmt im Übrigen auch nicht mit<br />

dem folgenden Abschnitt überein (V.5-7).<br />

Paulus hält das Ledigsein für eine gute Sache; auch in anderen Versen dieses<br />

Kapitels nennt er es ausdrücklich „gut“ bzw. „besser“ <strong>als</strong> das Verheiratetsein<br />

(V.7.8.26.32.38.40), was sich m.E. nicht gut bestreiten lässt.<br />

Daraus ist eine prinzipiell negative Beurteilung der Ehe durch Paulus und eine<br />

generelle sexual-oder/und Frauen„feindlichkeit“ gefolgert worden. Beides<br />

kann ich in den paulinischen Texten nicht wiederfinden.<br />

Gegen diese Annahme spricht auch die Art und Weise der Argumentation in<br />

1.Korinther 7. Zunächst ist sich Paulus darüber im Klaren, dass er mit seinem<br />

eigenen Lebensstand nicht letztlich maßgeblich ist für das Verhalten der Christen<br />

in Korinth. Seinen Verzicht auf die Ehe, welchen er den Christen anempfiehlt,<br />

begründet er zum einen mit praktischen Erwägungen im Blick auf die<br />

Ungeteiltheit der Hingabe im missionarischen Dienst für Christus<br />

(V.32-35), zum anderen mit dem allgemeinen eschatologischen Vorbehalt, der<br />

sich hier mit pastoralen Erwägungen hinsichtlich der höheren Belastungen der<br />

Verheirateten durch die erwartete endzeitliche Bedrängnis verbindet (V.25-<br />

28.29-31.32-35). Auch die Argumentation über die „Jungfräulichen“ männlichen<br />

und weiblichen Geschlechts mit dem Hinweis zur Erwägung der Heirat<br />

(V.36-38) und das Zugeständnis der Heirat für Witwen (V.39) machen deutlich:<br />

Paulus ist kein eingefleischter Single aus ideologisch-religiöser Überzeugung.<br />

So wenig wie er im Verheiratetsein das Heil sieht, sieht er es im Unverheiratet-Bleiben.<br />

Dass er dennoch einen gewichtigen graduellen Unterschied - jedoch<br />

keinen prinzipiellen - hinsichtlich der Bewertung beider Lebensformen<br />

vornimmt, 4 hängt mit seinen theologischen Erwägungen zusammen, die sich<br />

3 Ich betrachte V. 1b nicht <strong>als</strong> ein mögliches Zitat aus Korinth.<br />

4 Vgl. Karl-Heinrich Ostmeyer. Die Sexualethik des antiken Judentums im Licht des Babylonischen<br />

Talmuds.<br />

184


SCHMITZ: 1. KORINTHER 7<br />

m.E. aber nicht zu einer paulinischen Ehelehre im systematischen Sinne verdichten<br />

lassen. Während ihm die Ehe - doch wohl aufgrund ihrer Schöpfungsgemäßheit<br />

- eine menschlich-natürliche Angelegenheit ist, sieht er in der Ehelosigkeit<br />

ein besonderes Charisma, eine spezielle Gnadengabe (V.7; vgl. Matthäus<br />

19,12).<br />

Pragmatisch bzw. seelsorgerlich-praktisch erkennt und anerkennt er die<br />

Macht der Sexualität, die in der Ehe auszuleben er für etwas Selbstverständliches<br />

hält (V.3ff.), deren ‚Kanalisierung= und ‚Regulierung= er für sinnvoll oder<br />

geboten hält (V.2).<br />

Aus den einleitenden Versen von 1.Korinther 7 allerdings abzuleiten, dass<br />

Paulus die Ehe bestenfalls auf die Vermeidung von ansonsten zwangsläufig zu<br />

erwartenden Unzuchtssünden reduziert, 5 missversteht den vorliegenden Text<br />

<strong>als</strong> - dann doch wohl defizitär zu nennende - Ehelehre des Paulus.<br />

Es muss dagegen festgehalten werden, dass Paulus mit 1.Korinther 7 eine<br />

Anfrage aus Korinth beantwortet; die Antwort - an manchen Stellen erkennbar<br />

allgemein lehrhaft formuliert (V.10ff. 29-31) und ingesamt nicht unsystematisch<br />

dargeboten - ist dennoch kein Lehr-Traktat systematisch-theologischer<br />

Art. Durchgängig bleibt Paulus in der Kommunikation mit der Gemeinde. Insbesondere<br />

auch der Abschnitt V.25-28.34.36-38, 6 mit dem wiederum - wenn<br />

auch naturgemäß indirekt - eine konkrete Fragestellung aus Korinth in unseren<br />

Blick tritt, kann diese Tatsache belegen.<br />

III Aussagen zur Ehescheidung in christlichen Ehen.<br />

In V.10f finden sich die Aussagen des Paulus zum Thema der Ehescheidung;<br />

geblickt wird dabei konkret auf christliche Ehen, wie die Weiterführung in<br />

V.12 mit Verweis auf die „anderen@, die <strong>als</strong> religiöse Mischehen definiert<br />

werden, deutlich werden lässt. Paulus beruft sich auf eine Weisung bzw. Botschaft<br />

des Herrn Christus, die man jedoch - wenn man den griechischen Wortlaut<br />

7 genau beachtet - nicht <strong>als</strong> Gebot im engeren Sinn oder <strong>als</strong> Gesetzesnorm<br />

verstehen sollte. Es handelt sich dabei zwar um eine autoritative Bestimmung,<br />

die für die Christen uneingeschränkte Gültigkeit beansprucht bzw. besitzt, aber<br />

eben nicht im spezifisch juridisch-juristischen Verständnis.<br />

5 Ehe <strong>als</strong> „remedium incontinentiae vel concupiscendiae“ - <strong>als</strong> Heilmittel von bzw. gegen<br />

Sexualtrieb und Verlangen der „Fleischeslust“.<br />

6 Die gemeinten historischen Sachverhalte sind noch schwerer definitiv zu erhellen <strong>als</strong> die<br />

ihnen zugrunde liegenden religiösen Überlegungen!<br />

7 „Paraggello“ aus der Wortfamilie Botschaft, nicht: Gebot. Wortspielerisch könnte man formulieren:<br />

es ist das „Gebotene“, nicht jedoch ein „Gebot“.<br />

185


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die bindende Botschaft scheint kein spezielles Herrenwort aus irdischjesuanischer<br />

Tradition zu sein. Jedenfalls wird nicht zitiert, auch nicht auf ein<br />

solches in der christlichen Tradition aufbewahrtes, von Jesus formuliertes<br />

Wort angespielt. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, in diesem Zusammenhang<br />

vorrangig an die autoritative Botschaft des „Geist-Christus“ zu<br />

denken. 8 Durch nichts wird kenntlich gemacht - was aber an anderen Stellen<br />

bei Paulus begegnet 9 -, dass es sich dabei um eine spezielle Offenbarung an<br />

Paulus gehandelt haben muss.<br />

Ergibt sich <strong>als</strong>o die angesprochene Verbindlichkeit bezüglich des Themas<br />

Scheidung mit bzw. aus der christlichen Botschaft selbst, sozusagen <strong>als</strong> ethische<br />

Seite des „Evangeliums von Jesus Christus“? Dann steht zu vermuten,<br />

dass wir in dem Gebotenen einer Grund-Ordnung begegnen, welche das<br />

grundlegende Wohl des Menschen <strong>als</strong> Person betrifft - wie dies das christliche<br />

Evangelium <strong>als</strong> gültiger und gnädiger Zuspruch des Heils von Gott an uns<br />

Menschen analog tut.<br />

Die Herrenweisung ist in solchem Verständnis dann vorrangig keine formale<br />

oder unter allen Umständen buchstäblich aufzufassende Rechtsnorm, sondern<br />

beinhaltet einen theologisch verankerten Grund-Wert, der das menschliche<br />

Leben betrifft.<br />

Das konkret Gebotene findet sich in V.10b und 11c - die darin eingeschlossenen<br />

Aussagen der weiteren Textteile stellen eine logische Folgerung des<br />

Paulus dar, die sachlich dem später von ihm angeführten Grund-Satz: „Zum<br />

Frieden hat euch Gott berufen“ (V.15) entspricht. In 2 mal 5 Wörtern wird<br />

sowohl die Frau wie der Mann <strong>als</strong> aktiver Teil einer beabsichtigten Scheidung<br />

angesprochen; die beiden Fassungen sind im Wortlaut hinsichtlich des Verbs<br />

unterschiedlich; dies hängt mit dem traditionellen, ursprünglich jüdisch geprägten<br />

Verständnis der jeweiligen Rollen in der Ehe bzw. bei der Scheidung<br />

zusammen: im alttestamentlich-jüdischen Rechtssystem ist es der Mann, der<br />

die Frau „entlässt“. 10 Nicht palästinisch-jüdisch ist dagegen die vorausgesetzte<br />

Rechtslage bzw. Sozialkonvention, dass auch die Frau die Scheidung aktiv<br />

betreiben könnte; auch dies ein Hinweis, der schwerlich die Annahme fördert,<br />

dass das wiedergegebene Herrenwort <strong>als</strong> tradiertes historisches Wort des Jesus<br />

von Nazareth zu Paulus gelangt ist.<br />

8 Dem korrespondiert die Tatsache, dass für Paulus nach Ausweis der entsprechenden Brieftexte<br />

das „Sein im Geist“ und das „Sein in Christus“ sich sachlich-theologisch entsprechen,<br />

siehe z.B. Römer 8,9ff.<br />

9 z.B. 2.Korinther 12,1ff.<br />

10 In V. 11c findet sich der entsprechende terminus technicus der Rechtssprache.<br />

186


SCHMITZ: 1. KORINTHER 7<br />

IV Aussagen zu Ehe und Scheidung bei gemischt-religiösen Partnern<br />

In den V.12-16 behandelt der Apostel die Fragen von Ehe und Ehescheidung<br />

in gemischt-religiösen Lebensgemeinschaften.<br />

1. Zum Sachverhalt der gemischt religiösen Ehen<br />

Zu vermuten steht, dass die religiöse Mischehe dadurch zustande gekommen<br />

ist, dass einer der Ehepartner nach der Eheschließung zum christlichen Glauben<br />

bekehrt wurde. Wie V.39c verdeutlicht, erwartet Paulus für Christen eine<br />

Eheschließung nach Möglichkeit mit einem Christus-Gläubigen.<br />

Ansonsten gibt es aber für Paulus keinen Grund zur Trennung des Christen<br />

von seinem nicht-christlichen Ehepartner (V.12f). Dies finde ich - auf dem<br />

Hintergrund der jüdischen Herkunft des Paulus sowie von Aussagen des Paulus<br />

in anderem Zusammenhang - erstaunlich und beachtenswert. Paulus hat<br />

keinerlei religiöse Bedenklichkeiten gegen eine solche Lebensgemeinschaft!<br />

In diesem Fall beruft er sich nicht auf den Gotteswillen zur Absonderung wie<br />

z.B. 2.Korinther 6,14ff., obwohl doch der ‚objektive Sachverhalt= der innigen<br />

Bindung an einen „Götzendiener“ gegeben ‚ist=.<br />

Wieso steht hier die Liebe zum Partner höher <strong>als</strong> die Abgrenzungspflicht gegen<br />

das verführerisch Böse des Götzendienstes? Wieso wird hier die personale<br />

Entscheidung für den Ehepartner so wichtig genommen? Kann man sie dann<br />

nicht auch genau so wichtig nehmen, wenn es um das Eintreten in eine eheliche<br />

Gemeinschaft geht 11 - und ebenso vielleicht beim von den Partnern konstatierten<br />

Scheitern der Lebensgemeinschaft?<br />

Paulus deutet die Situation des Glaubenden in einer religiösen Mischehe<br />

nicht nur nicht <strong>als</strong> geistlich bedroht, sondern versteht im Gegenteil den Glauben<br />

<strong>als</strong> eine ‚ansteckende Gesundheit=: Kinder und Ehepartner werden eben<br />

nicht im eigentlichen Sinne <strong>als</strong> zum Heidentum gehörig betrachtet („unrein“<br />

V.14), wenngleich das nicht bedeutet, dass der nicht-christliche Ehepartner<br />

durch die Ehe mit dem Christusgläubigen automatisch, d.h. gleichsam magisch-sakramental,<br />

in einen definitiven Heilszustand gerückt ist (V.16). Die<br />

eigene personale Entscheidung zum Glauben hin ist eben prinzipiell nicht ersetzbar.<br />

11 Die Liebe auch von überzeugten Christen sucht ja vielleicht nicht in erster Linie nach der<br />

Übereinstimmung mit der religiösen Überzeugung des anderen!<br />

187


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

2. Bewertung der religiösen Mischehen bei Esra<br />

In alledem wird deutlich: Paulus geht anders mit dem Sachverhalt religiöser<br />

Mischehen um <strong>als</strong> Esra. Diesem ist die religiöse „Reinheit“ der Glaubensgemeinde<br />

das entscheidende Motiv zum Handeln:<br />

Das göttliche Ideal sieht er in einer Gesetzesvorschrift ausgedrückt, die er<br />

mit führenden Zeitgenossen <strong>als</strong> unbedingte Norm begreift, deren faktische<br />

Einhaltung anscheinend einen Wert an und für sich darstellt (Esra 10,2f.). Sein<br />

Anliegen ist es darüber hinaus, Schaden von der Gemeinde abzuwenden, den<br />

eingetretenen >Präzedenzfall= für nichtig zu erklären, damit Gottes Zorn wegen<br />

der „Unreinheit“ seines Volkes nicht über die Gemeinschaft komme (9,14).<br />

Sein theologisches Argument lautet: der eschatologische Rest muss besondere<br />

geistliche Bedingungen erfüllen, es darf kein Makel an den Gläubigen haften<br />

(9,13).<br />

Nun kann es vorstellbar sein, dass es geschichtliche Situationen geben kann,<br />

wo zur faktischen ‚Sicherung= des Bestandes der Gemeinde im Sinne einer<br />

klaren Abgrenzungsstrategie zu handeln geboten sein könnte. In einem solchen<br />

außergewöhnlichen Falle bedürfte es aber der tiefgreifenden Diskussion im<br />

Hin- und Herwenden des Für und Wider. Dies kann ich bei Esra (Kap 9.10)<br />

und Nehemia (Kap. 13,23ff.) so nicht wiederfinden.<br />

Zwar gibt es eine geistlich-mitfühlende Betroffenheit bei Esra (10,6); er erscheint<br />

nicht <strong>als</strong> kühler Religionsfunktionär, der unbeeindruckt vom Lebensgefühl<br />

der Betroffenen ethisch-religiöse Normen knallhart durchsetzt. Aber in<br />

der konsequent-rigorosen Entscheidung (10,10-12.14) zum Entlassen der<br />

nicht-jüdischen Ehefrauen bleiben die Familien buchstäblich und im übertragenen<br />

Sinne ‚im Regen stehen gelassen= (10,9).<br />

Übereinstimmungen mit dem Vorgehen in einzelnen Adventgemeinden bzw.<br />

der Adventgemeinde weltweit gesehen gegenüber ihren Gliedern z.B. hinsichtlich<br />

von Eheverfehlungen oder im Scheidungsfall sind nicht zufällig.<br />

Gilt die Maxime: ‚Gottesrecht bricht Menschenrecht= in jedem Fall und unbedingt?<br />

Ich will zu bedenken geben: Nur wenn bzw. wo ein wirklicher „Grund-<br />

Wert“ menschlichen Existierens verletzt ist; nicht jedoch einfach im Falle der<br />

Nicht-Einhaltung von bestimmten Gesetzes-Normen.<br />

188


SCHMITZ: 1. KORINTHER 7<br />

3. Der paulinische Umgang mit den religiösen Mischehen<br />

Paulus jedenfalls verfährt und versteht anders <strong>als</strong> Esra: Die Heiligkeit bzw.<br />

Reinheit 12 des Glaubenden gründet sich nicht auf einen objektivierbaren religiösen<br />

Sachverhalt rechtlich-sozialer Art, sondern liegt in seiner personalen<br />

Beziehung zu Gott. 13 Ob bzw. inwieweit diese durch eine andere personale<br />

Beziehung - im vorliegenden Fall: die Liebesbeziehung zum Mitmenschen in<br />

der Ehe - bedroht oder gar zunichte gemacht ist, lässt sich nicht einfach an<br />

einer Betrachtung „objektiver Fakten“ auf der Grundlage „allgemeiner Normen“<br />

von außen her feststellen. Das „Herz“ des Menschen, verstanden <strong>als</strong><br />

Zentralorgan innerster Ausrichtung auf der Grundlage von personalen Werten<br />

und Entscheidungen, gibt in erster Linie Auskunft über die Angemessenheit<br />

und „Erlaubtheit“ eines Verhaltens bzw. einer Haltung.<br />

Ich habe den Eindruck, dass wir in unserem gemeindlichen Umgang mit<br />

Fragen der Sexualität und Ehe - verallgemeinernd gesprochen - tendenziell<br />

weniger auf das „Herz“ der Menschen <strong>als</strong> auf Gesetze und Gebote achten, die<br />

wir <strong>als</strong> absolute biblische oder gemeindliche Norm betrachten.<br />

Seelsorge aber „muss“ sich in erster Linie mit dem Menschen selbst beschäftigen<br />

- unter dem Gesichtspunkt grundlegender Ermöglichung bzw. grundlegender<br />

Störungen oder Zerstörungspotentiale des biblisch-christlich verstandenen<br />

Menschseins! 14<br />

Kommen wir unmittelbar zum Wortlaut des paulinischen Textes 1.Korinther<br />

7 selbst zurück - ganz bei der Sache sind wir auch bei diesen<br />

Überlegungen gewesen.<br />

V.15a behandelt das Geschiedenwerden durch den ungläubigen Partner. Hier<br />

könnte sich der Christ in einem religiös-ethischen Dilemma befinden, denn er<br />

kennt gewiss die „christliche Position“ zur Ehescheidung (V.10f, vgl. Markus<br />

10,9), wonach die Scheidung nicht dem Willen Gottes entspricht. Müsste sich<br />

der Christ nicht mit Verweis auf das Gottesrecht einer „zwangsweisen“ Scheidung<br />

widersetzen?<br />

Oder gilt der Satz: „Was Gott zusammengefügt hat ...“ (Markus 10,9) von<br />

12 Die Begriffe sind in der Bibel weithin synonym und damit austauschbar.<br />

13 Auf dieser existential-personalen Grundlage beurteilt auch Jesus die Frage der Reinheit<br />

Markus 7,1ff.: Es geht um das Zentrum des Menschen, biblisch gesprochen: „sein Herz“.<br />

14 Das im hier vorliegenden Band dokumentierte Symposium hat dies auf der Tagung in erfreulich<br />

offener, tiefgründig geistlicher und konstruktiver theologischer Art zu leisten versucht.<br />

Dank dafür an die Teilnehmer auch von mir <strong>als</strong> Referent!<br />

189


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

vornherein nur in Bezug auf gläubige Partner? 15 Das bedeutete ja: bei Nichtgläubigen<br />

spielten deren persönliche Entscheidungen keine gewichtige Rolle,<br />

bei ihnen seien die personalen Werte der Zusammengehörigkeit nicht so relevant<br />

oder verbindlich. Eine absurde Vorstellung! Wenn man im vorliegenden<br />

Fall (V.15) rein gesetzlich-normativ diskutiert, kann man sagen: Ein Christ<br />

wird hierin „schuldig“ - ob er/sie will oder nicht.<br />

Nehmen wir an, „die Liebe“ fügte zwei Menschen zusammen, dann wird in<br />

diesem Textabschnitt (V.12-16) deutlich: „der Glaube“ soll bzw. muss nicht<br />

zwangsläufig trennen. Und dies macht Sinn, denn die Mitte des Glaubens ist<br />

die Bezugnahme auf Schöpfung und Erlösung <strong>als</strong> Tat Gottes zugunsten des<br />

Menschseins. Gott gibt eine gute Grund-Ordnung, damit dem Menschen ein<br />

gutes Leben gelingen kann. Diese Ordnung ist nicht in erster Linie Gebot sondern<br />

Angebot zum Leben! Trennungswürdige Gründe wären demnach solche,<br />

welche eine Ermöglichung guten, gelingenden Lebens grundsätzlich und auf<br />

Dauer <strong>als</strong> ausgeschlossen erscheinen lassen. Das gibt es leider - auch trotz<br />

bestehender Liebe.<br />

Zu V.15a.b gibt es gemeinhin zwei Deutungen. Das „Nicht gebunden“-Sein<br />

wird von einigen so aufgefasst, dass man nicht in der Ehe verbleiben muss,<br />

<strong>als</strong>o der Trennung christlich zustimmen „darf“. Das allerdings hatte Paulus<br />

doch schon in der Aussage von V.12c impliziert und ist insofern hier nichts<br />

Neues in der Mitteilung.<br />

Näher scheint mir die andere Deutung zu liegen: In solch einem Fall „kann“<br />

bzw. „darf“ der Geschiedene wieder heiraten. Dies bedeutete freilich: Paulus<br />

verfährt nicht - wie wir Adventisten in der Regel in unseren offiziellen Dokumenten<br />

zur Ehescheidung und Wiederheirat - nach Matthäus 5,32 und 19,9,<br />

wonach allein das Zerbrechen einer Ehe durch den (sexuellen) Treuebruch<br />

eines Partners zu einer christlichen Wiederheirat berechtigt.<br />

So normativ verstanden, hätte Paulus u.U. sogar zweimal dem Wortlaut bzw.<br />

der augenscheinlichen Bedeutung 16 einer anderen christliche Aussage zur Ehe<br />

im NT nicht Rechnung getragen oder dem sogar zuwidergehandelt:<br />

Zum einen hat er einer Scheidung zugestimmt - obwohl doch Christus selbst<br />

in Markus 10,9 dies „kategorisch“ ausschließt. Zum anderen lässt er eine Wiederheirat<br />

zu, ohne dass - nach Matthäus 5,32 und 19,9 - nachweislich ein Fall<br />

15 Dann könnte man zu der „verrückten“ Empfehlung gelangen: Willst du in Fragen der Ehe<br />

auf der „sicheren“ Seite sein, dann heirate <strong>als</strong> ungetaufter Adventist, dann ist dein späterer<br />

Handlungsspielraum im Falle des Scheiterns der Ehe größer!<br />

16 Mit welchen Gründen ich die Texte anders verstehe, kann man in diesem Band vielfältig<br />

nachlesen!<br />

190


SCHMITZ: 1. KORINTHER 7<br />

von Unzucht vorgelegen hat! Man erkennt (hoffentlich!), zu welch eigentümlichen<br />

Konsequenzen und unsinnigen Wertungen eine buchstäblich-normative<br />

Auffassung bestimmter Bibeltexte zu einem einheitlichen Thema führen<br />

kann.<br />

In jedem Fall scheint aber ganz klar: die personale Entscheidung des einen<br />

Partners zur Ehescheidung, und zwar hier die des Nicht-Gläubigen, wird von<br />

Paulus bzw. von der christlichen Gemeinde „anerkannt“. Ich meine, auch aus<br />

diesem Tatbestand wären in unserem gemeindlichen Umgang mit Menschen in<br />

Ehekrisen, Trennungen und Scheidungen seelsorgerlich-befreiende Konsequenzen<br />

zu ziehen. Gewiss kann man von gläubigen Ehepartnern im allgemeinen<br />

mehr geistliche Bereitschaft und damit mehr Einsatz zum Erhalt einer Ehe<br />

erwarten 17 <strong>als</strong> von nicht-gläubigen, aber hinsichtlich der Akzeptanz ihrer persönlichen<br />

Entscheidungen dürfen doch Gemeindeglieder nicht schlechter gestellt<br />

sein <strong>als</strong> Nicht-Gemeindeglieder.<br />

4. Der „Friede“ <strong>als</strong> Grundwert und Gradmesser<br />

V.15c schließt Paulus die thematische Darlegung ab mit Verweis auf den<br />

„Frieden, zu dem euch Gott berufen hat“ (vgl. Römer 14,19). Dies verstehe ich<br />

nicht nur <strong>als</strong> Aufforderung im Blick auf ein ethisch angemessenes Verhalten -<br />

an eine Bemühung um die Abwendung der Scheidung und/oder die Wiederherstellung<br />

der ehelichen Lebensgemeinschaft kann doch wohl im vorliegenden<br />

Zusammenhang überhaupt nicht gedacht sein! Vielmehr wird hier noch<br />

einmal expressis verbis auf den personalen Spitzen-Wert hingewiesen, dem<br />

alles Verhalten zu dienen hat, und der zugleich fundamental ist im Blick auf<br />

das Heil wie auf das Wohl für die Menschen. Es ist ein Wert an wahrer Lebensqualität,<br />

der von den jeweils beteiligten Personen ermessen wird und sich<br />

nicht einfach objektiv anhand von äußeren Fakten bemessen lässt. „Friede“ ist<br />

kein technischer, sondern ein zutiefst menschlicher Wert.<br />

Im Kontext eng gefasst bedeutet dies zunächst einmal konkret:<br />

Der geschiedene christliche Partner akzeptiert den persönlichen Gradmesser<br />

für das, was dem nicht-christlichen Scheidungswilligen im Sinne des „Friedens“<br />

erträglich bzw. untragbar erscheint. Eine gewaltige persönliche Herausforderung<br />

der Lebensreife - aber genauso eine Herausforderung an die Reife<br />

der Gemeinde im Umgang mit den beschwerlichen Nöten von Ehescheidungen!<br />

Suchen wir darin den „Frieden“, d.h. das Best-Mögliche, das die Beteilig-<br />

17 Analog zu dem mahnenden Wort Lukas 12,47f.<br />

191


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

ten <strong>als</strong> solches erkennen und anerkennen können oder gleichsam nur unseren<br />

privaten und/oder gemeindlichen „Frieden“, unsere Ruhe und Ordnung?!<br />

Eine gewissenhafte Tiefen-Prüfung ist hier angesagt; die Gemeinde kann<br />

und „muss“ mit ihrer Seelsorge darauf dringen, dass es zu solcher Gewissens-<br />

Prüfung kommt, aber sie kann nicht das Gewissen der Beteiligten ersetzen<br />

oder überspringen! Sie kann und darf es nicht: um des Menschen willen und<br />

„um Gottes willen“! „Frieden“ <strong>als</strong> Weg des Lebens ist konkret und konstruktiv;<br />

er ist darin auch die Verwirklichung einer Perspektive der Hoffnung bzw.<br />

Zukunft, - aber auch dies nach bestem Wissen und Gewissen, gewissermaßen<br />

ohne normative Scheuklappen!<br />

Es wird dann deutlich: „Friede“ ist nicht einfach identisch mit der Einhaltung<br />

einer ethischen Normierung in Gesetzesform. Er ist die Kategorie des<br />

zentralen Grund-Werts menschlicher Existenz aus biblisch-christlicher Sicht.<br />

In der Regel geht er zusammen mit positiven Ordnungen und Regelungen (vgl.<br />

1.Korinther 14,40), die sich in Worte fassen lassen und Gebots- bzw. Verbotscharakter<br />

haben können. Aber er geht nicht in den Ordnungen bzw. der Ordnung<br />

auf (vgl. 1.Korinther 14,33). Er transzendiert das Geordnetsein - er stellt<br />

uns <strong>als</strong> menschliche Personen in die wahre Begegnung mit dem Nächsten (Bereich<br />

Ethik) und in die innerste Begegnung mit Gott (Bereich Soteriologie).<br />

B) Methodische Beobachtungen<br />

I Die Inanspruchnahme geistlicher Autorität<br />

Das ganze Kapitel ist durchzogen von Bezugnahmen bzw. Verweisen auf<br />

Autorität. Dies entspringt und entspricht dem Selbstverständnis des Paulus <strong>als</strong><br />

bevollmächtigter Apostel des Herrn Jesus Christus. 18<br />

Die christliche Gemeinde hat - auch durch solchen geistlichen Dienst, 19 der<br />

schließlich zur Entstehung des Kanons der biblischen Schriften führte - ein<br />

analoges geistliches Selbstverständnis 20 in bzw. zu einem Dienst mit christlicher<br />

Vollmacht.<br />

Die Art des Einsatzes der geistlichen Autorität bei Paulus scheint mir insgesamt<br />

vorbildlich und nachahmenswert. Die Berufung auf Autorität vollzieht<br />

sich abgestuft in den verschiedenen Diskussionsgängen und Sachverhalten<br />

(V.6), und selbst da, wo sie sich direkt auf eine geistliche „Weisung des<br />

Herrn“ bezieht (V.10f. vgl. V.12 a.25.40b), wird dies nicht dekretiert, sondern<br />

18 V.25c.40b.<br />

19 Für das AT ist analog auf die Propheten zu verweisen.<br />

20 Vgl. Epheser 2,19-21.<br />

192


SCHMITZ: 1. KORINTHER 7<br />

kommunikativ expliziert! Auch an dieser Stelle kann die christliche Gemeinde<br />

für ihr konkretes Seelsorgeverhalten und dessen Begründung von Paulus lernen.<br />

Die von Paulus im Verlauf der Darlegung verwendeten Begriffe sind:<br />

„Ich wollte gern“ (V.7.32); „Ich sage“ (V.8.29.35); „Ich habe/sage <strong>als</strong> meine<br />

Meinung“ (V.25.40a); „Ich regele/ordne es so“ (V.17). In dieser Abgestuftheit<br />

sieht Paulus offenbar kein Manko, sondern wohl eher einen Gewinn. Jedenfalls<br />

wird ein Doppeltes deutlich:<br />

Zum einen, dass die Berufung auf das Geistliche bzw. Göttliche nicht gewährleistet<br />

wird durch starke Ansprüche bzw. Aussprüche. Zum anderen, dass<br />

mit dem Geistlichen nicht an und für sich immer religiöse oder theologische<br />

Maximal-Positionen verbunden sein müssen, die in ein schroffes >ganz= oder<br />

‚gar nicht=, ein unversöhnliches ‚entweder - oder= führen müssen.<br />

Paulus versteht sich <strong>als</strong> vom Herrn berufen; aber diese Berufung erweist er<br />

konkret dadurch, dass er in ethischen Fragen argumentativ seine Vertrauenswürdigkeit<br />

darstellt (V.25b). Die Berufung auf den Herrn oder den Geist<br />

(V.40b) ist eine verbindliche Sache, aber nicht in jedem Sachverhalt etwas, das<br />

notwendigerweise zu einer einheitlichen Sicht und/oder zu faktisch identischem<br />

christlichem Handeln bei allen Gläubigen führt.<br />

Allgemein gilt: Die innere Gebundenheit an Christus ist eine Gewissensangelegenheit,<br />

die nicht mit Zwangsmaßnahmen einhergeht, sondern mit dem<br />

„Erweis des kraftvollen Geistes“ (1.Korinther 2,4; vgl. 2.Korinther 3,6.17).<br />

II Der Vollzug von Entscheidungen bzw. Maßnahmen<br />

Das ganze Kapitel ist durchzogen von Hinweisen auf innere Haltungen bzw.<br />

Auffassungen, welche mit geistlichen Entscheidungen verbunden sind, die in<br />

einem äußeren Verhalten resultieren. In allen angesprochenen Belangen in<br />

Sachen Ehe wird erkennbar, dass und wie Paulus in dem allen eine geschichtliche<br />

Wirklichkeit sieht, eine Sache des Menschen bzw. des Menschseins,<br />

nicht eo ipso eine „Sache Gottes“. Es geht nicht um etwas, das in sich selbst<br />

eine religiöse Heilsbedeutung hat. „Ehe“ ist ein Wert für den Menschen, der<br />

im Prinzip für alle gleich ist, 21 d.h. ihnen allen gleichermaßen zukommen soll<br />

bzw. kann. Die an Christus Gläubigen werden im Vollzug der Ehe bestimmte<br />

Akzente setzen, die von anderen möglicherweise nicht unmittelbar nachvollzogen<br />

werden können; es gibt aber m.E. keine prinzipielle Haltung zur Ehe,<br />

21 Was nicht besagen soll, dass alle Menschen die gleiche Bewertung der Ehe vornehmen oder<br />

vornehmen müssten.<br />

193


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

die <strong>als</strong> solche ausschließlich innerreligiös begründet oder begründbar wäre und<br />

insofern nur von Gläubigen verstanden werden könnte. „Ehe“ bezieht sich auf<br />

eine Grund-Ermöglichung Gottes für das Menschsein, das alle Menschen <strong>als</strong><br />

solche teilen.<br />

Insofern es <strong>als</strong>o um eine Grund-Ordnung für den Menschen geht, steht in deren<br />

Vollzug und Bewertung das grundlegend zur Debatte, was den Wert<br />

menschlichen Lebens grundsätzlich bestimmt oder ausmacht. Hier muss in den<br />

Einzelheiten abgewogen werden zwischen gut und schlecht, auch zwischen gut<br />

und besser bzw. zwischen schlecht und schlechter.<br />

Ich frage uns alle herausfordernd: Kann, darf es sein, dass dieses Prinzip der<br />

Beurteilung und Bewertung menschlichen Verhaltens und irdischer Sachverhalte<br />

in abgestufter Abwägung des konkret Guten oder Schlechten innerhalb<br />

einer Ehe im Blick auf die Ehescheidungsmöglichkeit unter Christen<br />

(1.Korinther 7,10f.) generell keine Anwendung finden soll?! Ich meine, das<br />

darf und kann nicht sein bzw. so bleiben; es muss anders werden, und zwar<br />

trotz der ‚Ausschließlichkeit= der Formulierung in V.10f. oder auch Markus<br />

10,9.<br />

Die Berufung auf die grammatikalische Form des Ehescheidungs’verbots=<br />

hilft hier nicht weiter: es werden - doch offenbar in gleichlautendem Sinne - in<br />

den entsprechenden Formulierungen Konjunktive und Imperative bzw. Infinitive<br />

mit Imperativbedeutung verwendet.<br />

Gegen ein faktisches absolutes Ausgeschlossensein jeglicher Ehescheidung<br />

kann m.E. nur ein einziges Argument ins Feld geführt werden - welches ich<br />

allerdings für das Gewichtigste halte, weil es faktisch für das Menschsein<br />

grundlegend ist:<br />

In der Ehe selbst geht es um personale Werte, um Werte für das Mensch-sein<br />

in einem fundamentalen Sinne, nicht bloß um einen objektiven Sachverhalt in<br />

Übereinstimmung mit biblischen Normen. Paulus hat diesen Grund-Wert mit<br />

dem Begriff des „Friedens“ verknüpft gesehen.<br />

Angenommen, dieser wahre Friede, die Möglichkeit für ein gedeihliches<br />

Miteinander in der Ehe, wäre für die Gegenwart nachhaltig gestört oder grundlegend<br />

zerstört.<br />

Angenommen, dieser wirkliche Frieden für das Menschsein wäre auch für<br />

die irdisch-absehbare Zukunft der Ehe nicht zu erwarten - trotz Hoffnung,<br />

Glaube und Liebe. Weil nämlich zum Frieden mindestens zwei gehören; darum<br />

die realitätsnahe Formulierung des Paulus in Römer 12,10!<br />

Angenommen, wir, d.h. Seelsorge und das Paar - hätten beide Gesichtspunkte<br />

gewissenhaft geistlich geprüft, d.h. so weit es möglich ist erforscht, und wir<br />

194


SCHMITZ: 1. KORINTHER 7<br />

könnten die Fortsetzung der Ehe nicht <strong>als</strong> das Gute finden, das wir behalten<br />

sollen (vgl. 1. Thessalonicher 5,21), 22 sondern müssten diese Ehe sogar <strong>als</strong><br />

etwas Schlechtes bezeichnen, das zu meiden wäre (vgl. 1.Thes 5,22) ...müssen<br />

wir dann nicht um der Liebe willen, d.h. um des Menschen willen, den Gott<br />

liebt, unsere Entscheidungen allein im Hinblick auf den „Frieden“ für die unmittelbar<br />

und mittelbar, aber in jedem Falle konkret in ihrer Lebensqualität<br />

Betroffenen treffen?! Das schließt z.B. die Beachtung des in der Ehe Schwächeren<br />

ein oder überhaupt derer, die eines besonderen Schutzes bedürfen, damit<br />

ihr Menschsein sich gedeihlich entfalten kann.<br />

Wesentliche Gesichtspunkte entstammen der Innensicht aus der Ehe- und<br />

Familiensituation; aber auch die Wirkung nach außen will bedacht sein.<br />

Das biblische ‚Verbot= der Ehescheidung macht deutlich:<br />

Gott freut sich nicht daran - und schon gar nicht darauf; aber das geht den<br />

Betroffenen und der Gemeinde im Regelfall genauso!<br />

Ich frage aber: Versteht Gott es; versteht er uns? Ich meine: Ja - weil er lebendige<br />

Person ist und keine tote Norm-, wenn denn gilt: der Mensch Jesus<br />

Christus ist die irdisch-letztgültige Offenbarung Gottes, und zwar in lebendiger<br />

Verkörperung.<br />

Es mag herausfordernd klingen, ist aber in meinen Augen etwas, wozu uns<br />

Christus und sein Geist auffordern: dass je nach konkretem Fall Scheidung<br />

„gut“ sein kann - und ebenso eine Wiederheirat mit einem neuen Partner; sie<br />

wird „gut“ sein - jedenfalls „besser“ <strong>als</strong> der Zwang zum Alleinbleiben, den<br />

man nicht ertragen kann (V.2.7.9)<br />

Und ich möchte gern für dieses im Symposium offenbarte Nachdenken und<br />

das entsprechende seelsorgerliche Eintreten in Anspruch nehmen, was Paulus<br />

in V.40b sagt, in demselben oben dargelegten Sinn - wie er es tut.<br />

Literatur:<br />

Ostmeyer, K.-H. Die Sexualethik des antiken Judentums im Licht des Babylonischen Talmuds.<br />

In: BThZ, 1995.<br />

22 Im unmittelbaren Zusammenhang bezieht sich der „Prüfungsauftrag“ an die Gemeinde bzw.<br />

die Christen übrigens auf etwas „Überirdisches“, geradezu „Göttliches“, nämlich das Wirken<br />

des Geistes Gottes in Reden prophetischer Eingebung, V.19f.! Wenn wir diesen geistlichen<br />

Sachverhalt zu überprüfen berechtigt sind und ausdrücklich aufgefordert werden, um wie viel<br />

mehr dann die zutiefst menschlich-irdischen Angelegenheiten einer Ehe! Auch hier wären wir<br />

Glaubenden - und gewissermaßen gerade sie durch ihre geistliche Bevollmächtigung! – „berechtigt“,<br />

Nein zu sagen zur Fortsetzung einer Ehe ... und sogar JA zu einer Wiederheirat -<br />

wenn dies das Gute bzw. Bessere für den Menschen darstellt.<br />

195


Die Unmöglichkeit der Scheidung und eine andere<br />

biblische Unmöglichkeit.<br />

Ein Einfall zur Struktur-Analogie mit Hebräer 6,4-6.<br />

Klaus Schmitz<br />

Vorbemerkung<br />

Die folgenden Überlegungen wurden ihrem Grundgedanken nach auf dem<br />

Symposium <strong>als</strong> geistlicher Einfall vorgetragen. 1 Trotz der damit verbundenen<br />

Kopfschmerzen 2 gebe ich sie hier weiter in der Hoffnung, dass sie - neben möglicher<br />

Aufregung - vor allem Anregung bieten könnten. 3<br />

1. Der behauptete Sachverhalt der Struktur-Analogie<br />

Es ist heute eine weithin akzeptierte exegetische Einsicht, dass die ursprüngliche<br />

bzw. eigentliche biblisch-christliche Position zu Scheidung und Wiederheirat<br />

die der strikten Unmöglichkeit ist. „Was Gott zusammengefügt hat, soll der<br />

Mensch nicht scheiden“ (Markus 10,9) bzw.: „Wer sich scheidet ... bricht die<br />

Ehe“ (Markus 10,11). Diese Aussagen sind in sich nach dem Wortlaut klar und<br />

eindeutig: Es gibt keine Möglichkeit zur Scheidung, somit erübrigt sich die<br />

Frage nach einer Neuheirat. Die frühchristliche Position vertritt <strong>als</strong>o, doch wohl<br />

1 Sie waren nicht das Ergebnis rationalen Sinnierens über das Thema, sondern kamen wie von<br />

selbst nächtens in den Sinn. Wenn es sich dabei um einen hilfreichen geistlichen Zu-Fall handelt,<br />

ist bzw. wäre damit jedoch nach meinem Verständnis von Geistwirken keineswegs<br />

Absolutes und/oder Unhinterfragbares beansprucht. Im Gegenteil! Wie 1. Thessalonicher 5,19-<br />

21 oder 1. Korinther 14,29 insofern unmissverständlich klar machen, gilt die Aufforderung der<br />

theologischen Prüfung und geistlichen Beurteilung durch die Gemeinde, das heißt der praktischtheologischen<br />

Bewährung einer geäußerten Auffassung im christlichen Alltag, auch in solchem<br />

Zusammenhang.<br />

2 Dam<strong>als</strong> auf dem Symposium auch ganz real körperlich.<br />

3 Ich beschränke mich bewusst auf eine knappe Skizzierung. Die vielfältigen theologischexegetischen<br />

und gemeindlich-pastoralen Schwierigkeiten der Texte werden nur ansatzweise<br />

angesprochen.<br />

197


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

mit Bezugnahme auf Jesus selbst, ursprünglich nur die „Einzigehe“. Sie ist quasi<br />

absolutes Gebot, eine Scheidung ist absolut ausgeschlossen, quasi unbedingt<br />

verboten - eben grundsätzlich unmöglich.<br />

Diesem Sachverhalt korrespondiert - das war bzw. ist der Einfall nach seiner<br />

materialen Seite - eine ähnlich strukturierte biblische Aussage zu einem ganz<br />

anderen religiösen Sachverhalt: Ich meine die Formulierungen des Hebräerbriefs<br />

über die „Unmöglichkeit der zweiten Buße“ (Hebräer 6,4-6; vgl. 10,26-<br />

31).<br />

Ich sehe <strong>als</strong> Ergebnis des Vergleiches beider Sachverhalte hinsichtlich ihrer<br />

sprachlichen Ausdrucksform und ihrer theologischen Unbedingtheit eine Struktur-Analogie.<br />

Die Analogie besteht in der sprachlichen und theologischen<br />

Struktur der Aussagen, natürlich nicht in ihren Inhalten; und es handelt sich<br />

dabei um eine Analogie, keineswegs um eine Identität.<br />

Dem „es ist unmöglich ... zu erneuern zur Umkehr“ (Hebräer 6,4a.6a.) <strong>als</strong><br />

Ausdruck einer absolut ausgeschlossenen Situation nach dem Glaubensabfall ist<br />

die Auffassung der Unscheidbarkeit einer bestehenden Ehe in der Aussage „das<br />

soll der Mensch nicht scheiden“ (Markus 10,9b) m.E. strukturell analog. In beiden<br />

Fällen handelt es sich um apodiktische Aussagen, im einen Fall im Bereich<br />

der Soteriologie, im anderen Fall im Bereich der Ethik.<br />

Dies erkannt und insoweit anerkannt, scheint mir der Vergleich beider Äußerungen<br />

vor allem unter dem Gesichtspunkt unseres adventistischen Umgangs<br />

mit ihnen bedeutsam und bedenkenswert.<br />

2. Der beobachtete ungleiche Umgang mit den Textaussagen<br />

Während wir <strong>als</strong> Siebenten-Tags-Adventisten zu den biblischen Stellen über<br />

die Unmöglichkeit der Scheidung eine festgeschriebene Lehre und Praxis haben,<br />

gibt es bei uns meines Wissens nichts Vergleichbares zur Unmöglichkeit<br />

der „zweiten Buße“. Weder haben wir dazu eine Lehraussage formuliert noch<br />

eine entsprechende gemeindliche Praxis entwickelt, obwohl es doch hier, in der<br />

Gottesbeziehung, um das ewige Heil von Menschen/Gläubigen geht, während<br />

beim Sachverhalt der Scheidung zunächst nur die Beziehung zum Mitmenschen<br />

und <strong>als</strong>o das irdische Wohl der Menschen/Gläubigen auf dem Spiel steht.<br />

Man kann die Analogie freilich noch weiter führen, wenn man bei der Scheidung<br />

die göttliche Schöpfungsordnung bewusst, wissentlich und willentlich<br />

missachtet sieht - ähnlich wie beim Abfall vom Glauben die Heilsordnung Gottes.<br />

Beides wäre dann <strong>als</strong> „Sünde zum Tode“ (1. Johannes 5,16) zu verstehen,<br />

198


SCHMITZ: STRUKTUR-ANALOGIE<br />

für die es keine Gnade geben könnte - dies wiederum ähnlich der Aussage Jesu<br />

über die „Lästerung des Geistes“ (Markus 3,28f). 4<br />

Warum gibt es keine verbindliche Lehre und Gemeindepraxis bei uns hinsichtlich<br />

der „zweiten Buße“? Halten wir das nicht für nötig oder nicht für möglich?<br />

- Möglicherweise soll damit die Entscheidung über den Sachverhalt des<br />

Glaubensabfalls und der darin missachteten Heilsordnung sowie des damit eingetretenen<br />

Heilsverlustes Gott selbst und ihm allein überlassen werden, was -<br />

auch mit Verweis auf 1. Samuel 16,7b: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist;<br />

der Herr aber sieht das Herz an“ - geistlich ganz angemessen ist.<br />

Aber: Trifft dies nicht analog zu für die Beurteilung des Sachverhaltes einer<br />

durch Scheidung übertretenen Schöpfungsordnung?! Warum gibt es überhaupt<br />

für die Geschiedenen gemeindlich Sanktionen, 5 wenn wir doch ihr Innerstes, ihr<br />

„Herz“, nur unvollkommen erkennen können? Dienen wir möglicherweise mehr<br />

unserer eigenen Ordnung <strong>als</strong> dem Schöpfer, (auch) wenn wir uns dazu auf die<br />

Schöpfungsordnung im Sinne einer absoluten Norm berufen und beziehen?<br />

3. Die theologische Funktion und inhaltliche Bedeutung der apodiktischen<br />

Aussagen<br />

Die Aussage über die „Unmöglichkeit einer zweiten Buße“ findet sich in Hebräer<br />

6 in einem paränetischen Abschnitt, nicht innerhalb einer lehrhaften Darlegung.<br />

6 Dies trifft ebenso auf den Abschnitt 10,26ff. zu; er stellt eine Begründung<br />

dar für die Aufforderung, am Bekenntnis zu Christus festzuhalten (V.<br />

23f.) und ist darin zugleich eine argumentative Begründung gegen die negative<br />

Kehrseite dieses Verhaltens, den Austritt aus der Glaubensgemeinschaft (V.<br />

4 Zu diesem biblischen Text mit seinen Parallelen in den anderen Evangelien gibt es seit langem<br />

theologische Deutungen innerhalb unserer Glaubensgemeinschaft, die z.T. auch in Evangelisationen<br />

zum Einsatz kommen. Die nichtadventistischen Hörer werden dann z. B. davor gewarnt,<br />

dem Wirken des Geistes Gottes nicht durch eine bewusste Verweigerungshaltung hinsichtlich<br />

des eigenen Glaubens auf Dauer Widerstand zu leisten.<br />

5 Vgl. die in unserer Gemeindeordnung offiziell vorgesehenen Maßnahmen durch die Ortsgemeinde<br />

im Sinne von zeitweiliger Gemeindezucht („korrigierende Seelsorge“) oder Ausschluss<br />

aus der Glaubensgemeinschaft. Bei vollzogener Scheidung und Wiederheirat bestünde - gemäß<br />

der Gemeindeordnung je nach konkreter Sachlage, nach meinem Verständnis des Wortlauts der<br />

ursprünglichen theologischen Positionen des frühen Christentums faktisch immer - der Zustand<br />

der Übertretung des göttlichen Gebots der Einzigehe praktisch lebenslang. Da ist mit „korrigierender“<br />

Seelsorge gar nichts mehr auszurichten!<br />

6 Die Kombination beider Darstellungsformen in wechselnder Abfolge ist ein den ganzen Brief<br />

durchziehendes typisches Merkmal des Hebräerbriefes.<br />

199


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

25). Ähnlich ist der Duktus des Gedankengangs aus 6,4ff. in V. 9-12; auch hier<br />

geht es in der Schlussaussage um das Bleiben bei Christus und seiner Gemeinde.<br />

Die apodiktischen Aussagen der „Unmöglichkeit einer zweiten Buße“ haben<br />

<strong>als</strong>o die Funktion, den Glauben <strong>als</strong> ein unter allen Umständen bewahrenswertes<br />

Gut darzustellen. Sie sind nicht eigentlich Dogma, sondern mahnende Predigt -<br />

wie sich übrigens das gesamte Schreiben gemäß Hebräer 13,22 <strong>als</strong> „Wort der<br />

Ermahnung“ („Paränese“) versteht. Die Apodiktik schärft den Wert, der in der<br />

eigenen Entscheidung auf dem Spiel steht, <strong>als</strong> einen positiven Wert ein, der<br />

unbedingt aufrechterhalten werden muss.<br />

Die vielfache Ermahnung zur Geduld im Hebräer, insbesondere zum Aushalten<br />

im bzw. beim Glauben, wird vorgenommen angesichts von Verfolgung oder<br />

jedenfalls Bedrängnis der Gemeinde von außen her (Hebräer 10,32-34), welche<br />

ich <strong>als</strong> historischen Hintergrund des Hebräerbriefes annehme, und wäre insofern<br />

ein - möglicherweise geistlich verständlicher - Versuch, mit sehr drastischen<br />

Worten vor dem Glaubensabfall zu warnen (10,35ff.). Es wird jedenfalls<br />

unüberbietbar schweres theologisches Geschütz aufgefahren, möglicherweise<br />

um Gemeindeglieder davon abzuhalten, mit dem Gedanken des Austritts aus<br />

der christlichen Gemeinde sozusagen aus rein strategischen Gründen, nämlich<br />

zum Zweck der Vermeidung von Verfolgung, zu spielen. Dagegen sagt der Verfasser<br />

mit Hilfe der apodiktischen Aussagen: Mit dem Glaubensbekenntnis zu<br />

Christus spielt man nicht - auch nicht bei erschwerten Glaubensbedingungen!<br />

Analog verstehe ich die apodiktische Aussage zur Unmöglichkeit der Ehescheidung<br />

(Markus 10,9.11). Sie ist nicht eigentlich Gesetz im engeren Sinne,<br />

sondern - ebenso wie die analogen Formulierungen in Hebräer 6 und 10 - in<br />

Wahrheit ermahnende Aussage, urchristliche Paränese über eine wichtige<br />

Grundfrage ethischen Verhaltens. Mit Hilfe der ‚starken’ Formulierung wird<br />

insofern unmissverständlich die christliche Überzeugung zum Ausdruck gebracht:<br />

Mit dem Treuegelöbnis und der Liebe in der Ehe spielt man nicht!<br />

4. Der praktische Umgang mit Übertretern<br />

Was geschieht mit Menschen, die den mit dem apodiktischen Wortlaut der<br />

Aussagen festgehaltenen christlichen Wert in ihrem Leben nicht bewahrt haben?<br />

Ich verweise <strong>als</strong> Antwort auf drei Grundtexte des Neuen Testaments, welche<br />

m.E. dem Geist Christi entsprechen und uns insofern eine deutliche Botschaft<br />

sprechen.<br />

200


SCHMITZ: STRUKTUR-ANALOGIE<br />

Petrus, dem Verleugner Jesu, wird von Christus selbst Vergebung gewährt<br />

und die Einsetzung ins Leitungsamt der Urgemeinde zugesprochen (Johannes<br />

21,15ff.) - gegen den Wortlaut von Matthäus 10,33!<br />

Gemäß Lukas 15,11ff. ist dem von zu Hause weggelaufenen Sohn nicht nur<br />

Buße, Umkehr möglich, sondern durch die zuvorkommende Gnade des Vaters<br />

vollgültige Aufnahme ins ursprüngliche Kindschaftsverhältnis - gegen den<br />

Wortlaut von Hebräer 6,4-6 und 10,26ff.<br />

Beides sind deutliche Beispiele - im Bereich der Soteriologie und Ekklesiologie!<br />

Im Bereich der Ethik (und Ekklesiologie) gibt es zu unserem Thema einen a-<br />

nalogen Präzedenzfall - er ist überlieferungsgeschichtlich innerhalb des Evangeliums<br />

wohl nicht <strong>als</strong> ursprünglich zu werten, aber theologisch-inhaltlich zutiefst<br />

christlich und evangeliumsgemäß: Johannes 8,1-11 - Christus spricht die<br />

Ehebrecherin frei!<br />

Fazit<br />

Mir scheint, wir sollten in unseren Gemeinden analog vorgehen, das heißt vor<br />

allem der Gnade Raum geben, durch die sich der Glaube in der Liebe wirksam<br />

erweist (Galater 5,6). So erfüllen wir das „Gesetz Christi“ (Galater 6,2b) bei<br />

Fragen der Ehescheidung (und Wiederheirat) in Umsetzung von Johannes 8,11<br />

- gegen den apodiktisch-ausschließlichen Wortlaut von anderen Texten.<br />

201


Die Aussagen von Jesus und Paulus<br />

über Scheidung und Wiederheirat<br />

Werner Lange<br />

Die folgenden Ausführungen haben weitgehend eine zwölfteilige Vortragsreihe<br />

von Richard D. Nies zum Thema Scheidung und Wiederheirat zur Grundlage.<br />

1<br />

I. Die jüdische Scheidungspraxis zur Zeit Jesu<br />

Die Aussagen Jesu über Scheidung und Wiederheirat werden ohne eine genaue<br />

Kenntnis der Lehren der Rabbiner zu diesem Thema und der jüdischen<br />

Scheidungspraxis seiner Zeit zwangsläufig missverstanden. Ihre Kenntnis ist<br />

daher unerlässlich.<br />

1. Die Verordnung eines Scheidebriefes durch Mose<br />

Die jüdische Scheidungspraxis geht zurück auf die Einführung eines Scheidebriefes<br />

durch Mose (5.Mose 24,1.2). In der damaligen Kultur (und auch noch in<br />

der jüdischen zur Zeit Jesu) sahen Männer ihre Frau(en) <strong>als</strong> ein Stück Eigentum<br />

an, über das sie fast beliebig verfügen konnten. Wurden sie ihrer überdrüssig,<br />

vertrieben sie sie. Eine solche Frau war dann weitgehend mittel- und rechtlos.<br />

Wenn sie keine erwachsenen Kinder hatte, die für sie sorgten, war ihre einzige<br />

Hoffnung, in ihr Elternhaus zurückkehren zu dürfen (siehe 3.Mose 22,13). Um<br />

ihr Los zu verbessern, gab Mose die Verordnung, ihr einen Scheidebrief auszustellen.<br />

Er garantierte einer entlassenen Frau gewisse Rechte und schützte sie<br />

davor, <strong>als</strong> Ehebrecherin oder Ausgestoßene angesehen zu werden. (Auf Ehebruch<br />

stand unter den mosaischen Rechtsvorschriften die Todesstrafe, siehe<br />

3.Mose 20,10 und 5.Mose 22,22-27.) Ausgestattet mit einem Scheidebrief verließ<br />

eine Geschiedene das Haus ihres ersten Mannes <strong>als</strong> respektiertes Mitglied<br />

1<br />

Gehalten vom 13.12.1978 bis 31.08.1979 an der Loma Linda University Church in Kalifornien<br />

(USA). Diese Vorträge von R. D. Nies, Ph. D., Theologe und Eheberater, wurden mit seiner<br />

Einwilligung zusammen mit schriftlichen Unterlagen von „Study Tapes“* veröffentlicht<br />

und sind beim Verfasser vorliegender Ausführungen erhältlich.<br />

* Adresse: 1341 Pine Knoll, Redlands, California 92373, USA<br />

203


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

der Gesellschaft und <strong>als</strong> freie Frau, die eine ehrenhafte zweite Ehe eingehen<br />

konnte (5.Mose 24,2). Im Scheidebrief erklärte der erste Ehemann, dass er keine<br />

rechtlichen Ansprüche mehr an sie hatte und sie ihm in keiner Weise mehr<br />

verpflichtet war und ihr eine erneute Verehelichung mit einem beliebigen Mann<br />

erlaubt sei. 2 Wenn sie wieder heiratete, war sie keine Ehebrecherin und verletzte<br />

auch die Rechte ihres ersten Mannes nicht. 3<br />

Es gilt festzuhalten, dass Gott durch die Verordnung zur Ausstellung eines<br />

Scheidebriefes keine Erlaubnis oder Billigung zur Scheidungen gab. So haben<br />

es die Rabbiner zwar später verstanden, aber Jesus widersprach dem ausdrücklich.<br />

Er erklärte, dass Mose nur wegen der „Herzenshärte“ der Männer die Anweisung<br />

zur Ausstellung eines Scheidebriefes gegeben habe, Scheidungen aber<br />

nicht Gottes ursprüngliche Absicht seien (Matthäus,6-8). „Ich hasse Scheidung“<br />

sagt der HERR nach Maleachi 2,16 (Elb und Zürcher Bibel). John Murray<br />

schreibt zu dem Bibelabschnitt über den Scheidebrief:<br />

„Diese Feststellungen in Bezug auf den Aufbau [des Textes] sind von primärer<br />

Bedeutung, denn sie zeigen, dass dieser Abschnitt die Scheidung nicht befiehlt,<br />

im Falle dass etwas Schändliches gefunden wird. Es ist nicht einmal so<br />

zu verstehen, dass dieser Abschnitt die Männer dazu ermutigen oder auffordern<br />

würde, in einem solchen Fall ihre Frau zu entlassen. Dieser Abschnitt ist auch<br />

nicht <strong>als</strong> eine Berechtigung und Zustimmung zur Scheidung zu verstehen. Er<br />

besagt ganz einfach, dass, wenn ein Mann seine Frau entlässt und sie einen andern<br />

Mann heiratet, jener sie unter keinen Umständen wieder zur Frau nehmen<br />

darf. Es gibt demnach nichts in diesem Abschnitt, das zur Schlussfolgerung<br />

berechtigen würde, die Scheidung sei hier von Gott gebilligt und unter den erwähnten<br />

Bedingungen moralisch gerechtfertigt worden.“ 4<br />

2. Akzeptable Scheidungsgründe im Judentum zur Zeit Jesu<br />

Mose nennt keine Gründe, die eine Entlassung der Frau rechtfertigen, sondern<br />

erwähnt nur, dass ein Mann seiner Frau einen Scheidebrief schreibt, weil er<br />

„etwas Schändliches an ihr gefunden hat“ (5.Mose 24,1). Was dieses „Schändliche“<br />

ist, wird nirgends in der Bibel erläutert. Der hebräische Ausdruck ‘erwat<br />

2 Vgl. H. Strack/Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch,<br />

Band 1, S. 304; dort findet sich das Beispiel eines Scheidebriefes auf S. 311.<br />

3 Vgl. The Seventh-day-Adventist Bible Commentary, F. D. Nichol ed., Revised Edition 1976,<br />

vol. 1, p. 1037.<br />

4 John Murray, Divorce, p. 6-7; zitiert von R. D. Nies in seinem zweiten Thema, Übersetzung<br />

von Herbert Bodenmann.<br />

204


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

dabar bezeichnet wörtlich „die Blöße einer Sache“ (Anmerkung zu 5.Mose<br />

23,15 Elb) und kommt sonst nur noch in 5.Mose 23,15 vor, wo er sich auf unbedeckte<br />

menschliche Ausscheidungen bezieht (V.13.14). Strack und Billerbeck<br />

meinen, „der Ausdruck… ist völlig unbestimmt und kann sowohl etwas<br />

moralisch Schandbares, <strong>als</strong> auch etwas physisch Widerwärtiges bezeichnen“. 5<br />

Von daher ist verständlich, dass später unter den Rabbinern ein heftiger Streit<br />

darüber entbrannte, was denn dieses „Anstößige“ (Elb) sei, das eine Scheidung<br />

in ihren Augen rechtfertigte. Es entwickelten sich zwei Auslegungsrichtungen:<br />

„Die Schule Schammais [hat] in Übereinstimmung mit ungenannten älteren<br />

Lehrern eine Ehescheidung nur dann für zulässig erklärt, wenn sich die Frau<br />

etwa Schandbares hatte zuschulden kommen lassen. Als Schriftbeweis diente<br />

ihr der Ausdruck ‘erwat dabar’ Dt 24,1, der <strong>als</strong> einheitlicher Begriff gefasst<br />

und gedeutet wurde ‚etwas Schandbares‘. Die gleiche Ansicht vertritt die LXX<br />

[die griechische Übersetzung des Alten Testaments]. – Die Schule Hillels erkennt<br />

diesen Scheidungsgrund der Schammaiten an, fügt ihm aber noch einen<br />

zweiten hinzu: Der Mann darf seine Frau durch Scheidebrief entlassen, wenn er<br />

irgend etwas Missfälliges an ihr findet. Beweis: der Ausdruck ‘erwat dabar Dt.<br />

24,1, der gedeutet wird: ‚Schandbares u. sonst irgend etwas.‘“ 6<br />

Scheidungsgründe waren nach rabbinischer Literatur u. a. Unzucht, alles, was<br />

gegen die guten Sitten verstieß, die Übertretung eines Gebotes der Thora für<br />

Frauen, ein Verhalten der Frau, das geeignet war, den Mann in einen bösen Ruf<br />

zu bringen, ihre Kinderlosigkeit oder wenn sie nicht den Voraussetzungen und<br />

Bedingungen entsprach, unter denen er sie geheiratet hatte. 7 Strack und Billerbeck<br />

kommen zu dem Ergebnis, „daß es in der mischnischen Periode keine Ehe<br />

im jüdischen Volk gegeben hat, die nicht kurzerhand vom Manne in völlig legaler<br />

Weise durch Aushändigung eines Scheidebriefes hätte gelöst werden können.“<br />

8 Was <strong>als</strong>o ursprünglich dazu gedacht war, die Männer von leichtfertigen<br />

Scheidungen zurückzuhalten (ihnen war ja von Mose verboten worden, ihre<br />

entlassene Frau wieder zu nehmen, nachdem sie mit einem anderen Mann verheiratet<br />

gewesen war, siehe 5.Mose 24,3.4; zudem mussten sie die Mitgift an<br />

die Frau zurückgeben), hatte sich durch die Auslegungen der Rabbiner zu einer<br />

Scheidungswillkür seitens der Männer entwickelt, unter denen die Frauen litten.<br />

Dies wird vom jüdischen Historiker Flavius Josephus (37-100 n. Chr.) bestätigt.<br />

Er schrieb:<br />

5 Strack/Billerbeck, Band 1, S. 312.<br />

6 ebd., S. 315.<br />

7 Vgl. ebd., S. 315-317.<br />

8 ebd., S. 319f.<br />

205


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

„Wer sich von seiner Frau scheiden lassen möchte, aus welchem Grund auch<br />

immer (und es gibt für Männer viele solcher Gründe), soll schriftlich die Zusicherung<br />

geben, dass er sie nie wieder <strong>als</strong> seine Frau benutzen will, denn auf<br />

diese Weise hat sie die Freiheit, einen andern Mann zu heiraten. Doch bevor sie<br />

diesen Scheidebrief erhalten hat, ist ihr das nicht erlaubt“. 9<br />

Eine jüdische Frau besaß hingegen nur in wenigen, genau definierten Fällen<br />

das Recht, die Auflösung ihrer Ehe zu fordern, z. B. falls Krankheit oder Beruf<br />

des Mannes unzumutbare Widerwärtigkeiten im Gefolge haben. 10<br />

3. Die Notwendigkeit einer Scheidung bei Ehebruch und die Folgen für die<br />

Frauen<br />

Die Rabbiner verlangten, dass im Fall der Untreue der Frau ihr Mann sie entlassen<br />

musste. 11 Diese Bestimmung war möglicherweise eine Folge davon, dass<br />

die Juden unter römischer Oberherrschaft keine Todesstrafe vollziehen durften,<br />

d. h. keine Ehebrecherin oder Ehebrecher gemäß den Rechtsverordnungen Moses<br />

steinigen durften. 12 Die Folge war, dass entlassene Frauen generell <strong>als</strong> ehebrecherisch<br />

oder unzüchtig angesehen wurden, obwohl der Grund für ihre Entlassung<br />

meist ein anderer war (im Scheidebrief wurde kein Scheidungsgrund<br />

genannt 13 ). So waren die Frauen durch die jüdische Scheidungspraxis nicht nur<br />

benachteiligt, sie wurden auch im Fall ihrer Entlassung <strong>als</strong> ehebrecherisch hingestellt.<br />

Was ursprünglich dazu gedacht war, das Los und die Rechte der Frauen<br />

zu verbessern, war dazu verkehrt worden, ihre Stellung und ihr Ansehen zu<br />

verschlechtern. Ihnen wurde von den Männern die Schuld am Scheitern der<br />

Ehen in die Schuhe geschoben. Auf diesem Hintergrund sind die Aussagen Jesu<br />

zur jüdischen Scheidungspraxis zu verstehen.<br />

II. Die Aussagen Jesu über Ehe, Ehebruch, Ehescheidung und Wiederheirat<br />

1. Jesu Aussagen in der Bergpredigt über Ehebruch (Matthäus 5,27-30)<br />

In der Bergpredigt nahm Jesus in Kapitel 5 und 6 hauptsächlich gegen die<br />

Auslegungen des Gesetzes durch die Rabbiner Stellung. An mehreren Beispie-<br />

9 Antiquitates IV 8, 23, zitiert im Adventist Bible Commentary, vol. 1, p. 1037f.<br />

10 Vgl. Strack/Billerbeck, Band 1, S. 318.<br />

11 Gerhard Kittel, Begr., Gerhard Friedrich, Hrsg., <strong>Theologische</strong>s Wörterbuch zum Neuen Testament,<br />

Band VI, S. 591.<br />

12 Vgl. Joh 19,31; F. F. Bruce, Zeitgeschichte des Neuen Testaments, Teil I, S. 206f.<br />

13 Vgl. Strack/Billerbeck, Band 1, S. 311.<br />

206


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

len zeigte er, wie sie den geistlichen Sinn der Gebote verdrehten. Von seinen<br />

Nachfolgern erwartet Jesus eine „bessere Gerechtigkeit <strong>als</strong> die der Schriftgelehrten<br />

und Pharisäer“ (Mattthäus 5,20), auch auf dem Gebiet der ehelichen<br />

Treue (siehe V.27f.).<br />

Die Rabbiner sahen vor allem die geschlechtliche Verbindung eines Mannes<br />

mit der Ehefrau oder der Verlobten eines anderen Juden <strong>als</strong> Ehebruch an. Der<br />

Geschlechtsverkehr mit einer ledigen weiblichen Person galt <strong>als</strong> Hurerei oder<br />

Unzucht. 14 Es wurde mit zweierlei Maß gemessen: eine Ehefrau, die mit einem<br />

anderen Mann Geschlechtsverkehr hatte, hatte damit in jedem Fall die Ehe mit<br />

ihrem Mann gebrochen, der Mann aber nicht seine Ehe mit seiner Frau, sondern<br />

die Ehe des anderen Ehemannes, dessen Eigentumsrechte er verletzt hatte. 15<br />

Jesus zeigte die wahre Bedeutung von Ehebruch, indem er das 7. Gebot mit<br />

dem 10. Gebot verband: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon<br />

mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ (Matthäus 5,28) Ehebruch beginnt<br />

im Herzen. Er ist jede innere Einstellung, jede Art von Denken oder Verhalten,<br />

die das Wesen der Ehe, die eheliche Einheit (Matthäus 19,5.6) beeinträchtigen<br />

oder die Fähigkeit dazu. Die ehebrecherische Einstellung geht der<br />

Tat voraus, auch sie ist bereits Ehebruch.<br />

Die Pharisäer wollten nicht wahrhaben, dass es sich beim Ehebruch um eine<br />

Herzensangelegenheit handelt. Sie machten statt dessen ihr Auge, das Organ,<br />

das die Lust aufnahm, bzw. die Hand, die sie ausdrückte, verantwortlich und<br />

entschuldigten sich damit, dass sie ja nicht anders konnten: das Auge oder die<br />

Hand sei „das Skandalon“ (so in V.29.30 wörtlich; die Lutherbibel übersetzt:<br />

„zum Abfall verführt“), d. h. das Stellholz, das die Falle auslöst. Jesus führte<br />

diese billige Entschuldigung logisch weiter: dann müsse das Auge eben ausgerissen<br />

bzw. die Hand abgehauen werden (V.29.30). Das war natürlich nicht die<br />

Lösung, auf die Jesus abzielte; ihm geht es um eine Veränderung des Herzens.<br />

Er führte nur das Denken der Rabbiner zu ihrem logischen Schluss (die in späterer<br />

rabbinischer Literatur auch tatsächlich vollzogen wurde 16 ).<br />

2. Jesu Aussagen in der Bergpredigt über Scheidung (Matthäus 5,31.32)<br />

Jesus nahm dann zur jüdischen Scheidungspraxis Stellung: „Es ist aber weiter<br />

gesagt: ‚Wer seine Frau entlassen will, gebe ihr einen Scheidebrief‘“ (V.31<br />

Elb). Seine folgende Aussage gehört zu den am häufigsten missverstandenen<br />

14 Vgl. Strack/Billerbeck, Band 1, S. 297.<br />

15 Vgl. ebd.<br />

16 Vgl. Strack/Billerbeck, Band 1, S. 302 f.<br />

207


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Stellen im NT. Bei ihrer Übersetzung und Auslegung wird meist die grammatische<br />

Konstruktion und ihre Bedeutung nicht berücksichtigt. 17<br />

Jesus spricht in V.32 von den Männern, die ihre Frau entlassen und erklärt,<br />

was sie ihr damit antun. Die Verbform von „machen“ ist Präsens Aktiv, die<br />

Verbform von „ehebrechen“ moicheuthenai jedoch Aorist 18 Infinitiv Passiv.<br />

Die meisten Übersetzer und Ausleger geben das Verb in aktiver Bedeutung<br />

wieder, weil es an anderen Stellen mit Bezug auf Frauen auch im Passiv gebraucht<br />

wird und der Zusammenhang eine aktive Bedeutung erfordere. 19 Dies<br />

ist jedoch hier nicht zwingend der Fall, denn die aktive Übersetzung wirft Fragen<br />

auf, deren Antworten ethisch problematisch sind: Wodurch macht der<br />

Mann, dass seine entlassene Frau Ehebruch begeht? Er handelt doch schon im<br />

Ansatz ungerecht an ihr, indem er sie aus nichtigen Gründen entlässt. An der<br />

Scheidung trägt sie insofern keine Schuld, es sei denn, sie hat wirklich Unzucht<br />

getrieben. Will Jesus tatsächlich sagen, dass unter diesen Voraussetzungen die<br />

entlassene Frau eine Ehebrecherin ist?<br />

Oft wird hier auf die zweite Ehe der Frau verwiesen: sie breche ihre erste Ehe,<br />

wenn sie wieder heirate (so z. B. in der Anmerkung der Zürcher Bibel zu Matthäus<br />

5,32, obwohl sie versucht, der Passivkonstruktion gerecht zu werden).<br />

Das ist jedoch weder rechtlich noch biblisch der Fall: zum einen gab ihr der<br />

Scheidebrief, an den Jesus hier anknüpft, nach biblischer und jüdischer Praxis<br />

das Recht, wieder ehrenvoll zu heiraten. In Anbetracht der Aussage Jesu in<br />

V.17, er sei „nicht… gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen“,<br />

wäre es eine Unterstellung anzunehmen, dass er hier die Erlaubnis zur Wiederheirat<br />

aus 5.Mose 24,2 aufheben wollte. Das hätte das Los vieler entlassener<br />

Frauen zusätzlich erschwert. Zum anderen erwähnt Jesus hier keine Wiederheirat<br />

dieser entlassenen Frau. Einige haben gar nicht erneut geheiratet, sondern<br />

sind in ihr Elternhaus zurückgekehrt oder haben sich zu den Witwen gehalten.<br />

17 Ein Beispiel dafür und eine Diskussion der verschiedenen Auslegungen von Mt 5,32 und 19,9<br />

findet sich bei Samuele Bacchiocchi, The Marriage Covenant: A Biblical Study on Marriage,<br />

Divorce, and Remarriage, Chap. 6.<br />

18 Der Aorist bezeichnet im Griechischen in der Regel eine einmalige abgeschlossene Handlung<br />

(im Gegensatz zum Präsens, der eine andauernde oder wiederholte Handlung bezeichnet, siehe<br />

weiter unten die Ausführungen zu Lk 16,18), <strong>als</strong> Infinitiv ist er zeitlos.<br />

19<br />

Die in Kittel, Bd. IV, S. 647 angeführten Belegstellen 3.Mose 20,10 LXX und Joh 8,4 sind<br />

jedoch nicht eindeutig, denn die Form kann auch <strong>als</strong> Medium gedeutet werden und das Wort<br />

kann im Medium und Passiv auch bedeuten: „zum Ehebruch verführt werden, sich verführen<br />

lassen.“ Die andere Stelle Sir 23,23 LXX ist zwar eindeutig Passiv, aber die passive Übersetzung<br />

macht auch Sinn „…in Hurerei zum Ehebruch verführt werden“.<br />

208


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

Aus der aktiven Übersetzung würde logisch folgen, dass eine zweite Ehe einen<br />

Zustand andauernden Ehebruches darstellt. Die grammatische Form des<br />

Aorist Infinitivs bezeichnet aber eine einmalige Handlung. Auch deshalb kann<br />

sich Jesu Aussage nicht auf die Wiederheirat der Frau beziehen. Sie muss ohne<br />

Bezug darauf nachzuvollziehen sein.<br />

Nachdem William Hendriksen in seinem Kommentar die Problematik der aktiven<br />

Übersetzung dargestellt hat, kommt er zu dem Schluss:<br />

„Ist nicht die wahre Lösung eine bessere Übertragung des Originaltextes? Das<br />

Griechische sagt durch die Verwendung der Passivform nicht, was die Frau<br />

wird oder tut, sondern was mit ihr geschieht, was sie erleidet, was sie ausgesetzt<br />

wird. Sie erleidet Unrecht. Er tut Unrecht.“ 20<br />

Das Problem für die Übersetzer besteht darin, dass man diese grammatische<br />

Konstruktion nur mit Umschreibungen übersetzen kann und damit den Text<br />

bereits in eine Richtung deutet. Dies zeigen die äußerst verschiedenen Übersetzungen<br />

dieses Verses: wenige stimmen überein und keine kommt ohne zusätzliche<br />

Worte aus. Die Umschreibung muss aber dem biblischen und zeitgeschichtlichen<br />

Kontext sowie der grammatischen Konstruktion gerecht werden. Dies<br />

soll im Folgenden versucht werden.<br />

Wir müssen uns von dem Vorurteil lösen, dass Jesus hier eine dogmatische<br />

Aussage über Ehescheidungen und deren Berechtigung macht. Er zeigt lediglich<br />

die Folgen der jüdischen Scheidungspraxis für Frauen auf: durch eine Entlassung<br />

stellen die Männer ihre Frauen <strong>als</strong> unzüchtig und ehebrecherisch hin,<br />

obwohl sie das in den meisten Fällen nicht waren, weil bei Ehebruch oder Unzucht<br />

die Frau entlassen werden musste (siehe weiter oben). Weil ein Scheidebrief<br />

aber keine Gründe für die Entlassung enthielt, behaftete der Mann durch<br />

eine Scheidung seine Frau in den Augen der anderen mit dem Stigma einer<br />

Ehebrecherin, auch wenn er sie aus einem trivialen Grund entlassen hatte. Diese<br />

Stigmatisierung war das zusätzliche Unrecht, das der Mann ihr mit der Scheidung<br />

antat und sie erlitt!<br />

Wenn die Frau aber tatsächlich Ehebruch begangen hatte, erfolgte keine ungerechtfertigte<br />

Stigmatisierung durch die Scheidung. Daher fügte Jesus hier notwendigerweise<br />

ein: „ausgenommen auf Grund von Hurerei“. 21 Wer eine un-<br />

20 William Hendriksen, NT Commentary, vol. 1, p. 306, Hervorhebungen im Original; in der<br />

Fußnote 296 führt er an, dass auch F. W. Grosheide und H. N. Ridderbos in ihren Kommentarwerken<br />

die fragliche Formulierung passiv wiedergeben. Auch Walter Bauer, Wörterbuch zum<br />

NT, Spalte 1041, übersetzt die Wendung aus Matthäus 5,32a passiv.<br />

21 Übersetzung von Strack und Billerbeck in Band 1, S. 312.<br />

209


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

züchtige Frau entließ, stigmatisierte sie nicht <strong>als</strong> ehebrecherisch, denn sie war<br />

es ja tatsächlich.<br />

Aufgrund des Kontextes und der Konstruktion der Aussage Jesu in V.32a<br />

können wir sie folgendermaßen umschreiben: „Alle die, die ihre Frau entlassen<br />

- abgesehen von dem Fall, dass es (tatsächlich) wegen (ihrer) Unzucht geschieht<br />

- bewirken, dass sie <strong>als</strong> ehebrecherisch angesehen wird.“ In diesem Sinne übersetzen<br />

auch Strack und Billerbeck: „Jeder, der sein Weib entläßt, ausgenommen<br />

auf Grund von Hurerei, der macht, daß sie Ehebrecherin geworden ist.“ 22<br />

Jesu Einschub „abgesehen auf Grund von Hurerei“ ist <strong>als</strong>o nur darin begründet,<br />

dass sein Vorwurf nicht alle Männer betraf, sondern nur die, die ihre Frau<br />

aus irgendwelchen anderen Gründen entließen. Dieser Einschub bedeutet weder,<br />

dass bei Unzucht oder Ehebruch eine Scheidung berechtigt ist (wie manche<br />

protestantischen und adventistischen Ausleger behaupten), noch dass selbst im<br />

Falle von Ehebruch oder Unzucht keine Scheidung erfolgen soll (wofür einige<br />

katholische Ausleger eintreten). Jesus befasst sich hier in keiner Weise mit irgendwelchen<br />

Rechtfertigungsgründen für eine Scheidung (danach wird er in<br />

Matthäus 19 gefragt), er erklärt lediglich die Auswirkungen der liberalen jüdischen<br />

Scheidungspraxis auf die entlassenen Frauen: sie werden dadurch <strong>als</strong><br />

ehebrecherisch hingestellt.<br />

Im Nachsatz von V.32 geht Jesus auf die Folgen für den Mann ein, der eine<br />

entlassene Frau heiratet. Auch hierbei werden in den gängigen Übersetzungen<br />

weder die grammatische Konstruktion noch der historische Kontext berücksichtigt.<br />

Das Verb „ehebrechen“ steht hier im Präsens Passiv 23 (griechisch moichatai<br />

von der dorischen Nebenform moichao 24 ). Wir müssen <strong>als</strong>o fragen: Was<br />

erleidet ein Mann, der eine entlassene Frau heiratet? Da sie <strong>als</strong> ehebrecherisch<br />

angesehen wird, stellt er sich selbst mit der Heirat in ein schlechtes Licht, denn<br />

welcher ehrenvolle Mann würde eine unzüchtige Frau heiraten? Andere müssen<br />

von ihm denken, dass er selbst eine ehebrecherische Gesinnung besitzt und es<br />

mit der ehelichen Treue nicht genau nimmt. Jesus würde demnach hier ausdrücken,<br />

dass ein Mann andauernd <strong>als</strong> ehebrecherisch angesehen wird, wenn er<br />

eine entlassene Frau heiratet, obwohl er das möglicherweise gar nicht ist.<br />

Es gibt noch eine zweite Deutungsmöglichkeit dieser Aussage Jesu in V.32b.<br />

Die grammatische Form von moichatai kann auch <strong>als</strong> Präsens Medium gedeutet<br />

22 ebd.<br />

23 Vgl. F. Rienecker, Sprachlicher Schlüssel zum griechischen Neuen Testament, S. 12.<br />

24 Auch wenn dieses Verb im NT und der Septuaginta nur im Medium und Passiv vorkommt, ist<br />

es kein Deponens, das die aktiven Formen abgelegt hat, so dass die Passivformen aktive Bedeutung<br />

haben, denn die griech. Wörterbücher führen es im Aktiv auf.<br />

210


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

werden wie in den Parallelaussagen in Matthäus 19,9 und Markus 10,11. 25 Die<br />

Form des Mediums (sie gibt es im Deutschen nicht) bezeichnet im Allgemeinen,<br />

dass das Subjekt des Satzes zugleich direktes Objekt der Handlung ist. 26 In<br />

Bezug auf das Verb „ehebrechen“ kann das im Deutschen nur durch Umschreibungen<br />

wiedergegeben werden: „sich selbst <strong>als</strong> ehebrecherisch hinstellen“ wäre<br />

die logische Bedeutung im Kontext. Wenn wir hier moichatai <strong>als</strong> Mediumform<br />

ansehen, dann sagte Jesus in V.32b (wie auch ähnlich in Matthäus 19,9 und<br />

Markus 10,11): „Wer auch immer eine Entlassene heiratet, stellt sich selbst <strong>als</strong><br />

ehebrecherisch hin.“ 27<br />

Jesu Aussage bedeutet in keinem Fall, dass die zweite Ehe einen andauernden<br />

Ehebruch darstellt und daher illegitim ist. Er machte hier keine Aussage zur<br />

Wiederheirat an sich, sondern sprach auch hier von den Auswirkungen der jüdischen<br />

Scheidungspraxis seiner Zeit. Zur Frage der Berechtigung einer Scheidung<br />

nahm er in Matthäus 19 Stellung.<br />

3. Jesu Streitgespräch mit Pharisäern über Ehe und Scheidung<br />

(Matthäus 19,1-9; Markus 10,1-12)<br />

Kurz vor dem Passionsgeschehen stellten einige Pharisäer Jesus die Frage:<br />

„Ist es einem Mann erlaubt, aus jeder (beliebigen) Ursache seine Frau zu entlassen?“<br />

(Matthäus 19,3 Elb). Ihre Frage reflektierte die gängige liberale Praxis<br />

nach Rabbi Hillel (er starb im Jahre 10 n. Chr.). Jesus ließ sich aber auf keine<br />

Diskussion über Scheidungsgründe ein. Er führte die Absicht des Schöpfers bei<br />

der Schaffung des Menschen <strong>als</strong> leitendes Kriterium in Ehefragen an:<br />

„Habt ihr nicht gelesen, dass der, welcher sie schuf, sie von Anfang an (<strong>als</strong>)<br />

männlich und weiblich schuf und sprach: ‚Darum wird ein Mensch Vater und<br />

Mutter verlassen und seiner Frau anhängen, und es werden die zwei ein Fleisch<br />

sein.‘ – so dass sie nicht mehr zwei sind, sondern ein Fleisch?“ (V.4-6 Elb,<br />

Anmerkung eingearbeitet)<br />

Mit seinem Nachsatz betonte Jesus deutlich den Zweck einer Ehe nach dem<br />

Willen Gottes: beide Ehepartner sollen eine Einheit bilden: geistig, seelisch,<br />

körperlich und in anderer Hinsicht. Diese Einheit und Harmonie zu fördern,<br />

muss das oberste Ziel beider Ehepartner für ihre Ehe sein. Die sexuelle Gemeinschaft<br />

ist Ausdruck dieser Einheit und zugleich ein Mittel, sie zu fördern.<br />

25 Vgl. F. Rienecker, S. 50. 109.<br />

26 Vgl. Gottfried Steyer, Handbuch für das Studium des neutestamentlichen Griechisch, Band 1,<br />

S. 57, Abschnitt 19M.<br />

27 Strack und Billerbeck übersetzen in diese Richtung, indem sie schreiben: „Wer die Geschiedne<br />

heiratet, macht sich zum Ehebrecher.“; siehe Band 1, S. 320.<br />

211


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Ehebruch im geistlichen Sinne umfasst daher alle Einstellungen, Gedanken und<br />

Verhaltensweisen, die diese eheliche Einheit oder die Fähigkeit dazu beeinträchtigen.<br />

Jesus zieht dann aus der Schöpfung der Menschen und der Aussage des<br />

Schöpfers dazu eine eindeutige Schlussfolgerung in Bezug auf Ehescheidungen:<br />

„Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“ (oder<br />

„trennen“, V.6b). Dies ist Jesu grundlegende Aussage zu dem Thema, die er an<br />

keiner Stelle einschränkt oder modifiziert, wie im Folgenden deutlich wird.<br />

Die Pharisäer waren mit Jesu Antwort nicht zufrieden und fragten daher nach,<br />

warum denn Mose geboten hatte, einen Scheidebrief auszustellen (V.7). Jesus<br />

stellt richtig, dass das nur eine Erlaubnis gewesen sei und nennt <strong>als</strong> Grund:<br />

„Mose hat wegen eurer Herzenshärtigkeit euch gestattet, eure Frauen zu entlassen;<br />

von Anfang an aber ist es nicht so gewesen.“ (V.8 Elb) Die Tolerierung der<br />

Scheidung seitens Gottes entspringt <strong>als</strong>o nicht seinem Willen, sondern der unbußfertigen<br />

Einstellung der Männer, die nicht bereit waren, das ihre zu tun, um<br />

eine Ehe zur Harmonie zu führen und die dem Geist Gottes keine Chance gaben,<br />

sie zu verändern. Die „Herzenshärte“ behindert die Einheit der Ehe und<br />

vermag sie ganz zu zerstören, so dass schließlich nur eine Scheidung <strong>als</strong> kleineres<br />

Übel bleibt.<br />

Jesus fügte dann in V.9 noch eine Aussage hinzu, um die ehebrecherische<br />

Haltung der Pharisäer zu brandmarken. In den Übersetzungen wird (wie in Matthäus<br />

5,32) selten die grammatische Konstruktion berücksichtigt. Das Verb<br />

„ehebrechen“ steht hier (wie bereits oben erwähnt) im Präsens Medium. Jesus<br />

drückte <strong>als</strong>o aus: „Wer immer seine Frau entlässt und eine andere heiratet, entlarvt<br />

sich selbst <strong>als</strong> ehebrecherisch.“ Diese ehebrecherische Haltung kam dadurch<br />

zum Ausdruck, dass die Männer eine bestehenden Ehe aus meist nichtigen<br />

Gründen auflösten und bald eine neue Ehe eingingen, in die sie ihre ehebrecherische<br />

Haltung mitbrachten.<br />

Jesu Aussage gilt (wie die in Matthäus 5,32) natürlich dann nicht, wenn die<br />

Frau tatsächlich ehebrecherisch oder unzüchtig war und ihr Mann sie deshalb<br />

nach jüdischer Sitte entlassen musste. Daher fügte Jesus hier (ähnlich wie in<br />

Matthäus 5,32) ein: „nicht bei Hurerei“. Auch dieser Einschub bezieht sich nur<br />

auf den Ausnahmefall, in dem sein Vorwurf an die jüdischen Männer nicht galt.<br />

Er hat nichts mit der Frage zu tun, wann eine Scheidung erlaubt sei. Diese Frage<br />

beantwortet Jesus prinzipiell nicht, denn für ihn gibt es keine Rechtfertigungsgründe<br />

für eine Scheidung.<br />

Der speziell jüdische Kontext des Streitgespräches mit den Pharisäern erklärt<br />

ohne Probleme die von Matthäus abweichende Wiedergabe dieses Gespräches<br />

212


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

durch Markus. Nach allgemeiner Auffassung schrieb er an Leser ohne jüdischen<br />

Hintergrund. Sie kannten weder die jüdische Scheidungspraxis noch war für sie<br />

das spezielle Anliegen der Pharisäer von Belang. Daher formulierte Markus die<br />

Aussagen für seine Leser etwas um. Die Fragestellung der Pharisäer ist bei ihm<br />

grundsätzlicherer Natur: „Ist es einem Mann erlaubt, (seine) Frau zu entlassen?“<br />

(Markus 10,2 Elb). Die Frage zielt nicht auf einzelne Gründe wie die in Matthäus<br />

19,3. Um die Kernaussage Jesu mehr herauszustellen, bringt er die Sache<br />

mit dem Scheidebrief zuerst (Markus 10,4.5) und schließt sofort den Hinweis<br />

Jesu auf die Schöpfung der Menschen an mit der kategorischen Schlussfolgerung:<br />

„Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“<br />

(V.6-9). Den Vorwurf an die Pharisäer aus Matthäus 19,9 lässt Markus aus und<br />

legt die entsprechende Aussage in doppelter Form in das anschließende private<br />

Gespräch Jesu mit seinen Jüngern (V.10-12). Er formuliert sie wie Matthäus,<br />

aber sowohl in Bezug auf den Mann, der seine Frau entlässt <strong>als</strong> auch auf die<br />

Frau, die ihren Mann entlässt, denn nach griechischem und römischen Recht<br />

hatte auch die Frau die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen. Inhaltlich ist diese<br />

Aussage identisch mit der in Matthäus 19,9: wer seinen Ehepartner entlässt und<br />

einen anderen heiratet, stellt sich selbst <strong>als</strong> ehebrecherisch hin, er offenbart seine<br />

wahre Haltung. Zur Verdeutlichung fügt Markus mit Bezug auf die entlassene<br />

Frau ein, ihr Mann entlarve sich durch die Scheidung „ihr gegenüber“ <strong>als</strong><br />

ehebrecherisch, d. h.: seine ehebrecherische Gesinnung führte zur Scheidung.<br />

4. Jesu Verurteilung der Pharisäer <strong>als</strong> Ehebrecher (Lukas 16,18)<br />

Lukas schrieb ebenfalls an Leser ohne jüdischen Hintergrund (Kap.1,3). Er<br />

ließ daher in seinem Evangelium den ganzen Streit mit den Pharisäern über die<br />

jüdische Scheidungspraxis aus, überlieferte aber in seinem Sondergut in Kapitel<br />

16,18 eine grundsätzliche Aussage Jesu zum Thema.<br />

Der Zusammenhang, in dem diese Aussage steht, ist wiederum die Auseinandersetzung<br />

mit den Pharisäern. Sie warfen Jesus vor, zu engen Kontakt zu den<br />

offensichtlichen Sündern, den Zöllnern und Prostituierten zu unterhalten<br />

(Kap.15,1.2). Als Antwort erzählte er zunächst drei Gleichnisse über Gottes<br />

Liebe zu den Verlorenen (Kap.15). Durch das Gleichnis vom untreuen Verwalter<br />

(Kap.16,1-9) zeigte Jesus, dass die von den Pharisäern Verachteten in ihrem<br />

Umgang mit Geld weiser waren <strong>als</strong> sie. Noch schlimmer stufte er ihre Unehrlichkeit<br />

ein: in Wahrheit seien sie geldgieriger <strong>als</strong> die verachteten Zöllner<br />

(V.10-13). Nach diesen Aussagen spotteten die Pharisäer über Jesus (V.14).<br />

Daraufhin sagte er offen, dass ihre Herzen unrein und sie mit ihrer Haltung Gott<br />

ein Greuel seien (V.15). Als Beispiel führte er dann in V.18 ihre Scheidungs-<br />

213


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

praxis an: „Jeder, der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch;<br />

und jeder, der die von einem Mann Entlassene heiratet, begeht Ehebruch.“<br />

(Elb)<br />

In diesem Fall bereitet die Übersetzung kein Problem, aber die grammatische<br />

Form ist wieder von besonderer Bedeutung. Das Verb „heiratet“ ist ein Partizip<br />

Präsens, das im Griechischen eine andauernde oder sich wiederholende Handlung<br />

bezeichnet. Jesus meinte <strong>als</strong>o hier das ‚Immer-wieder-erneut-Heiraten’ der<br />

jüdischen Männer. Das Verb „ehebrechen“ steht hier im Präsens Aktiv. Jesus<br />

meinte damit die andauernde ehebrecherische Haltung der Pharisäer. Sie verurteilten<br />

andere <strong>als</strong> Sünder, lebten aber selbst in offener Verletzung des 7. Gebotes,<br />

indem sie es durch ihre Scheidungspraxis völlig ausgehöhlt hatten und<br />

Frauen wie ungeliebtes Eigentum hin- und herschoben. Wieder kritisierte Jesus<br />

ihre Herzenseinstellung (V.15), die all ihrem Tun zugrunde lag. Sie waren<br />

durch und durch Ehebrecher. Dies ist der allgemeinste Vorwurf, den Jesus in<br />

diesem Zusammenhang gegen sie erhob. Er hat nichts mit Scheidung und Wiederheirat<br />

an sich zu tun, sondern Jesus sprach über die ehebrecherische Haltung<br />

der Pharisäer.<br />

5. Jesu Aussage über Wiederheirat gegenüber der Samariterin (Johannes 4,18)<br />

Im Gespräch mit der Samariterin an Jakobs Brunnen macht Jesus nebenbei eine<br />

interessante Aussage über das Thema Wiederheirat. Er forderte die Frau auf,<br />

ihren Mann herbeizuholen. Die Frau entgegnete, sie habe keinen Mann (Johannes<br />

4,16.17a). Mit prophetischem Blick (V.19) sagte Jesus dann zu ihr: „Du<br />

hast recht gesagt ‚Ich habe keinen Mann‘, denn fünf Männer hast du gehabt,<br />

und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; hierin hast du wahr geredet.“<br />

(V.17b.18 Elb) In dieser kurzen Aussage finden sich vier bedeutsame Aspekte<br />

bezüglich der Ansichten Jesu über Scheidung und Wiederheirat. 28<br />

Jesus sagte, die Samariterin habe fünf Ehemänner gehabt. Es ist höchst unwahrscheinlich,<br />

dass alle fünf gestorben sind. Jesus bedauerte sie nicht, weil sie<br />

so häufig Witwe geworden ist. Die Tatsache, dass sie jetzt mit einem Mann<br />

ohne Heirat zusammenlebte, zeigt klar, dass diese Frau sich verschiedenen<br />

Männern zugewandt hatte. Sie ist mehrfach geschieden und hat wieder geheiratet,<br />

ausgenommen den letzten Mann. Die Aussage Jesu impliziert, dass er jede<br />

ihrer fünf Ehen <strong>als</strong> gültige Ehe akzeptierte. Wäre Jesus der Ansicht, dass es aus<br />

der Sicht Gottes unmöglich sei, dass eine Ehe aufgelöst wird und sie trotz einer<br />

28 Ward B. Powers hat sie in seinem Artikel „Marriage and Divorce. The New Testament<br />

Teaching“ in Family Life, Australia 1987, pp. 162-163 dargestellt.<br />

214


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

Scheidung weiterbestehe und alle folgenden Verbindungen daher einen fortgesetzten<br />

Zustand des Ehebruchs darstellten, dann hätte er nur auf ihren ersten <strong>als</strong><br />

ihren wahren Mann verweisen dürfen und die folgenden vier Ehen <strong>als</strong> ehebrecherisch<br />

bezeichnen müssen. Jesus sah aber jede der fünf früheren Verbindungen<br />

<strong>als</strong> Ehe an. Dies zeigt eindeutig, dass er akzeptiert, dass Scheidung und<br />

Wiederheirat auftreten können (was nicht bedeutet, dass sie geschehen sollten).<br />

Er sah <strong>als</strong>o nicht jede Wiederheirat nach einer Scheidung <strong>als</strong> Ehebruch an.<br />

Als zweites ist festzuhalten, dass Jesus von den Ehemännern der Frau in der<br />

Vergangenheit sprach. Im Griechischen steht das Verb „hatte“ im<br />

Aorist, der eine abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit bezeichnet. Er<br />

sagte nicht, dass sie immer noch fünf Ehemänner hat, <strong>als</strong> ob diese Ehen weiterbestünden<br />

und die mehrfache Wiederheirat eine polygame Situation geschaffen<br />

hätte.<br />

Weiter offenbart Jesu Aussage, dass er sorgfältig zwischen einer rechtmäßigen<br />

Ehe und einem bloßen Zusammenleben mit einem Partner unterschied. Er<br />

bezeichnete den jetzigen Mann der Frau ausdrücklich nicht <strong>als</strong> ihren Ehemann.<br />

Jesus unterschied klar eine Wiederheirat von einem ehebrecherischen Verhältnis<br />

außerhalb einer Ehe.<br />

Jesu Aussage widerspricht auch der Ansicht, dass eine geschlechtliche Gemeinschaft<br />

von Mann und Frau eine Ehe begründe (diese Ansicht stützt sich<br />

hauptsächlich auf 1.Kor 6,16), denn er nannte ihren derzeitigen Partner nicht<br />

ihren Ehemann.<br />

Aus Jesu Aussage gegenüber der Samariterin erkennen wir <strong>als</strong>o, dass es auch<br />

in seinen Augen gültige Scheidungen und Wiederverheiratungen gibt, ohne dass<br />

diese einen fortgesetzten Ehebruch darstellen. Sie sind unter den Bedingungen,<br />

in denen wir <strong>als</strong> Folge der Entfremdung von Gott und menschlicher Sünde leben,<br />

eine Tatsache, die Jesus hinnimmt, auch wenn er sich viel mehr wünscht,<br />

dass jede Ehe Bestand hätte.<br />

III. Die Aussagen von Paulus über Scheidung und Wiederheirat<br />

1. Der Kontext seiner Aussagen in 1.Korinther 7<br />

Paulus hatte eine Reihe von schriftlichen Anfragen aus der Gemeinde Korinth<br />

bekommen (V.1a), die Fragen der Ehe, der Heirat und des sexuellen Verkehrs<br />

in der Ehe betrafen. Einige Gemeindeglieder schienen sich die Freiheit genommen<br />

zu haben, mit Prostituierten zu verkehren (Kap. 6,12-20), während andere<br />

sich fragten, ob es denn überhaupt noch sinnvoll sei, eine Ehe einzugehen bzw.<br />

es vielleicht besser wäre, auch bestehende Ehen aufzulösen oder zumindest auf<br />

215


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

sexuellen Verkehr zu verzichten (siehe Kap.7,1-9). Seine generelle Antwort<br />

lautete: jeder bleibe in dem Stand, in dem er gerade ist (Kap.7,17.20.24): die<br />

Ledigen und Witwen sollten unverheiratet bleiben (V.1.8.27b.37.38.40), die<br />

Verheirateten sollten verheiratet bleiben (V.10-13.27a) und einander ihre ehelichen<br />

Pflichten erfüllen (V.3-5). Paulus stellte aber keine starren Regeln auf. In<br />

vielen Fällen gab es eine gute Lösung und eine bessere, obwohl beide entgegengesetzt<br />

waren (siehe V.1b.2, 8.9, 37-39). In diesem Zusammenhang machte<br />

Paulus einige Aussagen über Scheidung und Wiederheirat.<br />

2. Die Aussagen von Paulus über Scheidung (1.Korinther 7,10-15)<br />

Paulus berief sich ausdrücklich auf den Herrn, <strong>als</strong> er den Verheirateten gebot,<br />

dass eine Frau sich nicht von ihrem Mann trennen sollte und ein Mann seine<br />

Frau nicht entlassen sollte (V.10.11). Er gab <strong>als</strong>o Jesu Aussagen über Scheidung<br />

in ihrem eigentlichen Sinn wieder: eine Ehe ist grundsätzlich auf Dauer<br />

angelegt, eine Scheidung ist für einen gläubigen Nachfolger Jesu keine wählbare<br />

Option. Paulus nennt keine Ausnahme, was erneut zeigt, dass Jesu Worte in<br />

Matthäus 5,32 und 19,9 „abgesehen von Unzucht“ nicht <strong>als</strong> ein Scheidungsgrund<br />

zu verstehen sind. Auch Ehebruch oder Unzucht sind für sich genommen<br />

keine Rechtfertigung für eine Scheidung, denn Christen sind aufgefordert, ihren<br />

Partnern zu vergeben, wie Paulus häufig betonte (Epheser 4,32; Kolosser 3,12-<br />

14).<br />

Er erwähnte ausdrücklich, dass auch die Tatsache, dass der Ehepartner ungläubig<br />

(geblieben) war, keinen Scheidungsgrund darstellt (1.Kor 7,12f., Paulus<br />

hatte offensichtlich Ehen im Auge, in denen ein Partner sich zu Christus bekehrt<br />

hatte, denn er ermahnte die Gemeindeglieder, „in dem Herrn“ zu heiraten<br />

(V.39b, vgl. 2.Kor 6,14.15). Paulus sah in dem Erhalt der Ehen mit Ungläubigen<br />

nicht nur eine missionarische Gelegenheit, den Partner zu gewinnen (siehe<br />

1.Kor 7,16), sondern wusste auch, dass einem Christen durch das Gebet und<br />

den Heiligen Geist ganz andere Hilfen für die praktischen Probleme in einer<br />

Ehe zur Verfügung stehen <strong>als</strong> Ungläubigen. Damit besteht ein genügendes Potential<br />

für eine gewisse eheliche Einheit, auch wenn der Partner ungläubig<br />

bleibt. Voraussetzung ist allerdings, wie Paulus deutlich machte, dass der ungläubige<br />

Partner in die Fortsetzung der Ehe einwilligt (V.12.13).<br />

Wenn der ungläubige Partner dagegen die Ehe nicht fortsetzen will, kann er<br />

sich scheiden lassen (V.15a). Paulus gesteht ihm ein Scheidungsrecht zu, denn<br />

für ihn gelten nicht dieselben ethischen Maßstäbe wie für einen Christen. Er hat<br />

ja seinen Partner auch unter anderen Voraussetzungen geheiratet, nämlich <strong>als</strong><br />

der noch kein Christ war. Von ihm kann nicht verlangt werden, die Ehe gegen<br />

216


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

seinen Willen fortzusetzen, und ebenso soll das der christliche Partner nicht<br />

verlangen. Paulus betonte, er sei nicht gebunden an einen Partner, der mit ihm<br />

nicht mehr zusammenleben möchte (V.15b). Er soll in die Scheidung einwilligen.<br />

Paulus begründete das damit, dass Gott uns „zum Frieden… berufen“ hat<br />

(V.15c). Hier drückt er ein wichtiges Prinzip aus: Das Ziel der Ehe ist die seelisch-körperliche<br />

Einheit der Partner (Matthäus 19,5.6; Epheser 5,31), aber zumindest<br />

soll Frieden in der Ehe herrschen. Dies legt den Umkehrschluss nahe:<br />

wo eine friedvolle Beziehung in einer Ehe nicht mehr möglich ist, ist eine<br />

Scheidung das kleinere Übel, auch wenn der Partner nicht ungläubig ist.<br />

3. Die Aussagen von Paulus über Wiederheirat in 1. Korinther 7<br />

Paulus gebrauchte in 1.Korinther 7,15 ein besonderes Wort, um auszudrücken,<br />

dass ein Christ an seinen ungläubigen Ehepartner „nicht gebunden“ sei,<br />

wenn dieser sich scheiden lassen wolle. Das griech. Wort (dedoulotai, Perfekt<br />

Passiv von douloo) drückt die Beziehung eines Sklaven zu seinem Herrn aus.<br />

Ein Sklave, der losgekauft wurde, war nicht mehr gebunden, er war frei, die<br />

Abhängigkeitsbeziehung existierte nicht mehr.<br />

Die Frage ist, ob Paulus mit der Zusage der Befreiung vom ehelichen Band<br />

auch die Freiheit erneut zu heiraten einschloss. Bemerkenswert ist, dass er in<br />

V.39 ein anderes Verb gebraucht, wenn er sagt: „Eine Frau ist gebunden, so<br />

lange ihr Mann lebt“. Hier steht dedetai, ein mediales (bedeutungsmäßig passivisches)<br />

Perfekt des Verbes deo, binden. Das ist ein weit weniger schroffer<br />

Ausdruck <strong>als</strong> der harte Ausdruck „sklavisch gebunden“ in V.15. In der Ehe ist<br />

der Partner nicht wie ein Sklave an einen skrupellosen Meister auf Gedeih und<br />

Verderb gebunden, sondern in Liebe miteinander verbunden, aneinander gebunden.<br />

Paulus betont in V.39 das Dauerhafte der Ehe: sie soll bis zum Tode<br />

bestehen bleiben. Danach ist der Ehepartner frei und kann eine andere Person<br />

heiraten. Es sollte nur „in dem Herrn“ geschehen, d. h. ein gläubiger Partner<br />

sein.<br />

Wie aber steht es in dem anderen Fall, dass der Ehepartner noch lebt, er sich<br />

aber scheiden lassen will? Ist der Christ dann frei, wieder zu heiraten? Das ist<br />

der logische Schluss aus dem Ausdruck, den Paulus in V.15 benutzt, denn, so<br />

schreibt Bruno Schwengeler, „sonst wäre er ja mindestens teilweise noch ein<br />

Sklave des alten Verhältnisses. Wirklich aus der Sklaverei befreit wäre er doch<br />

erst, wenn er eine neue, diesmal gesegnetere Verbindung eingehen könnte. Und<br />

genau das sagt doch Paulus: Du bist nicht mehr wie ein Knecht gebunden.<br />

Das ergäbe sich auch aus der Analogie anderer Stellen, in denen Paulus von<br />

Befreiung aus Sklaverei spricht: ‚Gott aber sei Dank, daß ihr douloi, Sklaven,<br />

217


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

der Sünde wart... Freigemacht aber von der Sünde edolothäte, seid ihr zu Sklaven<br />

gemacht worden der Gerechtigkeit‘ (Römer 6,17.18). Er verwendet hier das<br />

gleiche Verb douloo wie in 1.Korinther 7,15. Das gilt auch für die nachfolgenden<br />

Verse [Römer 6,] 20 und 21: aus der Knechtschaft der Sünde entlassen,<br />

wird der Errettete ein Knecht Gottes.“ 29<br />

Dieser Schluss ergibt sich auch aus anderen Aussagen von Paulus in<br />

1.Korinther 7. In sein ausdrückliches Verbot der Scheidung – mit Berufung auf<br />

den Herrn – fügte Paulus mit bezug auf die Frauen ein (möglicherweise, weil<br />

die Christinnen in Korinth das römischen Recht der Scheidung für sich häufiger<br />

in Anspruch nahmen): „wenn sie (die Frau) aber doch geschieden ist, so bleibe<br />

sie unverheiratet oder versöhne sich mit dem Mann“ (V.11b Elb). Die Aussage<br />

ist nicht so eindeutig, wie sie scheint. Paulus benutzt hier nämlich (wie auch am<br />

Ende von V.10, auf das er sich bezieht) das Verb chorizo, was „trennen“ bedeutet,<br />

im Gegensatz zu aphiemi in V.11b.12b.13b, das „(rechtlich) entlassen“<br />

meint. 30 Er scheint hier eine bloße Trennung der Partner zu meinen, nicht die<br />

rechtliche Scheidung (wie in V.13b mit Bezug auf die Frau). Paulus mag daran<br />

gedacht haben, dass bei den Juden eine Versöhnung möglich war, solange der<br />

Scheidebrief noch nicht ausgehändigt war. 31 Aus dieser Aussage kann <strong>als</strong>o<br />

nicht geschlossen werden, dass die geschiedene Frau für immer unverheiratet<br />

bleiben sollte.<br />

Zwei Verse zuvor wies Paulus indirekt auf die Möglichkeit der Wiederheirat<br />

einer geschiedenen Frau hin. Dies wird jedoch in den Übersetzungen nicht deutlich.<br />

Er unterscheidet in dem Kapitel vier verschiedene Personengruppen:<br />

- die „Jungfrauen“ (in V.25.28.34.36.37.38): Personen, die noch nicht geheiratet<br />

haben (in V.26 sind Männer darin eingeschlossen)<br />

- die „Verheirateten“ (in V.10.12-14.27.33.34), die z. Zt. verheiratet sind<br />

- die „Unverheirateten“ (griechisch agamos, wörtlich „ohne Ehe“ in<br />

V.8.11.32.34; in der Lutherbibel unterschiedlich übersetzt)<br />

- die „Witwen“ (in V.8.39), die ihren Ehemann durch deren Tod verloren<br />

haben.<br />

Die Unverheirateten werden eindeutig unterschieden von den Witwen (in V.8)<br />

und von den Jungfrauen (in V.34). Das Wort bezieht sich in V.32 auf Männer<br />

(siehe V.33) und in V.34 auf Frauen. In V.11a rät Paulus einer Frau, die sich<br />

von ihrem Mann getrennt hat, unverheiratet (agamos) zu bleiben oder sich mit<br />

ihm zu versöhnen. Aber in V. 9 sagt er allgemein von den Unverheirateten und<br />

29 Bruno Schwengeler, Zur Sache: Ehescheidung und Wiederheirat, S. 27.<br />

30 Vgl. F. Rienecker, S. 365.<br />

31 Vgl. Strack/Billerbeck, Band 3, Seite 374.<br />

218


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

Witwen: „Wenn sie sich aber nicht enthalten können, so sollen sie heiraten,<br />

denn es ist besser, zu heiraten, <strong>als</strong> (vor Verlangen) zu brennen“ (Elb). Daraus<br />

können wir nur den Schluss ziehen, dass Paulus die Möglichkeit der Wiederheirat<br />

nach einer Scheidung offen ließ.<br />

In 1.Korinther 7,27.28 sprach Paulus noch deutlicher und ausdrücklicher von<br />

der Wiederheirat: „Bist du gebunden an eine Frau, so suche keine Lösung! Bist<br />

du gelöst von einer Frau, so suche nicht die Frau!“ (Pattloch-Übersetzung).<br />

Bruno Schwengeler erklärt dazu:<br />

„Der Ausdruck ‚gebunden‘ lautet griechisch dedesai, das ist ein mediales Perfekt<br />

von deo, binden. Das Perfekt entspricht, zur Verdeutlichung umschrieben,<br />

der Wendung: du bist gebunden worden und bist jetzt gebunden. Es drückt das<br />

Ergebnis eines vergangenen Geschehens aus. Daher nennt man das Perfekt auch<br />

den resultativen Aspekt. Wer nun dergestalt ehelich gebunden ist, soll nicht<br />

suchen, ‚los zu werden‘, griechisch wörtlich: Er soll nicht lysis, Lösung, suchen.<br />

Der gleiche Wortstamm wird dann im nächsten Satz verwendet. ‚Bist du<br />

frei‘ lautet griechisch lelysai, wörtlich ‚bist du gelöst‘. Es ist wiederum ein mediales<br />

Perfekt und drückt die Tatsache aus, dass jemand gelöst worden ist, und<br />

daher jetzt los ist.<br />

Was soll damit gesagt werden? Paulus spricht hier nicht vom Fall, dass jemand<br />

von einer Frau ‚frei‘ ist, weil er ganz einfach noch ledig ist (wie viele<br />

Übersetzungen sagen). Nein, er spricht vom Fall, dass jemand aus einer bestehenden<br />

Verbindung gelöst worden ist. Wer dann heiratet, hat ‚nicht gesündigt‘<br />

[V.28].“ 32<br />

„Zum Gebrauch von lyo, lösen, noch folgendes: 1. Korinther 7,27 ist die einzige<br />

Stelle, in der das Simplex, <strong>als</strong>o das nicht um eine Präposition erweiterte<br />

Verb steht, wenn es um die Auflösung einer Ehe geht. Sonst steht für das Entlassen<br />

eines Partners immer apolyo (so in Matthäus 1,19; 5,31.32; 19,3.7.8.9;<br />

Markus 10,2; Lukas 16,18). Das Bemerkenswerte ist, dass dieses Verb immer<br />

gebraucht wird, wenn ein Partner anders <strong>als</strong> durch Tod geschieden wird. Von<br />

daher haben wir noch mehr Ursache anzunehmen, dass auch in 1. Korinther<br />

7,27 von einem von einer Frau Geschiedenen gesprochen wird, der heiraten<br />

kann, ohne dabei zu sündigen.“ 33<br />

Paulus lässt <strong>als</strong>o die Möglichkeit der Wiederheirat ausdrücklich zu und macht<br />

das nicht von einer bestimmten Ursache der Scheidung der ersten Ehe abhängig.<br />

Im ganzen Kapitel 1.Korinther 7 erwähnt er das Wort „Ehebruch“ nicht<br />

32 Schwengeler, S. 28<br />

33 Schwengeler, S. 29<br />

219


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

einmal.<br />

4. Die „Ausschlusskataloge“ von Paulus (1.Korinther 6,9.10; Galater 5,19-21)<br />

Paulus erwähnt in 1.Korinther 6,9.10 und Galater 5,19-21 Verhaltensweisen,<br />

die Menschen vom Reich Gottes in der Ewigkeit ausschließen. Er erwähnt dabei<br />

Unzüchtige, Ehebrecher und Homosexualität Praktizierende („Knabenschänder“),<br />

aber keine Geschiedenen oder Wiederverheirateten. Paulus verbietet<br />

Unzucht, Hurerei und Ehebruch genau wie Mose (1.Kor 6,18; 3.Mose 18),<br />

aber auch er lässt Raum für eine Wiederheirat. Eine ehebrecherische Einstellung<br />

und Verhaltensweise dagegen kann und muss mit Hilfe des Geistes Gottes<br />

überwunden werden (1.Kor 6,11).<br />

IV. Schlussfolgerungen<br />

In meinen Schlussfolgerungen gehe ich in ihren praktischen Aspekten über<br />

das bisher Erarbeitete hinaus:<br />

1. Das Wesen einer Ehe im Sinne Gottes ist die Einheit von Mann und<br />

Frau (1.Mose 2,24; Matthäus 19,5.6; Markus 10,7.8; Epheser 5,31). Richard D.<br />

Nies definiert Ehe <strong>als</strong> die Hingabe eines Mannes und einer Frau an eine geschlechtliche<br />

Einheit, gegründet auf und für den Zweck einer Liebe, die einzigartig,<br />

exklusiv, total und dauerhaft ist.<br />

2. Ehebruch umfasst im Sinne Jesu (Matthäus 5,28) alle Gedanken, Einstellungen<br />

und Verhaltensweisen, die unsere Sexualität entstellen und die Fähigkeit<br />

zur ehelichen Einheit beeinträchtigen oder zerstören. Es geht dabei um<br />

die innere Einstellung zum Ehepartner, erst in zweiter Linie um Verhaltensweisen.<br />

Ehebruch ist auch das Vorenthalten von Zuneigung und Liebeserweisen,<br />

die angebracht wären (1.Korinther 7,3.4) und der Ausdruck von Zuneigung in<br />

ausnutzender oder egoistischer Weise. 34 Im geistlichen Sinne kommt daher<br />

Ehebruch mehr innerhalb <strong>als</strong> außerhalb einer Ehebeziehung vor: in dem Maße,<br />

wie die innere Einheit eines Partners durch den anderen zerstört oder verhindert<br />

wird, ist derjenige ehebrecherisch.<br />

3. Die Ehe ist prinzipiell auf Lebensdauer angelegt (1.Kor 7,39), eine Ehescheidung<br />

ist im Plan Gottes nicht vorgesehen (Matthäus 19,6; Markus 10,9).<br />

34 Vgl. Ellen G. White, The Adventist Home, p. 123.<br />

Über Ellen G. Whites Umgang mit Fällen von Scheidung und Wiederheirat ist eine Ausarbeitung<br />

von Werner Lange in "Glauben heute", Jahresgabe 2001 für Leserkreismitglieder, Advent-<br />

Verlag, Lüneburg, 2001 in gekürzter Form erschienen. Die ungekürzte Originalfassung ist im<br />

Internet abrufbar:www.advent-verlag.de/doc/sscheidung.htm<br />

220


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

Es gibt keine Rechtfertigungsgründe für eine Scheidung, kein „Recht“ auf eine<br />

Scheidung. Auch Unzucht oder Ehebruch im Sinne des Geschlechtsverkehrs<br />

mit einem anderen Partner sind für sich keine Rechtfertigung für ein Scheidungsbegehren.<br />

Christliche Ehepartner sind aufgefordert, einander zu vergeben,<br />

sich zu versöhnen, ihre Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern und<br />

an der Erhaltung ihrer Ehe mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu<br />

arbeiten (Kolosser 3,12-14 u.a.), auch unter Einbeziehung eines Eheberaters<br />

oder Ehetherapeuten. Ein Christ soll aus sich heraus nie die Option der Scheidung<br />

wählen (1.Korinther 7,10-13), sondern immer alles in seiner Macht Stehende<br />

tun, um die Einheit in seiner Ehe (wieder) herzustellen.<br />

4. Eine Scheidung ist im geistlichen Sinne nichts anderes <strong>als</strong> die Anerkennung<br />

der Un-Einheit (englisch treffend: disunity) der Ehe und ist moralisch nur<br />

gerechtfertigt, wenn die eheliche Einheit nicht (wieder) herzustellen ist. Die<br />

Gründe dafür sind sehr vielfältig und umfassen mehr <strong>als</strong> eheliche Untreue oder<br />

die „Herzenshärte“ einer der Partner. Es wäre jedoch verfehlt, hier irgendwelche<br />

Listen „akzeptabler“ Gründe aufzustellen, weil dies wieder zu einem gesetzlichen<br />

Umgang mit dem zugrunde liegenden Problem führen würde. Die<br />

entscheidende Frage muss immer sein: sind noch irgendwelche Möglichkeiten<br />

unausgeschöpft geblieben, um die eheliche Einheit herzustellen? Es muss auch<br />

unterschieden werden zwischen der geistlichen Scheidung, d.h. dem endgültigen<br />

Bruch der ehelichen Einheit, und den rechtlichen Schritten zur Scheidung,<br />

die dann möglicherweise eingeleitet werden. Die gerichtliche Scheidung ist<br />

dann das Begräbnis einer bereits toten Ehe (Theodor Bovet). In manchen Fällen<br />

mag es mit Rücksicht auf die Kinder oder die wirtschaftliche Situation der Frau<br />

nicht angebracht sein, sich auch rechtlich zu scheiden, obwohl die eheliche Einheit<br />

zerbrochen ist.<br />

5. Eine Scheidung schließt eine erneute Eheschließung beider Partner nicht<br />

aus (5.Mose 24,2; 1.Kor 7,8). Eine zweite Ehe stellt keinen Zustand ständigen<br />

Ehebruchs dar (Johannes 4,18). Voraussetzungen für eine Wiederheirat sind,<br />

dass die eheliche Einheit nicht wiederherzustellen ist und die betreffende Person<br />

ihren Anteil an Schuld für das Scheitern der Ehebeziehung erkannt und<br />

daraus gelernt hat, <strong>als</strong>o ihre ehebrecherische Haltung überwunden hat, mit der<br />

sie auch eine erneute Ehebeziehung belasten und wieder gefährden würde. Es<br />

sollte ferner genügend Zeit nach der Scheidung vergehen, um Gelegenheit zu<br />

einem eventuellen erneuten Versöhnungsversuch zu geben und um die Trauer<br />

über das Scheitern der Ehe und den Verlust des Ehepartners verarbeitet sowie<br />

aus dem eigenen Fehlverhalten gelernt zu haben.<br />

221


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

6. Es ist grundsätzlich müßig, die Frage zu stellen, welcher Partner die<br />

Schuld für eine Ehekrise oder das Scheitern einer Ehe trägt. In der Regel haben<br />

beide Ehepartner Schuld daran (wobei die Schuld evt. vor allem darin liegt,<br />

dass die Ehe überhaupt eingegangen wurde), und stets sind beide Ehepartner<br />

zur Liebe und Vergebung aufgefordert und dazu, ihren Teil der Verantwortung<br />

ernst zu nehmen und alles ihnen Mögliche zur Überwindung der Ehekrise beizutragen.<br />

7. Es ist andererseits auch nicht im Sinne Gottes, ein Ehepaar, bei dem<br />

keine eheliche Einheit besteht und auch nicht herzustellen ist, nur deshalb zur<br />

Aufrechterhaltung ihrer Ehe aufzufordern, weil kein Ehebruch mit einem anderen<br />

Partner vorgefallen ist. Eine weitgehend uneinige Ehebeziehung verdirbt<br />

Gottes Absicht mit der Ehe und entstellt in eklatanter Weise das Bild, das die<br />

Ehe für die Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde darstellen soll<br />

(Epheser 5,25-32).<br />

8. Der Ansatzpunkt der seelsorgerlichen und gemeindlichen Bemühungen<br />

bei Eheproblemen und drohender Scheidung ist die Erwartung, dass die Ehepartner<br />

verantwortlich voreinander, vor den Kindern und vor Gott mit der entstandenen<br />

Situation umgehen, d. h. dass sie alle sich bietenden Möglichkeiten<br />

nutzen, um die eheliche Einheit wiederherzustellen. Dazu gehören die Inanspruchnahme<br />

von Eheberatung und/oder Therapie.<br />

Ob sich die Ehepartner dieser Verantwortung stellen, sollte sorgfältig überprüft<br />

werden. Dabei sollte sich der Blick nicht auf Ursachen oder Schuld richten,<br />

sondern auf die Möglichkeiten zur Erhaltung der Ehe und den verantwortungsbewussten<br />

Umgang mit der entstandenen Situation. Ist das nicht der Fall,<br />

(z. B. indem sich ein Partner einer kompetenten Eheberatung verweigert oder<br />

bereits eine neue Beziehung unterhält und diese nicht abbrechen will, um seiner<br />

Ehe noch eine Chance zu geben), dann sind Maßnahmen im Sinne der korrigierenden<br />

Seelsorge zu erwägen und unter Umständen notwendig.<br />

Literatur:<br />

Bacchiocchi, Samuele. The Marriage Covenant: A Biblical Study on Marriage, Divorce, and<br />

Remarriage. Berrien Springs, Michigan 1999.<br />

Bauer, Walter. Wörterbuch zum Neuen Testament. Berlin 5 1971.<br />

Bruce, F.F. Zeitgeschichte des Neuen Testamentes, Teil I. Wuppertal 1975.<br />

Hendriksen, William. NT Commentary, 10 Volumes. Grand Rapids, Michigan 1973.<br />

222


LANGE: JESUS UND PAULUS<br />

Kittel, Gerhard, Begr., Friedrich, Gerhard, (Hg.). <strong>Theologische</strong>s Wörterbuch zum Neuen Testament,<br />

10 Bände. Stuttgart 1990 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1933-1979).<br />

Nies, Richard D., Ph. D. Schriftliche Unterlagen für die Zuhörer der Vortragsreihe vom<br />

13.12.1978 bis 31.08.1979 an der Loma Linda University Church in Kalifornien (USA). Redlands,<br />

California: „Study Tapes“, o.J.<br />

Powers, Ward B. Marriage and Divorce. The New Testament Teaching. In: Family Life. Australia<br />

1987.<br />

Rienecker, Fritz. Sprachlicher Schlüssel zum griechischen Neuen Testament. Gießen 13 1970.<br />

Schwengeler, Bruno. Zur Sache: Ehescheidung und Wiederheirat. Berneck 1989.<br />

Steyer, Gottfried. Handbuch für das Studium des neutestamentlichen Griechisch, 2 Bände.<br />

Berlin 2 1970.<br />

Strack, H. und Billerbeck, Paul. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 5<br />

Bände. München 1922-28.<br />

The Seventh-day-Adventist Bible Commentary, Revised Edition, 7 Volumes. Washington, D.C.<br />

1976.<br />

White, Ellen G., The Adventist Home. Nashville, Tennessee 1952.<br />

223


Ehescheidung und Wiederheirat<br />

Bibelarbeit zu 1.Korinther 7, 10-16 1<br />

Hartmut Wahl<br />

Die Scheidungszahlen und das dazugehörige Leid sind in unserer Gesellschaft<br />

groß. 2 Auch in unseren freikirchlichen Gemeinden steigt die Zahl der Geschiedenen<br />

ständig an. 3 Wir begegnen in der Mission und Gemeindeseelsorge verlassenen,<br />

verstoßenen und damit oft auch traumatisierten Menschen. Wie gehen<br />

wir mit ihnen um? Selbst Pastoren sind vor Scheidung, Trennung, Ehekrisen<br />

oder Ehebruch nicht geschützt. Es scheint manchmal so, dass Seelsorger gerade<br />

durch ihren Beruf besonders angefochten und gefährdet sind. Und so werden<br />

auch immer wieder und vermehrt Pastorenehen geschieden - nicht nur in den<br />

USA 4 . Die Tragik bei solchen Scheidungen ist, dass viele Kollegen einen mehrfachen<br />

Verlust hinnehmen müssen. Meist verlieren sie neben der Ehefrau und<br />

den Kindern, <strong>als</strong>o ihrer Familie, auch noch ihren Beruf und oft auch die Gemeindezugehörigkeit.<br />

Wie gehen wir damit um?<br />

1 Erstveröffentlichung in „<strong>Theologische</strong>s Gespräch, Freikirchliche Beiträge zur Theologie“,<br />

Beiheft I, Kassel, Oncken Verlag, Juni 2000. Abdruck (ohne Korrekturen) mit freundlicher<br />

Genehmigung des Verfassers und des Oncken Verlags.<br />

2 Die neusten Scheidungszahlen hat der „Stern“ veröffentlicht (Heft Nr. 37; 9.9.99, Seiten 44-<br />

56.): 1998 wurden durchschnittlich 23,5 Ehen pro 10.000 Einwohner geschieden, das waren<br />

192.416 Ehen. 1950 wurden kaum mehr <strong>als</strong> 10% der Ehen geschieden, in den 90er Jahren sind<br />

es 36%.<br />

3 Die Zeitschrift „Die Gemeinde“ meldet vom 3.1.2000: „In den USA ist die Ehescheidung<br />

unter Christen stärker verbreitet <strong>als</strong> unter Nichtchristen. Das fand das amerikanische Barna-<br />

Forschungsinstitut in Ventura im US-Bundesstaat Kalifornien heraus. Wie der baptistische<br />

Nachrichtendienst ABP berichtet, lassen sich etwa 25 Prozent aller US-Bürger einmal im Leben<br />

scheiden. Unter den sogenannten wiedergeborenen Christen beträgt diese Quote 27 Prozent,<br />

gegenüber 24 Prozent in der säkularen Bevölkerung. Bei den konfessionell gebundenen Christen<br />

ist die Scheidung unter den Baptisten am meisten verbreitet: 29 Prozent beendet danach ihre<br />

Ehe vor dem Scheidungsrichter. [...].“<br />

4 „In den USA haben durchschnittlich 25% aller weiblichen und 20% der männlichen Geistlichen<br />

eine Scheidung hinter sich. Das geht aus einer Untersuchung des ‚Hartford Seminary’<br />

hervor. ...Bei dem größten baptistischen Gemeindebund, den ‚Southern Baptists’, liegt die Rate<br />

derzeit bei 17 (Frauen) bzw. 4% (Männer). Weitere Untersuchungen belegen einen alarmierenden<br />

Trend zur Unzufriedenheit in Pastorenehen auch in traditionell evangelikalen Gemeinden.“<br />

(Aufatmen, Nr.2/96, S. 77).<br />

225


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Freikirchliche Christen suchen in seelsorgerlichen Notlagen immer auch Hilfe<br />

in der Bibel. 5 Und ich finde es gut, dass auch wir uns einem Bibeltext stellen<br />

wollen. Ich habe mich sehr spontan für jenen Bibeltext entschieden, der die<br />

früheste uns bekannte Reaktion 6 auf Scheidungsprobleme in einer christlichen<br />

Gemeinde 7 ist, für den sogenannten „Ersten Korintherbrief” 8 . Warum ich gerade<br />

diesen Text gewählt habe, hat zwei Gründe:<br />

- Der erste Grund war die Überlegung, dass vermutlich fast alle Kolleginnen<br />

und Kollegen schon über einen der vier Scheidungstexte in den Evangelien<br />

gearbeitet haben. Und ich wollte nicht offene Türen bei euch einrennen.<br />

- Der zweite Grund war mein Interesse an der Seelsorgearbeit eines Predigers<br />

aus der ersten frühchristlichen Generation. Ich wollte erfahren, wie ein Missionar<br />

dieser Generation bei Scheidungsproblemen seelsorgerlich reagiert.<br />

Vielleicht können wir für unsere Seelsorge Anregungen mitnehmen.<br />

Wir geraten damit fast unbemerkt in die Rolle eines Supervisors, der auf die<br />

Seelsorgearbeit eines Kollegen sieht. Was hat er für Seelsorgefälle? Wie reagiert<br />

er? Im Blick auf den Korintherbrief gefragt: Was für Seelsorgefälle findet<br />

der Apostel in der Gemeinde in Korinth vor? Wie verhält sich unser Bruder und<br />

Kollege Paulus, ein griechisch sprechender römischer Staatsbürger jüdischen<br />

Glaubens, der selbst erst wenige Jahre im christlichen Missionsdienst steht?<br />

Wie schreibt er, ein multikultureller Seelsorger, an verheiratete, scheidungswillige<br />

und geschiedene Paare in einer multikulturellen Gemeinde?<br />

Die seelsorgesuchenden Korinther, an die er schreibt, sind noch ganz junge<br />

Glaubensgeschwister, die gerade einmal vier, fünf Jahre im Glauben stehen. Sie<br />

5 Doch mit dieser Einstellung nehmen die Schwierigkeiten noch weiter zu. Rudolf Schnackenburg,<br />

katholischer Exeget, hat es so ausgedrückt: „Das NT kennt viele Probleme, die uns heute<br />

bedrängen, noch nicht oder noch nicht in der gleichen Weise wie wir. Es ist immer die große<br />

Schwierigkeit einer tiefer dringenden Interpretation, die biblischen Aussagen in den Verstehenshorizont<br />

der heutigen Menschen hinüberzuführen. Noch schwieriger aber ist es, sie in den<br />

Fragehorizont unserer Zeit zu rücken und sie zu Antworten zu bewegen, die ihnen noch fernliegen,<br />

uns aber auf der Seele brennen“ (Schnackenburg, „Die Ehe nach dem Neuen Testament“,<br />

S. 149).<br />

6 Noch bevor Matthäus, Markus, Lukas oder gar Johannes ihre Evangelien schrieben, hat der<br />

Apostel Paulus sich schon schriftlich geäußert (siehe dazu vor allem Eduard Lohse, Die Entstehung<br />

des Neuen Testamens. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1976).<br />

7 „Die ausführlichsten Passagen des Neuen Testaments über Sexualität und Ehe stammen von<br />

Paulus“ (S. Hiltner, Tiefendimension der Theologie, S. 109).<br />

8 Er wird <strong>als</strong> „Erster Korintherbrief“ bezeichnet, obwohl wir aus Kapitel 5, 9 wissen, dass es<br />

schon einen Brief an die Christen in Korinth gab. – Siehe dazu: Eduard Lohse, Die Entstehung<br />

des Neuen Testaments, Seiten 40-41; Werner de Boor, Der erste Brief des Paulus an die Korinther<br />

(Wuppertaler Studienbibel), EHBG Berlin 1967, Seiten 103-104.<br />

226


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

hatten erstaunliche Wandlungen durch ihre Bekehrung vollzogen. Aus Huren,<br />

Dieben, Räubern usw. waren lebendige, eifrige Christen geworden (Siehe<br />

1. Kor 6,9-11). Auch aus heidnischen und jüdischen Ehen sind manche Ehefrauen<br />

oder Ehemänner zum Glauben gekommen und sogar manche jüdische<br />

und heidnische Ehepaare sind christliche Paare geworden. Sie alle sind noch im<br />

ersten Glaubenseifer und wollen Christus radikal, ganz und gar, nachfolgen.<br />

Manche wollen sich in dieser euphorischen Phase von ihrer alten heidnischen<br />

Lebensweise derart rigoros trennen und die Freiheit Christi leben, dass Rat und<br />

Hilfe not tut. Einige zählen auch ihre Ehe oder den heidnischen Ehepartner zum<br />

alten, heidnischen Leben, und wollen sich davon entschieden trennen – wie wir<br />

noch sehen werden. Da ist Seelsorge gefragt. Wie soll Paulus antworten, was<br />

soll er schreiben?<br />

Der erste Korintherbrief ist seine seelsorgerliche Antwort. Seine beiden Korintherbriefe<br />

sind zum großen Teil Seelsorgeschreiben und nicht ein Lehrbrief,<br />

wie es etwa sein Römerbrief ist. Wir können darum nicht eine christliche Ehelehre<br />

und allgemein verbindliche Antworten auf alle Ehe- und Scheidungsfragen<br />

erwarten – schon gar nicht auf unsere heutigen Ehenöte. Auch wenn es Bibelübersetzungen<br />

gibt, die das 7. Kapitel überschreiben mit: ”Die Standesordnung<br />

in der Gemeinde” oder ”Die christliche Ehe”. In Kapitel 7 nehmen wir<br />

Anteil an der Seelsorge des Paulus gegenüber verheirateten, verlobten, verwitweten<br />

und ledigen Gemeindemitgliedern. Hier wir können einem Seelsorger<br />

über die Schulter sehen und begreifen, wie er bei den damaligen Eheproblemen<br />

Seelsorge übt. Und vielleicht können wir uns besonders aus seiner gelungenen<br />

Seelsorge etwas absehen. 9<br />

Ab Kapitel 7 antwortet Paulus der Gemeinde auf schriftlich gestellte Fragen -<br />

darunter befinden sich auch Fragen zur Scheidung. Darum beginnt das Kapitel<br />

mit der Bemerkung: „worüber ihr geschrieben habt“ (7,1). Kapitel 7 ist die<br />

Antwort des Paulus auf Fragen, die wir aber leider nicht kennen. 10 Wir lesen<br />

<strong>als</strong>o Äußerungen, die „gleichsam Schnappschuss aus einem lebendigen dialogischen<br />

Prozess” 11 sind. Das macht das Verstehen nicht leicht. Hören wir trotzdem<br />

seine erste Antwort:<br />

9 Ähnlich dem Buch von Hans van der Geest, Unter vier Augen. Beispiele gelungener Seelsorge.<br />

<strong>Theologische</strong>r Verlag Zürich1981.<br />

10 Walter Rebell hat treffend bemerkt: „Das ganze Corpus Paulinum ist ja nichts anderes <strong>als</strong> ein<br />

Gespräch mit den Gemeinden. Freilich fehlen uns die Äußerungen der anderen Seite, weshalb<br />

ein Exeget [E. Fascher] zu Recht Briefe ‚halbierte Gespräche‘ genannt hat [...]” (Rebell, Gehorsam<br />

und Unabhängigkeit, S. 105).<br />

11 Baumert, Ehe, S. 19.<br />

227


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

10 Den Verheirateten aber weise ich an<br />

- nicht ich, sondern der Herr -,<br />

dass eine Frau sich vom Mann nicht scheide;<br />

11 wenn sie sich aber tatsächlich von ihm geschieden hat,<br />

soll sie unverheiratet bleiben<br />

oder sich mit dem Mann wieder verbinden.<br />

Und ein Mann soll seine Frau nicht fortschicken.<br />

Das erste was mir an seiner Antwort auffällt, ist der plötzliche Wechsel in<br />

seinem Ton. Paulus wechselt von einem bisher verständnisvollen, Mut zusprechenden<br />

Tonfall (der Verse 1 bis 9) zu einer recht brüsken, gebieterischen Ausdrucksweise.<br />

Er schreibt: „den Verheirateten gebiete ich” – so in der Lutherübersetzung.<br />

Paragge,llein 12 ist ein sehr deutliches Bekannt machen, Proklamieren,<br />

Bewusst machen. Er steigert die Deutlichkeit seines Hinweises noch,<br />

indem er sehr dezidiert anfügt: „nicht ich, sondern der Herr” (o` ku,rioj 13 ). Dieser<br />

Wechsel im Tonfall 14 und im Stil zeigt, dass er mit größerem Widerstand<br />

bei seinen verheirateten Lesern rechnet. Hier scheint von Seiten des Seelsorgers<br />

Konfrontation angezeigt. Warum beruft er sich auch noch auf die Autorität des<br />

Herrn? Ist er sich selber nicht ganz sicher? Oder war so viel Streit in Korinth?<br />

Oder ging die libertinistische Tendenz aus den Kapiteln 5 und 6 so weit, dass<br />

sich einige aus ihrer Ehe befreien wollten, weil sie ihnen schon lange lästig<br />

war?<br />

Norbert Baumert, katholischer Professor in Frankfurt am Main, hat u.a. ein<br />

ganzes Buch über 1.Korinther 7 geschrieben. Es trägt den Titel: „Ehe und Ehelosigkeit<br />

im Herrn” 15 Baumert macht in der Nachfolge von Adolf Schlatter<br />

deutlich, dass hier Paare im Blick sind, die zur Ehelosigkeit aus Glaubens- und<br />

Diensteifer streben. 16 Die starke demonstrative Reaktion des Paulus ist „nicht<br />

eine Antwort für Eheleute, die unter der Last des gemeinsamen Lebens zusam-<br />

12 Mit dem Verb paragge,llein (=anweisen, gebieten) im Vergleich zu anderen von Paulus sonst<br />

gebrauchten Verben (Siehe dazu: Baltenweiler, Ehe, S. 188) und dem Hinweis auf ein Herrenwort<br />

erreicht Paulus „eine höchste Autoritätsstufe“ (Baltensweiler, Ehe, S. 189).<br />

13 Siehe dazu: J. Gnilka, Jesus Christus nach frühen Zeugnissen des Glaubens, Seiten 97-103.<br />

14 Rienecker (Schlüssel, S. 365) nennt den Tonfall „amtlich, autoritativ“; Trilling (Zum Thema,<br />

Seiten 74f) bezeichnet es „<strong>als</strong> für die Gemeinde gültige, ‚kirchenordnende‘ Weisung“ und in<br />

dem Buch von Klaus Ebert (Alltagswelt und Ethik) wird der Text <strong>als</strong> „Die konkreten Halachot<br />

über die Ehe und Scheidung“ bezeichnet.<br />

15 Norbert Baumert, Ehe und Ehelosigkeit im Herrn. Eine Neuinterpretation von 1 Kor 7. Echter<br />

Verlag, Würzburg 1986 (2. Aufl.).<br />

16 Siehe Baumert, Frau und Mann, S. 52; Baumert, Ehe, S. 64.<br />

228


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

menbrachen” 17 – was uns gegenwärtig aber sehr interessieren würde. Paulus<br />

reagiert auf christliche Paare, die wenige Jahre an Christus glauben 18 und nun<br />

im Feuereifer 19 der Neubekehrten allein nur noch ihrem Herrn Christus dienen<br />

wollen. Sie konnten ihren Dienst- und Glaubenseifer, der sie dazu bringt den<br />

Partner zu verlassen, ganz gut christlich begründen – etwa mit dem Jesuswort:<br />

„Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder,<br />

[...], der kann nicht mein Jünger sein.” (Lk 14,26) Oder: „Ein jeder, der<br />

Haus oder Frau [...] oder Kinder [...] verlässt um des Reiches Gottes willen,<br />

wird [...] in der künftigen Welt das ewige Leben empfangen.” (Lk 18,29f) Darum<br />

verweist Paulus energisch auf ein ganz anderes Herrenwort, das Scheidungsverbot<br />

Jesu. Mit besonders diensteifrigen Paaren geht er besonders deutlich<br />

um. Ihnen gegenüber weist er demonstrativ auf ein Jesuswort, das für den<br />

Erhalt der Ehe spricht. Der gemeinsame Glaube an Christus kann doch nicht<br />

Ehen zerstören, auch wenn Christen ihren HERRN mehr lieben <strong>als</strong> den Ehepartner.<br />

20 Euer christlicher Eifer widerspricht einer Weisung des Herrn, das<br />

wisst ihr doch! Paulus stellt <strong>als</strong>o klar: keine schnelle, leichtfertige und fromme<br />

Scheidung – schon gar nicht im Namen Christi! Er selbst hatte mit eigenen Augen<br />

ein diensteifriges Paar erlebt, Priska und Aquila, und gesehen, wie Christen<br />

sehr wohl gemeinsam und nicht getrennt Christus und der Gemeinde dienen<br />

können. 21<br />

Paulus schreibt: Christus gebietet den Frauen, sich nicht zu trennen, [...] und<br />

den Männern, nicht ihre Frau wegzuschicken. 22 Damit aber zitiert er Jesus nicht<br />

wortwörtlich, sondern interpretiert das Scheidungsverbot Jesu sehr frei in die<br />

17 Baumert, Ehe, S. 64.<br />

18 „Die korinthische Gemeinde war in den Jahren 50/51 entstanden, <strong>als</strong> Paulus sich während der<br />

zweiten Missionsreise anderthalb Jahre dort aufhielt. Den ersten Brief an ‚die Korinther‘<br />

schrieb er von Ephesus aus, wahrscheinlich im Frühjahr 55.“ (Bauer, Anfänge, Seiten 130-131).<br />

19 In der Liebe brennen jene Paare am schnellsten aus, die am stärksten verliebt und begeistert<br />

sind und zu große Erwartungen an die Ehe haben (siehe dazu Ayala M. Pines, Auf Dauer. Überlebens-Strategien<br />

der Liebe. Kabel Verlag, Hamburg 1988).<br />

20 Ehe ist eine gelungene Beziehung, wenn sie beiden Partnern dient und in der beide einen<br />

Gewinn haben. (Siehe Jürg Willi, Ko-evolution). Durch die Glaubensbeziehung zu Christus<br />

aber geht es den Paaren so wie Partnern in einer Dreiecksbeziehung (Siehe Flitner / Valtin,<br />

Dritte im Bund: die Geliebte). Ihr größerer Gewinn ist bei Christus. In ihn sind sie total verliebt.<br />

Also folgt die Kündigung der alten, nun deutlich weniger gewinnbringenden Beziehung.<br />

21 Siehe Ap 18,2; Ap 18,18; Ap 18,26; Rö 16,3; 1. Kor 16,19; 2. Tim 4,19.<br />

22 Die unterschiedlichen Verben für das Tun des Mannes (cwri,zw<br />

= fortschicken) und der Frau<br />

(avfi,hmi<br />

= sich trennen) weisen nur auf die Rechtspraxis hin, beschreiben aber beide das gleiche<br />

Verfahren: Scheidung. – So auch Schrage, 1.Kor., S. 99; Wolff, 1.Kor., S. 141; Baltenweiler,<br />

Ehe, S. 190; Fascher, Korinther I, S. 185.<br />

229


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Situation der christlichen Paare von Korinth und der gesamten hellenistischen<br />

Welt, in der die Frau ebenfalls ein Scheidungsrecht hatte und faktisch emanzipiert<br />

war. 23 Da zuerst und besonders die Situation der christlichen Ehefrauen<br />

von Paulus hier angesprochen wird, kann man schlussfolgern, dass sie besonders<br />

in ihrer Christusliebe und ihrem Diensteifer auffielen. Kapitel 11 bestätigt<br />

das. Für die Frauen war es eine Befreiung, Christus zu lieben und zu dienen. Sie<br />

fühlten sich von Christus angenommen und suchten, wie noch nie, die Freiheit.<br />

Paulus möchte einerseits sehr deutlich machen, dass es eine „Weisung von<br />

höchster Autorität” 24 gibt, die maßgebend für Christinnen und auch Christen ist.<br />

Dass sich Paulus hier zuerst einmal sehr klar für die Ehe einsetzt, heißt noch<br />

lange nicht, dass er eine rigoristisch gesetzliche Eheauffassung vertritt. Denn<br />

andererseits lässt er – wie wir gleich sehen werden - der Liebe Gottes und der<br />

Seelsorge genug Raum. Das Scheidungsverbot Jesu ist für den Apostel kein<br />

unantastbares Gesetz im strikten Sinne, kein absolut geltendes göttliches Recht,<br />

das keine Ausnahme zulässt. Schon die „Einräumung” 25 in Vers 11a: „wenn sie<br />

sich aber tatsächlich scheidet”, macht ein gesetzliches Verständnis seiner Worte<br />

unmöglich. Es ist erstaunlich, dass Paulus einige Konzessionen in diesem<br />

Kapitel hat – nicht nur hier 26 . Sie zeigen seine seelsorgerliche Vor- und Rücksicht<br />

an.<br />

Paulus bedenkt mit diesem Einschub einen besonderen Seelsorgefall. Die<br />

Briefpartner des Paulus kannten eventuell einen solchen Hergang. Er konnte bei<br />

ihnen vieles voraussetzen. Wir wissen nicht, ob es schon eine Scheidung einer<br />

Schwester in Korinth gab 27 , oder ob Paulus bloß an eine solche Möglichkeit<br />

denkt. 28 Wir hören leider nur den Apostel. Mit dem Einschub macht er uns<br />

23 Haag/Elliger, Stört nicht, S. 221; Lührmann, Eheverständnis, S. 75. – „Scheidungspraxis und<br />

Scheidungsrecht werden [von Paulus] nicht geschlechtsspezifisch auseinandergehalten“<br />

( Schrage, 1.Kor., S. 99). Er „setzt voraus, dass sowohl Mann <strong>als</strong> auch Frau die Möglichkeit hat,<br />

sich vom Ehepartner zu trennen. Er vertritt [auch] die Rechtsgleichheit von Mann und Frau<br />

hinsichtlich des Scheidungsverfahrens.“ (Niederwimmer, Askese und Mysterium, S. 99).<br />

24 Trilling, Zum Thema, S. 81.<br />

25 Baumert, Ehe, S. 65.- Trilling (Zum Thema, S. 75) bezeichnet es <strong>als</strong> „Einschub“, <strong>als</strong> eine<br />

„Paranthese“.<br />

26 Verse 9; 11; 15; 28; 36 und 39: eiv de. (= wenn aber) und eva.n de. (= wenn aber) . Vergleiche<br />

auch Vers 21: avllV eiv (= aber wenn). – Siehe Schrage, 1.Kor., S. 51.<br />

27 Vor allem die Frauen scheinen in der neuen Christusbeziehung einen großen Gewinn für ihr<br />

Leben entdeckt zu haben. Sie dienen nun in der neuen, stärkeren Liebe ihrem HERRN, mehr <strong>als</strong><br />

sie ihrem Ehemann, dem Haus-Herrn, gedient haben. Zwei Herren kann man doch nicht dienen<br />

(Mt 6,24). Also haben sie die alte Beziehung gekündigt, sich vom Ehemann getrennt. Sie taten<br />

<strong>als</strong>o etwas sehr Christliches. – Auch heute reichen mehr Frauen <strong>als</strong> Männer die Scheidung ein.<br />

28 Beide Möglichkeiten sind grammatikalisch möglich – Siehe dazu: Baltensweiler, Ehe, S. 190.<br />

230


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

deutlich, wie er dieses „Gebot“ des Herrn bei aller seiner Schärfe verstehen<br />

will: Diese Weisung des Herrn ist für ihn nicht Gesetz. Der Herr will das Zusammenleben<br />

von Eheleuten „nicht unter allen Umständen erzwingen“ 29 . Paulus<br />

rechnet durchaus mit Gründen, die eine Trennung rechtfertigen können,<br />

denn er schreibt: „wenn sie sich aber geschieden hat, soll sie ehelos 30 , d.h. ledig,<br />

bleiben“. Der Apostel lässt – wie Jesus auch – die Möglichkeit der Scheidung.<br />

Er verbietet sie nicht total. Bei Jesus ist sie Notordnung 31 wegen der<br />

Hartherzigkeit. 32 Bei Paulus bleibt sie eine Möglichkeit zur Ehelosigkeit nach<br />

der Bekehrung. Paulus kann sich vorstellen, dass es nach der Bekehrung auch<br />

die Möglichkeit einer Trennung gibt und beide christliche Partner einem Ruf in<br />

die Ehelosigkeit folgen. Aber es muß eben eine göttliche Berufung und nicht nur<br />

ein menschlich übertriebener Diensteifer sein. Paulus kennt ebenso wie Jesus<br />

die Berufung in die Ehelosigkeit 33 und wünscht sich ausdrücklich in diesem<br />

Kapitel bei anderen Fällen, dass sie ihre Ehelosigkeit für den Christusdienst<br />

nutzen. Hier nun hält er bei einer ehemaligen heidnischen Ehefrau durch ihren<br />

Glauben an Christus den Ruf in die Ehelosigkeit für denkbar.<br />

Paulus denkt und argumentiert <strong>als</strong>o sehr differenziert. Es ist die Umsicht eines<br />

erfahrenen Seelsorgers zu spüren, der nicht mit Macht und Gewalt, aber mit<br />

allem seelsorgerlichen Ernst jungen, diensteifrigen christlichen Ehepaaren helfen<br />

will. Das gefällt mir an ihm und ich verspüre seine Liebe und Achtung gegenüber<br />

einer jungen Glaubensschwester, die sich formal gegen das Gebot Jesu<br />

stellt, wenn sie sich von ihrem Mann trennt. Damit sich diese christliche Ehefrau<br />

aus seinem Beispiel der Berufung zum Alleinsein wirklich sicher sein<br />

kann, konfrontiert er sie – und damit auch alle anderen frommen Eheleute, die<br />

aus christlichem Diensteifer nicht mehr zusammenleben wollen - mit dem Gebot<br />

des Herrn. Ist es ihr Wunsch oder ist es Gottes Berufung, die nach der Bekehrung<br />

erst deutlich werden konnte? Wenn es Gottes Berufung ist, dann soll<br />

sie auch allein bleiben. Dann ist der Ruf Christi in die Ehelosigkeit eindeutig zu<br />

sehen und gewiss auch vom christlichen Partner mit zu tragen. Oder die Frau<br />

sollte wieder mit ihrem Mann zusammenziehen. Das „Versöhnen“ „muss nicht<br />

29 Baumert, Ehe, S. 66.<br />

30 Der Begriff a;gamoj meint ehelos, unverheiratet sein. Auch dazu nimmt Paulus seelsorgerlich<br />

Stellung: 1.Kor 7, 8.11.32.34.<br />

31 Dieser Begriff stammt von Helmut Thielicke (siehe Volker Tepp, Ehescheidung im Freikirchentum,<br />

Seiten 120-122).<br />

32 Siehe dazu Siegfried Großmann, Lebendige Ehe, Seiten 151-159.<br />

33 Siehe Mt 19,1-12. Paulus kommt auf andere Fälle der Ehelosigkeit etwas später ausführlich<br />

zu sprechen: 7,17-40.<br />

231


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

besagen, dass die beiden im Streit auseinandergegangen sind“ 34 . Das griechische<br />

Wort katalla,ssw bezeichnet die Wiederaufnahme einer unterbrochenen<br />

Beziehung und ist besonders für die Wiederherstellung einer (geschiedenen!)<br />

Ehe gebräuchlich“ 35 . Wir gebrauchen heute dafür das Wort „verbinden“. Beide<br />

Begriffe machen deutlich, dass eine Scheidung „Wunden“ schlägt, die man<br />

„verbinden“ muss. Eine Rückkehr zum Partner ist bei einem religiös motivierten<br />

Trennungsschritt leichter <strong>als</strong> bei einem tiefen Zerwürfnis oder gar bei Gewalterfahrungen.<br />

Mit dem Rat des Paulus, sich zu versöhnen, lädt er solchen<br />

Paaren keine unerträgliche Last auf.<br />

Wie aber würde er wohl raten, wenn Gewalt, starke Verletzungen und tiefe<br />

Kränkungen eine Beziehung zerrüttet haben? Das hätten wir gerne gewusst, da<br />

es in unserer Seelsorge heute vorkommt. Ist das für den Apostel gar nicht denkbar?<br />

Meint er, das käme unter Christen nicht vor? – Und wie ist es dann, wenn<br />

der eine Partner gar nicht mehr frei ist, wenn er bald nach der Scheidung wieder<br />

geheiratet hat; auch dadurch, dass er schon längere Zeit vor der Scheidung eine<br />

neue Beziehung eingegangen war? Gibt es das unter Christen nicht? In Korinth<br />

scheint es jedenfalls nicht solche Seelsorgefälle zu geben. Darum sollten wir<br />

heutigen Ehepaaren, die sich auf Grund einer tiefen Kontroverse getrennt haben,<br />

diese Stelle nicht <strong>als</strong> einzige, absolute Möglichkeit vorhalten – etwa nach<br />

dem Motto: „Es gibt nur eins, ihr müsst euch wieder versöhnen oder für immer<br />

alleine bleiben!“ 36 Wir könnten aber Gemeindemitarbeitern und Kollegen, die<br />

in ihrem Diensteifer übertreiben, die so leben, <strong>als</strong> seien sie nicht verheiratet und<br />

dabei eine Scheidung geradezu provozieren, mit dem Jesuswort konfrontieren.<br />

Jedenfalls schärft Paulus erst einmal unsere prophylaktische Brille mit diesem<br />

Rat. Ehedienst hat in der Regel den Vorrang vor dem Gemeindedienst, weil er<br />

Christusdienst christlicher Partner ist! Gefährdet Gemeindedienst eine Ehe,<br />

dann sollte über gute Einschränkungen und Rücktritte im Namen Christi nachgedacht<br />

werden!<br />

In seinem Beispiel rechnet Paulus damit, dass der Partner ebenfalls allein<br />

geblieben ist, so dass es die Möglichkeit der „Versöhnung“ wieder gibt. Was er<br />

bei diesen Christen, die beide diensteifrig sind und darum das Wort Christi<br />

ernstnehmen, auch voraussetzen konnte. Es ging ihnen bei der Scheidung ja<br />

nicht um einen anderen, besseren und christlicheren Ehepartner, sondern um<br />

34 Baumert, Frau und Mann, S. 55.<br />

35 Baumert, Frau und Mann, S. 55.<br />

36 So Michael Zimmermann: „Wer sich aber scheiden lassen will, muss auch durch die Gemeinde<br />

erfahren, dass er dann nach dem Willen Gottes allein bleiben soll, damit eine Versöhnung<br />

der Ehe möglich ist“ (Wort und Tat, Nr. 54, S. 9).<br />

232


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

Christus selbst. So gibt es die Möglichkeit der Versöhnung, der Rückkehr in die<br />

Ehe.<br />

Paulus stellt sich <strong>als</strong>o mit diesem Beispiel nicht über das Herrenwort. Aber er<br />

interpretiert es in großer innerer Freiheit, schon indem er das Jesuswort nicht<br />

wortwörtlich zitiert 37 . Er versucht mit dem Herrenwort und zugleich trotz des<br />

Gebotes zu helfen. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass Christus „kein Tyrann<br />

ist, sondern [...] seine Gebote mit Verständnis anwendet“ 38 . Um diese Liebe<br />

Christi müht er sich und hält dabei das Gebot Christi hoch, ohne es zum Gesetz<br />

zu machen. Es ist <strong>als</strong>o augenfällig, dass es Paulus hier (in den Versen 10 und<br />

11) nicht um eine allgemeine Belehrung über die Unauflöslichkeit aller Ehen<br />

geht. Dann würde seine Schärfe im Ton auch mehr <strong>als</strong> eigenartig wirken. Paulus<br />

schreibt <strong>als</strong> Seelsorger, der übereifrige Christen mit dem Scheidungsverbot<br />

Jesu konfrontiert. Mit „Menschen, die unter der Last einer Ehe zusammenbrechen,<br />

hätte er, der ‚weint mit den Weinenden‘ 39 , [sicher auch ganz] anders gesprochen.“<br />

40 Paulus wehrt hier in Kapitel 7 jedes schnelle, ungeprüfte und<br />

leichtfertige Aufgeben und Trennen aus einem f<strong>als</strong>chen, unausgegorenem<br />

Glaubens- und Diensteifer ab. Sein deutlicher Ton und sein deutlicher Hinweis<br />

auf das Jesuswort soll einem ehezerstörenden, religiös begründeten Rigorismus<br />

den Boden entziehen. Er weiß: religiöser Eifer zerstört binnen kurzem alle lebendigen,<br />

gottgewollten Beziehungen, weil er nichts anderes <strong>als</strong> fromm übertünchter<br />

Egoismus ist. Davor versucht Paulus jede, aber auch wirklich jede,<br />

christliche Beziehung zu schützen – hier die eheliche, später die gemeindliche,<br />

wenn er argumentiert: „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich<br />

nicht; oder der Kopf zu den Füßen: Ich brauche euch nicht.“ (1.Kor 12,21).<br />

Darum vergisst er auch hier nicht beide Ehepartner anzusprechen. Er schreibt<br />

– nach seinem Einschub von Vers 11b: „und dass ein Mann (seine) Frau nicht<br />

fortschicken soll“ (Vers 11c). Auch für den christlichen Ehemann gilt das Jesuswort<br />

genauso wie für die christliche Ehefrau. Wer den Zusammenhalt von<br />

Mann und Frau nicht leichtfertig auf Spiel setzen will, muss sich <strong>als</strong> Seelsorger<br />

beider Partner verstehen. Im Vergleich zu Kap.11 Verse 2-16 41 , in der er deutlich<br />

von einer Über- und Unterordnung in der ehelichen Beziehung ausgeht,<br />

37 Siehe dazu Schrage, 1.Kor., S. 99. – „[...] der Beginn mit der 1.Pers. Sing. paragge,llw<br />

ge,llw zeigt,<br />

dass das Herrenwort keineswegs seine ganze Argumentation beherrscht.“ (ebd., S. 99)<br />

38 Baumert, Ehe, S. 67.<br />

39 Rö 12,15: „Freut euch mit den sich Freuenden, weint mit den Weinenden.“<br />

40 Baumert, Frau und Mann, S. 53.<br />

41 Die sogen. Schleierperikope.<br />

233


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

achtet er hier bis in die Sprache auf eine „Gleich-Bindung der Partner“ 42 . Und<br />

immer wieder wird er in Kap. 7 ganz synchron zu Mann und Frau reden 43 . In<br />

der Fachsprache der heutigen Paartherapeuten ausgedrückt heißt das 44 : Paulus<br />

stört die partnerschaftliche Symmetrie 45 und den partnerschaftlichen Prozess<br />

der Synchronisation 46 und Ko-evolution 47 eines Paares nicht. Im Gegenteil, er<br />

versucht nicht nur den Partnerschafts-Prozess in Gang zu halten, sondern ihn<br />

auch wieder in Gang zu bringen. Paulus hält eine Allparteilichkeit 48 zugunsten<br />

der Partnerschaft, die Balance zwischen Mann und Frau, ein. Er vermeidet eine<br />

starre Koalition mit einem Partner 49 und gestaltet die Dreierbeziehung, Seelsorger<br />

und Paar, gleichgewichtig 50 .<br />

Sehen wir heute bei einem Scheidungsverlangen in Pastorenehen die Seite des<br />

42 Kiefer, Ehekatechese, S. 104.<br />

43 Paulus beachtet in vielfacher Weise die Symmetrie der Beziehungen: Mann und Frau, christliche<br />

und gemischte Ehen, verheiratete und verlobte Paare. So behandelt er Mann und Frau fast<br />

ausschließlich paritätisch: Verse 2-5; 10f; 12-14; 28; 33f (Ausnahmen: Verse 29; 37f; 39f).<br />

44 Ohne dass ich damit Paulus <strong>als</strong> Paartherapeuten verstehen will, so wie Hanna Wolff Jesus<br />

Christus <strong>als</strong> Psychotherapeuten (Jesus <strong>als</strong> Psychotherapeut. Jesu Menschenbehandlung <strong>als</strong><br />

Modell moderner Psychotherapie. Radius-Verlag, Stuttgart 1978).<br />

45 In der Fachsprache nennt man das eheliche Zusammenspiel: „Quid pro quo“ = etwas für<br />

etwas (Don D. Jackson, „Familienregeln: Das eheliche Quid pro quo“ – In: Watzlawick, Paul /<br />

Weakland, John H. (Hrsg.), Interaktion, Verlag Hans Huber, Bern 1980; Seiten 47-60. – Siehe<br />

zum Problemfeld der „Reziprozität“ (= Gegen-, Wechselseitigkeit; Wechselbeziehung) auch<br />

Helm Stierlin, Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.<br />

1971 (besonders Seiten: 66-87: „Eine Phänomenologie der Gegenseitigkeit“).<br />

46 „Wir sprechen in der Paar-Psychologie auch vom Prozess der partnerschaftlichen Synchronisation.<br />

Dieses Gleichlaufen in der Zeit beinhaltet aktive und passive Momente; das Ziel ist die<br />

emotionale und seelische Abstimmung auf den anderen, aber auch seine Neuschaffung in der<br />

eigenen Beziehung.“ (Hantel-Quitmann, Beziehungsweise Familie, Band 1, S. 27)<br />

47 Siehe dazu Jürg Willi, Ko-evolution. Die Kunst gemeinsamen Wachsens. Rowohlt Verlag,<br />

Reinbek bei Hamburg 1987 (2. Aufl.); Jürg Willi, Was Paare zusammenhält, Seiten 216-266.<br />

48 „Allparteilichkeit ist ein zentraler Begriff für Gespräche mit Familien. Damit ist nicht gemeint,<br />

dass der/die Therapeut/-in in der oft von Schuldzuweisungen geprägten Atmosphäre<br />

anklagender Familien sich hinreißen lassen sollte, allen recht zu geben; vielmehr geht es darum,<br />

eine so differenzierte Diagnostik zu entwickeln, dass sich alle Familienmitglieder mit ihrer<br />

Sicht und ihrem Leben in der Familie vom Berater gesehen und verstanden fühlen.“ (Hantel-<br />

Quitmann, Beziehungsweise Familie, Band 1, S. 228).<br />

49 Siehe Haley, Direktive Familientherapie, S. 168: „Obschon der Therapeut sich zeitweise mit<br />

der Frau und zeitweise mit dem Mann verbünden wird, besteht die Kunst der Therapie darin,<br />

eine starre Koalition zu vermeiden.“<br />

50 Siehe dazu Jürg Willi, Die Zweierbeziehung, Seiten 24-30; Jürg Willi, Therapie der Zweierbeziehung,<br />

Seiten 31-39 (bes. Seiten 38f); Jürg Willi, Was Paare zusammenhält, Seiten 243-<br />

244.<br />

234


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

Kollegen und zugleich auch die seiner Ehefrau? Oder lassen wir uns allzu<br />

schnell auf eine Seite ziehen? Wenn wir hilfreich und seelsorgerlich handeln<br />

wollen, müssen wir beide Seiten im Blick behalten – so wie es uns Paulus vormacht.<br />

Und sehen wir auch die Seite der Gemeinde? Sie ist ja mitbetroffen ganz<br />

im Sinne des Gemeindemodells von Paulus: „Wenn ein Glied leidet, so leiden<br />

alle mit“ (1.Kor 12,26). Da Pastoren im Zentrum des Gemeindelebens stehen,<br />

wirken sie besonders auf das Leben und die Befindlichkeit einer Gemeinde ein.<br />

Wenn nun ein Pastor in einer schweren Ehekrise ist, wird er seine Schwestern<br />

und Brüder in diese Krise mit hineinziehen. Dabei wird deutlich, dass Pastorenehen<br />

keinerlei Schutzraum in Krisenzeiten haben. Es sei denn, der Pastor tritt<br />

aus dem Zentrum des Gemeindelebens heraus, sucht sich einen Schutzraum und<br />

Hilfe. Dann kann er vielleicht seine Krise mit weniger Nebenwirkungen auf<br />

andere Glieder seiner Familie und Gemeinde verarbeiten.<br />

Aber wir können schon hier begreifen: Paulus ist kein Vertreter und absoluter<br />

Verfechter von „Scheidung ist Sünde!“ 51 , so dass es Geschiedene in einer<br />

christlichen Gemeinde nicht geben darf oder sie Christus nicht mehr dienen<br />

dürfen. Das kann man auch deutlich im Vergleich zu Kap 5, 1-13 wahrnehmen.<br />

Dort hält er „einen unglaublichen Fall von Unzucht“ 52 (pornei,a pornei,a) in einer christlichen<br />

Ehe für entfernungswürdig aus der Gemeinde. Und er drängt an jener<br />

Stelle seine Geschwister, die sich schwerer <strong>als</strong> er tun, zum Gemeindeausschluss.<br />

Hier in Kap. 7 aber hören wir keine solchen Töne von ihm!<br />

Kommen wir nun zu den nächsten Versen. Allein der Umfang seiner nächsten<br />

Antwort signalisiert schon eine schwierigere Seelsorgekonstellation. Hören wir,<br />

was er schreibt:<br />

12 Den übrigen jedoch sage ich, ja ich, nicht der Herr:<br />

Wenn ein Bruder eine nichtchristliche Frau hat<br />

und sie es mit ihm für gut hält,<br />

mit ihm zusammenzuleben,<br />

soll er sie nicht fortschicken.<br />

13 Und wenn eine Frau einen nichtchristlichen Mann hat<br />

und dieser es mit ihr für gut hält,<br />

mit ihr zusammenzuleben,<br />

soll sie den Mann nicht fortschicken.<br />

14 Geheiligt nämlich ist der nichtchristliche Mann<br />

für die Frau (in den Augen der Frau),<br />

51 Genau wie er auch kein Vertreter von „Heiraten ist Sünde“ war – siehe 1.Kor 7,28.<br />

52 So übersetzt „Die Gute Nachricht“.<br />

235


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

und geheiligt ist die nichtchristliche Frau<br />

für den Bruder,<br />

da ja bekanntlich eure neugeborenen Kinder<br />

(für den Heiden und für euch früher) unrein,<br />

jetzt aber (für euch <strong>als</strong> Erlöste) heilig sind.<br />

15 Wenn allerdings der nichtchristliche Partner<br />

sich zu trennen sucht,<br />

soll er geschieden werden;<br />

der Bruder oder die Schwester<br />

ist in solcher Lage nicht etwa<br />

(durch meinen Rat) versklavt.<br />

Gott freilich hat euch<br />

in Frieden berufen (zu Gemeinsamkeit).<br />

16 Vielleicht, Frau, wirst du den Mann retten,<br />

oder vielleicht, Mann wirst du die Frau retten!?!<br />

Paulus kommt nun auf die „Übrigen“ (loipoi/j loipoi/j), so bezeichnet er sie, zu sprechen.<br />

Diese „Übriggebliebenen“, die „noch Fehlenden“ 53 sind Ehepaare, die aus<br />

einem christlichen und einem nichtchristlichen Partner bestehen. Nach den Alleinstehenden<br />

(Verse 6-9) und den verheirateten Christen (Verse 10-11) erörtert<br />

er von diesem Zeitpunkt an die brenzligen Fragen religionsverschiedener Paare<br />

54 , sogenannter „Mischehen“. Er beginnt seinen Rat mit: „Ich sage<br />

(le,gw evgw,) nicht der Herr“. Das „Ich“ ist betont! Damit ist deutlich, er, nur er,<br />

der Apostel sagt etwas. Er rät. Wie anders klang es in Vers 10. 55 Hier, in diesem<br />

Fall, kann nur er allein seinen Brüdern und Schwestern etwas „sagen“. Hier gibt<br />

es kein Jesuswort und hier kann er auch nicht gebieten, denn nur ein Eheteil<br />

gehört zu Christus. Der andere, nichtchristliche Partner ließe sich auch nichts<br />

gebieten – weder von Christus noch gar von Paulus. August Jung schreibt darum<br />

ganz treffend: „Dem Ungläubigen hat Paulus nichts zu sagen <strong>als</strong> die rettende<br />

Botschaft, nicht aber Gemeindeordnung.“ 56 Dieser vorsichtig, seelsorgerliche<br />

Neuansatz des Paulus macht deutlich, dass er das Scheidungsgebot Jesu<br />

53 So kann man loipoi/j auch noch übersetzen (Walter Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament).<br />

54 So bezeichnet Leonhard Goppelt (Theologie des Neuen Testaments, Band 2, S. 371) die<br />

”Mischehe”.<br />

55 ”Ich weise an (oder: ich gebiete), nicht ich, sondern der Herr” (paragge,llw( ouvk evgw. avlla. o`<br />

ku,rioj).<br />

56 August Jung, Ehescheidung, S. 29.<br />

236


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

nur für christliche Paare verbindlich hält. 57 Bei Christen, die mit Nichtchristen<br />

verheiratet sind, rät er noch viel um- und vorsichtiger.<br />

Die Frage, auf die Paulus hier antwortet, können wir wiederum nur aus seiner<br />

Argumentation schlussfolgern. 58 Sie muss gelautet haben: „Darf ich mich von<br />

meinen nichtchristlichen Partner trennen?“ 59 Es geht <strong>als</strong>o hier nicht um die Frage,<br />

ob Christen mit Nichtchristen überhaupt eine Ehe führen dürfen. Es geht<br />

hier um Paare, die nach ihrer Eheschließung erlebten, wie der eine Partner<br />

Christ wurde und der andere nicht. 60 Durch die Christusbeziehung des einen<br />

Ehepartners änderte sich auch ihre Partnerbeziehung. Es kommt zu einer<br />

Asynchronizität in der Paarbeziehung durch unterschiedlichen, gegensätzlichen<br />

Glauben 61 . „Sie disharmonieren im tiefsten Grund“ 62 , weil sie Welten trennen.<br />

Sie leben seit der Bekehrung des einen Partners in zwei ganz unterschiedlichen<br />

Welten. Der Nichtchrist konnte den Christen nicht mehr <strong>als</strong> seinen Glaubensund<br />

Ehepartner sehen, sondern <strong>als</strong> Glaubensfeind. 63 Und so kommt es gewiss<br />

bei einigen Paaren zu erheblichen Problemen 64 . Doch in Korinth liegen die<br />

Probleme nicht zuerst auf der Seite des nichtchristlichen Partners, sondern pri-<br />

57 Baumert schreibt: ”Folglich verstand Paulus mit der ganzen Urkirche das Herrenwort, den<br />

Ehepartner nicht zu entlassen, zunächst <strong>als</strong> ein Wort an die Jüngergemeinde, nicht im gleichen<br />

Sinn für alle Menschen schlechthin.” (Frau und Mann, Seiten 56f).<br />

58 In den Versen 12-13 wird der christliche Ehepartner von Paulus ermuntert, den anderen<br />

”nicht wegzuschicken” - ”Das ‚nicht wegschicken‘ zeigt, dass der Christ Interesse hat, ihn loszuwerden,<br />

und das gleiche steht hinter ti, ga.r oi=daj in V 16, wie immer man diesen Ausdruck<br />

interpretiert.” (Baumert, Ehe, S. 69).- Aus Vers 14 kann man schließen, dass der christliche<br />

Partner zur Auflösung seiner Ehe drängte.<br />

59 Baumert (Frau und Mann, S. 57) formuliert sie so: ”Darf ich (nicht etwa: muss) ich meinen<br />

Partner wegschicken?”.<br />

60 Beide waren zunächst Nichtchristen und dann, während ihrer Ehe, fand der eine Partner zum<br />

Glauben an Christus und der andere blieb a;pistoj, ungläubig, d.h. nicht gläubig an Christus, <strong>als</strong>o<br />

nichtchristlich.<br />

61 Hier handelt es sich um eine Asynchronizität des Glaubens. Jürg Willi beschreibt eindrücklich<br />

die Belastung durch Asynchronizität des Alterns (Was Paare zusammenhält, Seiten 113-<br />

115). Aus ihr kann man ganz gut entnehmen, wie es wohl auch bei einer Asynchronizität des<br />

Glaubens aussehen könnte.<br />

62 August Jung, Ehescheidung, S. 30.- Siehe 2. Kor 6,14-18; dort vergleicht Paulus beide Lebensformen<br />

mit Licht und Finsternis.<br />

63 Der Götterglaubende konnte gegen den Christusglaubenden einen täglichen Kleinkrieg führen,<br />

der jede Liebesbeziehung zerstören wird. – Zum Thema Krieg und Beziehungen siehe:<br />

Fritz B. Simon: ”Krieg. Systemtheoretische Überlegungen zur Entstehung tödlicher Konflikte”,<br />

in: Familiendynamik, 1/2000, Seiten 104-130.<br />

64 Tertullian (ad uxorem II 4) beschreibt sehr anschaulich die Konflikte zwischen einem Christen<br />

und einem Nichtchristen im Ehealltag. Darauf verweist Schottroff, S. 581.<br />

237


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

mär auf der des christlichen. Der gläubige Partner hatte das Bedürfnis und den<br />

Willen nach einer Trennung. 65 Der Christ muss etwa so argumentiert haben:<br />

„Es ist doch gefährlich, mit einem, der noch den Weltmächten ausgeliefert ist<br />

(Gal 4,3.9), zusammenzuleben, und sogar so intim zusammenzusein!“ 66 „[...]<br />

der Nichtchrist ist doch unrein! Werde ich nicht durch ihn befleckt und mit<br />

heidnischen, dämonischen Einflüssen infiziert?“ 67<br />

Paulus ringt nun mit seinen Adressaten. Diese ganz christlich klingenden,<br />

irrational ängstlichen Argumente für eine Scheidung, die im Raum stehen, versucht<br />

er nun mit Beispielen zu widerlegen. Ein Jesuswort – wie gesagt – hat er<br />

ja hier nicht. Dabei setzt er voraus, dass die Christen ihr Denken und Handeln<br />

längst geändert haben. Als Heiden mussten die Mütter ihr Kind nach der Geburt<br />

68 reinigen. 69 Aber eine christliche Mutter brauchte das nicht mehr. Und so<br />

argumentiert Paulus: „Wenn aber euer Neugeborenes für euch ‚jetzt‘ nicht mehr<br />

unrein ist, dann auch nicht der Partner, mit dem ihr es gezeugt habt.“ 70 Weder<br />

Geschlechtsverkehr noch Geburtsvorgang sind in den Augen eines Christen<br />

etwas Unreines. 71 Bis in die Sexualität hinein kann ein Christ mit einem Nichtchristen<br />

zusammenbleiben. Du musst <strong>als</strong> Christ keine heidnische Angst vor ihm<br />

haben. 72 Paulus ringt ihnen ihr spezifisches Argument, dass sie gefährdet seien,<br />

aus der Hand. Und unmerklich gibt er ihnen die christliche Liebe in die Hand.<br />

Für den Christen gilt doch die erlösende und befreiende Liebe Christi und die<br />

gilt auch seinem nichtchristlichen Ehepartner. Paulus entgegnet: Wichtig ist,<br />

dass der Nichtchrist suneudokei/ hat - mit (dir zusammen) Freude daran hat 73 . Er<br />

65 Den Fall einer Christin, die gegen den Willen ihres nichtchristlichen Mannes die Scheidung<br />

will, beschreibt Justin, Apologie II 2. Darauf verweist Schottroff, S. 581.<br />

66 Baumert, Ehe, S. 70.<br />

67 Baumert, Frau und Mann, S. 58.<br />

68 ”Te,kna<br />

meint [...] hier die ‚Neugeborenen‘, ähnlich wie 1 Thess 2,7.” (Baumert, Ehe, S. 75).<br />

69 Dazu mußte eine Mutter in einen Tempel, in die sogenannten Amphidromien, ein Opfer bringen<br />

und mit dem Kind um den Altar gehen. (Baumert, Frau und Mann, S. 59; Baumert, Ehe,<br />

Seiten 74f)<br />

70 Baumert, Frau und Mann, S. 59.<br />

71 Vergleiche auch 1.Kor 8,4 und 10,26! – Siehe dazu auch Schrage, 1.Kor., S. 106.<br />

72 Paulus argumentiert hier wie er es auch an anderen Stellen tut: ”Für einen Christen ist nichts<br />

mehr unrein (Röm 14,14), denn dem Herrn gehört die Erde und was sie erfüllt (1.Kor 10,26).”<br />

(Baumert, Frau und Mann, Seiten 58f). Er akzeptiert weder heidnische noch jüdisch kultische<br />

Berührungsängste; er billigt kein magisches Denken, um vom nichtchristlichen Partner loszukommen.<br />

(Nach Baumert, Ehe, S. 79)<br />

73 So Baumert, Ehe, S. 71. ”Mit einem anderen zusammen einer dritten Sache zustimmen, sie<br />

mit-billigen, gemeinsam für gut halten” - übersetzt Baumert das Verb suneudokei (Frau und<br />

Mann, S. 57).<br />

238


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

deutet damit indirekt an, dass er die Bereitschaft zum freudigen Zusammensein<br />

beim Christen eigentlich voraussetzt. 74<br />

Bei einer religionsverschiedenen Ehe ist „die letzte Einheit ‚im Herrn‘ nicht<br />

gegeben“ 75 , damit ist eine Asynchronizität im Glauben und auch im<br />

Zusammenleben vorhanden. 76 Und doch rät er den christlichen Partnern nach<br />

Möglichkeit zu bleiben. Paulus diskutiert mit ihnen hier primär auf der geistlichen<br />

Ebene, „nicht auf der menschlicher Spannungen“ 77 . Aber auch auf der<br />

menschlichen Seite weiß er, dass jedes Eheleben immer „Spannungen“ hat. Er<br />

schreibt wenig später: Jeder der heiratet, wird „Bedrängnis durch das Fleisch“<br />

(qli/yin th/| sarki.) erfahren (7,28c). Solange der Ungläubige bereit ist, mit dem<br />

Christen 78 zusammenzuleben, soll der Christ kein noch so christlich klingendes<br />

Argument suchen, ihn wegzuschicken. Stößt sich der Nichtchrist aber am<br />

christlichen Glauben und will darum weggehen, ist der Christ nicht gefangen 79 ,<br />

wörtlich: nicht sklavisch gebunden (ouv dedou,lwtai). Wolfgang Trilling<br />

argumentiert und schlussfolgert: „Das ‚Nicht-gebunden-Sein‘ ist in Bezug auf<br />

die Ehe selbst zu verstehen [...]. Die Frau oder der Mann sind <strong>als</strong>o frei eine neue<br />

Ehe einzugehen. [...] Eschatologische Freiheit wirkt auch auf die zwischenmenschlichen<br />

und sozialen Verhältnisse ein.“ 80 Ich denke aber mehr – mit<br />

Baumert – dass dieses „Nicht-gebunden-sein“ zuerst einmal auf den Rat des<br />

Paulus zu beziehen ist. Seine Schwestern und Brüder sind durch seine seelsorgerliche<br />

Weisung nicht „sklavisch“ gebunden. 81 Denn er zeigte sich von Beginn<br />

seiner Antwort an deutlich <strong>als</strong> menschlicher Ratgeber und setzte demonst-<br />

74 Er „provoziert ihn damit gleichsam, um in ihm jene Liebe zu wecken, die ‚trägt und hofft‘<br />

und – liebt, damit der Christ nicht etwa um eigener, geistlicher Vorteile willen über einen anderen<br />

hinweggeht“ (Baumert, Ehe, S. 71).<br />

75 Baumert, Frau und Mann, S. 355.<br />

76 Eine menschliche Parallele bei Paaren gibt es etwa da, wo ein Paar ihr erstes Kind bekommen<br />

und aus der Zweierbeziehung eine Dreierbeziehung werden soll. Das ergibt nach ersten anfänglichen<br />

Freuden doch auch erhebliche Schwierigkeiten und Turbulenzen für die Partnerschaft.<br />

(Siehe Claudia Filker, Die Kinder-Überraschung. Paare werden Eltern. Brockhaus Verlag,<br />

Wuppertal 1996).<br />

77 Baumert, Ehe, S. 86.<br />

78 ”Man beachte, dass avdelfo.j betont ‚Gläubiger‘ heißt” (Baumert, Ehe, S. 91).<br />

79 So die Lutherbibel von 1912.<br />

80 Trillling, Zum Thema, S. 75.<br />

81 Paulus relativiert seinen Rat: „Nehmt das aber nicht sklavisch, wie ein ‚Gesetz‘; doch seht,<br />

dass die Berufung Gottes in Richtung auf Bewahrung der Ehe geht. Darum rate ich euch, trotz<br />

der Möglichkeit einer Scheidung, in einer Mischehe zu verbleiben.“ (Baumert, Frau und Mann,<br />

S. 62).<br />

239


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

rativ seinen Rat vom Gebot des Herrn ab. 82 Er will nicht der Herr der Gemeinde<br />

sein (vgl. 1. Kor 1,12-13). 83 Er müht sich seelsorgerlich und im Geiste<br />

Christi zu raten, aber er zwingt und versklavt nicht 84 , - zumal da nicht, wo es<br />

kein „Gebot“ Christi gibt.<br />

Egal wie man diese Bemerkung des Paulus verstehen will, am Ende läuft es ja<br />

auf das gleiche Ergebnis hinaus: Scheidung ist möglich! - gleichgültig woran<br />

der Christ „nicht gebunden“ ist, ob an den unchristlichen, hartherzigen 85 Partner<br />

oder an den Rat des Paulus (nämlich: bei ihm zu bleiben). Letztendlich billigt<br />

Paulus die Scheidung analog dem Zugeständnis, der Notordnung des Mose<br />

„wegen eurer Herzenshärte“ 86 . Paulus rät seinen Geschwistern, ihrem nichtchristlichen<br />

Partner alle Möglichkeiten des gemeinsamen Lebens zu geben.<br />

Wenn der Nichtchrist aber sich unbedingt trennen will, soll der Christ ihn weder<br />

bedrängen noch ihm nachlaufen. Christen sind freie Menschen, befreit<br />

durch die Liebe Christi. 87 Der Christ ist „nicht ‚durch ein Wort des Herrn‘ an<br />

diesen Partner gebunden, sondern nur durch einen Rat des Paulus!“ 88 und damit<br />

aber weder an Paulus noch an den Partner gebunden und versklavt. Paulus, der<br />

durchaus an rechtliches Denken gewöhnt und in rechtlichem Argumentieren<br />

geschult ist, überrascht mit diesem neuen Geist des Vertrauens und der Liebe.<br />

Er legt ihnen damit nicht mehr Lasten auf <strong>als</strong> jene, die er selbst trägt.<br />

Paulus weist dann in einem Neuansatz 89 auf die Tatsache hin, dass Gott euch 90<br />

82 „Sie sollen aus seinem Rat nicht etwa ein ‚versklavendes Gesetz‘ (ein paulinischer Topos!)<br />

machen, sich gewissermaßen in Buchstabenmentalität sklavisch daran halten, sondern eben die<br />

Situation abwägen und in Freiheit entscheiden, was vor Gott gut und der Liebe entsprechend ist.<br />

Paulus setzt <strong>als</strong>o seinen Rat nicht absolut.“ (Baumert, Frau und Mann, Seiten 60f).<br />

83 Diesen Zug sehen wir an Paulus öfter in diesem Brief: Verse 17, 25, 29, 40 u.ö.<br />

84 Denn dadurch würde „seine christliche Berufung ‚versklavt‘ (ähnliche Gedanken werden<br />

wiederkehren in 7,21 und 23!)“ (Baumert, Ehe, S. 91).<br />

85 Zu „Herzenhärte“ (sklhrokardi,a sklhrokardi,a) siehe ThWBzNT, Band III, 616: Es ist „die beharrliche<br />

menschliche Unempfänglichkeit für die Kundgebungen des Heilswillens Gottes“.<br />

86 Mt 19,8; Mk 10,5.<br />

87 Der Terminus „versklaven“ dient <strong>als</strong>o nicht „<strong>als</strong> Charakterisierung einer menschlich zerstrittenen<br />

Ehe, einer Bindung an den Partner durch ein unauflösliches Eheband oder gar einer Bindung<br />

an ein Herrenwort“. (Baumert, Ehe, Seiten 91f).<br />

88 Baumert, Frau und Mann, S. 355.<br />

89 Der Neuansatz ist durch de,(= „aber“) deutlich.<br />

90 Baumert entscheidet sich für „uns“ (h`ma/j h`ma/j). Für ihn ist es „eine Charakterisierung der allgemeinen<br />

christlichen Berufung“ (Baumert, Ehe, S. 87). - Aber beide Lesarten h`ma/j (uns) oder<br />

u`ma/j (euch) sind gleich gut bezeugt. Baltensweiler entscheidet sich für u`ma/j (euch), weil es<br />

„besser in die ursprüngliche Situation passen“ (Ehe, S. 192) würde.<br />

240


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

oder „uns Glaubende [...] in Frieden gerufen hat.“ 91 „Hier ist jedes Wort wichtig.“<br />

92 Und zugleich ist nicht ganz deutlich, wie die drei Sätze in Vers 15 ins<br />

Verhältnis zueinander zu setzen sind. Ich denke, sie beziehen sich alle aufeinander,<br />

ohne gleichwertig zu sein. Friede, Schalom, „bezeichnet die Einheit in<br />

einer Beziehung, das gute Miteinander von Personen“ 93 . Gottes Absicht ist <strong>als</strong>o<br />

möglichst Einheit zwischen Menschen. Aus dieser allgemeinen Absicht Gottes<br />

können nun die christlichen Eheleute leicht die Folgerung für ihre Ehesituation<br />

ziehen: „Der Ungläubige mag gehen, und du sollst ihn dann entlassen. Aber von<br />

deiner Seite her versuche die Ehe zu halten, denn Gottes Liebe, die uns durch<br />

die Berufung geschenkt wurde, zielt in diese Richtung und gibt dir auch die<br />

Kraft dazu.“ 94 Eivrh,nh| hat dann den aktiven Sinn von Versöhnung und ‚Erstattung‘;<br />

Gott will nicht trennen, sondern vereinen, d.h. letztlich in seinen Frieden<br />

führen. Denn [so fügt Paulus sofort an]: Vielleicht wirst du deinen Mann [oder<br />

deine Frau] in das gleiche Heil führen können.“ 95 Vielleicht kannst du den<br />

nichtchristlichen Partner retten, ihm „die rettende Beziehung zu Christus bringen“<br />

96 Paulus „dachte [<strong>als</strong>o] optimistisch von den ‚missionarischen‘ Möglichkeiten<br />

einer solchen ‚Mischehe‘.“ 97 Der Wille des unchristlichen Partners ist für<br />

Paulus maßgebend – ob bei der Entscheidung, Christus nicht nachzufolgen,<br />

oder bei der Entscheidung, sich vom christlichen Partner zu trennen. Kein<br />

Zwang weder zur Glaubens- noch zur Ehegemeinschaft! Das Handeln des<br />

Christen aber zielt auf Treue und Liebe. Vielleicht könnte dabei die Treue Gottes<br />

so vermittelt werden, dass sich der bisher unchristliche Lebenspartner doch<br />

noch bekehrt. Aber auch hier ist keine Berechnung, keine Kausalität und kein<br />

Gesetz möglich. „Es könnte“ (ti, ga.r) – mehr nicht!<br />

Paulus lässt Raum zur Entscheidung; er lässt sich Raum zur Seelsorge und<br />

entscheidet von Fall zu Fall. „Das ist – wenn es auch so scheinen mag – keine<br />

Situationsethik, sondern Seelsorge in den Richtlinien des Wortes Jesu.“ 98 Es ist<br />

Seelsorge in der Liebe, der Freiheit und Barmherzigkeit Christi, in seinem Frie-<br />

91 Baumert, Ehe, S. 86.<br />

92 Baumert, Frau und Mann, S. 61.<br />

93 Baumert, Frau und Mann, S. 61. – Baumert verweist dabei auf Röm 5,1; 1.Kor 10,11; Eph<br />

2,14+17; Eph 4,3.<br />

94 Baumert, Frau und Mann, S. 61.<br />

95 Baumert, Ehe, S. 84.<br />

96 Baumert, Frau und Mann, S. 62. –„Da wir so gerufen sind, bedenke (du), ob du nicht mit<br />

deinem Partner im Frieden bleiben und ihn vielleicht zum Heile führen kannst.“ (Baumert, Ehe,<br />

S. 87)<br />

97 Trilling, Zum Thema, S. 75.<br />

98 August Jung, Ehescheidung, S. 30.<br />

241


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

den, seinem Schalom. Paulus gebraucht <strong>als</strong>o tatsächlich das Wort des Herrn<br />

nicht „wie einen Stock“, wie er es in Kapitel 4,21 schreibt. Er prügelt weder<br />

christliche noch heidnisch-christliche Paare zusammen. Er zeigt sich außerordentlich<br />

sensibel für jede Situation in den Ehen der korinthischen Christen und<br />

zeigt zugleich „eine große Weite und Flexibilität“ 99 . Aber Paulus macht es den<br />

Christen, die sich aus geistlich-dienstlichen Motiven scheiden lassen wollen,<br />

nicht leicht. Der bloße Wunsch nach Dienstfreiheit und damit „Ehefreiheit“ 100<br />

(evgkra,teia<br />

101 ) scheint ihm auf keinen Fall allein ausreichend. 102 Ähnlich verhält<br />

er sich auch im Falle des christlichen Haussklaven Onesimus. Er sendet ihn bei<br />

allem Diensteifer und allem christlichen Freiheitswillen zurück zu seinem<br />

Hausherrn – aber er sendet ihn <strong>als</strong> Bruder zum Bruder (Philemon 8-22).<br />

Wie aber würde er reagieren, wenn aus psychischen oder biologischen Motiven<br />

eine Scheidung betrieben wird? Was würde er sagen, wenn in einer christlichen<br />

Ehe Zank und Streit an der Tagesordnung wären? Wie geht er mit Eheleuten<br />

um, deren Beziehung total zerrüttet ist? Wie würde er reden, wenn Menschen<br />

unter der Last ihrer Beziehung krank werden und zusammenzubrechen<br />

drohen? Würde er wiederum auf den Frieden Gottes weisen – etwa wie in Rö<br />

12,18: „Wenn möglich, so viel an euch ist, lebt mit allen Menschen in Frieden.“?<br />

Würde er deutlich sagen, dass Gott keine sklavischen Beziehungen haben<br />

will, die totale Abhängigkeiten, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt<br />

<strong>als</strong> Bindemittel haben? Würde er diese Täter ebenfalls energisch auf das Scheidungswort<br />

Jesu weisen? Oder würde er sie auf die Liebe Gottes hinweisen, die<br />

den Männern in Epheser 5,25-33 theologisch eindrücklich und plastisch vor<br />

Augen gemalt wird?<br />

Bei Paulus und auch bei Jesus werden die Scheidungsbetreiber angesprochen.<br />

Vor allem Jesus spricht jene an, die Macht haben eine Scheidung zu verhindern<br />

oder durchzusetzen, nämlich die jüdischen Männer. Ihnen stellt Jesus die ursprüngliche<br />

Schöpferidee und die Konsequenzen und Wirkungen ihrer Macht<br />

deutlich vor Augen. Er will die Frauen vor aller männlichen, lieblosen Willkür<br />

schützen. 103 Und diese Tendenz nehmen alle Evangelien in großer Freiheit der<br />

99 Baumert, Frau und Mann, S. 362.<br />

100 Luzia Suttner Rehmann – zitiert von Schottroff, S. 579.<br />

101 Die meisten Übersetzer geben es mit „Enthaltsamkeit“ wieder.<br />

102 Nach Baumert, Antifeminismus, S. 259.<br />

103 Jesu kategorische Ablehnung der Ehescheidung ist Parteinahme „der durch die schroffe<br />

Rechtsungleichheit benachteiligten Frauen. Sein kategorisches Scheidungsverbot bedeutet E-<br />

vangelium [...] und Schalom für die Frauen. Das Verbot schafft Freiheit für die, die bisher patriarchaler<br />

Willkür und der Rechtslosigkeit ausgeliefert waren. [...] Es geht Jesus <strong>als</strong>o nicht um die<br />

Verteidigung einer abstrakten Institution Ehe, sondern um die Herstellung von Gerechtigkeit<br />

242


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

Wiedergabe von Jesu Scheidungswort auf. Nur einmal im ganzen Neuen Testament<br />

blinkt auch etwas von einer anderen Sicht durch – und zwar hier in<br />

1. Korinther 7, Vers 15b: der passiv Geschiedene ist „nicht gebunden“. Paulus<br />

lässt den Verstoßenen und Verschmähten Raum zur Los-Lösung – bei allem<br />

Schmerz und aller Betroffenheit. Die Verstoßenen, die Geschiedenen bekommen<br />

einen Neuanfang.<br />

Eine Wiederheirat gestattet Paulus nicht ausdrücklich. Er schreibt, dass Geschiedene<br />

nicht sklavisch gebunden sind. Aber er rät kurz vor unserem Bibeltext<br />

(Kapitel 7 Vers 9) Ehelosen, wenn sie es in der Ehelosigkeit nicht aushalten,<br />

ist es besser zu heiraten. Nach unserem Bibeltext kommt er dann wieder auf<br />

Probleme von Ledigen zu sprechen (7,25-40). Dort macht er deutlich, dass heiraten<br />

keine Sünde ist. Aber auch hier will er nicht, dass schnell und leichtfertig<br />

gehandelt wird, denn jeder sei sich seiner Berufung und Führung von Gott ganz<br />

gewiss! (7,24). 104 Könnte man aus diesen seelsorgerlichen Tendenzen des Paulus<br />

schlussfolgern, dass er auch Geschiedenen nicht ein Leben lang ein Ledigsein<br />

zumuten würde, vor allem dann, wenn eine Versöhnung, eine Verbindung<br />

ausgeschlossen ist, und ein Geschiedener unter dem Alleinsein leidet und<br />

brennt? Ich denke ja. Das, was wir von Paulus erwarten, ein klares Wort zur<br />

Wiederheirat hören wir leider nicht. Gewiss liegt das auch daran, dass es diese<br />

Problematik in Korinth noch gar nicht so geben konnte. Das Problem etlicher<br />

Geschwister war nicht, ob sie nach ihrer Scheidung wieder heiraten können,<br />

sondern ob sie in einer problematischen, spannungsvollen Beziehung bleiben<br />

sollen. Es scheint mehr so, dass nur wenige in eine Ehe strebten – schon gar<br />

nicht Geschiedene. Viel mehr strebten Verheiratete aus der Ehe. Und Paulus<br />

geht sehr seelsorgerlich und trotz des Gebotes Jesu, das er nicht verniedlicht<br />

oder verschweigt, sehr liebe- und rücksichtsvoll mit seinen Geschwistern um.<br />

Er macht aus dem Gebot Jesu kein Gesetz. Neuanfänge sind für ihn, den ehemaligen<br />

Christenverfolger möglich. Nach seinem Damaskuserlebnis wird er nicht<br />

wieder zu einem Fanatiker. 105 Er ist durch die Liebe Christi von „Blindheit“,<br />

blindem Zuschlagen, geheilt.<br />

So einen Neuanfang wäre auch den Kollegen und Kolleginnen zu wünschen,<br />

die in ihrer Ehebeziehung scheitern, aber am Ruf Christi in den Dienst weiterhin<br />

festhalten. Sicher ist mit ihnen zu reden – aber in dieser liebevollen, seelsorgerlichen<br />

Weise. Aber es wären auch unseren Gemeinden (Pastoren-) Eheund<br />

Schalom [...]“ (Bollinger, Die Umarmung lösen, S. 61).<br />

104 Baumert macht deutlich, wie sehr das gesamte Kapitel 7 unter dem Generalnenner „Berufung“<br />

steht (Ehe, S. 67).<br />

105 Siehe Apg 9,1-19.<br />

243


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

paare zu wünschen, die das Scheidungswort Jesu nicht <strong>als</strong> Gesetz aber doch <strong>als</strong><br />

sehr ernste, eindringliche Aufforderung ihres Herrn zu einer eigenen liebevollen,<br />

treusorgenden Beziehungsgestaltung verstehen; die nicht rücksichtslos begeistert,<br />

ehrgeizig und dienstbeflissen nur allein der Gemeinde dienen. Sie dienen<br />

Christus auch durch ein liebevolles, vorbildliches Eheleben.<br />

Zusammenfassung<br />

Durch diesen Brieftext des Apostel Paulus bin ich ermutigt, die Spannung<br />

zwischen dem Scheidungsverbot Jesu und der notvollen Situation eines Paares<br />

weder zugunsten des einen noch zugunsten des anderen Parts völlig aufzulösen.<br />

Scheidungswillige Paare brauchen verstehende, achtungs- und liebevolle Paar-<br />

Seelsorge!<br />

Was habe ich <strong>als</strong>o bei Paulus für meine Ehe-Seelsorge gelernt?<br />

1. Ich möchte gesunde und liebevolle Ehebeziehungen erhalten und fördern,<br />

ohne dabei auch nur einen Hauch von Gewalt anzuwenden.<br />

2. Das Scheidungsverbot Christi ist für mich kein Gesetz. Ich werde aber Paare,<br />

die Christus dienen wollen und dabei in ihrem Eifer ihre Ehebeziehung<br />

in Frage stellen, deutlich mit dem Scheidungswort Jesu konfrontieren.<br />

3. Scheidungswillige Ehepartner sehe ich <strong>als</strong> ein Paar, versuche die Balance<br />

zwischen beiden Partnern zu halten und vermeide eine einseitige Parteinahme.<br />

4. Ich rate mit aller Vorsicht und schlage nicht auf scheidungswillige Paare ein<br />

– trotz des Scheidungswortes Jesu.<br />

5. Scheidung ist für mich nicht von vornherein und auf alle Fälle Sünde, die<br />

einen Gemeinde- oder Dienstausschluss zur Folge haben muss.<br />

6. In spannungsvollen Partnerschaften ermuntere und ertüchtige ich den<br />

christlichen Partner zur Liebe und Mitfreude aneinander.<br />

7. Ich nehme Ängste vor dem Zusammenbleiben in schwierigen Ehebeziehungen<br />

nicht zu ernst, bin aber für gesunde Bedenken und wirkliche Gefahren<br />

offen.<br />

8. Ich achte auch die Gewissensentscheidung von Menschen, die anders <strong>als</strong> ich<br />

glauben und sich anders, <strong>als</strong> ich es mir wünschte, entscheiden werden.<br />

9. Die Schwachen in einer Beziehung versuche ich vor der Willkür und Macht<br />

des stärkeren Partners zu schützen; den stärkeren sporne ich zur Liebe und<br />

Treue an.<br />

10. Ich sehe mir jeden Fall genau an, ohne in eine Situationsethik zu verfallen,<br />

denn ich möchte der Liebe und Barmherzigkeit Christi einen großen Gestal-<br />

244


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

tungsraum lassen.<br />

11. Die vier Lösungswege des Paulus für Paare in Korinth: Alleinbleiben,<br />

(Neu)Verbindung, Scheidung und Bekehrung, sind mir Anregung und Richtungsweiser,<br />

aber nicht Gesetz.<br />

12. Geschiedene, die unter dem Ledigsein leiden, will ich nicht versklaven. Ich<br />

will ihnen aber auch helfen, nicht zu schnell, zu übereifrig und leichtfertig<br />

(wieder) zu heiraten.<br />

Literatur:<br />

Baader, Fritz Hennig: Stichwortkonkordanz zur DaBhaR-Übersetzung der Geschriebenen des<br />

Neuen Bundes, Verlag F. H. Baader, Schömberg 1993 (3. Aufl.).<br />

Baltensweiler, Heinrich: Die Ehe im Neuen Testament. Exegetische Untersuchungen über Ehe,<br />

Ehelosigkeit und Ehescheidung. (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments,<br />

Band 52), Zwingli Verlag, Zürich/Stuttgart 1967.<br />

Bauer, Martin: Die Anfänge der Christenheit. Von Jesus von Nazareth zur frühchristlichen<br />

Kirche. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin1969.<br />

Bauer, Walter: Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen<br />

Literatur. De Gruyter, Berlin 1971 (5. Aufl.)<br />

Baumert, Norbert: Antifeminismus bei Paulus? Einzelstudien (forschung zur bibel, Band 68).<br />

Echter-Verlag, Würzburg 1992.<br />

Baumert, Norbert: Ehelosigkeit und Ehe im Herrn. Eine Neuinterpretation von 1 Kor 7. (forschung<br />

zur bibel, Band 47), Echter-Verlag, Würzburg 1986 (2. Auflage).<br />

Baumert, Norbert: Frau und Mann bei Paulus - Überwindung eines Mißverständnisses. Echter-<br />

Verlag, Würzburg 1993 (2. Auflage).<br />

Baumert, Norbert: „Paulus zur Beziehung der Geschlechter.“ – In: http://www.st-georgen.unifrankfurt.de/bibliogr/baumert2.htm.<br />

, 04.05.1999, (19 Seiten).<br />

Behm, Johannes: „Sklhrokardi,a“ – In: Kittel, Gerhard u.a. (Hrsg.): <strong>Theologische</strong>s Wörterbuch<br />

zum Neuen Testament (ThWBzNT), Band III, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1938, S.<br />

616.<br />

Beuscher, Armin / Mackscheidt, Elisabeth / Miethe, Hartmut (Hg.): Gewagtes Glück. Reflexionen,<br />

Gedichte, Liturgien, Impulse zu Trennung und Scheidung. Verlag Neues Buch, Nidderau<br />

1998.<br />

Bollinger, Regina (Hrsg.): Die Umarmungen lösen. Grundlagen und Arbeitsmaterialien zur<br />

Scheidung in Seelsorge und Gottesdienst. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997.<br />

Bornkamm, Günther: Paulus. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1977.<br />

Brandenburger, Egon: Frieden im Neuen Testament. Grundlinien urchristlichen Friedensver-<br />

245


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

ständnisses. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1973.<br />

Büchsel Friedrich: „katalla,ssw“, in: Gerhard Kittel u.a. (Hrsg.): <strong>Theologische</strong>s Wörterbuch<br />

zum Neuen Testament (ThWBzNT), Erster Band, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1957,<br />

Seiten 254-258.<br />

Büchsel, Friedrich: „lu,w“, in: Gerhard Kittel u.a. (Hrsg.): <strong>Theologische</strong>s Wörterbuch zum Neuen<br />

Testament (ThWBzNT), Vierter Band, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1942, 329-359.<br />

Bultmann, Rudolf: „avfi,hmi“, in: Gerhard Kittel u.a. (Hrsg.): <strong>Theologische</strong>s Wörterbuch zum<br />

Neuen Testament (ThWBzNT), Erster Band, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1957, Seiten<br />

506-509.<br />

Bultmann, Rudolf: „Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus.“ –<br />

In: R. Bultmann, Gesammelte Aufsätze. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1973; Seiten 50-<br />

75.<br />

Busche, Bernd: Sexualthik kontrovers. Analyse evangelischen Christentums zu Sexualität,<br />

Partnerschaft und Ehe. (Theologie in der Blauen Eule, Band 4). Verlag Die Blaue Eule, Essen<br />

1989.<br />

Claußen, Carsten / Folda, Winfried u.a.m.: „Ein gemeindlicher Konsens zur Ehe- und Sexualethik.“<br />

(Stellungnahme der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde München, Holzstraße). –<br />

In: „<strong>Theologische</strong>s Gespräch“, 23. Jahrgang 1999, Seiten 2-9.<br />

Coenen, Lothar / Beyreuther, Erich / Bietenhard, Hans (Hrsg.): <strong>Theologische</strong>s Begriffslexikon<br />

zum Neuen Testament, Studien-Ausgabe Band 1 und 2, <strong>Theologische</strong>r Verlag R. Brockhaus,<br />

Wuppertal 1979 (2. Aufl.).<br />

Deidenbach, Hans: Zur Psychologie der Bergpredigt. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt<br />

a. M. 1990.<br />

Delling, Gerhard: „Geprägte Jesus-Tradition im Urchristentum“ – in: Gerhard Delling, Studien<br />

zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950-<br />

1968. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1970, Seiten 160-175.<br />

Delling, Gerhard: „Lexikalisches zu te,knon“ – in: Gerhard Delling, Studien zum Neuen Testament<br />

und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950-1968. Evangelische Verlagsanstalt<br />

Berlin 1970, Seiten 270-280.<br />

Delling, Gerhard: „Nun aber sind sie heilig“ – in: Gerhard Delling, Studien zum Neuen Testament<br />

und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950-1968. Evangelische<br />

Verlagsanstalt Berlin 1970, Seiten 257-269.<br />

Delling, Gerhard: „Zur Exegese von I.Kor.7,14“ „ – in: Gerhard Delling, Studien zum Neuen<br />

Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950-1968. Evangelische<br />

Verlagsanstalt Berlin 1970, Seiten 281-187.<br />

Die Heilige Schrift (Neues Testament) Eine Konkordante Wiedergabe mit Stichwort-<br />

Konkordanz. Konkordanter Verlag, Stepenitz (Ostprignitz) 1939.<br />

Eibach, Hannelore: „Die Pfarrerehe im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus<br />

246


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

der Sicht einer Paar- und Familientherapeutin.“ – In: Josuttis, Manfred / Stollberg, Dietrich<br />

(Hrsg.), Ehe-Bruch im Pfarrhaus. Zur Seelsorge in einer alltäglichen Lebenskrise. Chr. Kaiser<br />

Verlag, München 1990; Seiten 194 – 217.<br />

Engelsberger, Gerhard: Scheidung auf evangelisch. Warum auch Christen sich trennen dürfen.<br />

Kreuz Verlag, Zürich 1995.<br />

Espey, Karl-heinz: „Wenn Christen in der Ehe scheitern. (Überlegungen zum Umgang mit<br />

Ehescheidung und Wiederheirat Geschiedener).“. – in: Sexualethik und Seelsorge. Zeitschrift<br />

des Weißen Kreuzes, Ahnatal/Kassel, 1/1999, Nr. 114, Seiten 6-9.<br />

Fischer, Karl Martin: Das Urchristentum (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen<br />

I/1).Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1985.<br />

Flitner, Elisabeth / Valtin, Renate (Hrsg.): Dritte im Bund: Die Geliebte. Rowohlt Verlag, Reinbek<br />

bei Hamburg,1992.<br />

Foerster, Werner/ Rad, Gerhard von: „ei.rh.nh“, in: Gerhard Kittel u.a. (Hrsg.): <strong>Theologische</strong>s<br />

Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWBzNT), Zweiter Band, Verlag W. Kohlhammer,<br />

Stuttgart 1960, Seiten 398-416.<br />

Foster, Richard: Geld, Sex und Macht. Die Realitäten unseres Lebens unter der Herrschaft<br />

Christi. Oncken Verlag, Wuppertal und Kassel 1993.<br />

Fritzsche, Hans-Georg: Leittexte der Bibel. Systematische Theologie auf der Grundlage biblischer<br />

texte. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1982 (2. Auflage).<br />

Fritzsche, Helmut: Freiheit und Verantwortung in Liebe und Ehe. Zur Theologie der Partnerbeziehungen.<br />

Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1983.<br />

Gaßmann, Günther (Hrsg.), Ehe- Institution im Wandel. Zum evangelischen Eheverständnis<br />

heute. Lutherisches Verlagshaus, Hamburg 1979.<br />

Gnilka, Joachim: Jesus Christus nach frühen Zeugnissen des Glaubens. (Die Botschaft Gottes<br />

II / 29). St. Benno-Verlag, Leipzig 1972.<br />

Goppelt, Leonhard: Theologie des Neuen Testaments. Erster Teil: Jesu Wirken in seiner theologischen<br />

Bedeutung. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1977<br />

Goppelt, Leonhard: Theologie des Neuen Testaments , Zweiter Teil: Vielfalt und Einheit des<br />

apostolischen Christuszeugnisses. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1987.<br />

Großmann, Siegfried: Lebendige Liebe. Sexualität und Ehe <strong>als</strong> Gabe Gottes. Oncken Verlag,<br />

Wuppertal und Kassel 1993.<br />

Günther, Walter: „Ehe“, in: Coenen, Lothar / Beyreuther, Erich / Bietenhard, Hans (Hrsg.),<br />

<strong>Theologische</strong>s Begriffslexikon zum Neuen Testament, Studien-Ausgabe Band 1, <strong>Theologische</strong>r<br />

Verlag R. Brockhaus, Wuppertal 1979 (2. Aufl.), S. 196-203.<br />

Haag, Herbert / Elliger, Katharina: Stört die Liebe nicht. Die Diskriminierung der Sexualität –<br />

ein Verrat an der Bibel. Piper Verlag, München 1990.<br />

Hartmann, Walter: Menschen in sprachloser Zeit. Zur Orientierung zwischen den Generatio-<br />

247


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

nen. (Maßstäbe des Menschlichen, Band 3). Kreuz Verlag, Stuttgart 1973 (1. Auflage).<br />

Hiltner, Seward: Tiefendimension der Theologie. Grundbegriffe des Glaubens aus psychodynamischer<br />

Sicht. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1977.<br />

Hörster, Gerhard: „Wiederheirat Geschiedener“. (Lektionstexte: Markus 10,1-9; Matthäus<br />

19,3-10; 1. Korinther 7,10-15). – In: „Treffpunkt Bibel“, 1/2000, Seiten 28-32.<br />

Jeremias, Joachim: Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu. Evangelische<br />

Verlagsanstalt, Berlin 1973.<br />

Josuttis, Manfred / Stollberg, Dietrich (Hrsg.): Ehe-Bruch im Pfarrhaus. Zur Seelsorge in einer<br />

alltäglichen Lebenskrise. Chr. Kaiser Verlag, München 1990.<br />

Jung, August: „Ehescheidung zwischen Institution und Partnerschaft.“ – In: „Gottes Ja und<br />

Nein zur Partnerschaft von Mann und Frau“, Teil II, Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden<br />

in der DDR, Wort und Tat. Arbeitsmaterial für den Pastor, Nr. 59, 1982, Seiten 16-<br />

34.<br />

Kiefer, Thomas: Ehekatechese. Ein didaktisches Modell zur Ehevorbereitung und –begleitung.<br />

Herder Verlag, Freiburg i. Br. 1995.<br />

Kormannshaus, Olaf: Eheverständnis im deutschen Baptismus, wie es sich in Quellen 1834 bis<br />

1934 darstellt. Semesterarbeit in Kirchengeschichte: G. Balders. <strong>Theologische</strong>s Seminar<br />

Hamburg, November 1976 (unveröffentlichte Maschinenschrift).<br />

Kramer, Werner: Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der<br />

christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden. (Abhandlungen<br />

zur Theologie des Alten und Neuen Testaments). Evangelische Verlagsanstalt Berlin<br />

1963.<br />

Laubert, Ralf: „Was nun Gott zusammengefügt hat, ... Biblisch-theologische Erörterung.“, - in:<br />

Regina Bollinger (Hrsg.); Die Umarmung lösen. Grundlagen und Arbeitsmaterialien zur<br />

Scheidung in Seelsorge und Gottesdienst., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1997.<br />

Lindemann, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.): Zwischen Recht und Seelsorge. Kirchenleitung im Konflikt.<br />

Materialien aus Seminaren für JuristInnen und TheologInnen aus Kirchenleitungen im<br />

Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung Berlin. Sommer 1990.<br />

Lohse, Eduard: Die Entstehung des Neuen Testamens. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1976.<br />

Lührmann, Dieter: „Eheverständnis und Eheseelsorge im Neuen Testament“ – In: Günther<br />

Gaßmann (Hrsg.), Ehe- Institution im Wandel. Zum evengelischen Eheverständnis heute.<br />

Lutherisches Verlagshaus, Hamburg 1979, Seiten 67- 81.<br />

Merian, Svende (Hrsg.): Scheiden tut weh. Predigten und Ansprachen. Gütersloher Verlagshaus,<br />

Gütersloh 1995.<br />

Merklein, Helmut: Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze. (Die Botschaft Gottes.<br />

Eine biblische Schriftenreihe, Teil II, Neutestamentliche Reihe, Heft 36). St. Benno-Verlag,<br />

Leipzig 1989 (1. Auflage).<br />

Munzer, Karlfried: „me,nw“; in: Coenen, Lothar / Beyreuther, Erich / Bietenhard, Hans (Hrsg.),<br />

248


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

<strong>Theologische</strong>s Begriffslexikon zum Neuen Testament, Studien-Ausgabe Band 1, <strong>Theologische</strong>r<br />

Verlag R. Brockhaus, Wuppertal 1979 (2. Aufl.), Seiten 127-129.<br />

Niderwimmer, Kurt: Askese und Mysterium. Über Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht in den<br />

Anfängen des christlichen Glaubens. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975.<br />

Opitz, Helmut: Die Alte Kirche. Ein Leitfaden durch die ersten fünf Jahrhunderte. (Leitfaden<br />

der Kirchen geschichte, Teil 1). Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1983.<br />

Paschko, Werner: „Jesu Wort zur Scheidung“. (Bibelarbeit über Markus 10,2-9), – in: Sexualethik<br />

und Seelsorge. Zeitschrift des Weißen Kreuzes, Ahnatal/Kassel, 1/1999, Nr. 114, Seiten<br />

3-5.<br />

Patton, John / Childs, Brian H.: Generationsübergreifende Ehe- und Familienseelsorge. Vandenhoeck<br />

& Ruprecht, Göttingen 1995.<br />

Rebell, Walter: Gehorsam und Unabhängigkeit. Eine sozialpsychologische Studie zu Paulus.<br />

Chr. Kaiser Verlag, München 1986.<br />

Riedel, Ursula: „Wiederheirat Geschiedener“ (Texte: Markus 10,1-9; Matthäus 19,3-10). – In:<br />

„Praxis der Verkündigung“ 1/2000, Seiten 46-48.<br />

Rienecker, Fritz: Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament, Brunnen-Verlag,<br />

Gießen/Basel, 1970 (13. Auflage).<br />

Schmidt, Peter: „cwre,w“, in: Coenen, Lothar / Beyreuther, Erich / Bietenhard, Hans (Hrsg.),<br />

Theol. Begriffslexikon zum Neuen Testament, Studienausgabe Band 1, <strong>Theologische</strong>r Verlag<br />

R. Brockhaus, Wuppertal 1979 (2. Auflage), S. 413.<br />

Schnackenburg, Rudolf: „Die Ehe nach dem Neuen Testament“ – in: Rudolf Schnackenburg.,<br />

Aufsätze und Studien zum Neuen Testament. St. Benno-Verlag, Leipzig 1973, Seiten 149-169.<br />

Schottroff, Luise: „Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth. Wie Befreiung entsteht.“ – In:<br />

Schottroff, Luise / Wacher, Marie-Theres (Hrsg.), Kompendium Femenistischer Bibelauslegung.<br />

Gütersloh 1998, Seiten 574-592.<br />

Schrage, Wolfgang: Ethik des Neuen Testaments. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1985.<br />

Sorg, Theo: Ehe und Familie. Biblische Perspektiven. Calwer Verlag, Stuttgart 1982 (2. Auflage).<br />

Stadter, Ernst: „Philosophische Aspekte der Partnerbeziehung und der Kommunikationstherapie.“<br />

– In: Mandel, Anita / Mandel, Karl Herbert / Stadter, Ernst / Dirk Zimmer; Einübung in<br />

die Partnerschaft durch Kommunikationstherapie und Verhaltenstherapie. Band I. Verlag<br />

J. Pfeiffer, München 1979 (10. Auflage), Seiten 325 – 402.<br />

Stauffer, Ethelbert: „game,w ga,moj“, in: Gerhard Kittel u.a. (Hrsg.): <strong>Theologische</strong>s Wörterbuch<br />

zum Neuen Testament (ThWBzNT), Erster Band, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1957,<br />

Seiten 646-655.<br />

Stoll, Claus-Dieter: Ehe und Ehescheidung. Die Weisungen Jesu. Brunnen Verlag, Gießen<br />

1983.<br />

249


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Stollberg, Dietrich: Nach der Trennung. Erwägungen für Geschiedene, Entlobte, Getrennte und<br />

- Verheiratete. Chr. Kaiser Verlag, München 1980.<br />

Tepp, Volker: Ehescheidung im Freikirchentum am Beispiel des deutschen Baptismus. Diplomarbeit<br />

am Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften, Freie Universität Berlin,<br />

Dezember 1994 (unveröffentlichte Maschinenschrift).<br />

Thilo, Hans-Joachim: Ehe ohne Norm? Eine evangelische Ehe-Ethik in Theorie und Praxis.<br />

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1978.<br />

Trilling, Wolfgang: „Zum Thema: Ehe und Ehescheidung im Neuen Testament.“ – In: Joachim<br />

Rogge / Gottfried Schille (Hrsg.), <strong>Theologische</strong> Versuche, Band XVI, Evangelische Verlagsanstalt,<br />

Berlin 1986, Seiten 73-84.<br />

Trummer, Peter: Die blutende Frau. Wunderheilungen im Neuen Testament. Herder Verlag,<br />

Freiburg i. Br. 1991.<br />

Urner, Hans: „Ein Kapitel über die Ehe. 1. Korinther 7.“ – in: Weg und Gemeinschaft. Aufsätze<br />

von und für Hans Urner. (Aufsätze und Vorträge zur Theologie und Religionswissenschaft,<br />

Heft 66).Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1976, Seiten 122-127..<br />

van der Geest, Hans: Unter vier Augen. Beispiele gelungener Seelsorge. <strong>Theologische</strong>r Verlag,<br />

Zürich 1981.<br />

Vorländer, Herwart: „katalla,ssw“, in: Coenen, Lothar / Beyreuther, Erich / Bietenhard, Hans<br />

(Hrsg.), <strong>Theologische</strong>s Begriffslexikon zum Neuen Testament, Studien-Ausgabe Band 2,<br />

<strong>Theologische</strong>r Verlag R. Brockhaus, Wuppertal 1979 (2. Aufl.), Seiten 1307-1309.<br />

Wikenhauser, Alfred / Schmid, Josef: Einleitung in das Neue Testament. St. Benno-Verlag,<br />

Leipzig 1973 (6. völlig neu bearbeitete Auflage).<br />

Wolff, Hanna: Jesus <strong>als</strong> Psychotherapeut. Jesu Menschenbehandlung <strong>als</strong> Modell moderner<br />

Psychotherapie. Radius-Verlag, Stuttgart 191978.<br />

Zimmermann, Michael: Ehescheidung und Wiederverheiratung. Bund Evangelisch-<br />

Freikirchlicher Gemeinden in der DDR, Wort und Tat. Arbeitsmaterial für den Pastor, Nr.<br />

54, 1981.<br />

Kommentare zum 1. Korintherbrief:<br />

Conzelmann, H.: Der erste Brief an die Korinther (KEK 5) Göttingen 21981 (Neudruck 1997).<br />

de Boor, Werner: Der erste Brief des Paulus an die Korinther (Wuppertaler Studienbibel),<br />

Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft, Berlin 1967.<br />

Fascher, Erich: Der erste Brief an die Korinther. Erster Teil: Einführung und Auslegung der<br />

Kapitel 1-7. (<strong>Theologische</strong>r Handkommentar zum Neuen Testament, Band VII/1). Evangelische<br />

Verlagsanstalt, Berlin 1975.<br />

Fee, G. D.: The first epistle to the Corinthians (NIC 7/1) Grand Rapids 1994.<br />

Klauck, H.-J.:, 1. Korintherbrief (NEB.NT 7) Würzburg 3 1992.<br />

250


WAHL: 1. KORINTHER 7<br />

Kremer, J.: Der Erste Brief an die Korinther (RNT) Regensburg 1997.<br />

Lang, F.: Die Briefe an die Korinther (NTD 7) Göttingen 2 1994.<br />

Lerle, Ernst: Praktischer Kommentar zum Ersten Korintherbrief. Evangelische Verlagsanstalt<br />

Berlin 1978 (1. Aufl.).<br />

Lietzmann, H.: An die Korinther I/II ergänzt von W.G. Kümmel (HNT 9) Tübingen 5 1969.<br />

Merklein, H.: Der erste Brief an die Korinther 1-4 (ÖTK 7.1) Gütersloh u.a. 1992.<br />

Orr, W. F.: I. Corinthians. A new Translation, Introduction with a Study of the Life of Paul,<br />

Notes, and Commentary (AncB 32) New York u.a. 1986.<br />

Robertson, A.: A Critical and Exegetical Commentary on the First Epistle of St. Paul to the<br />

Corinthians (ICC) Edinburgh 1986.<br />

Schlatter, Adolf: Paulus, der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther. Calwer<br />

Verlag, Stuttgart 1985 (5. Aufl.).<br />

Schrage, W.: Der erste Brief an die Korinther (EKK 7/1 und 7/2) Zürich u.a. 1991 und 1995.<br />

Strobel, A.: Der Brief an die Korinther (ZBK 6.1) Zürich 1989.<br />

Voigt, Gottfried: Paulus an die Korinther, I, Bibelauslegung für die Gemeinde. Evangelische<br />

Verlagsanstalt Berlin 1989.<br />

Walter, Eugen: Der erste Brief an die Korinther (Geistliche Schriftlesung, Band 7), St. Benno-<br />

Verlag, Leipzig1968.<br />

Wendland, Heinz-Dietrich: Die Briefe an die Korinther (Das Neue Testament Deutsch, Band 7).<br />

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1954 (7. neubearbeitet Auflage).<br />

Weiß, J.: Der erste Korintherbrief, Göttingen 9 1910 (Neudruck 1977).<br />

Witherington, B.: Conflict & Community. A Socio-Rhetorical Commentary on 1 and 2 Corinthians,<br />

Carlisle 1994.<br />

Wolff, C.: Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7/2) Berlin 3 1990.<br />

Psychologische Literatur:<br />

Bateson, Gregory / Jackson Don D. / u.a.: Auf dem Weg zu einer Schizophrenie-Theorie; in:<br />

Bateson u.a. (Hrsg), Schizophrenie und Familie. Suhrkamp Taschenbuch Verlag , Frankfurt<br />

a.M. 1984.<br />

Filker, Claudia: Die Kinder-Überraschung. Paare werden Eltern. Brockhaus Verlag, Wuppertal<br />

1996<br />

Haley, Jay: Direktive Familientherapie. Strategien für die Lösung von Problemen. (Leben lernen,<br />

27). Verlag J. Pfeiffer, München 1983 (3. Aufl.).<br />

Hantel-quitmann, Wolfgang: Beziehungweise Familie. Arbeits- und Lesebuch Familienpsycho-<br />

251


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

logie und Familientherapie. Band 1 Metamorphosen. Lambertus-Verlag, Freiburg i. Br. 1996.<br />

Hantel-Quitmann, Wolfgang: Beziehungsweise Familie. Arbeits- und Lesebuch Familienpsychologie<br />

und Familientherapie, Band 3 Gesundheit und Krankheit, Lambertus-Verlag, Freiburg<br />

i. Br. 1997.<br />

Jackson, Don D.: „Familienregeln: Das eheliche Quid pro quo“ – In: Watzlawick, Paul /<br />

Weakland, John H. (Hrsg.), Interaktion, Verlag Hans Huber, Bern 1980; Seiten 47-60.<br />

Mandel, Anita / Mandel, Karl Herbert / Stadter, Ernst / Dirk Zimmer: Einübung in die Partnerschaft<br />

durch Kommunikationstherapie und Verhaltenstherapie. Band I. Verlag J. Pfeiffer,<br />

München 1979 (10. Auflage).<br />

Pines, Ayala M.: Auf Dauer. Überlebens-Strategien der Liebe. Kabel Verlag, Hamburg 1988<br />

Schlippe, Arist von / Schweitzer, Jochen: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung.<br />

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997.<br />

Simon, Fritz B.: „Krieg. Systemtheoretische Überlegungen zur Entstehung tödlicher Konflikte.“<br />

– In. Familiendynamik, 25. Jahrgang, Heft 1, Januar 2000, Klett-Cotta Stuttgart, Seiten 104-<br />

130.<br />

Stierlin, Helm: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.<br />

Watzlawick, Paul / Weakland, John H. (Hrsg.), Interaktion, Verlag Hans Huber, Bern 1980.<br />

Willi, Jürg: Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen – Störungsmuster – Klärungsprozesse –<br />

Lösungsmodelle. Analyse des unbewußten Zusammenspiels in Partnerwahl und Paarkonflikt:<br />

das Kollusions-Konzept. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg,1981 (13. Aufl.)<br />

Willi, Jürg: Ko-evolution. Die Kunst gemeinsamen Wachsens. Rowohlt Verlag, Reinbek bei<br />

Hamburg, 1987 (2. überarb. Aufl.)<br />

Willi, Jürg: Therapie der Zweierbeziehung. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg,1991.<br />

Willi, Jürg: Was hält Paare zusammen? Der Prozeß des Zusammenlebens in psychoökologischer<br />

Sicht. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg,1993.<br />

252


Seelsorge und Gemeindetheologie


Abschlussrituale<br />

Andreas Bochmann<br />

Rituale<br />

Die Bedeutung von Ritualen sind in den reformatorischen Traditionen, insbesondere<br />

aber in der freikirchlichen Kultur, zunehmend minimiert worden.<br />

Sprach Luther noch von den Sakramenten „Taufe und Abendmahl“, wird im<br />

freikirchlichen Vokabular der Begriff des Sakramentes eher vermieden. Gottesdienstliche<br />

Symbole und Zeichen wie Altar, Talar und festgefügte Liturgien<br />

gibt es wenig und werden teilweise sogar <strong>als</strong> unnötiges, wenn nicht sogar hinderliches<br />

Beiwerk des Glaubens gesehen. 1 In Fortführung der reformatorischen<br />

Ablehnung und Distanzierung von der römisch-katholischen Lehre, in Praxis<br />

aber vor allem in der Fremdheit und Befremdung gegenüber dem römischkatholischen<br />

Kultus hat die Glaubenstradition der Adventgemeinde eine besonders<br />

hohe Abwehrhaltung allein schon gegenüber dem Begriff des Ritu<strong>als</strong>. 2<br />

Deshalb ist eine Begriffsklärung unumgänglich.<br />

Ohne hier zwischen einer theologischen und psychologischen Interpretation<br />

des Begriffes zu differenzieren, möchte ich ein Ritual wie folgt definieren: 3<br />

Ein Ritual ist eine wiederkehrende Handlung, die unter Einbeziehung von<br />

Symbolen in ihrer Bedeutung über sich hinausweist.<br />

1 Als erstes „klassisches“ und zugleich drastisches Beispiel ist der Wittenberger Bildersturm<br />

(1522) zu nennen, aber auch die Abschaffung von kirchlichen Ritualen durch Luther selbst.<br />

(Siehe Eberhardt, 1973)<br />

2 Das adventistische „Bible Students’ Source Book“ (Neufeld und Neuffer, 1962) z.B. listet<br />

unter dem Begriff „Ritualism“ einen höchst polemischen Artikel des (nicht adventistischen) H.<br />

G. Wells, der die Ritualisierung der frühen Kirche auf Kosten der klaren Lehre beklagt.<br />

3 Im psychoanalytischen Gebrauch bezieht sich „Ritual“ auf eine „symptomatische, stereotypische,<br />

zwanghafte Wiederholung eines Verhaltensmusters“ (Moore und Fine, 1990, Übersetzung<br />

des Autors). Um diese Engführung geht es hier nicht. Der Begriff „Ritus“ scheint mir durch die<br />

im Sprachgebrauch übliche Reduzierung auf den kirchlichen Kontext ebenfalls eine Engführung<br />

zu sein, obwohl die Definition von „Ritus“ am ehesten meinem hier zu Grunde gelegten Verständnis<br />

von Ritual entspricht. (Vgl. Praktisches Wörterbuch der Pastoral-Anthropologie,<br />

1975).<br />

255


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Das Ritual ist eine Handlung, d.h. es ist nicht „gegenständlich“ oder „bildhaft“,<br />

sondern ausagiert. Dies scheint mir theologisch insofern bedeutungsvoll,<br />

<strong>als</strong> gerade das hebräische Denken Gott und Mensch <strong>als</strong> Handelnde beschreibt.<br />

Verben sind das wesentliche Sprachelement des Hebräischen. 4 Das Ritual unterscheidet<br />

sich dadurch deutlich von der Metapher, dass es nicht nur „geistig“,<br />

<strong>als</strong>o mit dem Kopf zu verstehen ist, sondern ein ganzheitliches Begreifen beinhaltet,<br />

was dem biblischen Konzept der Ganzheitlichkeit sehr entgegenkommt.<br />

Das Ritual ist eine Handlung, die Symbole verwendet. Hierüber kann man<br />

sich streiten - und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens könnte man behaupten,<br />

die Handlung sei selbst symbolisch und erfordere keine zusätzlichen, schon gar<br />

nicht gegenständliche Symbole. Damit bin ich zwar einverstanden, halte die<br />

Unterscheidung aber dennoch aufrecht. Am einfachen Beispiel der Begrüßung<br />

möchte ich mein Verständnis illustrieren: Die Begrüßung, wie sie in unseren<br />

Breitengraden üblich ist, ist ein Ritual. Der Handschlag ist dabei das Symbol.<br />

Zum Zweiten muss unter Theologen der Streit entstehen, ob ein Ritual tatsächlich<br />

Symbole oder „nur“ Zeichen beinhaltet. Der Unterschied zwischen<br />

Symbol und Zeichen besteht darin, dass ein Zeichen nur ein Repräsentant für<br />

einen grundsätzlich anderen Gegenstand ist, während im Symbol die Realität<br />

des symbolisierten Gegenstandes präsent ist. Der Handschlag z.B. ist ein<br />

„Symbol“, weil er quasi ein kleines Umarmen, eine Einheit mit dem anderen<br />

Menschen vollzieht und nicht nur „benennt“. Der Gruß mit der erhobenen Hand<br />

hingegen ist, wenn er nicht Distanz symbolisieren soll, nur ein Zeichen.<br />

Bestes und in der reformatorischen Theologie wohl problematischstes Beispiel<br />

für den Unterschied zwischen Zeichen und Symbol sind Brot und Wein im<br />

Abendmahl. Handelt es sich für reformierte Christen bei den Emblemen um<br />

Zeichen, würden Lutheraner mit dem Begriff „Symbol“ keine Schwierigkeit<br />

haben. Der katholischen Kirche hingegen müsste „Symbol“ schon fast wieder<br />

zu wenig sein, weil dort Brot und Wein die reale und vollständige Präsenz des<br />

Leibes und Blutes Christi darstellt, anstatt auf sie zu verweisen oder sozusagen<br />

Teilaspekt der Präsenz zu sein. Die Unterschiede mögen subtil sein, sind aber<br />

keineswegs nebensächlich. Die Glaubensmänner der Reformation - und das<br />

waren kluge Köpfe - waren bereit, um solcher „Haarspaltereien“ willen ihr Leben<br />

zu lassen.<br />

Das dritte Element der Definition ist die Bedeutung, die über die Handlung<br />

selbst hinausweist. Mit anderen Worten: ein Ritual steht immer für mehr, verweist<br />

auf einen größeren Kontext und Zusammenhang. Gerade dadurch werden<br />

4 Vgl. Boman (1977 6 )<br />

256


BOCHMANN: ABSCHLUSSRITUALE<br />

Rituale sinn- und gemeinschaftsstiftend und sind damit auch im seelsorgerlichen<br />

Kontext nicht nur nützlich, sondern Not wendend, notwendig. 5<br />

Für das Thema Abschlussrituale möchte ich den Begriff des Ritu<strong>als</strong> einschränken<br />

auf geistlich motivierte oder begründete Handlungen. Ferner geht es<br />

hier nur um solche Rituale, die im Zusammenhang mit unserem Gesamtthema<br />

„Ehescheidung und Wiederheirat“ stehen - bei „Abschlussritualen“ offensichtlich<br />

reduziert auf „Ehescheidung“. Nur liegt hier bereits das Dilemma: Gibt es<br />

solche Rituale im Sinne der Definition überhaupt? Sollte es sie geben?<br />

Abschlussrituale sind im biblischen Kontext zum Stichwort Scheidung nur<br />

implizit zu finden. In den Ehegesetzen des Deuteronomium übergibt der Mann<br />

der Frau, von der er sich scheidet, einen Scheidebrief. Auffallend ist die Formulierung:<br />

Wenn jemand eine Frau zur Ehe nimmt und sie nicht Gnade findet vor seinen<br />

Augen, weil er etwas Schändliches an ihr gefunden hat, und er einen Scheidebrief<br />

schreibt und ihr in die Hand gibt und sie aus seinem Hause entlässt<br />

(5. Mose 24,1)<br />

Drei Schritte werden genannt, nachdem die Frau <strong>als</strong> Ehefrau verworfen, <strong>als</strong>o<br />

eine innere Entscheidung gefällt wurde. Diese drei Schritte weisen offensichtlich<br />

einen ritualisierten Charakter auf.<br />

Der Mann schreibt einen Scheidebrief. Wie der Scheidebrief aussah, was er<br />

beinhaltete, ist schwer zu rekonstruieren, aber im Zusammenhang mit meiner<br />

Darstellung auch von sekundärer Bedeutung. Schreiben ist hier ein vorgeschriebenes<br />

Ritual, zwar mit juristischen Implikationen, aber eben auch mit<br />

psychologischer Wirkung. Nicht das z.B. im Zorn gesprochene Wort setzt den<br />

Scheidungsprozess in Gang, sondern ein Schriftstück, das reflektiert und geschrieben<br />

sein will. Durch dieses „Ritual“ erhält der Vorgang Gewicht und Bedeutung.<br />

Im zweiten Schritt wird das Dokument „in die Hand gegeben“. Dieser Schritt<br />

beinhaltet eine letzte Begegnung zwischen Mann und Frau, eine letzte Gemeinsamkeit,<br />

ein Halten des Dokuments von beiden Seiten.<br />

5 P. Couture betont insbesondere den gemeinschaftstiftenden Charakter von Ritualen: „In terms<br />

of pastoral practice, this means that the ritual will continue to have a significant pastoral role to<br />

play in individual pastoral care, especially in the crisis and transition points of life like illness,<br />

accident, death, marriage, and birth. And ritu<strong>als</strong>, formal and informal, will continue to be essential<br />

components in the life of communities of faith where they both express and form common<br />

vision, uniting individual and community, and nourishing individu<strong>als</strong> through their common<br />

life.” (In Hunter, 1990)<br />

257


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Schließlich „entlässt“ der Mann die Frau, die Trennung ist endgültig vollzogen.<br />

Es ist nur zu ahnen, dass analog zum „ins Zelt führen“ (vgl. Genesis 24,67)<br />

die Entlassung aus dem Haus ein eigenes, möglicherweise umfangreiches, vielleicht<br />

sogar öffentliches Ritual war.<br />

Darüber hinaus findet sich kein Ritual zur Ehescheidung in der Bibel. Die<br />

Form dieses Ritu<strong>als</strong> ist sicher kulturbedingt und hat nur durch den Gesamtkontext<br />

spirituelle Bedeutung. Es wäre zu diskutieren, ob Rituale nicht überhaupt<br />

kulturabhängig sind. 6 Es ist von daher zunächst einmal zu begründen, weshalb<br />

hier für die Suche nach einem Abschlussritual oder Abschlussritualen plädiert<br />

wird.<br />

Plädoyer für Abschlussrituale bei Ehescheidung<br />

Trotz aller prinzipiellen Ablehnung von Ritualen - wie am Anfang der Ausführungen<br />

beschrieben - legt die Gemeinde bei einer Eheschließung sehr viel<br />

Wert auf Rituale. Das Predigerhandbuch beschreibt nicht nur Verständnis von<br />

Eheschließung und Ehe, sondern auch die Form, in der die Ehe geschlossen<br />

werden soll. Von Anregungen zur Traupredigt bis hin zur Vorgabe des Treueversprechens<br />

wird alles geregelt. 7 Schaut man in Agenden und Handreichungen<br />

anderer Kirchen, lässt sich Ähnliches finden. Im römisch-katholischen Verständnis<br />

hat die Trauung sogar sakramentalen, <strong>als</strong>o heilsstiftenden Charakter. 8<br />

Die starke Ritualisierung der Eheschließung ist sinnstiftend. Sie verleiht der<br />

Eheschließung eine große Bedeutung, hebt sie ab von anderen Lebenszusammenhängen,<br />

bzw. stellt sie in einen größeren Zusammenhang, macht die Eheschließung<br />

zu einer Hoch-Zeit. Sie nimmt die Partnerschaft aber auch heraus<br />

6<br />

Im Zusammenhang mit dem Abendmahl ist z.B. die Debatte um Einzelkelche und Gemeinschaftskelch<br />

anzuführen. Auch die Fragen der Kopfbedeckung bei Frauen im Gottesdienst wäre<br />

ein gutes Beispiel. Fordert Paulus in Korinther eine Kopfbedeckung für Frauen, so entspricht<br />

dies nicht dem Ritual in Korinth.<br />

7 Dies ist besonders deshalb notwendig, weil die kirchliche Trauung in vielen anderen Ländern<br />

einen rechtsverbindlichen Status hat.<br />

8 Allerdings stiftet nicht der Priester das Sakrament, wie oft vermutet wird, sondern die Eheleute<br />

stiften es sich gegenseitig - und werden an dieser Stelle Sachwalter eines Sakraments. Das ist<br />

eine bemerkenswerte Anomalie innerhalb des katholischen Sakramentsverständnisses, die lediglich<br />

bei der Taufe noch einmal vorkommt: sie kann in Notfällen (wie übrigens auch in den<br />

evangelischen Kirchen) auch von Laien gespendet werden. Interessant sind dazu die Ausführungen<br />

von Adam und Berger, 1982 , die zum Stichwort „Trauung“ u.a. folgendes<br />

schreiben: „Begründet aber wird die Ehe nicht durch diesen liturgischen Vorgang, sondern<br />

durch die Willenseinigung der beiden Brautleute, die dem Gottesdienst vorausgeht.“ (S. 520).<br />

258


BOCHMANN: ABSCHLUSSRITUALE<br />

aus der Privatsphäre, der individuellen Beliebigkeit und stellt sie in einen öffentlichen,<br />

gesellschaftlichen - hier gemeindlichen - Raum. Die Gemeinde signalisiert<br />

gerade durch das Ritual Anteilnahme, Mitfreude, aber auch Mitverantwortung.<br />

Das ist gut so. Es bietet den Ehepartnern die Chance, nicht auf sich<br />

allein gestellt zu sein, sondern eingebettet zu sein in den größeren Kontext der<br />

Gemeinde, Ehe im Schutzraum von Geborgenheit zu beginnen.<br />

Genau deshalb bin ich übrigens gegen ein Zusammenleben ohne „Trauschein“,<br />

wobei für mich der Bismarck'sche Trauschein nicht das entscheidende<br />

Kriterium ist, sondern das geistlich motivierte und begründete Ritual. Ob und<br />

wann die Zeit kommt, in der dieses Ritual in der christlichen Gemeinde wieder<br />

denkbar wird, ohne auf die Staatsbürokratie mit all ihren Problemen Rücksicht<br />

nehmen zu müssen, lässt sich nach meiner Einschätzung schwer voraussagen,<br />

jedenfalls auch für die nahe Zukunft nicht ausschließen. 9 In Loma Linda ist das<br />

bereits Realität. 10<br />

Trotz des ritualisierten Ehe-Beginns im Rahmen der Gemeindeöffentlichkeit<br />

verschwindet die Partnerschaft bald wieder im Privaten und Individuellen. Bei<br />

sich abzeichnenden Problemen wird von der Gemeinde (und oft von den Paaren<br />

selbst) explizit darauf verwiesen, dass es sich um eine „Privatangelegenheit“<br />

handle. Das Paar, das auf eine Scheidung zusteuert, wird dadurch isoliert. Die<br />

Vereinsamung, die die Partner oft schon innerhalb ihrer Beziehung erleiden,<br />

wird nun noch in Bezug auf Gemeinde verstärkt.<br />

Ich halte dafür, dass die Gemeinde ihrer Verantwortung nicht gerecht wird,<br />

wenn sie Ehe und damit konsequenter Weise auch die Ehescheidung in eine<br />

Privatsphäre ohne Außenbeziehung verbannt und nicht <strong>als</strong> ekklesiologisch relevant<br />

begreift. Damit soll nicht einem Voyeurismus im Stile von Big Brother<br />

Vorschub geleistet werden oder einer „totalen Kontrolle“ eines Systems über<br />

das Individuum, sondern einer Vernetzung, die gerade in Krisen und Ausfällen<br />

hält. 11 Klaus Schmitz stellt die Frage, ob nicht das Kriterium für die Konstituie-<br />

9 Gerade die vehementen Diskussionen um die Einführung einer registrierten Partnerschaft<br />

homosexueller Paare machen deutlich, dass gesellschaftliches Verständnis von Ehe im Fluss ist<br />

und sich nicht unbedingt mit christlichen Ansprüchen deckt und deshalb nicht allein gesellschaftlich<br />

/ staatsrechtlich definiert werden darf.<br />

10 Die adventistische Loma Linda University Church gehört mit über 6000 Gemeindegliedern<br />

zu den größten Adventgemeinden weltweit. Dort wurden bereits Trauungen unter Verzicht auf<br />

staatliche Registrierung der Ehe durchgeführt.<br />

11 Das Internet - im modernen Sprachgebrauch das Modell für Netze schlechthin - wurde ursprünglich<br />

<strong>als</strong> militärisches Konstrukt entwickelt, das auch bei Ausfall eines einzelnen Computersystems<br />

noch weiter funktionieren sollte (z.B. nach einem Erstschlag gegen eine militärische<br />

Einrichtung). Siehe Brown (1998).<br />

259


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

rung der Ehe auch die De-konstituierung (<strong>als</strong>o die Scheidung) kategorial vorgibt.<br />

Analog ist dann aber auch zu fragen, ob nicht die Bedeutung der Eheschließung,<br />

die durch aufwendige Rituale zum Ausdruck gebracht wird auch<br />

eine Entsprechung in der Scheidung findet, die ebenfalls eines Ritu<strong>als</strong> bedarf.<br />

Thesenhaft fasse ich zusammen:<br />

Abschlussrituale - warum?<br />

Die Gemeinde nimmt teil am Anfang einer Ehe und darf sie am Ende nicht im<br />

Stich lassen.<br />

Gemeinde darf sich nicht ihrer Verantwortung entziehen. Auch Gemeindezucht,<br />

selbst wenn wir sie „korrigierende Seelsorge“ nennen, kann eine Form<br />

der Ablehnung von Verantwortung sein, wenn diese Maßnahme die Ausgrenzung<br />

von Menschen beinhaltet.<br />

Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit (1.Korinther 12,26)<br />

Dies ist die komprimierte Darstellung eines ekklesiologischen Grundverständnissen<br />

der Bibel. Wo und wie bekommt das Mitleiden Ausdruck? Wenn<br />

z.B. ein Partner stirbt, findet eine Beerdigung statt, die ganz selbstverständlich<br />

durch die Gemeinde ausgerichtet (in der Person des Pastors) und begleitet wird.<br />

Wenn eine Ehe stirbt, dann sitzt – bestenfalls - der Gemeindeausschuss zusammen<br />

und überlegt, ob es irgendwelche Sanktionen zu geben habe. „Bestenfalls“<br />

deshalb, weil wir schon aus der Pädagogik wissen, dass es besser ist, ein Kind<br />

zu bestrafen <strong>als</strong> es völlig zu ignorieren. Dies ist wenigstens ein bisschen Zuwendung.<br />

Rituale bieten die Chance, über die Zeit der Not hinauszuweisen<br />

Gerade weil Rituale - per Definition - über die Gegenwart, den Ist-Zustand<br />

hinausweisen, können sie Zeichen der Hoffnung werden. Deutlich wird das am<br />

Beispiel der Beerdigung - aber durchaus auch am Beispiel der Hochzeit, die ja<br />

gegen die bekannten Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten eines Scheiterns<br />

auf eine erfolgreiche und lebenslange Ehe hofft. Im Falle der Scheidung, des<br />

Zerbrechens einer Ehe, des Auseinanderreißens zweier Menschen, die eins geworden<br />

sind, bedeutet das Abschlussritual: eine Wunde darf heilen. Das englische<br />

Wort „closure“ bringt das besser zum Ausdruck <strong>als</strong> das deutsch Wort „Abschluss“.<br />

Es schließt sich etwas, ein Neuanfang wird möglich.<br />

260


BOCHMANN: ABSCHLUSSRITUALE<br />

Wenn wir die Not-Wendigkeit des Abschlussritu<strong>als</strong> annehmen, ist natürlich<br />

auch gleich die Frage zu stellen, welche Inhalte zu solch einem Ritual gehören.<br />

An dieser Stelle werden hoffentlich Diskussionen entbrennen und gemeinsame<br />

Reflexionen uns voranbringen. Meine Vorschläge sind nicht notwendigerweise<br />

in jedem Fall relevant und beanspruchen keine Vollständigkeit. Die Reihenfolge<br />

ist nicht zufällig, aber wie die Punkte selbst ein Angebot zur Diskussion:<br />

1. Der Schmerz und die Wut gewinnen Gestalt<br />

Eine geringere Lebenserwartung ist eine Langzeitfolge von Scheidung (siehe<br />

in „Beobachtungen zur Situation von geschiedenen evangelischen Christen“<br />

von Andreas Erben). Ein schier unerträglicher Schmerz oder unbändige Wut<br />

sind oft die unmittelbare Folge. Wenn solche Gefühle Gestalt gewinnen dürfen,<br />

werden sie gleichsam in einem Behälter „gehalten“. Das bietet Schutz und Sicherheit.<br />

2. Schuld und Versagen werden bekannt<br />

Wir haben so viel davon gesprochen, dass die Schuldfrage nicht zu klären sei,<br />

dass leicht aus dem Blick zu verlieren ist, dass es dennoch eine Schuldfrage<br />

gibt. Ein Ehe-Gelöbnis oder Treueversprechen wird gebrochen. Das bedeutet<br />

Schuld und Versagen. Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern Schuldbekenntnis.<br />

Das kann nur von beiden Partnern kommen und zusätzlich auch von<br />

der Gemeinde: „Bekennt <strong>als</strong>o einander eure Sünden und betet füreinander, dass<br />

ihr gesund werdet.“ (Jakobus 5,16)<br />

3. Vergebung und Loslassen kommen zum Ausdruck<br />

Ich sehe die beiden Begriffe „vergeben“ und „loslassen“ in diesem Kontext<br />

<strong>als</strong> geradezu synonym. Bei der Vergebung zwischen Menschen geschieht ja<br />

nicht nur etwas für den Menschen, dem vergeben wird, sondern auch für den<br />

Menschen, der vergibt. Dem zu Vergebenden wird Freiheit zugesprochen, aber<br />

auch der Vergebende erlebt Freiheit, indem er vergibt oder loslässt, was ihn<br />

innerlich hält und gebunden sein lässt.<br />

261


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Schließlich ist das „Wie“ zu klären. Auch hier ein paar grundsätzliche Anregungen<br />

zur Diskussion - an dieser Stelle aus meiner Sicht mit besonders viel<br />

Spielraum:<br />

1. Öffentlich<br />

Die Hochzeit ist ein öffentliches Ereignis, ein öffentliches Bekenntnis. Analog<br />

gehört auch zur Scheidung „Öffentlichkeit“. Wie groß diese „Öffentlichkeit“<br />

sein darf oder sein muss, wird zu diskutieren sein. Zunächst einmal gehe ich<br />

davon aus, dass eine Gemeinde hier auch leicht überfordert werden kann. Mir<br />

geht es bei dem Begriff „Öffentlichkeit“ nicht um die Quantität, sondern um die<br />

Qualität, <strong>als</strong>o den Gegensatz zu „privat“. Es sollten bei einem solchen Ritual<br />

Zeugen vorhanden sein. Ich plädiere hier - wo es um die Begleitung von Scheidung<br />

durch die Gemeinde geht - nicht für ein „heimliches“ Ritual der beiden<br />

Partner miteinander. Wenn ich das Scheidungsritual aus dem Deuteronomium<br />

richtig deute, enthält es ja übrigens auch „Öffentlichkeit“.<br />

2. Idiosynkratisch<br />

Das bedeutet, das Ritual sollte den Betroffenen und ihrer Lebenssituation, a-<br />

ber auch ihrer Kultur und ihrem Umfeld angemessen und angepasst sein. Nach<br />

meiner Meinung wird ein „standardisiertes“ Ritual, das dann im Predigerhandbuch<br />

nachzulesen ist, der Not nicht gerecht. (Gleiches gilt übrigens auch für<br />

Hochzeiten, wo die Kultur Sitten und Gebräuche über Jahrhunderte geprägt<br />

hat.) Um ein Ritual idiosynkratisch zu gestalten, muss eine umfangreiche Vorarbeit<br />

geleistet werden, an deren Abschluss dann das Ritual stehen kann.<br />

3. Friedenstiftend<br />

Sehr pointiert sagte Bill Loveless, das Ziel sei nicht Versöhnung, sondern<br />

Frieden. Damit ist weder Waffenstillstand („wir zerstören uns nicht weiter -<br />

jedenfalls für eine Zeit nicht“) noch die große Harmonie („wir lieben uns doch<br />

trotzdem“) gemeint. Es geht um den inneren Frieden, der höher ist <strong>als</strong> menschliche<br />

Vernunft. Ein Abschlussritual hat sein Ziel erreicht, wenn trotz des<br />

Zerbruchs, der Scherben, des Versagens am Ende innerer Friede steht. Das kann<br />

z.B. durch Absolution (Zuspruch der Vergebung), durch Segen oder beides geschehen.<br />

262


BOCHMANN: ABSCHLUSSRITUALE<br />

Was ich hier jetzt nicht angesprochen habe ist die Frage, ob ein Abschlussritual<br />

auch mit nur einem Partner möglich und sinnvoll ist. Zwar würde ich die<br />

Frage grundsätzlich bejahen, doch hat eine solche Lösung gravierende Mängel<br />

und unterstreicht noch einmal in aller Deutlichkeit, dass das gesamte Thema<br />

nicht aus der Welt der Ideale stammt, sondern der Versuch ist, mit der Realität<br />

angemessen umzugehen. Ich vermute, die oft geübte Kritik an kirchlichen<br />

Handlungen zu Scheidungen rührt vom Blickwinkel des Ide<strong>als</strong> her. Die entsetzte<br />

Frage „Wie kann ein Pastor (eine Kirche) eine Scheidung segnen?“ ist vom<br />

biblischen Ideal der Ehe her zwar verständlich, aber eben doch zu kurz gegriffen.<br />

Es geht um reale Menschen, die ihr Versagen und den Zerbruch vor Gott<br />

bringen und ihre Bedürftigkeit bekennen. Hier Segen vorzuenthalten hätte<br />

grundlegende Implikationen, die - paulinisch betrachtet – einem „anderen<br />

Evangelium“ gleichkämen.<br />

Literatur:<br />

Adam, Adolf u. Berger, Rupert. Pastoralliturgisches Handlexikon. Leipzig: St. Benno-Verlag,<br />

1982.<br />

Boman, Thorleif. Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. Göttingen: Vandenhoeck<br />

& Ruprecht, 6 1977.<br />

Brown, Mark R. Internet: Referenz und Anwendungen. München: Markt und Technik, 1998.<br />

Couture, Pamela, “Ritual and Pastoral Care”, in Hunter, Rodney J. (Hg.), Dictionary of Pastoral<br />

Care and Counseling. Nashville: Abingdon Press, 1990.<br />

Eberhardt, Walter. Reformation und Gegenreformation. Berlin (DDR): Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten/Union<br />

Verlag, 1973.<br />

Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten. Handbuch für Prediger. Hamburg: Grindeldruck,<br />

1977<br />

Moore, Burness E. und Fine, Bernard D., (Hg.), Psychoanalytic Terms and Concepts, New<br />

Haven: The American Psychoanalytical Association/ Yale University Press, 1990.<br />

Neufeld, Don F. und Neuffer, Julia. Seventh-day Adventist Bible Students’ Source Book. Washington,<br />

D.C.: Review and Herald Publishing Association, 1962.<br />

Praktisches Wörterbuch der Pastoral-Anthropologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,<br />

1975.<br />

263


Korrigierende Seelsorge<br />

bei Ehescheidung und Wiederheirat<br />

Überlegungen zu Bedeutung und Anwendung der Gemeindeordnung<br />

(Gemeindehandbuch) der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten im<br />

Falle von Ehescheidung und Wiederheirat.<br />

Lothar Wilhelm<br />

Die Bedeutung der Gemeindeordnung für Siebenten-Tags-Adventisten<br />

Die Scheidung einer Ehe von Gliedern der Gemeinde Jesu Christi ist nicht nur<br />

„Privatsache“ der betroffenen Glieder. Die Ehe ist Schöpfung Gottes. Sie wird<br />

durch das Gebot Gottes geschützt. Jesus hat sich mit großer Entschiedenheit für<br />

den Erhalt der Ehe eingesetzt. An den Bildern der Ehe wird im Neuen Testament<br />

das Geheimnis der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen dargestellt.<br />

Zerbricht eine Ehe, so sind nicht nur die Ehepartner und Familienangehörigen<br />

davon betroffen, sondern es betrifft auch die Gemeinschaft der Gläubigen,<br />

der sie angehören. Die Gemeinde Jesu ist sein Leib. Leidet eines seiner Glieder,<br />

so leidet der ganze Leib.<br />

Die Gemeinde darf dazu nicht schweigen. Sie muss helfend und korrigierend<br />

eingreifen, in der Gesinnung Jesu und mit den Mitteln, die ihr nach dem Wort<br />

und Geist Gottes gegeben sind. Die Gemeindeordnung gibt dafür Anleitung.<br />

Die Gemeindeordnung (Gemeindehandbuch) der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten<br />

beschreibt, nach welchen Richtlinien und Prinzipien sich<br />

diese Gemeinschaft mit ihren Gemeinden und Institutionen organisiert. Sie enthält<br />

Hinweise für die christliche Lebensführung und Seelsorge und beschreibt,<br />

wie Konflikte zu regeln sind. Das Gemeindehandbuch (Church Manual) hat<br />

weltweite Gültigkeit. Es wird von der Vollversammlung der Generalkonferenz<br />

beschlossen und geändert.<br />

Die grundlegende Aussage zu Ehe und Familie findet sich in Kapitel 2, in den<br />

Glaubensüberzeugungen, Artikel 22. Die Fragen der christlichen Lebensführung<br />

werden in Kapitel 12, die Aufgaben für den Ehe- und Familiendienst in<br />

Kapitel 8, die korrigierende Seelsorge (Gemeindezucht) in Kapitel 13 und die<br />

Fragen zu Ehe, Ehescheidung und Wiederverheiratung in Kapitel 15 behandelt.<br />

265


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Da Sitten, gesellschaftliche Verhältnisse und Rechtsprechung weltweit unterschiedlich<br />

sind, erfordern die örtlichen Gegebenheiten zuweilen besondere Regelungen.<br />

Daher sieht die Gemeindeordnung vor, dass jedes Gebiet (Division)<br />

des Weltfeldes einen Anhang zur Gemeindeordnung erarbeitet, „der es zwar in<br />

keiner Weise ändert, aber doch solche Zusätze enthält, die Gegebenheiten und<br />

Umständen dieses Feldes gerecht werden“ (Vorwort). Die deutschen Verbände<br />

haben im Kapitel „Anhang und Erläuterungen“ zu Eheschließung und kirchlicher<br />

Trauung, korrigierender Seelsorge und zu Ehescheidung und Wiederverheiratung<br />

zusätzliche Aussagen gemacht, die Bestandteil der Gemeindeordnung<br />

sind.<br />

Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Handhabung der korrigierenden<br />

Seelsorge im Falle von Ehescheidung und Wiederheirat nach der<br />

Gemeindeordnung. Das biblische Verständnis von Ehe, die Hinweise zur Ehevorbereitung,<br />

zur begleitenden Seelsorge, zu Eheberatung und Krisenprävention<br />

und anderer damit zusammenhängender Fragen müssen darum hier unberücksichtigt<br />

bleiben. Daraus darf nicht der Eindruck entstehen, sie seien von geringerer<br />

Bedeutung. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Gemeinde muss zwar reagieren,<br />

wenn eine Ehe geschieden wird, weil dies eindeutig dem Wort Gottes widerspricht.<br />

Aber die Gemeinde kann berechtigterweise nur dann über Schritte<br />

nach der Gemeindeordnung entscheiden, wenn sie zuvor alles getan hat, was ihr<br />

möglich ist, um die Partner zu versöhnen und die Scheidung zu vermeiden.<br />

Das Problem bei der Anwendung korrigierender Seelsorge durch die<br />

Gemeinde<br />

Das größte Problem bei der Handhabung korrigierender Seelsorge durch die<br />

Gemeinde liegt nach meiner Erfahrung nicht im gerade vorliegenden Fall, sondern<br />

im fehlenden oder fehlerhaften Verständnis des biblischen Auftrages bei<br />

den Gemeindegliedern und allzu häufig auch bei Mitarbeitern. Mir sind Menschen<br />

begegnet, denen nach dem schlimmen Trauma durch das Scheitern einer<br />

Ehe ein weiteres traumatisches Erlebnis durch die Gemeinde zugefügt wurde,<br />

dass sie kaum verkraften konnten.<br />

Das hat leider auch dazu geführt, dass Glieder in Scheidung der Gemeinde<br />

den Rücken kehren und damit nicht mehr die Hilfe erfahren können, die eigentlich<br />

für die Bewältigung der Scheidung und für ein geistliches Wachstum in<br />

einer Krise möglich wäre.<br />

Als Reaktion darauf handeln leider viele Gemeinden heute bei Scheidung o-<br />

der Wiederheirat überhaupt nicht mehr und werden nun daran schuldig.<br />

266


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

Ich habe allerdings auch schon in einer Gemeinderatsitzung sagen müssen:<br />

„Wenn ihr so darüber denkt und gegenüber euren Gliedern so handelt, lasst die<br />

korrigierende Seelsorge lieber bleiben, denn sonst sündigt ihr nicht weniger <strong>als</strong><br />

die gesündigt haben, über die ihr zu Gericht sitzen wollt!“<br />

Grundlegende Gedanken zum biblischen Verständnis von Gemeindeordnung<br />

und korrigierender Seelsorge<br />

Wer in einer Adventgemeinde die Frage stellt: „Steht in der Bibel: ‚Unser<br />

Gott ist ein Gott der Ordnung’?“ erhält <strong>als</strong> Antwort meistens ein eindeutiges Ja.<br />

Grundlage für Glauben und Leben der Siebenten-Tags-Adventisten ist die Heilige<br />

Schrift. Die Gebote Gottes werden dementsprechend wertgeschätzt. Die<br />

Konzentration auf die bewahrende und ordnende Bedeutung der Gebote Gottes<br />

kann aber die Gefahr mit sich bringen, das Wichtigste beim Umgang mit der<br />

Ordnung aus dem Blick zu verlieren.<br />

Zur Bedeutung der Ordnung<br />

Der Gebrauch einer geschriebenen Ordnung muss sich immer wieder am E-<br />

vangelium messen lassen. Darum ist es für alle, die mit der Gemeindeordnung<br />

umgehen, unverzichtbar, sich mit den biblischen Voraussetzungen für einen<br />

geistlichen Umgang mit der Ordnung vertraut zu machen. Nicht nur von Pastoren,<br />

sondern auch von Ältesten und anderen Verantwortungsträgern wird erwartet,<br />

dass sie sich mit den theologischen Fragen der Berufung der Gemeinde und<br />

der Bedeutung ihrer Ordnungen beschäftigen.<br />

Die Bibel sagt eben nicht: „Unser Gott ist ein Gott der Ordnung!“ In der Gemeinde<br />

Korinth (1.Korinther 14) war Streit aufgekommen über die unterschiedlichen<br />

Geistesgaben. Der Apostel zeigt darum auf, wie die Gaben gebraucht<br />

werden sollen, damit sie der Gemeinde recht dienen. Er schließt mit dem prinzipiellen<br />

Wort (Vers 33): „Unser Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern<br />

ein Gott des Friedens“. In streng logischer Folge hätte Paulus eigentlich<br />

schreiben müssen: „...nicht ein Gott der Unordnung, sondern ein Gott der Ordnung!“<br />

Das tut er aber nicht. Warum nicht? Er will deutlich machen, worauf es<br />

Gott ankommt. Das Ziel ist nicht die Ordnung. Unordnung ist ein Zeichen des<br />

Verfalls, sie führt zum Unfrieden. Das will Gott nicht. Er ist nicht ein Gott der<br />

Unordnung. Aber es geht ihm niem<strong>als</strong> nur um die Herstellung der Ordnung.<br />

Ordnung ist nicht der höchste Wert. Man kann auch um der Ordnung willen<br />

Unfrieden erzeugen. Oder man kann mit der Ordnung alles Leben ersticken.<br />

Dann hat zwar in der Gemeinde alles seinen ordentlichen und gewohnten Ab-<br />

267


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

lauf, aber es gibt kein Wachstum mehr. Gott hat immer ein höheres Ziel: Den<br />

Frieden, die Freude, die Liebe, das Leben. Diesem Ziel hat auch alle Ordnung<br />

zu dienen. Wo Ordnung nicht von diesem Ziel bestimmt ist, ist sie keine geistliche<br />

Ordnung. Was Jesus über den Sabbat sagte, mit dem er unsere Zeit ordnete<br />

(Markus 2,27.28), kann auch über die Ordnung selbst gesagt werden: „Die Ordnung<br />

ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um der Ordnung<br />

willen“. Verantwortungsträger in der Gemeinde müssen sich ständig fragen:<br />

Mit welchem Ziel regle und ordne ich? Was soll damit erreicht werden und<br />

auf welche Weise dient es dem Frieden oder dem Leben und dem Wachstum<br />

der Gemeinde? Wo die Gemeindeordnung in diesem Sinne gebraucht wird,<br />

dient sie zum Segen für einzelne Glieder und die ganze Gemeinde.<br />

Zu Ordnung und Vielfalt<br />

Die Kennzeichen aller Schöpfung Gottes sind Ordnung und Vielfalt. Alles<br />

Leben verläuft nach Gesetzen, die für alle gelten, und doch sind nicht zwei Lebewesen<br />

gleich. Gott schuf alles von Anfang „nach seiner Art“. Obwohl jeder<br />

Art ihre Grenzen gesetzt wurden, sind in jeder Art so viele Möglichkeiten angelegt,<br />

dass sich das Leben auf der Erde fortwährend verändert. Das gleiche gilt<br />

auch für die Gemeinde Gottes. Sie lebt aus dem Auftrag und der Ordnung Gottes,<br />

die für alle gleich sind, und ist doch so vielfältig wie ihre Glieder. Wer mit<br />

der Ordnung im Sinne Gottes umgehen will, muss diese Spannung zwischen<br />

Ordnung und Vielfalt, zwischen Bewahren und Verändern, zwischen Einheit<br />

und Unterschiedlichkeit erkennen und bejahen. Sie gehört zum Leben, das Gott<br />

geschaffen hat. Zur Ehrfurcht vor dem Schöpfer, die Gott der Endzeitgemeinde<br />

besonders aufgetragen hat (Offenbarung 14,7), gehört die demütige Erkenntnis,<br />

dass Gott größer ist <strong>als</strong> unsere eigenen Vorstellungen von Gesetz und Freiheit,<br />

von Einheit und Vielfalt. Die Ehrfurcht vor dem Schöpfer gebietet die Achtung<br />

vor seinen Geboten und Ordnungen, und sie verbietet jeden starren Umgang<br />

damit. Gerechtigkeit setzt das Gesetz voraus, vor dem alle gleich sind. Aber wer<br />

alle gleich behandelt, wird ungerecht, denn die Menschen sind nicht alle gleich.<br />

Zu Gesetz und Evangelium<br />

Das Leben unterliegt den Gesetzen Gottes. Die Übertretung dieser Gesetze<br />

zerstört das Leben. „Die Sünde ist Gesetzlosigkeit“ (1.Johannes 3,4 Elb). „Der<br />

Lohn der Sünde ist der Tod“ (Römer 6,23 Elb). Das Evangelium ist die gute<br />

Nachricht davon, was Gott getan hat und tut, damit die Menschen, die dem Tode<br />

preisgegeben sind, weil sie Gottes Gebote übertreten haben, das Leben wieder<br />

erhalten. „Die Gnadengabe Gottes aber ist ewiges Leben in Christus Jesus,<br />

268


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

unserem Herrn“ (Römer 6,23 Elb). Das zu verkündigen ist der Auftrag der Gemeinde.<br />

Zusammenfassend könnte man sagen: Das Ziel des Evangeliums ist die Wiederherstellung<br />

der Lebensordnung Gottes. Das ist zwar richtig, häufig wird daraus<br />

aber die f<strong>als</strong>che Schlussfolgerung gezogen: Durch Wiederherstellung der<br />

Ordnung könne das Leben gerettet oder gesichert werden. Das ist ein verhängnisvoller<br />

Irrtum. Auch wenn die Menschen alle Gesetze Gottes beachteten,<br />

können sie dadurch das Leben weder retten noch sichern, weder ihr eigenes<br />

Leben noch das der Gemeinde. Das ist eben nicht durch „des Gesetzes Werke“<br />

(Galater 2,16) möglich, sondern nur durch das Opfer Christi, durch seine Vergebung,<br />

die Wiedergeburt in der Taufe und die Vollendung bei der Wiederkunft.<br />

Es ist allein „Gnadengabe Gottes“. Nur wer sein eigenes Unvermögen<br />

und Versagen erkannt hat und sich der Vergebung Christi erfreuen kann, wird<br />

auch mit Gesetz und Ordnung richtig umgehen. Denn nur wer sich selbst <strong>als</strong><br />

Begnadigter sehen kann, wird auch barmherzig sein. „Darum, da wir diesen<br />

Dienst haben, weil wir ja begnadigt worden sind,... verfälschen wir nicht Gottes<br />

Wort, sondern durch Offenbarung der Wahrheit empfehlen wir uns jedem Gewissen<br />

der Menschen vor Gott“ (2.Korinther 4,2 Elb, Hervorhebung vom Verfasser).<br />

Die Gemeinde wird nicht dadurch heil, dass sie geordnet wird, sondern<br />

nur eine Gemeinde, die das Heil erfahren hat, wird sich richtig ordnen.<br />

Zum Wirken des Heiligen Geistes<br />

Entscheidend für die Führung der Gemeinde ist das Wirken des Heiligen<br />

Geistes. Ihn hat Jesus verheißen. Darum gilt für jedes Gemeindeglied und besonders<br />

für jeden Verantwortungsträger in der Gemeinde: „Lasst euer Leben<br />

vom Heiligen Geist bestimmen.“ (Galater 5,16 Hfa). Die Geistesleitung ist auch<br />

bestimmend für den Umgang mit geschriebenen Ordnungen. „Denn der Buchstabe<br />

tötet, aber der Geist macht lebendig.“ (2.Korinther 3,6).<br />

Das Wirken des Geistes und geordnetes oder ordnendes Handeln ist aber niem<strong>als</strong><br />

ein Gegensatz. Jesus nennt den Heiligen Geist den „Geist der Wahrheit“<br />

(Johannes 14,17; 15,26). Die Frage nach der Wahrheit ist immer auch die Frage<br />

nach dem Richtigen. Was ist bei einem Konflikt für die Menschen und die Sache,<br />

um die es geht, das Richtige? Wonach richten wir uns? Wonach werden<br />

wir gerichtet? Es geht <strong>als</strong>o um Ausrichtung, um Ordnung. Darum ist Handeln<br />

aus dem Geist auch offenbarend. Es wendet sich an das Gewissen, spricht<br />

Schuld an und deckt sie auf, damit der Mensch wieder mit Gott in Ordnung<br />

kommt (Johannes 16,7-11).<br />

269


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Wenn in der Schrift vom Heiligen Geist gesprochen wird, ist immer auch von<br />

der Liebe die Rede (z.B. Johannes 14,15-17; Römer 12,9-11; 1.Korinther 12-<br />

14; Galater 5,22; Epheser 4,1-6). Der Heilige Geist ist der Geist der Liebe. Die<br />

Frage nach der Wahrheit und dem Richtigen ist <strong>als</strong>o immer verbunden mit der<br />

Frage: Ist das, was wir tun, liebevoll, anteilnehmend, versöhnend, helfend? Nur<br />

dann ist es aus dem Heiligen Geist. Dann wird eine offenbarende, prophetische<br />

Seelsorge möglich. Paulus schildert das so: „Wenn ein Ungläubiger oder Fremder<br />

dazu kommt, wird ihn dann nicht alles, was ihr sagt, von seiner Schuld ü-<br />

berzeugen und in seinem Gewissen treffen? Was er bis dahin sich selbst nie<br />

eingestanden hat, wird ihm jetzt plötzlich klar. Er wird auf seine Knie fallen,<br />

Gott anbeten und bekennen: ‚Gott ist wirklich mitten unter euch!’“ (1.Korinther<br />

14,24.25 Hfa). Wo der Mensch, dem die Wahrheit über sich offenbart wurde,<br />

gleichzeitig mit Liebe angenommen und gehalten wird, da entsteht das Lob<br />

Gottes.<br />

Das wesentlichste Kennzeichen der Gemeinde Jesu Christi ist nicht die reine<br />

Lehre, auch nicht die Ordnung, sondern die Liebe (Johannes 13,35). „Gott ist<br />

Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“<br />

(1.Johannes 4,16).<br />

Zum Binden und Lösen<br />

Der weitest gehende Auftrag, mit dem Jesus seine Gemeinde ausrüstet, ist,<br />

auszusprechen, was auf der Erde wie im Himmel gebunden und was auf der<br />

Erde wie im Himmel gelöst sein soll (Matthäus16,19; 18,15-18). Das vermag<br />

die Gemeinde nicht aus sich selbst. Niemand außer Gott selbst hat die Macht zu<br />

entscheiden, was bei ihm gebunden, <strong>als</strong>o errettet ist oder was von Gott los, <strong>als</strong>o<br />

verloren ist. Das zu entscheiden steht der Gemeinde nicht zu. Christus allein ist<br />

der Richter der Lebendigen und der Toten (Johannes 5,22; Apostelgeschichte<br />

10,42; 17,31; 2. Timotheus 4,1). Jesus macht mit einer Handlung deutlich, wie<br />

dieser Auftrag an seine Jünger erfüllt wird. Er haucht sie an und sagt: „Empfangt<br />

den Heiligen Geist! Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, dem sind sie<br />

vergeben, wenn ihr sie jemandem behaltet, sind sie behalten.“ (Johannes 20,21-<br />

23 Elb.). Nur durch den Heiligen Geist vermögen Nachfolger Jesu zu sehen,<br />

was Gott ihnen zeigt.<br />

Menschen in Sünde und Schuld brauchen ein klares, korrigierendes Wort, unabhängig<br />

davon, ob sie einsichtig sind oder nicht. Erkennen sie die Größe ihrer<br />

Schuld, so leiden sie unter dem Verlust der Selbstachtung oder sind erschüttert<br />

von Scham. Dann brauchen sie die Gewissheit, dass die Vergebung vor Gott<br />

gilt. Sie brauchen die Gewissheit angenommen zu sein, wieder „eingebunden“<br />

270


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

zu sein in Gottes Reich. Das darf und soll die Gemeinde ihnen im Namen Gottes<br />

zusprechen. Bleiben sie uneinsichtig, so bleiben auch all die schlimmen Folgen,<br />

die Leugnung oder Verdrängung von Schuld immer nach sich ziehen. All<br />

das Ungute - wie Unfrieden, Hass, Lüge und Selbstbetrug, Aggression oder<br />

Verzweiflung treffen nicht nur diesen Menschen selbst, sondern auch andere,<br />

die mit ihm zu tun haben. Sie verursachen Leid und am Ende kann der Verlust<br />

des ewigen Lebens stehen. Darum ist es so wichtig, die Folgen deutlich zu machen.<br />

Wer vom Heiligen Geist der Wahrheit und Liebe bewegt wird, vermag<br />

diese Folgen zu sehen und ist dazu berufen, sie zu offenbaren.<br />

Die Worte Jesu vom Binden und Lösen beschreiben nicht die Vorwegnahme<br />

des letzten Gerichtes Gottes, sondern die Offenbarung des „Ist-Zustands“ und<br />

der möglichen Folgen. Sie beschreiben einen Akt der Seelsorge, zu der die Gemeinde<br />

durch den Heiligen Geist berufen ist.<br />

Zu Barmherzigkeit und Gericht<br />

Die gesellschaftliche Ordnung braucht das Verhältnis von Recht und Strafe.<br />

Unrecht muss durch Bestrafung gesühnt werden. Um einen Rechtsbruch zu<br />

sühnen, <strong>als</strong>o ein Strafmaß festzusetzen, bedarf es eines Urteils. Für die Urteilsfindung<br />

gibt es Richter. Das wird in der Bibel mit den Worten beschrieben: „Sie<br />

(die Obrigkeit) trägt das Schwert nicht umsonst, denn sie ist Gottes Dienerin,<br />

eine Rächerin zur Strafe für den, der Böses tut.“ (Römer 13,4 Elb). Die Bibelübersetzung<br />

„Hoffnung für alle“ verdeutlicht diesen Text: „Die öffentliche Gewalt<br />

steht im Dienst Gottes zum Nutzen jedes einzelnen. Wer aber Unrecht tut,<br />

muss sie fürchten, denn Gott hat ihr nicht ohne Grund die Macht übertragen,<br />

Strafen zu verhängen.“<br />

Dieser Zusammenhang von Rechtsbruch und Bestrafung, von Unrecht und<br />

Sühne ist so tief im Menschen verwurzelt, dass Christen häufig, wenn sie mit<br />

der Übertretung der Gebote Gottes in der Gemeinde zu tun bekommen, vergessen,<br />

dass Jesus diesen Zusammenhang für die neutestamentliche Gemeinde aufgehoben<br />

hat. So wichtig und gottgewollt Recht und Strafe, Urteilsfindung und<br />

Strafmaß in der Gesellschaft sind, und so sehr sie dort auch für die Gemeinde<br />

gelten, innerhalb der Gemeinde darf niemand mehr über einen anderen richten.<br />

Jesu sagt seiner Gemeinde: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“<br />

(Matthäus 7,1). Die Gemeinde besteht aus Sündern, die alle ihren „Balken im<br />

Auge“ haben, wenn sie den „Splitter im Auge des anderen“ sehen (Verse 3-5).<br />

Die Gemeinde besteht aus begnadigten Sündern, denen Gott in seiner unermesslichen<br />

Güte die Schuld vergeben hat, indem Jesus die Strafe auf sich nahm<br />

(Jesaja 53,4.5; 1. Petrus 2,24). Wer sich darum in der Gemeinde ein Urteil über<br />

271


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

einen anderen anmaßt, stellt sich selbst wieder unter das Gericht Gottes, vor<br />

dem ihn die Gnade bereits befreit hatte (Matthäus 7,2; 18,23-35; Römer 2,1.2).<br />

Die Gemeinde Jesu Christi darf nicht mehr richten, sie darf keine Strafe mehr<br />

festsetzen und kein Urteil mehr fällen (1.Korinther 4,5). Sie hat nur noch Gottes<br />

Barmherzigkeit zu verkünden und zu üben (Johannes 8,1-11).<br />

Ist da nicht ein Widerspruch? Einerseits gilt das Verbot zu richten, und anderseits<br />

gibt es den Auftrag und die Notwendigkeit, unmissverständlich auf die<br />

Übertretung der Gebote Gottes zu reagieren? Wie lässt sich das vereinen?<br />

Ein Beispiel dafür schildert die Bibel in 1.Korinther 5,1-5. Ein Mann in der<br />

Gemeinde hat ein Verhältnis mit der Frau seines Vaters, und die Gemeinde<br />

sieht untätig zu. Die Gemeinde wird vom Apostel dafür deutlich kritisiert und<br />

aufgefordert, diesen Mann aus der Gemeinde auszuschließen. Sie wird zu einer<br />

Maßnahme aufgefordert, die diesem Mann unmissverständlich klarmacht: So<br />

wie du lebst, gehörst du nicht zu uns! Was du machst, ist unvereinbar mit der<br />

christlichen Botschaft, die die Gemeinde in der Welt zu verkündigen hat. Das<br />

zeigen wir dir, indem du von der Liste der Glieder unserer Gemeinde gestrichen<br />

wirst! Wir verstehen die Gemeinde <strong>als</strong> den Ort, an dem Christus Einfluss hat<br />

und sein Wort gilt. Außerhalb der Gemeinde gelten andere Maßstäbe, dort ist<br />

der Einflussbereich des Bösen. Dort befindest du dich. Das zeigt dein Handeln,<br />

denn das ist im offensichtlichen Widerspruch zum Gebot und Geist Christi.<br />

Indem wir deinen Namen streichen, zeigen wir dir, wo du stehst. Der Text formuliert<br />

das drastisch: „dem Satan übergeben werden, zum Verderben des Fleisches“.<br />

Das bedeutet: Wenn du so weitermachst, wird es vernichtende Folgen<br />

haben.<br />

Die Gemeinde, die nach diesem Wort des Apostels handelt, richtet nicht, das<br />

heißt es geht ihr nicht darum herauszufinden, wie viel oder wenig einer schuldig<br />

ist oder aus welchen Motiven er gehandelt hat. Die Gemeinde verurteilt nicht,<br />

das heißt es geht nicht um eine Bestrafung, mit der das Unrecht vergolten wird.<br />

Sie verdammt den Mann nicht, denn ihm wird eine neue Möglichkeit geboten.<br />

Die Gemeinde macht nur deutlich, was sie sieht und dies mit einem klaren Ziel:<br />

„Damit der Geist gerettet werde am Tage des Herrn“. Der Wortlaut der Bibelübersetzung<br />

„Hoffnung für alle“ verdeutlicht die korrigierende Seelsorge, um<br />

die es hier geht: „Dann wollen wir gemeinsam in der Kraft unseres Herrn Jesus<br />

diesen Mann dem Satan ausliefern. Er soll die zerstörende Macht des Bösen an<br />

seinem Leibe erfahren, damit er zur Besinnung kommt und sein Geist am Tage<br />

des Herrn errettet werden kann“. Das Ziel ist die Umkehr. Es geht um den Weg<br />

zur Vergebung, um Barmherzigkeit.<br />

272


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

Die Gemeinde, die diese korrigierende Seelsorge nicht ausübt, wird getadelt,<br />

denn sie handelt unbarmherzig. Durch ihr Schweigen zu dem offensichtlichen<br />

Unrecht lässt sie den Täter und auch andere Glieder in der Illusion, man könne<br />

ein Kind Gottes sein und doch tun, was nicht vereinbar ist mit Gottes Gebot.<br />

Die Folge der Übertretung ist aber immer Verderben und Tod (Römer 6,23).<br />

Die größte Gefahr liegt in der Heuchelei, die etwas vormacht, was in Wahrheit<br />

nicht so ist. Dazu zu schweigen ist unbarmherzig.<br />

Wenn, wie in diesem Beispiel, die Handlungsweise des Gemeindegliedes sogar<br />

in den Augen der Öffentlichkeit („unter den Heiden“ 1.Korinther 5,1) anstößig<br />

ist und die Gemeinde dadurch in Verruf gerät, werden <strong>als</strong>o eventuell<br />

Menschen daran gehindert, das Evangelium anzunehmen. Dann ist die Untätigkeit<br />

der Gemeinde auch diesen Menschen gegenüber unbarmherzig.<br />

Zu Verfehlung und Versuchung<br />

Wer bei einem anderen eine Verfehlung wahrnimmt, gerät selbst in Gefahr.<br />

Das gilt nicht nur für das einzelne Gemeindeglied, sondern auch für die ganze<br />

Gemeinde. Mit anderen Worten: Eine Gemeinde, die über eine korrigierende<br />

Maßnahme entscheiden muss, hat nicht nur ein Problem mit einem ihrer Glieder,<br />

sie hat immer auch selbst ein Problem. Das muss bei der Anwendung der<br />

Gemeindeordnung für die korrigierende Seelsorge bedacht werden. Diese Gefahr<br />

wird anschaulich in Galater 6 dargestellt. „Wenn sich aber einer von euch<br />

etwas zuschulden kommen lässt und sündigt, dann sollt ihr ihn <strong>als</strong> Menschen,<br />

die Gottes Geist leitet, verständnisvoll wieder zurechtbringen. Seht aber zu,<br />

dass ihr dabei nicht in dieselbe Gefahr geratet. Kümmert euch um die Schwierigkeiten<br />

und Probleme des anderen, und tragt die Last gemeinsam. (...) Wer<br />

sich einbildet, besser zu sein <strong>als</strong> die anderen, der betrügt sich selbst. Darum soll<br />

jeder sein eigenes Leben sehr genau überprüfen. Dann wird er nämlich erkennen,<br />

wie unberechtigt es ist, sich über andere zu erheben. Denn jeder ist für sein<br />

eigenes Tun vor Gott verantwortlich. Das ist schon schwer genug! “ (Verse 1-5<br />

Hfa). Jeder Einzelne in der Gemeinde wird aufgefordert, sich zu überprüfen, ob<br />

er „geistlich“ und „sanftmütig“ an die Sache herangeht, ob er bereit ist, die Lasten<br />

des anderen mitzutragen, die aus der Verfehlung erwachsen und ob er aufmerksam<br />

dafür bleibt, auf welche Weise er selbst dabei in Versuchung geraten<br />

kann.<br />

Die Versuchung liegt vor allem darin, sich selbst für besser zu halten, <strong>als</strong>o zu<br />

vergessen, dass man selbst nur aus Gnade ein Kind Gottes ist. Fromme Menschen<br />

haben beim Umgang mit Ehebruch und Sexualität häufig zusätzlich Probleme.<br />

Daraus kann die Versuchung entstehen, dass Einzelne durch eigene un-<br />

273


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

bewältigte und verdrängte sexuelle Probleme und Ängste leicht unduldsam und<br />

unbarmherzig reagieren, weil sie unbewusst gegen das kämpfen, was sie in sich<br />

selbst tragen.<br />

Natürlich gibt es auch die Versuchung, die Augen zu verschließen und nichts<br />

zu sagen, vielleicht sogar mit der Begründung, dass wir ja auch nicht besser<br />

sind und darum kein Recht haben, uns in das Leben anderer einzumischen. Das<br />

wäre keine biblische Lösung, denn auch in diesem Schriftwort wird die Gemeinde<br />

ausdrücklich aufgefordert zurechtzuhelfen.<br />

Nur wenn die Gemeinde sich ihrer eigenen Versuchung bewusst ist und sich<br />

auch darin vom Geist Gottes leiten lässt, wird ihre korrigierende Seelsorge zum<br />

Ziel führen.<br />

Korrigierende Seelsorge <strong>als</strong> Chance für geistliches Wachstum<br />

Tritt der Fall ein, dass im Gemeindeausschuss und in der Gemeindeversammlung<br />

über korrigierende Seelsorge an Gliedern beraten werden muss, ist sorgfältig<br />

darauf zu achten, in welcher Einstellung die Glieder daran gehen und welches<br />

Klima in der Gemeinde vorherrschend ist. Es kann sehr wohl notwendig<br />

sein, zur Vorbereitung für die notwendigen Entscheidungen der Gemeinde eine<br />

Bibelstundenreihe zu diesem Thema anzubieten. So gesehen kann jede Krise in<br />

der Gemeinde auch zum Gewinn für die ganze Gemeinde werden. Sie kann das<br />

geistliche Wachstum stärken.<br />

Korrigierende Seelsorge nach der Gemeindeordnung<br />

Gesinnung steht vor Ordnung<br />

In Kapitel 13 „korrigierende Seelsorge“ (Gemeindezucht) werden ausführlich<br />

Einstellungen und Haltungen beschrieben, mit denen Konflikte gelöst werden<br />

sollen. Es wird nicht jede Einzelheit geregelt, sondern der Gemeinde bleibt viel<br />

Spielraum für Entscheidungen, die den persönlichen und örtlichen Gegebenheiten<br />

angemessen sind. Die Sprache ist überwiegend empfehlend. Das Ziel muss<br />

den Weg des Vorgehens bestimmen. Ziel und Weg müssen von der Gesinnung<br />

Jesu bestimmt sein.<br />

In den Abschnitten „Allgemeine Grundsätze“, „Wahrung der Einheit“ und<br />

„Handhabung der korrigierenden Seelsorge“ werden Ziel und Gesinnung ausführlich<br />

beschrieben, vor allem mit ausgewogen ausgewählten Zitaten aus dem<br />

Schrifttum von E.G. White. Im Anhang der deutschen Verbände zu diesem Ka-<br />

274


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

pitel wird noch einmal betont, dass korrigierende Seelsorge keine Urteilsfindung<br />

oder Bestrafung sein darf.<br />

Eine zeichenhafte Handlung<br />

Die „korrigierende Seelsorge“, die hier beschrieben wird, meint nicht die<br />

seelsorgerliche Begleitung, die jeder Mensch in einem Konflikt braucht. Im<br />

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe des Gemeindehandbuches von 1998<br />

heißt es dazu: „Bereits in der Ausgabe 1993 wurde der antiquierte Begriff ‚Gemeindezucht’<br />

(church discipline) durch ‚korrigierende Seelsorge’ ersetzt. Dieser<br />

Begriff unterstreicht die seelsorgerische Zielsetzung, bedeutet aber nicht<br />

seelsorgerisches Handeln im Allgemeinen, sondern eine konkrete Maßnahme,<br />

in der die Gemeinde durch Beschluss anzeigt, dass eine Korrektur notwendig<br />

ist.“<br />

Entscheidung nur durch die Gemeindeversammlung<br />

Eine solche Entscheidung kann nur durch die ordnungsgemäß einberufene<br />

Mitgliederversammlung der Gemeinde getroffen werden, nicht durch den Gemeindeausschuss,<br />

auch nicht durch den Pastor oder Ältesten. Das bedeutet, dass<br />

vor einer solchen Entscheidung alle Möglichkeiten der persönlichen Seelsorge<br />

ausgeschöpft und der biblischen Weg zu Konfliktlösung (Matthäus 18,15-17)<br />

eingehalten wird.<br />

Gründe für korrigierende Seelsorge<br />

Zu den Gründen, die für eine korrigierende Seelsorge aufgeführt werden, zählen<br />

ausdrücklich: „Die Übertretung des siebenten Gebotes bezüglich der Einrichtung<br />

der Ehe, der christlichen Familie und der sittlichen Maßstäbe der Bibel“<br />

und „Wiederverheiratung einer geschiedenen Person, ausgenommen der<br />

‚unschuldige Partner’ aus einer wegen Ehebruchs oder sexueller Perversionen<br />

geschiedenen Ehe.“ Zu den Formulierungen „der ,schuldige’ bzw. ‚unschuldige’<br />

Partner“ wird im Anhang eine Erläuterung gegeben.<br />

Mittel der korrigierenden Seelsorge<br />

Für einen Beschluss korrigierender Seelsorge hat die Gemeindeversammlung<br />

zwei Möglichkeiten: 1. die Klärungsfrist, 2. den Ausschluss aus der Gemeinde.<br />

Klärungsfrist wird für einen bestimmten Zeitraum festgesetzt, mindestens einen<br />

Monat, längstens zwölf Monate. Sie enthebt den Betroffenen aller Aufgaben,<br />

für die er in der Gemeinde gewählt wurde. Er kann auch nicht für eine<br />

275


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Aufgabe gewählt werden, solange die Klärungsfrist währt. Wer unter Klärungsfrist<br />

steht, hat bei Beratungen über Gemeindeangelegenheiten weder Stimme<br />

noch Stimmrecht und darf nicht öffentlich mitwirken an der Durchführung von<br />

Gottesdiensten, z.B. <strong>als</strong> Gesprächsleiter in der Bibelschule u. ä. Das bedeutet,<br />

ihm wird das Recht entzogen, im Namen der Gemeinde zu reden und zu handeln<br />

und über ihre Angelegenheiten mitzuentscheiden. Seine Gemeindemitgliedschaft<br />

darf während dieser Zeit nicht in eine andere Ortsgemeinde übertragen<br />

werden. Er darf jedoch nicht vom Segen des Gottesdienstes oder des A-<br />

bendmahls ausgeschlossen werden.<br />

Ein Gemeindeglied ausschließen bedeutet, ihm die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft<br />

zu entziehen. Der Vollversammlung der Generalkonferenz 2000 in<br />

Toronto lag ein Antrag vor, die Formulierung zu ändern und statt „to disfellowship<br />

a member“ („ein Gemeindeglied auszuschließen“) künftig zu schreiben<br />

„remove from church membership“ („streichen der Mitgliedschaft“). Damit soll<br />

stärker zum Ausdruck kommen, dass es bei dieser Entscheidung nicht um die<br />

Aufkündigung der Gottesdienst- oder der persönlichen Gemeinschaft gehen<br />

darf, sondern um ein Signal, dass der Betroffene in dieser Situation nicht mehr<br />

berechtigt ist, sich <strong>als</strong> zugehörig zur Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten zu<br />

sehen. Der Antrag wurde angenommen.<br />

Ehescheidung und Wiederheirat nach der Gemeindeordnung<br />

Das Kapitel 15, in dem die Probleme Ehescheidung und Wiederheirat behandelt<br />

werden, wird schon seit langem <strong>als</strong> unzulänglich betrachtet. Auf der Vollversammlung<br />

der Generalkonferenz 1995 in Utrecht, Niederlande, wurde beschlossen,<br />

dass der Text geändert werden soll. Dazu wurde eine Studienkommission<br />

eingesetzt, die Vorschläge für die künftige Gestaltung erarbeiten sollte.<br />

Nach Beratungen mit Vertretern aus allen Teilen der Welt wurde vom „Ständigen<br />

Ausschuss für das Gemeindehandbuch“ mit Zustimmung des Exekutivausschusses<br />

der Generalkonferenz für die Vollversammlung 2000 in Toronto, Kanada,<br />

ein in wesentlichen Teilen veränderter Text zur Beschlussfassung vorgelegt.<br />

Dieser Entwurf enthält einen neuen Abschnitt über unser Verständnis von<br />

Ehe und eine veränderte Fassung des Standpunktes zu Ehescheidung und Wiederverheiratung.<br />

276


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

Gottes ursprüngliche Absicht 1<br />

„Eine Scheidung widerspricht der ursprünglichen Absicht Gottes bei der Erschaffung<br />

der Ehe (Matthäus 19,3-8; Markus 10,2-9). Doch die Bibel schweigt<br />

nicht dazu, dass <strong>als</strong> Folge der Sünde der Menschen auch Ehen zerbrechen. Im<br />

Alten Testament wurden gesetzliche Regelungen gegeben, um das damit verbundene<br />

Leid zu mildern (5.Mose 24,1-4). Die Bibel betont beständig Vorzüge<br />

und Bedeutung der Ehe, um Ehescheidungen entgegenzuwirken. Sie schildert<br />

die Freuden der ehelichen Liebe und Treue (Sprüche 5,18-20; Hiob 2,16; 4,9-<br />

5,1). Sie vergleicht die Beziehung Gottes mit seinem Volk mit der Ehe (Jesaja<br />

54,5; Jeremia 3,1). Sie zeigt die Möglichkeiten für Vergebung und Neuanfang<br />

in der Ehe auf (Hosea 3,1-3; 11,8.9), und sie beschreibt Gottes Abscheu vor der<br />

Scheidung und ihren schlimmen Folgen (Maleachi 2,15.16; Hosea 2,3). Jesus<br />

erneuerte das Bild der Schöpfung: Die Ehe <strong>als</strong> lebenslanger Bund zwischen<br />

Mann und Frau (Matthäus 19, 4-6; Markus 10, 6-9). An vielen Stellen lehrt die<br />

Bibel, wie die Ehe gestärkt werden kann und wie Probleme überwunden werden<br />

können, die eine Ehe gefährden (Epheser 5,21-33; Hebräer 13,4; 1.Petrus 3,7).<br />

Eine Ehe kann zerbrechen<br />

Die Ehe beruht auf den Prinzipen von Liebe, Treue, Ausschließlichkeit, Vertrauen<br />

und der gegenseitigen Unterstützung beider Partner im Gehorsam zu<br />

Gott (1.Mose 2,24; Matthäus 19,6; 1.Korinther 13; Epheser 5,21-29;<br />

1.Thessalonicher 4,1-7). Werden diese Prinzipien verletzt, ist die Ehe in Gefahr.<br />

Die Heilige Schrift anerkennt, dass es Umstände gibt, die eine Ehe zerstören.<br />

Die göttliche Gnade<br />

Die Gnade Gottes ist das einzige Heilmittel für das Scheitern durch Scheidung.<br />

Wenn eine Ehe zerrüttet ist, sollten die ehemaligen Partner ermutigt werden,<br />

ihre Erfahrung gründlich zu durchleuchten und nach Gottes Willen für ihr<br />

Leben zu fragen. Gott tröstet die Verwundeten. Gott nimmt auch die Reue von<br />

Menschen an, deren Sünde Zerstörung angerichtet hat, auch mit Folgen, die<br />

nicht wieder gutgemacht werden können (2.Samuel 11;12; Psalm 34,18; 86,5;<br />

Johannes 2,12.13; Johannes 8,2-11; 1.Johannes 1,9).<br />

1 Der folgende in Anführungszeichen gesetzte Text wurde aus der Beschlussvorlage des Exekutivausschusses<br />

der Generalkonferenz übersetzt, die den Delegierten für die Vollversammlung<br />

der Generalkonferenz vom 29. Juni bis 8. Juli 2000 in Toronto zur Entscheidung vorgelegt<br />

wurde. Das Dokument ist mit Änderungen angenommen worden. Das neue Church Manual und<br />

die offizielle Übersetzung in die deutsche Sprache liegen noch nicht vor.<br />

277


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Gründe für die Scheidung<br />

Als Scheidungsgrund anerkennt die Heilige Schrift Ehebruch, Unzucht und<br />

die Tatsache, dass ein Ungläubiger seinen Partner wegen seines Glaubens verlässt<br />

(1.Korinther 7,10-15).“<br />

Der Standpunkt der Siebenten-Tags-Adventisten zu Ehescheidung<br />

und Wiederverheiratung<br />

Nach der Beschlussvorlage für die Neufassung dieses Abschnittes durch die<br />

Vollversammlung der Generalkonferenz 2000 in Toronto wird nun wie folgt<br />

formuliert:<br />

1. Wenn Jesus sagt: „...das soll der Mensch nicht scheiden“ führt er für seine<br />

Gemeinde unter der Wirksamkeit der Gnade eine Verhaltensrichtlinie ein,<br />

die alles überragt, was eine zivile Rechtsprechung zulässt, auch wenn diese<br />

über Jesu Deutung des Gebotes Gottes für die Beziehung in der Ehe hinausgeht.<br />

Seine Regel sollten seine Nachfolger befolgen, unabhängig davon,<br />

ob ein Staat größere Freiheiten erlaubt oder nicht. „In der Bergpredigt<br />

sagte Jesus deutlich, dass eine Ehe nicht aufgelöst werden darf, außer<br />

bei Untreue gegenüber dem Ehegelübde.“ (Thoughts From the Mount of<br />

Blessing, S. 63; vgl. Matthäus 5,32; 19,9).<br />

2. Unter Untreue gegenüber dem Ehegelübde wird allgemein die sexuelle<br />

Untreue oder Unzucht verstanden. Das neutestamentliche Wort für Unzucht<br />

schließt aber auch andere sexuelle Verirrungen ein (1.Korinther 6,9;<br />

1.Timotheus 1,9.10; Römer 1,24-27). Darum werden auch sexuelle Perversionen,<br />

z.B. sexuelle Gewalt, Grausamkeiten, Inzucht, Kindesmissbrauch<br />

oder homosexuelle Praktiken, <strong>als</strong> Missbrauch des Geschlechtstriebes<br />

und <strong>als</strong> ein Verstoß gegen den göttlichen Gedanken der Ehe gesehen.<br />

Auch sie sind ein berechtigter Grund für eine Scheidung.<br />

3. Obwohl die Heilige Schrift die Möglichkeit für eine Scheidung aus den<br />

oben genannten Gründen vorsieht, sollten sich die Gemeinde und alle, die<br />

damit befasst sind, ernsthaft bemühen, eine Versöhnung herbeizuführen,<br />

damit die Partner einander in der Gesinnung Christi begegnen und Vergebung<br />

und Neuanfang möglich werden. Die Gemeinde ist aufgefordert, mit<br />

den Ehepartnern liebevoll und versöhnlich umzugehen und jede mögliche<br />

Hilfe im Versöhnungsprozess zu bieten.<br />

278


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

4. Kann eine Versöhnung der Ehepartner nicht erreicht werden, so hat der<br />

Partner, der treu geblieben ist, gegenüber dem, der das Ehegelübde gebrochen<br />

hat, das Recht sich scheiden zu lassen und wieder zu heiraten.<br />

5. Wird in der Gemeinde bekannt, dass ein Ehepartner das Ehegelübde<br />

gebrochen hat (siehe Abschnitte 1 und 2 oben), soll die Gemeinde dieses<br />

Mitglied unter korrigierende Seelsorge stellen. Wenn das Gemeindeglied<br />

bereut, soll es für eine bestimmte Zeit unter Klärungsfrist gestellt, aber<br />

nicht aus der Gemeinde ausgeschlossen werden. Zeigt ein Ehepartner keine<br />

aufrichtige und vollständige Reue, so ist er aus der Gemeinde auszuschließen.<br />

Sind die Umstände dieses Ehebruchs so, dass dem Werk Gottes<br />

in der Öffentlichkeit Schaden zugefügt wurde, so kann die Gemeinde zur<br />

Wahrung ihres Rufes und ihrer hohen Maßstäbe das betreffende Glied von<br />

der Gemeindeliste streichen, selbst wenn es Hinweise auf eine Reue gibt.<br />

6. Jede dieser Maßnahmen soll von der Gemeinde so durchgeführt werden,<br />

dass die zwei Ziele erreicht werden können: Korrektur und Versöhnung.<br />

Im Evangelium Jesu ist die versöhnende Seite seines Handelns immer<br />

verbunden mit einer echten Veränderung des Sünders in eine neue Kreatur<br />

in Jesus Christus.<br />

7. Ein wegen Bruch des Ehegelübdes geschiedenes Gemeindeglied hat nicht<br />

das moralische Recht, wieder zu heiraten, solange der Partner, der dem<br />

Ehegelübde treu geblieben ist, noch am Leben ist, unverheiratet bleibt und<br />

unanstößig lebt. Sollte es dennoch wieder heiraten, soll die Gemeinde es<br />

ausschließen. Gehört der Partner, den es heiratet, ebenfalls der Gemeinde<br />

an, so ist auch dieses Glied auszuschließen.<br />

8. Es muss anerkannt werden, dass sich die Beziehung in einer Ehe manchmal<br />

so verschlechtern kann, dass es besser ist, sich zu trennen. „Den Verheirateten<br />

gebiete nicht ich, sondern der Herr, dass die Frau sich nicht von<br />

ihrem Mann scheiden soll - hat sie sich aber geschieden, soll sie ohne Ehe<br />

bleiben oder sich mit ihrem Mann versöhnen - und dass der Mann seine<br />

Frau nicht verstoßen soll” (1.Korinther 7,10.11). Es gibt Fälle, in denen<br />

machen die Fürsorge für Kinder, die Bewahrung von Eigentumsrechten<br />

oder sogar die persönliche Sicherheit eine Änderung im Eheverhältnis<br />

notwendig. In solchen Fällen kann es zulässig sein, eine gesetzliche Trennung<br />

herbeizuführen, wie man sie in manchen Ländern kennt. In anderen<br />

Ländern kann eine solche Trennung allerdings nur durch Scheidung erreicht<br />

werden.<br />

9. Eine Trennung oder eine Scheidung, die nicht aufgrund von „Untreue gegenüber<br />

dem Ehegelübde” (siehe Abschnitt 1 und 2 oben) erfolgt, gibt<br />

279


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

keinem der beiden Ehepartner das biblische Recht wieder zu heiraten, es<br />

sei denn, der andere Partner hat inzwischen ebenfalls geheiratet, Ehebruch<br />

begangen oder Unzucht getrieben oder ist gestorben. Wenn ein Gemeindeglied,<br />

das geschieden wurde, obwohl keine in der Bibel dafür genannten<br />

Gründe vorlagen, wieder heiratet, sollte es ausgeschlossen werden. Auch<br />

sein neuer Ehepartner sollte ausgeschlossen werden, falls er Gemeindeglied<br />

ist.<br />

10. Wenn ein Ehepartner, der sein Ehegelübde gebrochen hat und deswegen<br />

geschieden und ausgeschlossen wurde, wieder geheiratet hat oder wenn<br />

ein Ehepartner, der sich aus anderen <strong>als</strong> in den Abschnitten 1 und 2 aufgeführten<br />

Gründen scheiden ließ, wieder geheiratet hat und deswegen aus<br />

der Gemeinde ausgeschlossen wurde, so kann er nicht ohne Weiteres wieder<br />

in die Gemeinde aufgenommen werden. Für eine Wiederaufnahme<br />

sind die folgenden Hinweise zu beachten.<br />

11. Der Ehevertrag ist nicht nur heiliger <strong>als</strong> gewöhnliche Verträge, er ist auch<br />

in seinen möglichen Auswirkungen wesentlich weitreichender, so z.B. in<br />

Bezug auf die Kinder. Darum sind die Möglichkeiten für einen Antrag auf<br />

Wiederaufnahme in die Gemeinde eingeschränkt. Bevor die Gemeinde<br />

darüber abstimmt, soll aber die Angelegenheit durch ihren Pastor oder den<br />

Bezirksältesten dem Vereinigungsausschuss zur Beratung vorlegen. Er<br />

wird, wenn alle erforderlichen Schritte gegangen wurden, damit der oder<br />

die Betreffenden wieder in die Gemeinde aufgenommen werden können,<br />

die Empfehlung dafür geben.<br />

12. Die Wiederaufnahme von Personen, die aus den oben genannten Gründen<br />

von der Gemeindeliste gestrichen wurden, erfolgt normaler Weise auf der<br />

Grundlage einer erneuten Taufe.<br />

13. Wenn jemand wieder – wie in Punkt 8 vorgesehen – in die Gemeinde aufgenommen<br />

worden ist, sollte sorgfältig darauf geachtet werden, dass die<br />

Eintracht und Einigkeit in der Gemeinde nicht dadurch gefährdet wird,<br />

dass ihm unmittelbar wieder eine Verantwortung <strong>als</strong> Leiter übertragen<br />

wird, vor allem keine, die eine Einsegnung erfordert. Eine solche Beauftragung<br />

ist nur nach eingehender Beratung mit der Leitung der Vereinigung<br />

möglich.<br />

14. Kein Prediger der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten hat das<br />

Recht, eine Eheschließung von Personen zu vollziehen, die nach biblischen<br />

Grundsätzen, entsprechend der oben ausgeführten Ordnung, nicht<br />

berechtigt sind wieder zu heiraten.<br />

280


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

Anmerkungen zu Formulierungen in der Gemeindeordnung<br />

Zum Verständnis von Ehebruch<br />

Traditionell wird in christlichen Gemeinden, vor allem vor römischkatholischem<br />

und puritanischem Hintergrund, unter Ehebruch nur die sexuelle<br />

Untreue verstanden. Auch die Aussagen der Gemeindeordnung sind von diesem<br />

„allgemeinen“ Verständnis bestimmt. Obwohl E.G. White dem puritanischpietistischen<br />

Hintergrund ihrer Zeit verpflichtet bleibt, setzt sie den Schwerpunkt<br />

bezeichnenderweise anders, wenn sie Ehebruch <strong>als</strong> „Untreue gegenüber<br />

dem Ehegelübde“ (Thoughts From the Mount of Blessing, S. 63) definiert. Im<br />

Kapitel „Anhang und Erläuterungen“ für die Gemeinden in Deutschland wird<br />

dazu ausgeführt:<br />

„Ehebruch ist mehr <strong>als</strong> sexuelle Untreue. Da die Ehe die geistige, seelische,<br />

soziale und körperliche Einheit zweier Menschen umfasst, liegt ein<br />

Bruch des Ehegelübdes dort vor, wo diese Einheit nicht mehr besteht und<br />

nicht mehr hergestellt werden kann. Es gibt kein Zerbrechen der Ehe ohne<br />

Schuld, und die Gemeinde hat immer deutlich zu machen, dass Ehebruch<br />

Sünde ist.“<br />

Zur Feststellung von Schuld am Zerbrechen einer Ehe<br />

Die zur Zeit des Symposiums noch gültige Fassung der Gemeindeordnung unterscheidet<br />

verschiedentlich zwischen dem „schuldigen“ und „unschuldigen“<br />

Partner bei einer Ehescheidung. Das leitet sich her aus einer Zeit, <strong>als</strong> Gerichte<br />

bei einer Scheidung einen Schuldspruch fällten. In Deutschland und in vielen<br />

anderen Ländern der westlichen Welt werden Ehen heute nach dem Zerrüttungsprinzip<br />

ohne Schuldfeststellung geschieden. Darum gibt der „Anhang“ für<br />

die deutschen Gemeinden dazu die folgende Erläuterung:<br />

„Die Gerichte entscheiden nicht mehr, wer der schuldige bzw. der unschuldige<br />

Teil ist. Wenn es auch aus Sicht der Gemeinde in bestimmten Fällen<br />

offenkundig sein mag, welcher Partner die Ehe gebrochen hat, so kann<br />

und darf es doch nicht Aufgabe der Gemeinde sein, die Schuldfrage klären<br />

zu wollen (1. Korinther 4,5). Die Gemeinde darf daher nicht festlegen, wer<br />

schuldig bzw. unschuldig am Zerbrechen der Ehe ist. Vielmehr gilt es, den<br />

einzelnen Partner unabhängig von der Schuld oder Nichtschuld des anderen<br />

seelsorgerlich zu begleiten.<br />

Andererseits hat die Gemeinde Unrecht und Sünde in ihren Reihen wie in<br />

der Welt deutlich beim Namen zu nennen (2.Timotheus 4,1-5). Die in der<br />

Schrift bezeugte besondere Bedeutung der Ehe macht im Falle einer Eheschei-<br />

281


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

dung und Wiederverheiratung eine korrigierende Seelsorge durch die Gemeinde<br />

notwendig.“<br />

Der Textvorschlag, der auf der Generalkonferenz 2000 für das Gemeindehandbuch<br />

vorgelegt wurde, vermeidet die Bezeichnung „schuldig“ und „unschuldig“.<br />

Da er aber Gründe aufführt, die eine Ehescheidung rechtfertigen,<br />

kann auch darin für die Gemeinde eine Verführung liegen, untersuchen zu wollen,<br />

ob eine Scheidung gerechtfertigt ist. Dann versucht sie letztlich doch wieder<br />

festzustellen, wer Schuld hat oder nicht.<br />

Jesus hat die Scheidung generell <strong>als</strong> gegen den Willen Gottes bezeichnet. Für<br />

ihn ist jede Scheidung Sünde. Jede Scheidung entsteht aus der Schuld von Menschen<br />

und macht sie schuldig. Das ist völlig unabhängig von der Frage, wer im<br />

akuten Fall mehr Täter oder mehr Opfer ist. Diese Frage kann die Gemeinde<br />

ohnehin nicht tatsächlich beantworten. Sie sollte daher auch nicht in der Gemeinde<br />

diskutiert werden. Da die Gemeinde aber deutlich zu machen hat, dass<br />

Scheidung nicht dem erklärten Willen Jesu entspricht, ist es richtig, wenn die<br />

Gemeinde den Gliedern, bei denen eine Scheidung offensichtlich wird, bis zur<br />

Klärung das Recht entzieht, in der Gemeinde vorne zu stehen und in ihrem Auftrag<br />

zu handeln. Ob das erreicht wird durch eine freiwillige Entscheidung der<br />

Betroffenen oder durch eine formale Entscheidung in der Gemeindeversammlung,<br />

hängt von den individuellen Umständen ab. Alle Gespräche sollten geleitet<br />

sein von dem Ziel einer Klärung im Sinne Jesu und dem Schutz der Betroffenen.<br />

Zur „Ausnahmeregelung“ bei Matthäus<br />

Die Ablehnung der Scheidung durch Jesus ist in allen Evangelien eindeutig<br />

bezeugt. Nur bei Matthäus findet sich die Einschränkung „es sei denn wegen<br />

Ehebruchs“, genauer „wegen Unzucht“ (Matthäus 5,32; 19,9). Über die Bedeutung<br />

dieser Aussage wurde sowohl unter den jüdischen Rabbinern <strong>als</strong> auch in<br />

der christlichen Kirche immer gestritten. Da es Jesus aber nie um die Formulierung<br />

von Gesetzen und Ausnahmen ging, sondern immer um den Schutz des<br />

Lebens, kann dieser Satz nur im Sinne Jesu verstanden werden, wenn er nicht<br />

<strong>als</strong> juristische Ausnahmeregelung verstanden wird, die noch weiter präzisiert<br />

werden müsste, was etwa genau darunter falle und was nicht. Die „Hurerei“<br />

eines Ehepartners bedeutete für den anderen Ehepartner eine solch unerträgliche<br />

Schande, dass sie das weitere Leben gefährdete. Die geistliche Frage lautet <strong>als</strong>o<br />

nicht: Welche Ausnahmen lässt das Gesetz zu? Und wie weit entspricht die<br />

Situation des Betroffenen dieser Ausnahme? Es muss vielmehr gefragt werden:<br />

Kann der Betroffene noch so weiter leben? Oder geht er in dieser Situation zu<br />

282


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

Grunde? Auch diese Frage ist gewiss nicht leicht zu beantworten. Aber sie stellt<br />

im Sinne Jesu den Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung und nicht die<br />

Gesetzesvorschrift. Sie führt zur Anteilnahme mit dem leidenden Menschen<br />

und kann helfen, ihn zu einem neuen Leben zu ermutigen.<br />

Zur biblischen Lehre zur Wiederverheiratung<br />

In der Beschlussvorlage für die Neufassung durch die Vollversammlung der<br />

Generalkonferenz 2000 in Toronto wird gesagt: „Es gibt in der Heiligen Schrift<br />

keine ausdrückliche Lehre über die Wiederheirat nach einer Scheidung. Aus<br />

den Worten Jesu (Matthäus 19,9) geht aber doch deutlich hervor, dass eine<br />

Wiederheirat für den Ehepartner erlaubt ist, der treu geblieben ist, dessen Ehepartner<br />

aber das Ehegelübde gebrochen hat.“<br />

Es ist zweifellos eine Schwäche der Gemeindeordnung, dass sie sich nicht mit<br />

Sinn und Ziel des neutestamentlichen Verbotes einer Wiederheirat nach der<br />

Scheidung befasst. Das verführt dazu, nur formal gesetzlich damit umzugehen<br />

und trägt wenig dazu bei, Menschen, die in ihrer Ehe gescheitert sind und nun<br />

in die Gefahr geraten, an einem Gebot zur Ehelosigkeit wieder zu scheitern,<br />

eine christliche Perspektive aufzuzeigen. Hier hat der Pastor vor Ort eine wichtige<br />

Aufgabe in Bibelstudium und Seelsorge.<br />

Klärung und Versöhnung<br />

Voraussetzung zur Aufhebung der korrigierenden Seelsorge<br />

Das Ziel der korrigierenden Seelsorge ist die Versöhnung der Betroffenen vor<br />

Gott und den Menschen. Leider ist die Versöhnung nicht immer so zu erreichen,<br />

dass Menschen auch ihren Lebensweg gemeinsam fortsetzen. Vergebung<br />

kann nicht immer den ursprünglichen Zustand wiederherstellen, muss aber in<br />

jedem Fall möglich sein und erreicht werden. Auch Scheidung und Wiederheirat<br />

können vergeben werden. Jesus hat das am Beispiel des Ehebruches anschaulich<br />

gezeigt (Johannes 8,1-11).<br />

Schritte zur Vergebung bei Scheidung und Wiederheirat<br />

Als Hilfe, das Ziel der Versöhnung zu erreichen, werden im Kapitel „Anhang<br />

und Erläuterungen“ der Gemeindeordnung Fragen aufgeführt, die Pastor und<br />

Gemeinde mit den Betroffenen beraten sollen:<br />

„Nach der Verheißung der Schrift kann jede Sünde vergeben werden (Jesaja<br />

1,18; 1.Johannes 1,9; 2,1-2). Die Gemeinde hat den Auftrag, Botschafter<br />

der Versöhnung zu sein (2.Korinther 5,18-21). Das gilt auch bei Ehebruch<br />

283


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

284<br />

(Johannes 8,1-11; 1.Korinther 6,11). Wie bei vielen anderen Sünden kann<br />

auch bei einer zerbrochenen Ehe die Versöhnung nicht in jedem Fall den ursprünglichen<br />

Zustand wiederherstellen. Prediger und Gemeinde haben, sowohl<br />

im persönlichen Gespräch mit den Betroffenen <strong>als</strong> auch bei der Beratung<br />

der korrigierende Seelsorge, wenn es um die Versöhnung geht, auf folgende<br />

Fragen zu achten:<br />

1. Hat das Gemeindeglied persönlich bei Gott Vergebung und Frieden<br />

gefunden in den Fragen, die das Scheitern der Ehe betreffen?<br />

2. Ist das Gemeindeglied bereit, dem ehemaligen Ehepartner das zu<br />

vergeben, was dieser ihm an Schuld und Leid zugefügt hat?<br />

3. Ist das Gemeindeglied bereit, den ehemaligen Ehepartner um Vergebung<br />

zu bitten, wo es an ihm schuldig geworden ist?<br />

4. Ist das Gemeindeglied bereit, die Folgelasten aus der zerbrochenen<br />

Ehe fair und friedfertig zu regeln und mitzutragen (z.B. Unterhaltsverpflichtungen,<br />

Güterteilung, Versorgungsansprüche, Erbschaftsangelegenheiten)?<br />

5. Ist das Gemeindeglied bereit, künftig dem anderen nichts Böses<br />

mehr nachzusagen?<br />

Werden diese Fragen bedacht und im Sinne Jesu beantwortet und die Versöhnung<br />

auf diese Weise bezeugt, so ist die korrigierende Seelsorge wieder<br />

aufzuheben beziehungsweise das Glied wieder aufzunehmen. Dies ist dann<br />

nicht die nachträgliche Korrektur der früheren Entscheidung der Gemeinde,<br />

sondern ein Zeichen der praktizierten Vergebung und des Neuanfangs.“<br />

Ausschluss auch bei Reue?<br />

Die zur Zeit gültige Gemeindeordnung sagt (Seite 230, Unser Standpunkt,<br />

Abschnitt 4) „Sind die Umstände dieses Ehebruchs so, dass dem Werk Gottes<br />

in der Öffentlichkeit Schaden zugefügt wurde, so kann die Gemeinde zur Wahrung<br />

ihres Rufes und ihrer hohen Maßstäbe das betreffende Glied ausschließen,<br />

selbst wenn es Hinweise auf eine Reue gibt.“ Die Beschlussvorlage für die Generalkonferenz<br />

2000 ändert zwar den Wortlaut geringfügig, aber nicht den Inhalt.<br />

Diese Regelung ist für viele in Deutschland heute unverständlich, da öffentliche<br />

Schande nicht mehr die verhängnisvolle Wirkung hat wie in anderen<br />

Ländern. Darum wird im „Anhang“ erläutert:<br />

„Für den Fall, dass dem Ruf der Sache Gottes durch das Verhalten einzelner<br />

Gemeindeglieder erheblicher Schaden zugefügt wurde, empfiehlt das<br />

Gemeindehandbuch einen Ausschluss auch dann, wenn es Hinweise auf eine<br />

Reue gibt. Dabei geht es um die wichtigen Anliegen, das Ansehen der Ge-


WILHELM: KORRIGIERENDE SEELSORGE<br />

meinde in der Öffentlichkeit zu wahren und die hohen Maßstäbe des Wortes<br />

Gottes für die Gemeinde und die Welt deutlich zu machen.<br />

Prediger und Gemeinde müssen aber in einer solchen Situation sorgfältig<br />

abwägen, wo der schwerwiegendere Schaden eintritt. Jesus scheute sich<br />

nicht, sich selbst zu erniedrigen (Philipper 2,5-8) und dem Spott auszusetzen<br />

(Jesaja 53,3), wenn es darum ging, Menschen zu retten. Ihm war das eigene<br />

Ansehen vor den Menschen von geringerer Bedeutung <strong>als</strong> das Heil des Einzelnen.<br />

Im Zweifelsfall kann es darum auch für die Gemeinde wichtiger sein,<br />

ein gefährdetes Glied in der Gemeinde zu bewahren <strong>als</strong> dem Ansehen vor<br />

den Menschen zu genügen.“<br />

Zur erschwerten Wiederaufnahme<br />

In Punkt 7 des Abschnitts „Standpunkt zu Scheidung und Wiederverheiratung“<br />

(ebenso Punkte 8 und 10) wird das Verfahren für die Wiederaufnahme in<br />

die Gemeinde erschwert durch vorgeschriebenes Anfragen bei der Vereinigung.<br />

So verständlich das auch erscheint, wenn man weiß, wie leichtfertig manche<br />

Glieder in einer Gemeinde ausgeschlossen und in einer anderen wieder aufgenommen<br />

wurden und wie schädlich das für die geistliche Reife einzelner Glieder<br />

und für das Ansehen der Gemeinschaft ist, so unverständlich ist es doch,<br />

warum ein solches Verfahren nur bei Ehescheidung und Wiederheirat vorgesehen<br />

ist und nicht bei übler Nachrede oder Betrug oder anderen Verfehlungen,<br />

durch die Einzelnen und der Gemeinde nicht geringerer Schaden zugefügt wird.<br />

Das mag wohl auch der Grund sein, dass diese Regelung kaum praktiziert<br />

wird. In mehr <strong>als</strong> fünfunddreißig Dienstjahren <strong>als</strong> Prediger (davon mehr <strong>als</strong><br />

fünfzehn im Vorstand von Vereinigungen) habe ich nur dreimal erlebt, dass<br />

eine Vereinigung aus diesem Grund angerufen wurde. Einmal davon habe ich<br />

selbst die Vereinigung angerufen, um zu sehen, wie sie das handhabt. Dabei<br />

stellte ich fest, dass der Vorsteher sich über mein Anliegen wunderte, weil er<br />

diese Regelung selbst nicht mehr im Gedächtnis hatte.<br />

Der „Anhang“ für die deutschen Gemeinden gibt dazu folgende Erläuterung:<br />

„Zur Forderung, den Vereinigungsausschuss dazu anzurufen (Punkt 8.):<br />

Aufgabe des Vereinigungsausschusses ist es nicht, die persönlichen Fragen,<br />

die im Gemeindeausschuss dazu beraten werden mussten, noch einmal zu<br />

untersuchen. Er hat darauf zu achten, ob die Verantwortungsträger der Gemeinde<br />

alle erforderlichen Schritte gegangen sind, damit die Betreffenden<br />

wieder in die Gemeinde aufgenommen werden können. Er achtet auch darauf,<br />

ob der Gemeindeausschuss, etwa durch persönliche Befangenheit (z.B.<br />

285


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Verwandtschaft zu Betroffenen), die Anliegen der Gemeinschaft oder der<br />

Betreffenden nicht ausreichend wahrnehmen konnte.“<br />

Am Ende sollen alle Gott loben<br />

Korrigierende Seelsorge ist ein leidvoller Vorgang. Er kann aber für die Gemeinde<br />

den Blick für die Gnade Gottes schärfen und das Verständnis für das<br />

Evangelium vertiefen.<br />

Wenn Gemeindeglieder uneinsichtig reagieren, beschuldigen, sich rechtfertigen,<br />

dann brauchen sie ein deutliches Zeichen. Dann ist eine Entscheidung<br />

durch die ganze Gemeinde erforderlich. Dazu dienen die einzelnen Schritte, die<br />

in der Gemeindeordnung aufgezeigt werden. Starke Menschen brauchen auch<br />

eine starke Reaktion. Sie müssen gefordert werden, bis sie etwas ändern.<br />

Schwache Menschen brauchen eine schwache Reaktion. Sie müssen mehr gefördert<br />

werden, damit sie etwas ändern können.<br />

Das Zerbrechen einer Ehe ist für jeden betroffenen Menschen ein schmerzliches<br />

Erlebnis. Für einen gläubigen Menschen, dessen Ideale besonders hoch<br />

sind, dessen Schuldbewusstsein besonders ausgeprägt ist und der seine Ehe im<br />

Glauben unter dem Segen Gottes geschlossen hat, sind die Folgen noch<br />

schlimmer. Selbst wenn ein Gemeindeglied zu Recht sagen kann, dass es die<br />

Scheidung nicht wollte und alles getan hat, um die Ehe zu retten, erlebt es<br />

Schuld- oder Schamgefühle. Wir erleben manchmal, dass auch die Opfer einer<br />

Krise die Gemeinde verlassen, weil sie Gott nicht verstehen und in der Gemeinde<br />

kein Verständnis finden.<br />

Christus hat sich der Schwachen angenommen. Er ist zu den Versagern und<br />

Sündern gekommen. Er hat sie befreit und in seiner Gemeinde gesammelt, damit<br />

sie es machen wie er. Das gilt auch für die korrigierende Seelsorge. Am<br />

Ende sollen alle Gott loben. Dieses Ziel muss jeder bei jedem Schritt im Auge<br />

behalten.<br />

286


„... das soll der Mensch nicht scheiden“?<br />

Fragen zu den Aussagen der Evangelien über<br />

Ehescheidung und Wiederverheiratung 1<br />

Lothar Wilhelm<br />

Ein Kind ist missbraucht worden. Der Prediger spricht darüber in seiner Predigt.<br />

Er sagt: „Den, der das getan hat, sollte man am höchsten Baum aufhängen,<br />

den man finden kann!“ Wie reagiert die Gemeinde darauf? Ist solches Reden<br />

verantwortliche Predigt? Müsste ein Prediger, der so redet, nicht zur Rechenschaft<br />

gezogen werden, weil die Predigt keine Plattform für radikale, extreme<br />

Aussagen sein darf?<br />

Jesus sagt: „Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall<br />

verführt, für den wäre es besser, dass ein Mühlstein an seinen H<strong>als</strong> gehängt und<br />

er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.“ (Matthäus 18,6). Wie sollen<br />

wir das verstehen? Ist Jesus ein Verfechter der Todesstrafe oder gar der Lynchjustiz?<br />

Jesus sagt weiter: „Wehe der Welt, wo immer Menschen zu Fall kommen.<br />

Zwar kommt es zwangsläufig dazu, doch wehe dem Menschen, der einen<br />

anderen zum Abfall verführt! Wenn dich deine Hand oder dein Fuß zum Abfall<br />

verführt, so haue sie ab und wirf sie von dir; besser du gelangst verstümmelt<br />

oder lahm ins Leben hinein, <strong>als</strong> dass du mit zwei Händen und zwei Füßen in das<br />

ewige Feuer geworfen wirst. Wenn dich dein Auge zum Abfall verführt, so reiß<br />

es aus und wirf es von dir! Besser du gelangst einäugig ins Leben hinein, <strong>als</strong><br />

dass du mit zwei Augen in die Feuerhölle geworfen wirst.“ (Matthäus 18,7-9<br />

Wilckens) Was verlangt Jesus da? Ruft er zur Selbstverstümmelung auf? Dürfen<br />

wir auch so reden und solche Forderungen erheben?<br />

Jesus sagt: „Wie ihr wisst, heißt es im Gesetz: ,Du sollst nicht die Ehe brechen!‘<br />

Ich sage euch aber: Schon wer eine Frau mit begehrlichen Blicken ansieht,<br />

der hat im Herzen mit ihr die Ehe gebrochen. Wenn dich <strong>als</strong>o dein rechtes<br />

Auge verführt, dann reiß es heraus und wirf es weg! Besser du verlierst eins<br />

deiner Glieder, <strong>als</strong> dass du heil und unversehrt in die Hölle geworfen wirst. Und<br />

wenn dich deine rechte Hand verführt, Böses zu tun, so hack sie ab und wirf sie<br />

1<br />

Dieser Artikel erschien in “Glauben heute” Jahrespräsent 1999, Advent-Verlag , Lüneburg.<br />

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.<br />

287


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

weg! Besser ein Krüppel zu sein, <strong>als</strong> mit Haut und Haaren in die Hölle geworfen<br />

zu werden.“ (Matthäus 5,27-29 Hfa) Nehmen wir einmal an, uns wären diese<br />

Worte Jesu unbekannt und hörten heute einen Prediger so reden. Wie würden<br />

wir reagieren? Wären wir nicht empört über solche Redeweise? Eine radikalere<br />

Sprache ist kaum denkbar. Wie verstehen wir diese Aussagen Jesu, und was<br />

machen wir mit ihnen?<br />

Da kommen Gelehrte zu Jesus und fragen: „Ist es erlaubt, dass sich ein Mann<br />

aus irgendeinem Grund von seiner Frau scheidet?“ Jesus antwortet: „Was Gott<br />

zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden!“ Er schließt die Möglichkeit<br />

einer Scheidung damit radikal aus. Als die Fragesteller nachfragen, warum<br />

denn Mose im Gesetz die Scheidung erlaubt hatte, antwortet er kategorisch:<br />

„Von Anfang an ist’s nicht so gewesen.“ (Matthäus 19,5-8) Mit anderen Worten:<br />

Scheidung war nicht Gottes Absicht. Gott wollte sie von Anfang an nicht!<br />

Scheidung kommt für ihn nicht in Frage. Jesus sagt: „Es ist geboten: ,Wer seine<br />

Frau aus der Ehe entlässt, soll ihr einen Scheidebrief geben‘. Ich aber sage euch:<br />

Jeder, der seine Frau aus der Ehe entlässt, außer wegen Unzucht, begeht Ehebruch<br />

an ihr.“ (Matthäus 5,31.32 Wilckens) Damit bezeichnet Jesus die Scheidung<br />

<strong>als</strong> Ehebruch! Kann man einen radikaleren Standpunkt vertreten?<br />

Und wenn eine Ehe in die Brüche gegangen ist, lässt Jesus den Betroffenen<br />

nicht die Möglichkeit, wieder jemand anderen zu heiraten. Wer es doch tut, den<br />

bezeichnet er auch <strong>als</strong> Ehebrecher (Matthäus 5,32;19,9). Verurteilt Jesus Geschiedene<br />

dazu, den Rest ihres Lebens allein verbringen zu müssen? Auch hier<br />

klingen die Worte Jesu erschreckend kompromisslos und radikal.<br />

Kein Wunder, dass die Jünger erstaunt und konsequent darauf reagieren:<br />

„Wenn es so steht mit dem Verhältnis von Mann und Frau, dann ist es am besten,<br />

gar nicht zu heiraten!“ (Matthäus 19,10) Ist diese Reaktion nicht verständlich,<br />

angesichts der kompromisslosen Rede Jesu? Ist es nicht auch eine sehr moderne<br />

Reaktion? Wegen der Befürchtung, dass ihre Ehe scheitern könnte, heiraten<br />

viele Paare gar nicht erst, sondern leben so zusammen. Hat Jesus das gewollt?<br />

Hat er mit seiner kompromisslosen Rede eine solche Reaktion nicht geradezu<br />

heraufbeschworen? Wie gehen wir mit solcher Radikalität um?<br />

Warum macht Jesus so radikale Aussagen?<br />

Wenn wir tatsächlich glauben, dass die Bibel Gottes Wort ist, müssen wir uns<br />

der Radikalität dieser Aussagen Jesu stellen. Sie ist in den Evangelien so<br />

eindeutig bezeugt, dass es auch nicht möglich ist, typisch liberal zu reagieren:<br />

„So genau kann man das doch nicht nehmen!“ Wenn Jesus unser Herr ist, müssen<br />

wir seine Worte auch dann gelten lassen, wenn es schwierig erscheint, sie in<br />

288


WILHELM: AUSSAGEN DER EVANGELIEN<br />

wir seine Worte auch dann gelten lassen, wenn es schwierig erscheint, sie in<br />

Übereinstimmung zu bringen mit dem Bild vom liebenden Jesus, das wir aus<br />

dem Neuen Testament kennen. Uns bleibt nur eine Wahl: Wir müssen Jesu<br />

Worte genau analysieren und ihn fragen: Wie hast Du das gemeint? Was willst<br />

Du damit erreichen? Dabei müssen wir uns davor hüten, die Schärfe der Rede<br />

Jesu wegdiskutieren zu wollen, denn die hat er offensichtlich gewollt, sonst hätte<br />

er nicht so geredet.<br />

Worum geht es Jesus, wenn er sich so radikal äußert? Er spricht von den Kindern<br />

und von der Ehe! Jesus ist der Schöpfer des Lebens. Darum reagiert er<br />

empfindlich, wenn Leben bedroht ist. Es geht ihm um den Schutz des Lebens.<br />

Die Ehe ist die Keimzelle des Lebens. In den Kindern wird das Leben weitergegeben.<br />

Wo Ehe und Kinder gefährdet werden, ist das Leben bedroht. Es macht<br />

Jesus zornig, wenn er sieht, wie Menschen ihr Leben oder das anderer gefährden.<br />

Darum geht er mit radikaler Entschiedenheit dagegen an. Das Wort radikal<br />

gebrauche ich hier im ursprünglichen Sinne des Wortes: radix (lat.) bedeutet<br />

Wurzel. Ich gebrauche es nicht in dem Sinne, wie es heute häufig verstanden<br />

wird: <strong>als</strong> Machtkampf mit brutalen Mitteln. Um die Radikalität Jesu zu verstehen,<br />

ist es notwendig, zur Wurzel vorzudringen. Es ist sehr wichtig, zu erkennen,<br />

dass Jesus überall, wo er so kompromisslos wirkt, den Schutz des Lebens<br />

zum Ziel hat. Wo eine Ehe und wo die Entwicklung von Kindern bedroht ist,<br />

können Nachfolger Jesu nur entschieden handeln, auch wenn sie sich selbst dabei<br />

wehtun. Die schmerzlichen Beispiele (Selbstverstümmelung!), die Jesus<br />

wählt, machen deutlich, wie ernst es ihm ist. Diese Aussagen Jesu müssen darum<br />

von seiner Gemeinde ernsthaft bedacht und befolgt werden. Gerade die radikale<br />

Sprache Jesu belegt aber auch, dass seine Worte nicht <strong>als</strong> Gesetz missverstanden<br />

werden dürfen, das buchstäblich befolgt werden soll. Denn Jesus will ja<br />

gerade nicht, dass Menschen sich oder einander verletzen, <strong>als</strong>o auch nicht, dass<br />

sie sich selbst verstümmeln.<br />

Worauf ist bei den „radikalen Texten“ zu achten?<br />

Wer zur Wurzel vordringen will, muss das Wesentliche erkennen. Wo beginnt<br />

die Gefährdung des Lebens? Jesus lehrt, dass die Gefahr „im Herzen“ (Matthäus<br />

5,28) anfängt. Gott hat das Leben nach seinen Gesetzen geschaffen. Es ist dort<br />

bedroht, wo die Gesetze des Lebens übertreten werden.<br />

Jesus lehrt in der Bergpredigt, dass die Gesetzesübertretung nicht erst dort beginnt,<br />

wo die Vorschriften des Gesetzes in Form einer juristisch nachweisbaren<br />

Tat übertreten werden. Die Gesetzesübertretung geschieht bereits im Inneren, im<br />

289


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

„Herzen“, in der Gesinnung des Menschen. Sie beginnt dort, wo das „Sehen“ in<br />

den Gedanken zum „Begehren“ wird. Ein solch radikales Verständnis von der<br />

Übertretung des Gesetzes bringt für den Menschen zwei große Vorteile: Erstens<br />

bleibt damit die Gesetzesübertretung noch jeder Beurteilung von außen entzogen.<br />

Kein anderer Mensch kann darüber richten. Zweitens folgt daraus, dass<br />

auch der rettende Veränderungsprozess im Inneren, „im Herzen“ beginnen kann.<br />

Jesus bietet die Chance für eine Umkehr „im Herzen“. Er führt zu einer neuen<br />

Einstellung. Er ermöglicht eine „Vergebung im Herzen“ und eine neue Gesinnung,<br />

die zur Folge hat, dass das „Sehen“ nicht zum „Berühren“ werden muss.<br />

Die zerstörerische Verbindung zwischen dem gefährlichen Gedanken und der<br />

verderblichen Tat kann unterbunden werden (Matthäus 5, 29.30). Gefordert ist<br />

eine radikale innere Trennung von dem, was die Gefährdung bringt und eine<br />

intensive Zuwendung zu dem, der eine neue Einstellung zu geben vermag. Das<br />

ist ein einschneidender Vorgang. Jesus fordert Entscheidungen, die von dem, der<br />

sie zu treffen hat, <strong>als</strong> schmerzlich empfunden werden, denn er muss sich trennen<br />

von dem, was sein Auge sieht und seine Hand berühren möchte. Wer sein Vertrauen<br />

auf Jesus setzt, erfährt, dass dieser innere Veränderungsprozess möglich<br />

ist. Wo das Wort Jesu so geglaubt und befolgt wird, ist die bedrohte Ehe und<br />

sind die gefährdeten Kinder geschützt.<br />

Hintergrund für die radikale Redeweise Jesu ist die Auseinandersetzung mit<br />

der Gesetzesfrömmigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer. Sie glaubten, das<br />

Leben durch das Gesetz sichern zu können. Gesetz war für sie die ausführliche<br />

Formulierung von Geboten. Sie meinten, wenn sie genau festlegen, was gerade<br />

noch erlaubt und was schon verboten ist, könnten sie auch genau sicherstellen,<br />

dass sie gerecht sind, <strong>als</strong>o vor Gott und den Menschen richtig dastehen. Als gerecht<br />

galt, wer für alle erkennbar mit der Vorschrift des Gesetzes übereinstimmte.<br />

Solches Denken war nicht nur unter den Pharisäern verbreitet. Es ist typisch<br />

menschlich. Wer erkannt hat, dass Gottes Wort genau genommen werden muss,<br />

ist besonders leicht verführbar, so zu denken. Wer so denkt, endet immer bei<br />

einer Veräußerlichung der Gerechtigkeit, bei einer Verrechtlichung des Denkens.<br />

Dann ist nicht der Sinn des Gesetzes wichtig, <strong>als</strong>o der Schutz des Lebens. Nach<br />

der inneren Einstellung wird nicht mehr gefragt. Das Gesetz wird zu einem Mittel<br />

der Selbstrechtfertigung, denn es wird nach der Devise gehandelt: Solange<br />

man mir keine Gesetzesübertretung nachweisen kann, bin ich in Ordnung.<br />

Solches Denken will Jesus nicht. Er weiß, dass ein solches Verständnis die<br />

Übertretung des Gesetzes nicht verhindert, sondern seine verführerische Wirkung<br />

noch verstärkt. Er sieht, zu welcher Heuchelei und Ungerechtigkeit eine<br />

solche Denkungsart führt und setzt darum diesem Verständnis von Gerechtigkeit<br />

290


WILHELM: AUSSAGEN DER EVANGELIEN<br />

ein ganz anderes Denken gegenüber: „Wenn Eure Gerechtigkeit nicht besser ist<br />

<strong>als</strong> die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich<br />

kommen.“ (Matthäus 5,20)<br />

Ein weiterer Grund, warum Jesus so radikal formuliert, liegt darin: Er will von<br />

vornherein verhindern, dass seine Worte nun auch wieder <strong>als</strong> Gesetzesvorschrift<br />

missverstanden werden. Mit seinen radikalen Formulierungen führt er jede Anwendung<br />

im Sinne buchstäblicher Gesetzeserfüllung ad absurdum. Eine gesetzliche<br />

Befolgung der Worte Jesu ist schlichtweg unmöglich. Wo sie dennoch versucht<br />

wird, werden die Anwender zwangsläufig inkonsequent. Diese Inkonsequenz<br />

zeigt sich zum Beispiel daran, dass ein Ehebrecher zwar angeklagt wird,<br />

weil Gott Ehebruch im Gesetz verboten hat, aber das Ausreißen des Auges, das<br />

zum Abfall geführt hat, wird nicht gefordert, obwohl Jesus das doch verlangt.<br />

So soll die Ehebrecherin zwar verurteilt werden, die eigene Schuld der Ankläger<br />

wird aber nicht betrachtet. Der Totschläger oder Mörder wird zur Rechenschaft<br />

gezogen, der Verleumder oder Rufmörder wird aber nicht genauso behandelt.<br />

Wer durch einen Seitensprung seines Ehepartners betrogen wurde, darf sich<br />

scheiden lassen, weil das <strong>als</strong> „Ehebruch“ gilt. Wer sich wegen Gewalt, Grausamkeit<br />

oder Lieblosigkeit von seinem Ehepartner trennen will, darf sich nicht<br />

scheiden lassen und schon gar nicht wieder heiraten, weil das ja kein „Ehebruch“<br />

ist. Die Ehelosigkeit nach der Scheidung wird verlangt, es wird aber verschwiegen,<br />

dass Jesus selbst die Ehelosigkeit <strong>als</strong> nicht für jeden möglich bezeichnet.<br />

Wo die Worte Jesu gesetzlich verstanden werden, hat das verhängnisvolle Folgen:<br />

Entweder leiden Menschen unter der Unerfüllbarkeit dieser radikalen „Forderungen“<br />

oder sie fügen anderen Leid zu, weil sie unbarmherzig von ihnen<br />

verlangen, was sie selbst nicht erfüllen. Es gibt unter frommen Menschen so<br />

viele ungeistliche Verhaltensweisen, verursacht von dem Bemühen, die radikalen<br />

Forderungen äußerlich zu erfüllen. Immer sind sie gekennzeichnet von<br />

heuchlerischer Inkonsequenz. Da wird sich über die ehelichen Verfehlungen<br />

anderer fromm entrüstet und so über sie hergezogen, dass ihr Ansehen und ihre<br />

Würde verletzt werden. Den Ehebruch soll die Gemeinde verurteilen, böses Gerede<br />

darf aber nicht genauso behandelt werden. Da wird dem Partner hinterhergeschnüffelt<br />

oder ein Detektiv auf seine Spur gesetzt, um ihn des Ehebruchs<br />

bezichtigen zu können, damit man selbst vor dem Gesetz Gottes gerechtfertigt<br />

ist, sich scheiden zu lassen und wieder zu heiraten. Da wird dem Partner sogar<br />

der Tod gewünscht, damit man endlich jemand anderen heiraten kann. Niemand<br />

von uns heißt ein solches Verhalten gut. Warum geschieht es dann aber? Ist es<br />

291


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

nicht die zwangsläufige Folge des kümmerlichen Versuches, vor dem Gesetz<br />

richtig dastehen zu wollen?<br />

Jesus sagt den Schriftgelehrten und Pharisäern im Blick auf ihr fragwürdiges<br />

Gesetzesverständnis: „Ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel und lasst das<br />

Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den<br />

Glauben!“ (Matthäus 23,23) In diesem Schriftwort kritisiert Jesus nicht nur die<br />

Heuchelei pharisäisch denkender Menschen, er zeigt auch, wie es möglich ist,<br />

mit seinen radikalen Worten umzugehen. Sie können nur verstanden und erfüllt<br />

werden, wenn nach Sinn und Geist, nämlich nach Gottes „Gerechtigkeit, Barmherzigkeit<br />

und Vertrauen“, gefragt wird. All unser Verstehen und Tun muss sich<br />

an diesen Fragen ausrichten: Wie sieht seine „Gerechtigkeit“ aus? Wie werden<br />

wir <strong>als</strong>o in seinem Sinne „richtig“? Was ist aus seiner Sicht „barmherzig“, <strong>als</strong>o<br />

liebevoll und helfend? Wie sieht er das Leben „aus dem Vertrauen“, <strong>als</strong>o: Wie<br />

steht es um meine Beziehung zu ihm und zu den anderen Menschen? In anderen<br />

biblischen Worten formuliert: Wie kann ich mit seinem Heiligen Geist leben?<br />

Nur wer so zu denken beginnt, wird vor der Verzweiflung oder der Heuchelei<br />

bewahrt, die immer lauern, wo versucht wird, die Worte Jesu wie ein Gesetz zu<br />

erfüllen.<br />

Warum kann Jesus die Scheidung verbieten, obwohl sie doch im alten Testament<br />

von Gott selbst ermöglicht wurde? (5.Mose 24,1-4; Matthäus 5,<br />

31.32; 19,3-9)<br />

Als Jesus nach der Scheidungserlaubnis gefragt wird, verweist er auf den Anfang<br />

(Matthäus 19,4.8). Er lenkt die Aufmerksamkeit darauf, welche Absicht<br />

Gott ursprünglich mit der Ehe hatte. Auch hier führt er zur Wurzel zurück. Er<br />

fragt nach dem von Gott gegebenen Sinn. In der ursprünglichen Schöpfungsordnung<br />

ist die Ehe ein Lebensbund. Der Mensch wurde geschaffen <strong>als</strong> Mann<br />

und <strong>als</strong> Frau (1.Mose 1,27; Matthäus 19,4). In der sozialen, emotionalen und<br />

sexuellen Einheit von Mann und Frau (1.Mose 2,24; Matthäus 19,9) erfährt er<br />

die auf Vertrauen und Liebe gegründete Lebensgemeinschaft, in der er seine<br />

eigene Bestimmung und auch sein eigenes Verhältnis zu Gott tiefer begreift<br />

(Epheser 5,25-33). Das Lebensglück, das die Ehe und die Familie zu geben<br />

vermögen, wenn sie <strong>als</strong> von Gott gegründet geglaubt und gelebt werden, ist für<br />

den Schöpfer so kostbar, dass er es unter seinen besonderen Schutz gestellt hat<br />

(2.Mose 20,14; Matthäus 19,6). Er will nicht, dass es zerbrochen wird. Für Jesus<br />

ist die Ehe daher unauflöslich (Matthäus 19,6).<br />

292


WILHELM: AUSSAGEN DER EVANGELIEN<br />

Genau genommen, ist die Scheidungsregelung des Alten Testamentes nicht die<br />

Einführung einer Scheidungserlaubnis. Der Einbruch der Sünde in das Leben<br />

der Menschen brachte aber die „Härte der Herzen“ (Matthäus 19,8). Sie hat zur<br />

Folge, dass auch das Zusammenleben in einer Ehe unerträglich werden kann.<br />

Für diese Situation gab Gott Regelungen (5.Mose 24,1-4), mit denen die<br />

Schwächeren (meistens die Frauen) vor der Willkür der Rechtlosigkeit geschützt<br />

wurden. In anderen Worten: Wenn die Scheidung nicht vermieden werden kann,<br />

dann soll sie wenigstens geordnet, rechtmäßig und nicht unmenschlich durchgeführt<br />

werden.<br />

Die Pharisäer fragten Jesus: „Darf man sich von seiner Frau aus jedem beliebigen<br />

Grund scheiden lassen?“ (Matthäus 19,2) Im Hintergrund ihrer Frage<br />

muss der Streit zwischen den Schriftgelehrten gesehen werden über die Frage,<br />

was denn das Bibelwort „etwas Schandbares“ bedeutete, das im Alten Testament<br />

<strong>als</strong> Scheidungsgrund genannt wird (5.Mose 24,1). Rabbi Schammaj vertrat<br />

die „konservative“ Auslegung: Nur wo die Schande nicht mehr erträglich ist,<br />

wie im Falle von Hurerei eines Ehepartners, ist eine Scheidung gerechtfertigt.<br />

Rabbi Hillel vertrat die „liberale“ Auslegung. Für ihn reichte es „wenn sie die<br />

Speise hat anbrennen lassen“ und später für Rabbi Akiba sogar, „wenn er eine<br />

andere findet, die schöner ist <strong>als</strong> sie“. Da ist nahezu jeder Grund ausreichend.<br />

Diese liberale Auslegung lehnt Jesus ab. Es ist nicht möglich, Jesus für eine<br />

„liberale“ Deutung des Gesetzes zu vereinnahmen. Er lässt nicht zu, dass man<br />

sich die Freiheit nimmt, die Gebote so zu verstehen, wie es einem passt.<br />

Jesus lässt, nach dem Matthäusevangelium (5,5.32; 19,9), nur die Unzucht <strong>als</strong><br />

Scheidungsgrund gelten. Auch hier hat er das gleiche radikale Ziel: Es geht ihm<br />

um den Schutz des Lebens. Für ihn ist eine Scheidung dann erforderlich, wenn<br />

das Leben eines Partners z. B. durch die Unzucht des anderen Partners unerträglich<br />

und würdelos wird. In anderen Worten: Wenn schon Scheidung, dann nur<br />

aus einem so schwerwiegenden Grund, bei dem das Leben gefährdet ist, zu dem<br />

Gott den Menschen berufen hat.<br />

In den anderen Evangelien (Markus 10,1-12; Lukas 16,18) fehlt die Einschränkung<br />

„es sei denn wegen Unzucht“. Dadurch wird die Unauflöslichkeit<br />

einer Ehe im Sinne Jesu noch eindeutiger. Für Menschen, die nach der Gesinnung<br />

Jesu leben, ist die Ehe unauflöslich.<br />

Warum kann Jesus die Unauflöslichkeit der Ehe fordern?<br />

Er kann diese radikale Haltung zum Schutz der Ehe darum von seinen Nachfolgern<br />

fordern, weil er selbst die Erfüllung der prophetischen Ankündigung ist:<br />

293


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

„Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist geben und will das steinerne<br />

Herz wegnehmen.“ (Hesekiel 11,19.20; 36,26.27) Jesus sagt: Es ist die „Herzenshärtigkeit“<br />

(Matthäus 19,8), die das gemeinsame Leben in der Ehe bedroht<br />

und eine Scheidungsregelung erforderlich machte. Nachfolger Jesu haben nun<br />

eine Möglichkeit, von ihren „versteinerten Herzen“ befreit zu werden. Wenn sie<br />

an Jesus glauben, gilt für sie nicht, was den „Alten“ (Matthäus 5,21.33) gesagt<br />

war. Von den Glaubenden kann er das Neue fordern: „Ich aber sage euch ...“<br />

(Matthäus 5,22.28.34.39.44).<br />

Wer daran glaubt, dass Jesus die „Härte“ im eigenen Herzen und in dem des<br />

Ehepartners wegnehmen kann, der hat keinen Grund mehr für eine Scheidung.<br />

Für den, der sich von der Gesinnung Jesu bestimmen lässt und seiner umwandelnden<br />

Kraft vertraut, kommt eine Scheidung nicht mehr in Frage. Das geschieht<br />

<strong>als</strong> ein innerer Vorgang, in der Gesinnung, im „Herzen“ der Menschen.<br />

Jesu Verbot der Scheidung ist darum kein Gesetz, das Kriterien der öffentlichen<br />

Ordnung beschreibt, sondern ein geistliches Gebot, das bei beiden Partnern eine<br />

Glaubenserfahrung voraussetzt, nämlich die „bessere Gerechtigkeit“ (Matthäus<br />

5,20), die durch die Annahme und die Nachfolge Jesu wirksam wird.<br />

Die von Jesus gebotene Unauflöslichkeit der Ehe hat auch wieder das eine<br />

Ziel: Sie soll die gefährdete Ehe schützen. Denn solange jeder Ehepartner daran<br />

glaubt, dass „was Gott zusammengefügt hat, der Mensch nicht scheiden soll“<br />

(Matthäus 19,6), solange werden sie auch die Kraft aufbringen, das zu tun, was<br />

zur Rettung ihrer gefährdeten Ehe nötig ist, auch wenn es von ihnen selbst Opfer<br />

verlangt. Denn ihnen gilt die Verheißung, dass sie ein „fleischernes Herz“ erhalten.<br />

Sie werden wieder liebesfähig, wo die Liebe schon erkaltet war.<br />

Gibt es in der Gemeinde Jesu keine „Härte des Herzens“ mehr?<br />

Wenn beide Ehepartner der Verheißung Jesu glauben, werden sie erleben, dass<br />

da, wo in ihnen und in ihrem Verhältnis zum anderen, schon alles versteinert<br />

und tot war, neues Leben einkehrt. Christus ist die Auferstehung (Johannes<br />

11,25). Er kann wirklich Totes zu neuem Leben erwecken. Gott sei Dank kann<br />

die Gemeinde Jesu immer wieder von diesem Wunder berichten. Die Praxis in<br />

unseren Gemeinden zeigt aber auch, dass dieser Glaube in zahlreichen Fällen<br />

nicht da ist und auch trotz guten seelsorgerlichen Bemühens nicht hergestellt<br />

werden kann. Was kann und soll die Gemeinde dann tun?<br />

Erstens, die Gemeinde muss liebevoll und glaubhaft deutlich machen, dass die<br />

Härte, die zur Trennung führt, aus dem Kleinglauben oder Unglauben kommt,<br />

das anzunehmen, was Jesus versprochen hat – und dass sie Sünde ist. Wo Sünde<br />

294


WILHELM: AUSSAGEN DER EVANGELIEN<br />

bekannt und vergeben wird, ist das Wunder des Neuanfangs möglich. Den Weg<br />

dafür hat Jesus bereitet.<br />

Zweitens, die Gemeinde muss anerkennen, dass dort, wo das einander gegebene<br />

Versprechen und die Beziehung so zerbrochen sind, dass sie nicht wieder<br />

hergestellt werden können, die „Härte des Herzens“ noch wirksam ist, um derer<br />

Willen Gott eine Scheidungsregelung zuließ. Das bedeutet, auch die Gemeinde<br />

muss eine Scheidungsregelung gelten lassen, die sicherstellt, dass der Schwächere<br />

nicht der Willkür des Stärkeren preisgegeben bleibt. Es muss <strong>als</strong>o eine<br />

rechtlich verbindliche, faire Scheidung erfolgen, wie auch Jesus sie gelten ließ<br />

für die Menschen mit „Herzenshärtigkeit“.<br />

Drittens, die Gemeinde muss deutlich machen, dass eine Scheidung immer eine<br />

Verletzung des erklärten Willens Gottes ist, auch wenn sie die Scheidung<br />

ihrer Glieder erdulden muss. Eine Ehescheidung von Gemeindegliedern ist nicht<br />

nur deren private Angelegenheit. Die Entschiedenheit, mit der sich Jesus zum<br />

Schutz der Ehe einsetzt, fordert die Gemeinde auf zu handeln, wenn ihre<br />

Schwestern und Brüder sich wehtun, weil sie gegen Gottes Gebot verstoßen.<br />

Das bedeutet, diese Glieder können in der Zeit, in der die Scheidung offensichtlich<br />

ist und vollzogen wird, nicht im Namen der Gemeinde auftreten. Es ist <strong>als</strong>o<br />

eine „korrigierende Seelsorge“ zu beraten und gegebenenfalls zu beschließen<br />

(siehe Gemeindeordnung). Das bedeutet nicht, dass über diese Glieder ein Urteil<br />

gesprochen wird oder gar festgelegt wird, wer mehr oder wer weniger schuld ist.<br />

Die Radikalität der Worte Jesu verlangt aber von der Gemeinde, dass sie seine<br />

hohen Maßstäbe auch dann darstellen muss, wenn sie weiß, dass sie nicht in<br />

jedem Fall erfüllt werden können.<br />

Viertens, die Gemeinde muss deutlich machen, wie Gott durch Vergebung frei<br />

macht. Sie hat die Glieder, für die eine Scheidung unausweichlich wurde, zu<br />

beraten, wie sie ihr Verhältnis zu einander, auch während und nach der Scheidung,<br />

in Ordnung bringen können, wie sie vergeben, um Vergebung bitten und<br />

die mit der Scheidung verbundenen Probleme, wie Güterteilung oder Unterhaltsverpflichtungen,<br />

friedlich und fair regeln sollten, damit sie sich wieder frei<br />

in die Augen sehen können und nicht länger das Gift gegenseitiger Vorwürfe in<br />

ihrer Seele behalten.<br />

Fünftens, die Gemeinde muss selbst genauso vergebungsbereit sein und den<br />

Betroffenen einen neuen Anfang ermöglichen. Es ist immer wieder zu beobachten,<br />

dass eine Gemeinde beim Zerbrechen einer Ehe untätig bleibt und schweigt,<br />

dass sich aber ihre Glieder von den Betroffenen gefühlsmäßig distanzieren, weil<br />

eine Ehescheidung ja gegen das Wort Jesu verstößt und darum der Gemeinde<br />

Schande bereitet. Jesus hat genau umgekehrt gehandelt. Er hat sich radikal zum<br />

295


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Schutz der Ehe eingesetzt, dann hat er sich aber zu den Gescheiterten, sogar zu<br />

den Ehebrechern und Huren, gesetzt und ihnen seine Liebe zugewandt.<br />

Sechstens, die Gemeinde muss deutlich machen, welche Bedeutung das Verbot<br />

der Wiederverheiratung für Geschiedene hat und warum es in der Gemeinde<br />

gilt.<br />

Was bedeutet das Verbot der Wiederverheiratung?<br />

Die Wiederverheiratung eines/einer Geschiedenen und die Heirat eines/einer<br />

Geschiedenen werden von Jesus und den Aposteln eindeutig abgelehnt (Matthäus<br />

5,32; 19,9; Lukas 16,18; Römer 7,2.3; 1.Korinther 7,10.11). Jesus sagt:<br />

„Wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe.“ (Matthäus 5,32 u. a.). Paulus<br />

sagt von der Frau, die sich nicht von ihrem Mann scheiden soll: „Hat sie sich<br />

aber geschieden, soll sie ohne Ehe bleiben oder sich wieder versöhnen.“<br />

(1.Korinther 7,11)<br />

Beide Aussagen zeigen, dass die Ehe auch nach der Scheidung <strong>als</strong> eine immer<br />

noch zu beachtende Realität angesehen wird. Weil Jesus das Heilmittel hat, das<br />

die zerbrochene Beziehung wieder zu neuem Leben erwecken kann, will er die<br />

Möglichkeit dafür auch über die Scheidung hinaus erhalten.<br />

Paulus, der sich dabei ausdrücklich auf das Gebot des Herrn beruft, nennt<br />

deutlich das Ziel: „Versöhnen“! Wer die Möglichkeit dafür zerstört, macht sich<br />

schuldig. Das gilt für den, der nach seiner Scheidung jemand anderen heiratet.<br />

Es gilt ausdrücklich auch für den, der einen geschiedenen Partner heiratet. Auch<br />

das wird <strong>als</strong> Ehebruch bezeichnet. Und die Bibel sagt deutlich, dass Ehebrecher<br />

nicht im Reich Gottes sein werden (1.Korinther 6,9).<br />

Auch hier können wir die Radikalität dieser Aussagen nur richtig verstehen,<br />

wenn wir nach dem Sinn fragen. Wie alle Gebote Gottes, so ist auch das Verbot<br />

der Wiederverheiratung „um des Menschen willen gemacht“ (Markus 2,27).<br />

Jesus will durch dieses Gebot in zweifacher Weise helfen:<br />

Erstens, das Verbot der Wiederverheiratung hat eine schützende Wirkung innerhalb<br />

der gefährdeten Ehe. Wenn jemand während einer Ehekrise meint, er<br />

finde sicher einen anderen Partner, mit dem das Leben schöner wird, kann er<br />

kaum noch die Kraft aufbringen, das zu tun, was zur Erhaltung und zur Gesundung<br />

seiner kranken Ehe nötig ist. Darum verbietet Jesus, jemand anderen zu<br />

heiraten. Auch hier kommt es ihm wieder darauf an, dass dies „im Herzen“ geschieht.<br />

Die Möglichkeit, sich einem anderen zuzuwenden, soll bereits im Denken<br />

ausgeschlossen werden. Wer daran glaubt, dass er vor Gott und Menschen<br />

schuldig wird, wenn er dem verführerischen Gedanken nachgibt, kann sich radi-<br />

296


WILHELM: AUSSAGEN DER EVANGELIEN<br />

kal dem zuwenden, der ihn ändern kann. Wer glaubt, was Jesus geboten hat,<br />

wird erkennen, was notwendig ist, und von Gott die Kraft erhalten, seinen Teil<br />

zur Überwindung der Ehekrise zu tun. Er wird seinen Ehepartner wieder annehmen<br />

und lieben lernen. Das wird eine verändernde Wirkung haben.<br />

Zweitens, das Verbot der Wiederverheiratung will nach der Trennung die<br />

Möglichkeit zur Wiederherstellung offen halten. Der Weg für ein gemeinsames<br />

Leben durch Versöhnung und Erneuerung des gegebenen Versprechens soll<br />

nicht verbaut werden. Dazu kann auch die Erfahrung beitragen, dass es „nicht<br />

gut ist, allein zu sein“ (1.Mose 2,18). Die Trennung und das Gebot, allein zu<br />

bleiben, können zusammen eine heilsame Wirkung haben. Wenn zwei Menschen<br />

glauben, dass sie durch den Bruch ihres Eheversprechens vor Gott und<br />

Menschen schuldig geworden sind, können sie auf diese Weise von Gott die<br />

Kraft erhalten, den Weg zu einander wieder zu finden. Aber auch das kann nur<br />

im Inneren, „im Herzen“ der Menschen beginnen.<br />

Verurteilt dieses Gebot Menschen dazu, lebenslänglich allein zu bleiben?<br />

Das Verbot einer neuen Heirat hat zwangsläufig die Ehelosigkeit für die zur<br />

Folge, deren Ehe geschieden wurde, mit Ausnahme der Scheidungsgründe, die<br />

Christus nannte. Die Praxis zeigt, dass es Menschen gibt, die nach einer Scheidung<br />

keine Möglichkeit zur Erneuerung des einmal gegebenen Eheversprechens<br />

mehr sehen, die aber das Verbot Jesu zur Wiederverheiratung im Glauben annehmen<br />

und dadurch von Gott auch die Kraft erhalten, allein zu leben. Glaubensgehorsam<br />

steht immer unter dem Segen Gottes.<br />

Es muss aber gefragt werden: Verurteilt Jesus tatsächlich jeden Menschen,<br />

dessen Ehe an der „Härte der Herzen“ gescheitert ist und nicht wieder hergestellt<br />

werden kann, dazu, lebenslänglich allein zu bleiben? Ist es wirklich<br />

schriftgemäß, die lebenslange Ehelosigkeit zu fordern? Ist eine solche Auslegung<br />

dieses Gebots mit Geist und Sinn Jesu und den Aussagen der ganzen<br />

Schrift vereinbar? Kann <strong>als</strong>o die Gemeinde tatsächlich in jedem Fall die lebenslange<br />

Ehelosigkeit verlangen?<br />

Die Jünger hatten die Konsequenzen der Rede Jesu richtig erfasst, <strong>als</strong> sie mit<br />

den Worten darauf reagierten: „Wenn es zwischen Mann und Frau so steht, sollte<br />

man lieber gar nicht heiraten.“ (Matthäus 19,10) Stell dir vor, du heiratest und<br />

es geht nicht gut, dann hast du doch nur die Wahl, entweder dazu verdammt zu<br />

sein, mit dem unerträglichen Partner lebenslang aushalten zu müssen oder lebenslang<br />

allein zu bleiben. Dann lieber erst gar nicht heiraten! Manches, was<br />

heute so modern erscheint, ist offensichtlich doch nicht so neu! Was antwortet<br />

297


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Jesus darauf? Seine Antwort lässt sich so wiedergeben: „Was ihr sagt, kann<br />

nicht jeder, sondern nur der, dem es gegeben ist. Einige Menschen sind von Geburt<br />

an unfähig zur Ehe, andere wurden von Menschen zur Ehe unfähig gemacht,<br />

andere haben sich freiwillig für die Ehelosigkeit entschieden, weil sie<br />

ganz für das Reich Gottes da sein wollen. Jeder kann nur das tun, was ihm möglich<br />

ist.“ (Matthäus 19,11.12)<br />

Mit anderen Worten: Jesus sagt, was die Jünger <strong>als</strong> Ausweg vorschlagen, ist<br />

keine Lösung für alle. Unverheiratet bleiben ist nicht für jeden möglich. Es ist<br />

an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, die nicht jedem gegeben sind. Gott hat<br />

den Menschen auf die Ehe hin geschaffen. Es ist „nicht gut, dass der Mensch<br />

allein ist“. Die Sehnsucht nach der Erfüllung im „Gegenüber“ von Mann und<br />

Frau ist in den Menschen von Gott hineingelegt worden (1.Mose 2,18). Die Erfüllung<br />

dieser Sehnsucht wird in der Bibel mit den Worten „sie werden ein<br />

Fleisch“ beschrieben (1.Mose 2,21-24; Matthäus 19,5). Das ist die normale<br />

Situation. Selbst da, wo es gute Gründe für die Ehelosigkeit gibt, ist darum nicht<br />

jeder dazu in der Lage. Paulus schreibt: „Den Unverheirateten und Verwitweten<br />

sage ich: Es ist am besten, wenn sie meinem Vorbild folgen und allein bleiben.<br />

Aber wenn ihnen das zu schwer fällt, sollen sie heiraten. Das ist besser, <strong>als</strong> wenn<br />

sie von unbefriedigtem Verlangen verzehrt werden.“ (1.Korinther 7,8.9 Gute<br />

Nachricht)<br />

Die unheilvollere Alternative zur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse wäre<br />

die Promiskuität oder Prostitution, <strong>als</strong>o die Hurerei. Sie kommt nicht in Frage<br />

(1.Korinther 6,18). Da ist die Bibel ganz eindeutig: Sexuelle Beziehungen, die<br />

wechselnd und unverbindlich gelebt werden, ohne die Lebensgemeinschaft, die<br />

Treue und den Schutz, die im Ehegelübde besiegelt sind, bezeichnet die Bibel<br />

<strong>als</strong> Unzucht. Sie ist Sünde und wird genauso entschieden verurteilt wie der Ehebruch<br />

(1.Korinther 6,9; 10,8; 2.Korinther 12,21; Galater 5,19; u. a.). Für die, die<br />

„sich nicht enthalten können“, bleibt nur ein Weg, „sie sollen heiraten. Denn es<br />

ist besser zu heiraten <strong>als</strong> vom Feuer verzehrt zu werden.“ Die Antwort Jesu auf<br />

die Bemerkung der Jünger bedeutet <strong>als</strong>o: Lebenslange Ehelosigkeit gebietet<br />

Gott nicht jedem, denn nicht jeder Mensch ist dazu in der Lage. Jesus verurteilt<br />

Menschen nicht zu ständigem Alleinsein, wenn sie das nicht können. Ehelosigkeit<br />

darf nicht zu einem allgemeingültigen Gebot erhoben werden, so fromm die<br />

Gründe dafür auch scheinen (1.Timotheus 4,3).<br />

298


WILHELM: AUSSAGEN DER EVANGELIEN<br />

Wie ist der Widerspruch zu verstehen?<br />

Einerseits verbietet Jesus die Wiederverheiratung nach der Scheidung, andererseits<br />

sagt er, dass nicht jeder ehelos leben kann. Damit werden der Gläubige<br />

und die Gemeinde Jesu mit einem Widerspruch konfrontiert.<br />

Der Widerspruch löst sich natürlich auf, wenn ein Paar, das sich trennte, den<br />

Druck des Alleinseins <strong>als</strong> einen Anstoß zur Versöhnung erlebt. Wenn sie sich<br />

versöhnen und Liebe und Ehebund wieder erneuern, erfüllen sie das Gesetz<br />

Christi. Dieses Wunder gibt es. Gott sei Dank! Aber wir wissen nur zu gut, dass<br />

sehr viele Paare diesen Weg nicht gehen können. Die „Härte des Herzens“<br />

kommt leider auch in der Gemeinde Jesu vor. Trotz allen Bemühens finden viele<br />

geschiedene Menschen nicht wieder zueinander. Dann stehen sie vor der widersprüchlichen<br />

Situation, dass der eine Bibeltext bzw. die Gemeinde etwas von<br />

ihnen verlangt, was sie nach dem anderen Bibelwort möglicherweise gar nicht<br />

können. Sie sind in der Ehe gescheitert. Sie werden nun zur Ehelosigkeit aufgefordert<br />

und sind wieder zum Scheitern verurteilt, weil es ihnen nicht gegeben ist,<br />

ehelos zu leben. Wie ist dieser Widerspruch zu lösen?<br />

Wir sind hier wieder bei der grundlegenden Frage, wie die radikalen Worte Jesu<br />

und die sinnverwandten Texte des Neuen Testamentes zu verstehen sind. Wie<br />

bei Jesu Aussagen zur Unauflöslichkeit der Ehe muss auch beim Verbot der<br />

Wiederverheiratung konsequent nach dem Ziel Jesu gefragt werden.<br />

Wir hatten festgestellt: Wie beim Verbot der Scheidung, so verfolgt Jesus auch<br />

beim Verbot der Wiederverheiratung das gleiche Ziel: Er will die gefährdete Ehe<br />

schützen. Gott hat den Ehebund <strong>als</strong> eine wesentliche Grundlage für das Glück<br />

der Menschen geschaffen. An ihm können die Menschen das Geheimnis der<br />

Beziehung zu ihm lernen (Epheser 5,25-33). Darum hat die Ehe eine besonders<br />

heilige und heiligende Bedeutung (1.Korinther 7,14). Deshalb stellte Gott sie in<br />

besonderer Weise unter seinen Schutz. Seine Gebote gelten allein diesem<br />

Zweck. Wo er nicht mehr erfüllt wird, dürfen diese Gebote auch nicht gegen den<br />

Menschen angewandt werden (Markus 2,23-28).<br />

Wo das Ziel des Gebots im Glauben angenommen wird, kann es mit Gottes<br />

Hilfe auch erfüllt werden. Die „Härte der Herzen“ wird umgewandelt, die Menschen<br />

erfahren die Barmherzigkeit Gottes und werden barmherzig zu einander.<br />

Wie das Gebot der Unauflöslichkeit der Ehe nicht erfüllt werden kann, wenn<br />

Menschen nicht mehr miteinander leben können oder wollen, weil die „Herzen<br />

verhärtet“ sind, so kann auch das Verbot einer neuen Heirat sein Ziel nicht erreichen,<br />

wenn die zerbrochene Beziehung nicht wieder erneuert werden kann.<br />

Wenn in der Erfahrung und der Einstellung der betroffenen Menschen unüber-<br />

299


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

windliche Hindernisse für die Wiederaufnahme der zerbrochenen Beziehung bestehen,<br />

hat das Gebot zur Ehelosigkeit seinen Sinn verloren. Es darf dann von<br />

ihnen nicht etwas verlangt werden, was weder dem Ziel des Gebotes noch dem<br />

Plan Gottes für das Leben entspricht. Deshalb muss es einen Weg geben, wie die<br />

Menschen, die zur Ehelosigkeit nicht fähig sind, in Übereinstimmung mit dem<br />

Willen Gottes wieder heiraten können.<br />

Welche Ursache hat dieser Widerspruch?<br />

Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Widerspruch Folge der Sünde<br />

ist. Ehebruch ist Sünde. Scheidung ist Sünde, denn „was Gott zusammengefügt<br />

hat, soll der Mensch nicht scheiden“ (Matthäus 19,8). Die Heirat eines anderen<br />

nach der Scheidung ist Sünde. Auch der neue Ehepartner ist sündhaft beteiligt.<br />

War er selbst Anlass für das Scheitern der Ehe, so ist er ein Ehebrecher.<br />

Aber selbst wenn er den geschiedenen Partner erst später kennen lernte und<br />

nicht am Scheitern der Ehe beteiligt war, gilt für ihn das Wort: „Wer eine<br />

Geschiedene heiratet, bricht die Ehe.“ (Matthäus 5,32)<br />

Wenn dieser Partner tatsächlich nicht schuld ist am Zerbrechen der Ehe des<br />

anderen und auch nicht daran, dass eine Versöhnung nicht mehr möglich ist,<br />

wird er seine Beteiligung subjektiv auch nicht <strong>als</strong> sündige Tat erkennen können.<br />

Das darf auch niemand von ihm verlangen. Es bleibt aber dennoch bestehen,<br />

dass er objektiv an etwas beteiligt ist, was Gott nicht will. In einer unheilen Welt<br />

kann kein Mensch heil bleiben, auch nicht der, der nur das Gute will.<br />

Wie ist der Widerspruch zu lösen?<br />

Der Widerspruch löst sich nur auf durch den Weg der Vergebung, den Gott geebnet<br />

hat. Die Bibel sagt eindeutig: Ehebrecher werden das Reich Gottes nicht<br />

erben (1.Korinther 6,9). Der Text geht aber weiter: „Solche sind einige von euch<br />

gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden<br />

durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres<br />

Gottes“ (Vers 11). Jesus hat die Ehebrecherin nicht verdammt (Johannes 8,1-11).<br />

Er nimmt gerade die Art, wie die Frommen mit dem Ehebruch umgehen, zum<br />

Anlass, deutlich zu machen, dass niemand das Recht hat, sich ein Urteil über<br />

andere anzumaßen (Vers 7).<br />

In der ganzen heiligen Schrift führt Gott seiner Gemeinde besonders am Beispiel<br />

des Ehebruchs die Größe und Langmut seiner Vergebung vor Augen (z. B.<br />

Hesekiel 16 und 23).<br />

300


WILHELM: AUSSAGEN DER EVANGELIEN<br />

Vergebung bedeutet, es ist ein neuer Anfang möglich. Vergebung bedeutet a-<br />

ber nicht, dass in jedem Fall der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt werden<br />

kann. Kann die zerbrochene Ehe nicht mehr hergestellt werden, so ist auch<br />

dafür Vergebung möglich. Auch auf dieser Ebene kann dann neu begonnen werden.<br />

Für den, dem eine lebenslange Ehelosigkeit nicht gegeben ist, heißt das<br />

dann, es wird für ihn nun „besser“ sein, wieder zu heiraten. So gesehen ist das<br />

Verbot Jesu zur Wiederverheiratung kein Gebot zur lebenslangen Ehelosigkeit.<br />

Der scheinbare Widerspruch wird aufgelöst durch die Vergebung Gottes. Diese<br />

Vergebung hat auch die Gemeinde zu gewähren.<br />

Wird damit das Gebot Jesu nicht aufgehoben?<br />

Wird damit nicht doch das Verbot der Wiederverheiratung, das im Neuen Testament<br />

so eindeutig bezeugt ist, ungültig gemacht? Liegt darin nicht ein Freibrief<br />

vor, das Gebot Jesu zu umgehen? Da braucht sich einer, wenn er vorhat,<br />

jemand anderen zu heiraten, doch nur scheiden zu lassen, um Vergebung zu bitten,<br />

und dann kann er tun, was er von vornherein wollte. Wie kann die Gemeinde<br />

das beurteilen und verhindern?<br />

So bitter es ist, die Gemeinde muss erkennen, dass sie den Missbrauch nicht<br />

ausschließen kann. Selbst wenn sie die Worte Jesu <strong>als</strong> Gesetz buchstäblich<br />

nimmt und verschärft anzuwenden versucht, wird das nicht gelingen. Das wird<br />

deutlich belegt durch die Rabbiner zur Zeit Jesu. Ihre zusätzlichen Gesetzesvorschriften<br />

führten nur zu neuem Missbrauch und zu neuer Ungerechtigkeit (Markus<br />

7,1-13). Die Radikalität Jesu zielt eben nicht auf eine Verschärfung der Gesetzesvorschrift,<br />

sondern auf einen Vorgang im „Herzen“, in der Gesinnung des<br />

Menschen. Er möchte die Ausrichtung auf seine Gerechtigkeit, auf die Barmherzigkeit<br />

und das Vertrauen (Matthäus 23,23).<br />

Die Möglichkeit, dass Menschen die Freiheit, die ihnen Gott geschenkt hat,<br />

missbrauchen können, darf die Gemeinde niem<strong>als</strong> zum Misstrauen und zu einer<br />

Kontrollhaltung gegeneinander verführen. Das ist auch nicht nötig, denn Christus<br />

ist selbst der Herr der Gemeinde. Darauf darf die Gemeinde vertrauen. „Der<br />

Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an.“ (1.Samuel<br />

16,7) Menschen können die Motive anderer nicht wirklich beurteilen, vor Gott<br />

bleibt aber nichts verborgen. „Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird,<br />

es ist nichts geheim, was man nicht wissen wird.“ (Matthäus 10,26; Lukas 12,2)<br />

301


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Wie kann die Gemeinde mit der Radikalität Jesu seelsorgerlich umgehen?<br />

Jesus reagiert so radikal, weil er sich um das Leben (die Seele) der Menschen,<br />

die er liebt, sorgt. Sein Handeln ist zutiefst seelsorgerlich. Die Gemeinde handelt<br />

dann seelsorgerlich, wenn sie das gleiche Ziel verfolgt. Sie muss aufzeigen, was<br />

das Leben bedroht und wie es gewonnen werden kann. Es ist Anliegen des Heiligen<br />

Geistes, „den Menschen die Augen für ihre Sünde [zu] öffnen, aber auch<br />

für Gottes Gerechtigkeit und das Gericht“ (Johannes 16,8 Hfa).<br />

Mit Sünde beschreibt die Bibel nicht nur die verwerfliche, böse Tat, sie beschreibt<br />

den Zustand der Unfähigkeit, den Maßstäben Gottes zu genügen. „Darin<br />

sind die Menschen gleich: Alle sind Sünder und haben nichts aufzuweisen,<br />

was Gott gefallen könnte.“ (Römer 3,23 Hfa) Alles hat seine Ursache in der<br />

„Härte der Herzen“ und im Unglauben, das Lösungsangebot Jesu anzunehmen<br />

Es ist Sünde, wenn die Menschen nicht glauben, was Gott versprochen hat und<br />

zu erfüllen vermag (Römer 14,23). Eine neue Einstellung, ein „fleischernes<br />

Herz“ beginnt dort, wo die Vergebung Gottes angenommen wird. Wir bedürfen<br />

alle der Vergebung. Die ist, Gott sei Dank, möglich, denn „bei ihm ist viel Vergebung“<br />

(Jesaja 55,7).<br />

Jesus sagt immer wieder: „Es geschieht nach deinem Glauben.“ (Matthäus<br />

8,13; 9,29; 15,28) Der Glaube, der die Veränderung im „Herzen“, in der Einstellung<br />

eines Menschen bewirken kann, entsteht dort, wo er glaubwürdig bezeugt<br />

wird. Zur Seelsorge in der Radikalität Jesu sind darum nur Menschen befähigt,<br />

die sich selbst <strong>als</strong> Gescheiterte von Gott angenommen wissen. Nur dann ist es<br />

möglich, die lebensrettende Wahrheit auf der Grundlage der Barmherzigkeit zu<br />

bezeugen. Nur so bewirkt Seelsorge Verstehen und Ermutigung zum Glauben,<br />

der das Leben bewahrt.<br />

302


Praktische Hilfen


Scheidungsbegleitung durch die Gemeinde<br />

William Loveless<br />

Dieser Bericht ist kein wissenschaftlicher Vortrag. Vielmehr berichtet Bill<br />

über das Leben und über die Atmosphäre in seiner Loma Linda Universitätsgemeinde.<br />

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Symposiums haben gespürt,<br />

welche Bedeutung Rituale für Geschiedene und eine Gemeinde haben<br />

können. Vielleicht gelingt es uns, diese Eindrücke auch in schriftlicher Form zu<br />

übermitteln.<br />

Ich fühle mich jetzt wie Sokrates. Ich möchte die Moral der Jugend von<br />

Athen nicht verderben. Es ist jedoch eure Entscheidung, ob ihr am Ende dieses<br />

Berichts verdorben seid. Ich bin mir schon bewusst, dass unsere Handlungen<br />

nicht unbedingt auf Deutschland übertragen werden können und müssen.<br />

Als Gemeinde nehmen wir rituelle Handlungen bei der Begleitung von Paaren<br />

im Scheidungsprozess sehr ernst. Das Abendmahl 1 ist ein solches Ritual. Für<br />

uns in der Loma-Linda-Gemeinde ist beim Abendmahl der Aspekt der Versöhnung<br />

bedeutungsvoller <strong>als</strong> der des Gedächtnisses. Im Römerbrief hat Versöhnung<br />

die Bedeutung von Entsühnung, von "Loswerden", "frei werden von Sünde".<br />

Darum ist das Abendmahl für Menschen, die sich im Prozess der Scheidungskrise<br />

zur Rückkehr in ein normales Leben befinden, eine wichtige Handlung.<br />

Das Paar kann hier die Entsühnung ihrer Ehe- und Scheidungsgeschichte zum<br />

Ausdruck bringen. Im Abendmahlsgottesdienst beziehen wir die ganze Familie<br />

und die große Verwandtschaft mit ein.<br />

In Loma Linda ist das Abendmahl ein Familienereignis. An jedem Sabbat<br />

findet es in irgendeiner der vielen Gruppen im Gottesdienst statt. Bei uns gehö-<br />

1 In der Gemeinschaft der STA wird das Abendmahl in Verbindung mit der Fußwaschung gemäß<br />

Johannes 13 gefeiert. Dann wird das Abendmahl mit Brot und Wein (Saft), üblicherweise<br />

von PastorInnen und/oder DiakonInnen an die Gemeindemitglieder ausgeteilt. Die Fußwaschung<br />

wird in der Regel in Gruppen nach Männern und Frauen getrennt durchgeführt, indem<br />

sich zwei Personen gegenseitig die Füße waschen. Traditionsgemäß findet das Abendmahl in<br />

vielen Gemeinden einmal im Quartal statt. In der Regel nehmen nur getaufte Mitglieder aktiv<br />

daran teil.<br />

305


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

ren die Kinder, auch die Kleinkinder, zur Abendmahlsgemeinde. Sie haben an<br />

allen Symbolen des Abendmahls Anteil, auch an der Fußwaschung. Wir verstehen<br />

die biblischen Berichte so, dass auch ungetaufte Menschen am<br />

Abendmahl teilnehmen können. Dies tun wir, obwohl wir wissen, dass das Gemeindehandbuch<br />

eine andere Position vertritt - aber das ist eben das Gemeindehandbuch<br />

und nicht die Bibel.<br />

Vielleicht seid ihr jetzt schockiert. Deshalb möchte ich euch noch mehr von<br />

der Bedeutung berichten, die das Abendmahl für uns <strong>als</strong> Gemeinde hat. Wenn<br />

wir das Abendmahl durchführen, dann hat es für irgendeine Familie oder eine<br />

Gruppe innerhalb der Gemeinde immer eine besondere Bedeutung. Darum teilen<br />

wir uns bei der Fußwaschung auch nicht so sehr in Männer/Frauen-Gruppen<br />

auf. Wir möchten, dass eine Familie oder Gruppe gemeinsam an diesen A-<br />

bendmahlszeremonien teilnimmt und sie gemeinsam durchführt. Wir haben<br />

festgestellt, dass man nicht erwarten kann, dass Teenager plötzlich gerne am<br />

Abendmahl und der Fußwaschung teilnehmen, wenn sie vorher ständig ausgeschlossen<br />

waren.<br />

Wir ermutigen die Familien, am Freitagabend in der Familie Abendmahl zu<br />

feiern. Es werden Rezepte an die Familien ausgeteilt, wie sie Abendmahlsbrot<br />

herstellen können. Natürlich enthalten diese Rezepte auch Sahne – damit es<br />

besonders gut schmeckt. Die Familien haben <strong>als</strong>o schon im Familienkreis<br />

Abendmahl gefeiert, wenn sie am Sabbat in den Gottesdienst kommen. Deshalb<br />

ist auch der Abendmahlsgottesdienst der am besten besuchte Gottesdienst.<br />

Die Handlung der Fußwaschung ist für uns besonders bedeutungsvoll. Mir<br />

wird bewusst, dass ich voller Sünde bin und jetzt zur Fußwaschung komme, um<br />

dort gereinigt zu werden.<br />

Mit diesem Verständnis erleben wir auch in unseren Scheidungsgruppen das<br />

Abendmahl <strong>als</strong> Abschluss oder <strong>als</strong> Übergang ins normale Leben, <strong>als</strong> Ritual, das<br />

den Übergang begleitet.<br />

Zusätzlich verwenden wir auch viel Öl – Olivenöl - um uns zu salben und die<br />

Hände aufzulegen. Die Grundlage dazu ist natürlich Jakobus 5. Dort geht es um<br />

Krankheit, aber nicht nur um körperliche Krankheit, sondern um „sündenkranke“<br />

Menschen. In der Apostelgeschichte wird uns berichtet, wie Menschen die<br />

Hände aufgelegt werden. Barnabas und Paulus werden z. B. die Hände aufgelegt,<br />

weil sie für einen besonderen Dienst berufen wurden.<br />

So hat die Salbung mit Öl und auch das Abendmahl in diesen Übergangsphasen<br />

des Scheidungsprozesses eine rituelle Bedeutung.<br />

306


LOVELESS: SCHEIDUNGSBEGLEITUNG<br />

Habe ich euch ein bisschen neugierig gemacht?<br />

Natürlich möchte ich mit euch darüber diskutieren. Ich denke, jetzt haben wir<br />

jede Menge Stoff. Vielleicht sollten wir über die Bedeutung für die Seelsorge<br />

nachdenken.<br />

Also, ihr müsstet diesen Abendmahlsgottesdienst wirklich mal miterleben. Ihr<br />

würdet eine noch tiefere Bedeutung des Abendmahls entdecken. Der<br />

Abendmahlsgottesdienst bekommt eine unmittelbare Relevanz. Der Abendmahlsgottesdienst<br />

wird zu einem wirklichen Ritual. Ritual <strong>als</strong> eine Handlung<br />

mit Symbolen, die weit über das hinausweisen, was sie normalerweise in unserem<br />

Gemeindealltag bedeuten. Wenn ihr es <strong>als</strong>o miterleben würdet, wie Kinder<br />

und Erwachsene einander die Füße waschen, wie nicht nur einer dem anderen<br />

die Füße wäscht, sondern mehrere Personen sich gegenseitig die Füße waschen,<br />

dann würdet ihr einen neuen Aspekt im Abendmahl entdecken. Natürlich<br />

nimmt dies im Gottesdienst viel Zeit in Anspruch. Das ist schwer zu beschreiben,<br />

das muss man mitfühlen und mitempfinden.<br />

Frage aus dem Plenum: Treffen in dieser Gruppe auch zwei geschiedenen<br />

Partner aufeinander?<br />

Das kann vorkommen, aber das ist nicht oft der Fall, denn meistens sind nicht<br />

beide Partner in der Scheidungsgruppe anwesend. Also, wenn der Prozess der<br />

Heilung sehr gut gelingt, dann könnte es sein, dass dieses Abschlussritual beide<br />

Ex-Partner zur Fußwaschung zusammen bringt, um eben diesen Abschluss zum<br />

Wohl der Familie so zu feiern. Das passiert gelegentlich, aber nicht sehr oft. In<br />

diesen Gruppen sind auch Partner dabei, die zu entfremdet sind, um mit dem<br />

Partner gemeinsam an dieser Gruppe teilzunehmen. Es nehmen auch Nichtadventisten<br />

und Nichtchristen an diesen Gottesdiensten teil. Es wäre sicherlich<br />

gut, wenn in deutschen Gemeinden dies <strong>als</strong> ein Dienst an der Gesellschaft verstanden<br />

werden würde.<br />

Frage: Diese Form des Abendmahls ist für uns sehr ungewöhnlich. Uns<br />

beschäftigt seit Jahrzehnten das Thema Scheidung/Wiederheirat, die<br />

Trauer darüber und die Begleitung Geschiedener. Wie lange dauert es, bis<br />

so etwas in der Gemeinde möglich ist?<br />

Wir hatten eine Studienkommission in der Gemeinde, die sich über einige<br />

Monate hinweg mit dem Abendmahlsverständnis beschäftigt hat. Wir haben<br />

307


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

keine biblischen oder frühen historischen Gründe gefunden, die gegen das sprechen,<br />

was wir in unserer Gemeinde tun. Die bisherige Form war einfach Tradition.<br />

Damit haben wir gebrochen.<br />

Frage: Wie lange praktiziert ihr diese Rituale schon in eurer Gemeinde?<br />

Wir machen das jetzt 15 Jahre, aber der Entscheidungsprozess dafür hat nur 2-<br />

3 Monate gedauert. Diese Art des Abendmahls hat zuerst auf einem Campmeeting<br />

mit Familien stattgefunden. Jetzt machen wir das auch in unserer Gemeinde<br />

und in unseren Scheidungsgruppen. Dabei kann es passieren, dass wir 4-5<br />

mal in dieser Gruppe Abendmahl feiern. Immer wenn einer in der Gruppe soweit<br />

ist, um dieses Ritual der Entsühnung zu erleben, halten wir miteinander<br />

Abendmahl. Die Aufmerksamkeit liegt immer auf der betroffenen Personen und<br />

nicht auf der Sache an sich - <strong>als</strong>o immer auf dem Menschen.<br />

Frage: Als Scheidungs-Heilungs-Gruppe quasi, sind da immer beide Ex-<br />

Partner anwesend?<br />

Sie sind zwar herzlich eingeladen, und es gibt auch immer noch Ehepartner in<br />

der Gruppe, die sich die Scheidung überlegen. Aber zu dem Zeitpunkt, wo sie<br />

sich zur Trennung entschieden haben, da kommen nicht mehr beide. Der<br />

Hauptgrund, warum Glieder von der Gemeinde weg bleiben, ist ja eben die<br />

Scheidung. Ihr könnt euch darauf verlassen, dass einer oder vielleicht beide in<br />

diesem Prozess der Scheidung der Gemeinde fern bleiben. Es gibt auch Ausnahmen,<br />

aber in der Regel sind nicht beide anwesend. Häufig ist es allerdings<br />

so, wenn wir die eine Gruppe beendet haben, dass der Partner an der nächsten<br />

Gruppe teilnimmt.<br />

Frage: Wie sind die Prediger oder Pastoren in diesen Prozess eingebunden?<br />

Es ist immer ein Pastor dabei, der mit ihnen das Abendmahl feiert. Das war<br />

eigentlich auch nie ein Problem.<br />

Wenn ihr einem deutschen Kind beibringen wollt, Deutsch zu sprechen, dann<br />

wartet ihr ja nicht, bis es 12 Jahre alt ist. Ihr erlebt in unserer Gemeinde, dass<br />

Kinder, die kaum laufen können, schon das Abendmahl nehmen und die Fußwaschung<br />

praktizieren, Die Kinder wachsen natürlicherweise in das<br />

Abendmahl hinein. Sie verstehen zwar diese abstrakte Handlung noch nicht,<br />

aber sie erleben es konkret.<br />

Wir haben Hunderte von Familien, die am Freitagabend das Abendmahl, <strong>als</strong>o<br />

diese entsühnende Handlung, zu Hause feiern. Das Abendmahl hat eine ganz<br />

308


LOVELESS: SCHEIDUNGSBEGLEITUNG<br />

starke Bedeutung von Neuanfang, so wie eine Taufe, die regelmäßig im A-<br />

bendmahl durch die Fußwaschung stattfindet.<br />

Menschen haben im Scheidungsprozess das starke Bedürfnis, einfach berührt<br />

zu werden. Durch die Trennung ist die ganzheitliche Nähe gebrochen. Geschiedene<br />

Menschen sind sehr verletzlich. Sie haben sehr viele Bedürfnisse. Wir<br />

machen sie darauf aufmerksam und warnen sie davor, von anderen ausgenutzt<br />

zu werden. Eine Technik, eine Übung, die wir mit diesen geschiedenen Leuten<br />

machen, ist das „Schaukeln“. Nach einigen Sitzungen kennt die Gruppe sich<br />

sehr gut. Sie sprechen sich mit Vornamen an, sie kennen ihre eigene Geschichte<br />

und die der anderen. Wenn jemand in der Gruppe ist, der sehr verletzt ist, wird<br />

die Gruppe sich um diese Person herumstellen und ihn schaukeln und dabei für<br />

ihn laut beten. Das ist ein sehr eindruckvolles Erlebnis.<br />

Bill bittet nun 10 Personen zu ihm zu kommen. Eine weitere Person legt sich<br />

auf den Rücken und wird von den 10 Personen aufgehoben und rhythmisch<br />

geschaukelt. Nach der Übung tauschen sich die Beteiligten über ihre Eindrücke<br />

und Emotionen aus. Diese praktische Übung vermittelt ein Gespür für<br />

Elemente, die eine ganzheitliche Aufarbeitung der Scheidung fördern.<br />

309


Ehe, Scheidung und Wiederheirat<br />

an der Loma Linda University Church<br />

Drei Einschätzungen der 1989er Richtlinien<br />

Präsentiert von William Loveless<br />

Beurteilung von William Loveless, 2000:<br />

Das Dokument über Ehe, Scheidung und Wiederheirat, das von der Loma<br />

Linda University Church (LLUC) erstellt wurde, war die direkte Antwort auf<br />

die wachsende Einsicht in der Gemeinde, dass Paaren, die in ihrer Ehe<br />

Schwierigkeiten erleben, mehr Hilfe angeboten werden sollte. Außerdem<br />

spornte eine konkrete Scheidungssituation die Gründung eines Arbeitskreises in<br />

der Gemeinde an, der dann das bekannte LLUC-Dokument über Ehe und<br />

Scheidung entwickelte. Haben die Richtlinien in diesem Dokument den<br />

betroffenen Familien und der Gemeinde Hilfe in ihren Problemen geboten? Ja<br />

und Ja, nein. der Schwerpunkt des Dokumentes lag auf angemessener Ehevorbereitung<br />

und war von großem Nutzen, Gemeindemitglieder und Mitarbeiter anzuleiten,<br />

Paare auf die Ehe vorzubereiten. Dieser Schwerpunkt war eine radikale Verschiebung<br />

von der traditionellen Form der Fürsorge in der Gemeinde. In der<br />

LLUC war die Aufmerksamkeit bis dahin auf Ehen und Ehen in Schwierigkeiten<br />

und nicht auf Wiederheirat konzentriert gewesen. In der Vergangenheit hatte<br />

es die LLUC, wie die meisten Adventgemeinden in der Welt, vermieden, sich<br />

mit Themen wie Scheidung und Wiederheirat auseinander zu setzen und handelte<br />

dann oft wenig weise in Bezug auf Themen rund um die Wiederheirat.<br />

Die Betonung von liebender Annahme, wo Scheidung die Familienbande zerrissen<br />

hat, war in positiver Weise lehrreich.<br />

Das Dokument schuf jedoch Probleme in der Auffassung rund um das Thema<br />

Wiederheirat. Die oft komplexen Fragen von Schuld und Unschuld ließen sich<br />

nur schwer, oftm<strong>als</strong> gar nicht in befriedigender Weise beantworten. Größere<br />

Veränderungen in der Kultur mit Aufmerksamkeit auf verbale, seelische und<br />

körperliche Misshandlung <strong>als</strong> Scheidungsgrund machten es zusätzlich schwer,<br />

richtig von f<strong>als</strong>ch, angemessen von unangemessen zu trennen. Wer war in der<br />

Lage, solche Fragen zu entscheiden – und wie?<br />

311


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Der Arbeitskreis, der das Dokument erstellt hatte, hat vor über 10 Jahren seine<br />

Arbeit eingestellt. Waren seine Anstrengungen umsonst? Nein, ganz sicher<br />

nicht. Der pastoral-seelsorgerliche Zugang zur christlichen Ehe wurde auch<br />

weiterhin von diesen Richtlinien geprägt.<br />

Schon früh wurde in Fällen von Scheidung und darauf folgender Wiederheirat<br />

deutlich: je weniger im Team der Helfer, desto besser. Für viele Jahre wurde<br />

jetzt jeder Fall behutsam, vertraulich und individuell unter Einbeziehung schulender<br />

Therapeuten behandelt. Wie gläubige Christen zu jeder Zeit festgestellt<br />

haben, ist Scheidung ein Schmerz, der nie verschwindet, und die Folgen haben<br />

einen anhaltenden und starken Einfluss auf das Leben jedes Familienmitgliedes<br />

und der Gemeindefamilie.<br />

Beurteilung von einem Gemeinde-Arbeitskreis der LLUC, o.J.:<br />

Die LLUC hat einen Arbeitskreis eingesetzt, um nach 10 Jahren die<br />

ursprünglichen Richtlinien zu bewerten. Das Folgende ist ein Arbeitsdokument,<br />

das hier ohne redaktionelle Bearbeitung wiedergegeben wird.<br />

Diese Punkte sind der Versuch, einen grundlegenden Rahmen zu schaffen,<br />

den eine Gemeinde nutzen mag, um eigene Richtlinien zu entwickeln - um erlösend<br />

mit Ehe, Scheidung und Wiederheirat umzugehen. Es ist klar, dass noch<br />

mehr Gedanken, Gebet und Arbeit stattfinden müssen, bevor ein solches Programm<br />

umgesetzt werden kann.<br />

1. Die Gemeinde muss auf jede nur erdenkliche Weise ihren Mitgliedern das<br />

biblische Ideal der Heiligkeit und der Dauerhaftigkeit der Ehe vor Augen<br />

führen.<br />

2. Jene, die sich auf eine Heirat freuen, sollten ermutigt werden, sorgsame<br />

Vorbereitungen zu treffen. Durch eine weite Vielfalt an Ressourcen, die<br />

durch oder über die Gemeinde angeboten werden, sollten sie passende Programme<br />

wählen und Möglichkeiten nutzen, ihre Bekanntschaft miteinander<br />

und mit den wesentlichen Elementen und Werkzeugen zu vertiefen, die nötig<br />

sind, um den Bau ihrer Ehe zu beginnen und fortzuführen.<br />

3. Pastoren werden Trauungen nur für die Menschen durchführen, die die Ehe<br />

ernst genug nehmen, um langfristig Pläne zu machen und sich darauf vorzubereiten.<br />

Von solchen Menschen kann erwartet werden, dass sie lange vor<br />

dem geplanten Hochzeitstermin Kontakt mit dem Pastor aufnehmen.<br />

4. Gemeindemitgliedern muss geholfen werden zu erkennen, dass der Erfolg<br />

der Ehe eine Angelegenheit der ganzen Gemeindefamilie ist. Deshalb setzen<br />

312


LOVELESS: EINSCHÄTZUNG RICHTLINIEN LLUC<br />

sich einzelne Mitglieder dafür ein, alles nur Mögliche zu tun, um Menschen<br />

in der Beziehung ihrer Ehe zu ermutigen.<br />

5. Eine Gemeinde wird ermutigt, ein Netzwerk von Menschen aufzubauen, die<br />

ein Gespür für und ein Interesse an der Anteilnahme und dem Erhalt von<br />

Ehen haben. Es ist die Aufgabe dieser „Spezialeinheit für Paarbeziehungen“<br />

(„Marital Care-Giving Task Force“), Paaren nicht nur in der Ehevorbereitung<br />

zu helfen, sondern sie auch im weiteren Aufbau der Beziehung <strong>als</strong><br />

Mann und Frau zu ermutigen und zu fördern. Diese Spezialtruppe ist wachsam<br />

gegenüber frühen Anzeichen von Störungen in der Beziehung und wird<br />

sich mit Freude und Ernsthaftigkeit bemühen, den Paaren zu helfen, in<br />

schlechten und in guten Zeiten durchzuhalten.<br />

Menschen, denen gute Paarbeziehungen am Herzen liegen, sehen sich nicht<br />

<strong>als</strong> Therapeuten. Wenngleich sie Wege professioneller Hilfe für das Paar<br />

empfehlen können, besteht ihre Hauptaufgabe in der Fürbitte und der Unterstützung<br />

von Menschen durch persönliches Interesse und Mitgefühl.<br />

Eine Möglichkeit, dieses Anliegen auszudrücken, ist der Aufbau von Verantwortlichkeiten<br />

durch sorgfältig ausgewählte „Patenschaften“.<br />

6. Wenn trotz aller Anstrengungen für Versöhnung sich eine Ehe auflöst, dann<br />

wird die Hauptaufgabe der Gemeinde Liebe, Barmherzigkeit, Förderung,<br />

Beratung und nichtbewertende Unterstützung sein.<br />

7. Die Gemeinde muss besondere Strategien für den Dienst an den Kindern<br />

jener Familien entwickeln, die durch das Trauma des Versagens einer Ehe<br />

gehen.<br />

8. Die Gemeinde bittet jene, die durch eine Scheidung gehen, aktiv an einem<br />

Prozess und Programm zur Heilung und Wiederherstellung teilzunehmen.<br />

Während dieser Zeit wird den Teilnehmern abgeraten, sich nach neuen Beziehung<br />

umzusehen oder sie einzugehen.<br />

9. Auf angemessenem Wege bietet die Gemeinde Rat an, in welcher Weise<br />

und in welchem Umfang solche Personen im Leben und in der Führung der<br />

Gemeinde mitwirken können.<br />

10. Es ist für eine Gemeinde angemessen zu erwarten, dass das persönliche<br />

Verhalten mit christlicher Verbindlichkeit übereinstimmt. Haltung gegenüber<br />

neuen Bekanntschaften, Kindern, einem Ex-Partner, Scheidungsregelungen<br />

etc. sollten diese Verbindlichkeit widerspiegeln.<br />

11. Die Gemeinde muss einen Prozess festlegen, durch den eine Person und die<br />

Gemeinde zu einer klaren Erfahrung eines Abschlusses kommt. Innerhalb<br />

dieses Prozesses, der zum Abschluss führt, muss genügend Zeit gelassen<br />

werden, um die oben beschriebenen Ziele zu erreichen.<br />

313


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

12. Im Anschluss an den Abschluss ist eine Person frei, mit der gleichen Unterstützung<br />

und Wertschätzung, die die Gemeinde allen Mitgliedern entgegenbringt,<br />

in die Zukunft zu gehen.<br />

Beurteilung von Dr. Louis Venden, 1992:<br />

Dr. Venden war verantwortlicher Pastor in LLUC, <strong>als</strong> die Richtlinien entwickelt<br />

wurden.<br />

Gewinne durch die neuen Richtlinien:<br />

1. Sie reduzierten Ansprüche aufgrund von „schuldig/unschuldig“ und weiteten<br />

die Sicht biblischer Scheidungsgründe in effektiver Weise.<br />

2. Sie ermöglichten konkrete Schritte für jene, die klare Weisung in der Frage<br />

wünschten, wie man im Fall des Scheiterns einer Ehe verantwortlich vorgeht.<br />

3. Sie ermöglichten mehreren ordinierten Pastoren, nach ihrer Scheidung (aufgrund<br />

des „Zerrüttungsprinzips“) im Dienst zu bleiben.<br />

4. Sie gaben eine „Gemeindeposition“ vor, mit der man übereinstimmen oder<br />

nicht übereinstimmen konnte. Diese Richtlinien beantworteten die Frage<br />

danach, was die Gemeinde <strong>als</strong> Leib/Familie ausgearbeitet hatte.<br />

5. Sie lösten Probleme im Zusammenhang mit Richtlinien und Erwartungen<br />

der Universität einerseits und Handeln der Gemeinde andererseits in Bezug<br />

auf einen Angestellten in Scheidung.<br />

6. Sie halfen Menschen, die durch eine Scheidung gingen, ihre Rolle zu verstehen,<br />

die sie <strong>als</strong> Teil der Gemeindefamilie spielen konnten, obwohl sie<br />

durch einen solchen Prozess gingen.<br />

7. Sie boten Aussicht auf einen Prozess mit offiziellem Abschluss und einen<br />

Neuanfang ohne Einschränkungen.<br />

Herausforderungen:<br />

1. Die Richtlinien fordern verantwortliches Denken und Handeln zu einer Zeit,<br />

in der dies unmöglich scheinen kann. Sie fordern sehr viel von einem Menschen<br />

in einer so tiefen Krisensituation.<br />

2. Der gesamte Prozess kann einschüchtern oder unfreundlich, wenig hilfreich<br />

und wenig heilsam erscheinen. Pastoren sind nicht die Menschen, die man<br />

beim Scheitern einer Ehe aufsucht. Die Gemeinde scheint in einer Rolle des<br />

Anklagens und Richtens zu sein. Die freundliche und erlösende Position,<br />

die die Gemeinde einzunehmen versucht, ist irgendwie verdächtig.<br />

314


LOVELESS: EINSCHÄTZUNG RICHTLINIEN LLUC<br />

3. Die Tatsache, dass jeder Fall bedeutsame Einzigartigkeiten, Elemente und<br />

Faktoren aufweist heißt, dass jeder Fall für sich allein betrachtet werden<br />

muss.<br />

4. Wenngleich mehr <strong>als</strong> genug „Schuld“ im Umlauf ist, ist es doch selten, dass<br />

beide Partner einen gleichen Teil für das Scheitern der Ehe auf sich nehmen.<br />

5. Selten schienen beide Menschen übereinzustimmen, was die Einleitung des<br />

Prozesses anging. Während ein Teil sich dorthin bewegte, wurde beim anderen<br />

Widerstand deutlich. So kann es letztlich geschehen, dass die Richtlinien<br />

jemandem eine einseitige Genehmigung geben das zu tun, wofür er<br />

sich entschieden hat und was er tun möchte – und dadurch wird der Partner<br />

in eine machtlose Position gestellt.<br />

6. Hinter den Richtlinien steht die implizite Annahme, dass Beratung hilfreich<br />

und effektiv im Ermöglichen von Wachstum und Veränderung sei. Gibt es<br />

Beweise für diese Annahme?<br />

315


Eine erfolgreiche Ehe bauen<br />

Als Vortrag gehalten<br />

Ada Garcia<br />

Jede Glaubensgemeinschaft oder Kirche sorgt dafür, dass ihre Mitglieder im<br />

Glauben wachsen können und dass Menschen ohne feste Bindung an Gott in<br />

eine lebendige Beziehung zu Christus kommen können. Für uns <strong>als</strong> Adventisten<br />

ist es selbstverständlich, dass wir Bibelkreise oder Kurse haben, in denen<br />

sich Menschen auf die Taufe vorbereiten.<br />

Mein Traum ist es, dass in allen christlichen Gemeinden regelmäßig Seminare,<br />

Gesprächskreise oder Gruppen angeboten werden, in denen Paare lernen,<br />

erfolgreiche Beziehungen zu bauen. Die Vorbereitung auf eine gute Ehe gehört<br />

genauso dazu wie die Bereicherung bestehender Ehen. Dort können sich Paare<br />

über ihre eigenen Erfahrungen austauschen und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />

für ein zufriedenes Leben in der Partnerschaft erlernen. Meine Ausführungen<br />

sollen Impulse geben, wie eine Ehe erfolgreich werden und bleiben<br />

kann. Vielleicht kann sie auch eine Grundlage für die Erarbeitung eines Seminars<br />

sein.<br />

Ich habe das Thema in drei Teile aufgeteilt. Der erste Teil fragt nach den<br />

stabilen Grundlagen einer Paarbeziehung. Der zweite Teil hat etwas mit den<br />

Bausteinen einer erfolgreichen Beziehung zu tun. Der dritte Abschnitt zeigt<br />

auf, wie Konflikte erkannt und gebannt werden können.<br />

Geistliche Partnerschaft<br />

Natürlich hat eine glückliche Partnerschaft ihre Grundlagen in einer freudigen<br />

Beziehung zu Gott. Die enge persönliche Gemeinschaft mit Gott im Bibelstudium<br />

und im Gebet, im Nachdenken über Gottes Fürsorge formen eine<br />

Beziehung. Dabei entdeckt das Paar seine grundsätzlichen Werte, die den<br />

Glauben, die Paarbeziehung und das Leben prägen. Der Austausch über diese<br />

Grundwerte und Überzeugungen bilden ein wichtiges Fundament für die Beziehung.<br />

Selbst dann, wenn beide Partner derselben Glaubensrichtung angehören,<br />

stimmen sie in ihren Werten und Glaubensüberzeugungen nicht völlig<br />

überein. Es ist hochinteressant, einander tiefer zu verstehen und annehmen zu<br />

317


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

können. Das Gespräch darüber vertieft die Intimität der Paarbeziehung.<br />

Ebenso sind religiöse Rituale und Gewohnheiten ein wichtiger Begleiter im<br />

Leben des Paares und der Familie. Es ist spannend, diese zu entwickeln und<br />

darin zu wachsen. Auch Paare haben einen von Gott geschenkten gemeinsamen<br />

Auftrag. Die Entwicklung einer Vision <strong>als</strong> christliches Ehepaar oder <strong>als</strong><br />

Familie macht Freude und gibt Sinn.<br />

Selbsterkenntnis und Wachstum<br />

Jesus sagt, wir sollen unseren Nächsten wie uns selbst lieben - Matthäus<br />

19,19. Darin steckt nichts anderes <strong>als</strong> die Aufforderung zu Selbsterkenntnis<br />

und zu beständigem Wachstum. Zuerst muss ich wissen, wer ich selbst bin.<br />

Das Wissen um meinen Wert und die Bedeutung der Liebe Gottes sowie der<br />

Erlösung durch Christus geben mir eine hohe Bedeutung. Wenn ich dies erkenne,<br />

kann ich mich anderen mitteilen. Die Fähigkeit, sich <strong>als</strong> eigenständige<br />

Person wahrzunehmen ist eine Grundvoraussetzung, um sich abgrenzen zu<br />

können.<br />

Verheiratet zu sein, eine Bindung einzugehen und trotzdem für sich alleine<br />

zu stehen, <strong>als</strong>o ein unverwechselbarer Mensch zu sein, das ist ein lebenslanger<br />

Lernprozess.<br />

Diese Differenzierung ist grundlegend, um mit deiner Familie und deinen<br />

Freunden deinen eigenen Weg zu finden. Du kannst mit ihnen übereinstimmen,<br />

wo es für dich stimmig ist, und du darfst dich abgrenzen, wenn du anders<br />

denkst oder fühlst. In einem gesunden Prozess der Begegnung ist sowohl Ü-<br />

bereinstimmung <strong>als</strong> auch Abgrenzung möglich. Wenn Paare diese Differenzierung<br />

lernen, können sie Unterschiede ohne das Gefühl der Bitterkeit und ohne<br />

Verlust von Nähe und Herzenswärme aushalten. So lernen Paare und Familienmitglieder,<br />

auf eigenen Füßen zu stehen.<br />

Das Gegenteil wäre eine Verschmelzung der Persönlichkeiten. Wenn ich für<br />

dich denken muss und ich mich für deine Gefühle verantwortlich fühle, dann<br />

entstehen für mich konfuse Gefühle. Die Folge sind undurchschaubare Reaktionen<br />

und Gefühle in der Partnerschaft und der Familie. Keiner weiß dann<br />

mehr, wo die eigenen Interessen aufhören und die des anderen anfangen. Darum<br />

ist es wichtig, dass wir dieses starke Gefühl der Identität haben. Die eigene<br />

Identität macht es möglich, die Reaktionen des Partners auf das eigene Verhalten<br />

aushalten zu können. Die Fähigkeit der Selbstreflexion ist Grundvoraussetzung<br />

für eine befriedigende Interaktion.<br />

318


GARCIA: ERFOLGREICHE EHE<br />

In einer Beziehung üben Partner ständig Einfluss aufeinander aus, sie verändern<br />

einander fortlaufend. Gelingt die Differenzierung zwischen den eigenen<br />

Werten, Standpunkten und Gefühlen und denen des Partners nicht oder nur<br />

unzureichend, dann entsteht ein Gefühlsdurcheinander. Daraus resultiert die<br />

Unfähigkeit, Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen. Dann ist<br />

es dein Fehler, weil du mich herausgefordert hast. Dann bist du für meinen<br />

Ärger verantwortlich. Darum versuche ich dich jetzt durch meinen Ärger und<br />

meine Handlungen zu treffen.<br />

Wenn ich weiß, wer ich bin, dann brauche ich solche Kämpfe nicht, dann<br />

übernehme ich die Verantwortung für meine eigenen Handlungen und Gefühle.<br />

Ein anderes Extrem wäre es, wenn ich mich so stark von meinem Partner abgrenze,<br />

dass er gar nicht an mich herankommt. Dann bleibe ich in meiner Ecke<br />

stehen und will den Abstand. Das ist aber nicht mit Differenzierung gemeint.<br />

Die Grundlage einer tragfähigen Beziehung ist die Fähigkeit zur Abgrenzung,<br />

das Bewusstsein, eine reife, eigenständige Persönlichkeit zu sein, und darauf<br />

muss ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ich und Wir und zwischen Distanz<br />

und Nähe aufgebaut werden.<br />

Hingabe und Selbstverpflichtung<br />

Was löst das Wort Hingabe bei dir aus? Was heißt eigentlich ‚Hingabe an<br />

eine Beziehung’? Ich höre auf diese Fragen Antworten wie: Treue; in allen<br />

Situationen zusammenhalten, egal was kommt; miteinander und aneinander<br />

arbeiten; zusammen Freude erleben; Achtung füreinander; Motivation; aneinander<br />

kleben. Hingabe hat <strong>als</strong>o viele Facetten.<br />

In einer Paarbeziehung kann es Hingabe aus zwei unterschiedlichen Gründen<br />

geben: Hingabe aus Druck oder Hingabe aus freiwilliger Entscheidung. Die<br />

Bindung aus Druck oder Zwang unterliegt entweder moralischen oder pragmatischen<br />

Zwängen. Zu den moralischen Zwängen gehören erworbene Überzeugungen.<br />

Die Überzeugung, dass ein Christ sich nicht scheiden lassen soll, kann<br />

so viel Druck ausüben, dass die Partner zusammen bleiben, obwohl sie sich<br />

lieber trennen würden. Manche Partner geben sich dem anderen hin, obwohl<br />

sie in der Partnerschaft die eigenen Werte, Überzeugungen und Gefühle aufgeben<br />

müssen. Sie sehen es <strong>als</strong> eine Pflicht an, ihr Eheversprechen zu erfüllen.<br />

Andere Paare bleiben aus Verantwortung für die Kinder zusammen. Wieder<br />

andere wollen den Partner nicht alleine lassen, seine Position oder Karriere<br />

nicht gefährden. Sie bleiben <strong>als</strong>o um des anderen willen zusammen. Dies sind<br />

319


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

nur einige Beispiele, warum Paare aus moralischen Zwängen - <strong>als</strong>o mehr aus<br />

internen Gründen - die Hingabe an die Ehe oder die Verpflichtung zur Ehe<br />

aufrecht erhalten. Die Ehe bleibt ungeachtet der wahren Gefühle bestehen.<br />

Andererseits kann eine Ehe aus pragmatischen Gründen aufrecht erhalten<br />

werden. Manche Paare werden durch wirtschaftliche, soziale, persönliche oder<br />

psychologische Gründe von einer Trennung abgehalten. Ehepartner bleiben<br />

zusammen, weil einer der Partner angesichts einer Scheidung mit Selbstmord<br />

droht. Der Verlust eines gemeinsam gegründeten Geschäfts kann Paare an<br />

einer Trennung hindern. Vielleicht bin ich Pastor und kann mir auf Grund<br />

meiner sozialen Stellung keine Scheidung erlauben. Manchen ist der Prozess<br />

der Scheidung zu langwierig oder zu teuer. Dies ist ja grundsätzlich eine<br />

Chance, an gemeinsamen Herausforderungen zu wachsen und nicht zu leichtfertig<br />

etwas aufzugeben. Aber wenn diese Gründe zum vorrangigen Motiv für<br />

den Erhalt der Ehe werden, gehen wesentliche Elemente des göttlichen Geschenks<br />

verloren.<br />

Die dritte Form der Hingabe ist die Verpflichtung aus persönlicher Entscheidung.<br />

Beide Partner wollen, dass ihre Beziehung lange hält. Sie wollen in der<br />

Hingabe, in der gegenseitigen Treue und Intimität wachsen. Das ist persönliche<br />

Hingabe. Die Beziehung wird um der Beziehung willen verbessert. Der<br />

Paarbeziehung wird die höchste Priorität geschenkt, damit beide in dem Team<br />

„Ehe“ zur Entfaltung kommen. Ich sehe nicht nur auf meine eigenen Bedürfnisse,<br />

sondern sorge für eine reife Berücksichtung der Bedürfnisse beider<br />

Partner. Ich fühle mich wohl dabei. Die Ehe hält, weil die Hingabe <strong>als</strong> freiwillige<br />

gegenseitige Verpflichtung gelebt wird.<br />

Es macht mich immer wieder traurig, wenn ich Paaren begegne, die über die<br />

moralischen und pragmatischen Gründe nicht hinauswachsen. Leider gibt es<br />

auch in unseren Kirchen Paare, die weit von den Möglichkeiten ihre Partnerschaft<br />

entfernt leben.<br />

Die gute Nachricht ist allerdings, dass wir die Grundlagen für eine persönliche<br />

Hingabe schaffen können. Im zweiten Teil meines Referats lernen wir<br />

diese Grundlagen kennen.<br />

Fachleute der eigenen Beziehung<br />

In einer zufriedenen Partnerschaft sind beide Partner Fachleute für ihre eigene<br />

Ehe. Dies gilt nicht nur für den Beginn einer Beziehung, sondern auch für<br />

deren weiteren Verlauf. Zu Beginn einer Ehe wenden Paare häufig viel Zeit<br />

320


GARCIA: ERFOLGREICHE EHE<br />

darauf, miteinander zu reden und sich intensiv über Gefühle und Wünsche<br />

auszutauschen. Doch dies ist keine Garantie dafür, dass es immer so bleibt.<br />

Ein erfolgreicher Weg, die Beziehung attraktiv zu halten, ist die regelmäßige<br />

Bewertung der eigenen Beziehung. Dadurch werden die Stärken deutlich. E-<br />

benso können die Wachstumsbereiche entdeckt werden. Wer die Stärken nicht<br />

kennt, kann leicht das Gleichgewicht in der Beziehung verlieren. Dann passiert<br />

es leicht, dass man die Schwierigkeiten überbewertet. Die Gedanken kreisen<br />

vielleicht hauptsächlich um das Negative. Im täglichen Stress gehen die Stärken<br />

oft verloren. Aber wir können stoppen und den Gedanken eine neue Richtung<br />

geben - indem wir auch über die positiven Seiten der Beziehung, der eigenen<br />

Persönlichkeit und der des Partners nachdenken.<br />

Im Krieg muss man die eigene Armee mit ihren Stärken und Grenzen gut<br />

einschätzen können, um erfolgreich zu sein. Wenn wir unsere Schwächen und<br />

Stärken kennen, dann folgt der nächste Schritt: Die Entwicklung kurzfristiger<br />

und langfristiger Ziele. Im Geschäftsleben kommen wir ohne diese Ziele nicht<br />

aus, und auch <strong>als</strong> Gemeinde stecken wir uns Ziele. Warum sollten wir uns<br />

nicht auch in der Partnerschaft kurzfristige und langfristige ermutigende Ziele<br />

setzen? Die Alltagsroutine lässt uns leicht vergessen, dass die Ehe Ziele<br />

braucht, für die sich der Einsatz lohnt – und dabei sind die Stärken ganz wichtig.<br />

Das ist nachvollziehbar und einsichtig. Doch oft machen wir genau das Gegenteil,<br />

indem wir auf den Schwächen des Partners herumtreten. Ich weiß genau,<br />

wie mein Partner reagiert, wenn ich etwas Bestimmtes tue oder sage.<br />

Obwohl ich seine negative Reaktion genau kenne, tue ich es doch. Ist das ein<br />

Zeichen mangelnder Intelligenz? Nein, aber trotzdem tun wir es. Und darum<br />

sollten wir unseren Verstand einsetzen und uns auf Dinge konzentrieren, die<br />

einander aufbauen. Warum setzen wir uns nicht positive Ziele, indem wir unsere<br />

positiven Verhaltensweisen stärken und ausbauen, um die Partnerschaft<br />

zu stärken?<br />

Freundschaft pflegen<br />

Eine weitere Grundlage einer gelungenen Ehe ist die freundschaftliche Beziehung<br />

zueinander. Gute Freundschaften entstehen, wenn Menschen einander<br />

gut kennen. Vielleicht sagst du, du kennst deinen Partner gut. Du denkst an<br />

den Beginn Eurer Beziehung zurück. Ihr habt viele tiefe Gespräche geführt<br />

und dabei Eure Vorlieben, Wünsche, Träume und Ängste ausgetauscht. Auch<br />

in der Ehe heißt es, dran zu bleiben an den Vorlieben und Ängsten.<br />

321


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Weißt du, was Dein Partner liebt und was er hasst? Kennst du die Persönlichkeitsstruktur<br />

deines Partners? Weißt du, wovon er träumt und worauf er<br />

hofft? Kennst du seine inneren Befürchtungen und Kämpfe? Kannst du die<br />

letzten Verletzungen benennen und sagen, wie sie verheilt sind? Kennst du<br />

die grundlegenden Fehler? Weißt du, wie du deinen Partner in seinen Zerrissenheiten<br />

unterstützen kannst? Kennst du seine ererbten oder anerzogenen<br />

Eigenschaften, die ihm immer wieder zu schaffen machen? Bist du mit seinen<br />

Lebenszielen vertraut? Was will dein Partner in seinem Leben noch erreichen?<br />

Ich glaube, ihr habt eine Idee davon bekommen, wie wir die Freundschaft mit<br />

dem eigenen Partner vertiefen können.<br />

Gemeinsam verbrachte Zeit ist ein weiteres Merkmal einer freundschaftlichen<br />

Beziehung - Zeit, in der wir fröhliche, angenehme, schöne, aufbauende<br />

Erlebnisse miteinander teilen. Häufig verbringen Paare ihre Zeit damit, Probleme<br />

und Schwierigkeiten zu lösen. Unser Gedächtnis löscht dann die schönen<br />

Zeiten, und wir verbinden die Beziehung mit negativen Gefühlen. Dies kann<br />

uns so gefangen nehmen, dass wir in einen Ablehnungsmechanismus hineinrutschen.<br />

Im schlimmsten Fall sind wir so stark davon gefangen, dass wir in<br />

einer emotionalen Scheidung enden.<br />

Wirkliche Veränderungen im Leben unseres Partners können wir uns nur<br />

schenken lassen. Der Heilige Geist hat die Aufgabe, einen Menschen zur Veränderung<br />

zu führen. Manchmal verwechseln wir da etwas. Wenn wir die Aufgabe<br />

des Heiligen Geistes übernehmen und unseren Partner verändern wollen,<br />

dann unterliegen wir einer großen Versuchung. Vielleicht will der Geist Gottes<br />

gar nicht, dass mein Gegenüber sich verändert. Vielleicht sind bestimmte Eigenarten<br />

sogar Gaben des Geistes, die nur nicht in meine Vorstellungswelt<br />

passen. Was dann?<br />

Manchmal kann ich einfach nur akzeptieren, dass wir Dinge verschieden<br />

wahrnehmen, empfinden und tun. Muss ich alles mögen? In einer Freundschaft<br />

kann ich lernen, mich und meine Sichtweise zurückzunehmen. Vielleicht ist<br />

das, was mich an meinem Partner stört gerade das, was andere an ihm mögen?<br />

Gemeinsamkeiten pflegen<br />

Die Beziehung in der Ehe wird von beiden Partnern beeinflusst. Am stärksten<br />

kann sie wachsen, wenn sich beide in gleichem Maß in die Beziehung einbringen<br />

können. Dazu ist es notwendig, den Einfluss des anderen zuzulassen<br />

und anzunehmen. Als Dr. Gottmann diese Einsicht <strong>als</strong> Ergebnis seiner Forschungen<br />

veröffentlichte, machten sich die großen Tageszeitungen darüber<br />

322


GARCIA: ERFOLGREICHE EHE<br />

lustig. Die Überschriften auf den ersten Seiten drückten alle ungefähr dasselbe<br />

aus: Das Geheimnis einer guten Ehe: Er sagt: Ja, meine Liebe ... Aber das ist<br />

nicht, was Gottmann meinte. Er entdeckte, wie wichtig es für die Ehe ist, dass<br />

beide die Bereitschaft zeigen, sich beeinflussen zu lassen und zu beeinflussen.<br />

Einwurf/Kommentar von Bill Loveless: Wenn die Männer sich von ihren<br />

Frauen stärker dahingehend beeinflussen lassen würden, mehr Hausarbeit zu<br />

leisten, würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nach zwei Jahren kaum noch<br />

Depressionen haben. Es besteht nämlich ein positiver Zusammenhang zwischen<br />

erfüllter männlicher Sexualität und Mitarbeit im Haushalt.<br />

Die Fähigkeit sich beeinflussen zu lassen hat einen noch größeren Wert <strong>als</strong><br />

gutes Zuhören. Natürlich müssen wir zuhören können, um uns beeinflussen zu<br />

lassen. Aber wenn durch Zuhören keine Veränderung eintritt, dann wird es uns<br />

nicht viel helfen. Wir brauchen <strong>als</strong>o beide Fähigkeiten: Zuhören und sich beeinflussen<br />

lassen. Also, behandelt einander mit Respekt. Wir sind meistens<br />

sehr schnell, Respekt einzufordern, aber wir sind ganz langsam, diesen Respekt<br />

auch zu gewähren. Es ist sehr wichtig, dem anderen Respekt zukommen<br />

zu lassen.<br />

Damit schneiden wir die Frage nach der Macht an. Wenn wir uns gegenseitig<br />

aufbauen, dann wird die Machtposition unwichtig. Wir leben in einer Gesellschaft,<br />

in der Macht einen hohen Wert darstellt. Natürlich betrifft das auch<br />

Christen und Pastoren. Die Jünger haben dreieinhalb Jahre mit Jesus verbracht.<br />

Bis zum Freitag der Kreuzigung war ihr wichtigstes Thema Macht - die Frage:<br />

Wer ist der Größte? Und ich kann euch sagen, in unseren Familien spielt das<br />

auch eine Rolle: Wer hat Recht, wem wurde wehgetan, wessen Entscheidung<br />

wird akzeptiert? Jesus sagt in Matthäus 20, 25-28: „Aber Jesus rief sie zu sich<br />

und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die<br />

Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer<br />

unter euch groß sein will, der sei euer Diener, und wer unter euch der Erste<br />

sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist,<br />

dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer<br />

Erlösung für viele.“<br />

Somit ist die Diskussion darüber, wer das Haupt der Familie ist oder wer<br />

sich wem unterzuordnen hat, Unsinn. Es spielt keine Rolle, ob der Mann über<br />

der Frau oder die Frau über dem Mann steht. Jeder, der das Haupt sein möchte,<br />

ist gleichzeitig auch Sklave. Jesu gibt ein neues Motto aus: Jeder diene jedem.<br />

Das Problem ist, dass sowohl Männer <strong>als</strong> auch Frauen gerne das Haupt und<br />

nicht Diener sein wollen. Zu oft möchten beide nur Macht ausüben. Jeder will<br />

323


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

herrschen. Beide versuchen dann, mit der Bibel zu argumentieren. Aber wenn<br />

es einen Kampf in der Ehe geht, dann ist es der Kampf für die Interessen des<br />

anderen.<br />

Wie Paulus es z. B. im Brief an die Philipper im 2. Kapitel in den Versen<br />

1-4 sagt. Wir lesen Vers 3: „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen,<br />

sondern in Demut achte einer den andern höher <strong>als</strong> sich selbst...“<br />

Lerne es, nicht nur nach deinen eigenen Interessen zu streben, sondern auch<br />

nach dem Interesse des anderen. Wenn wir das tun, gibt es in unseren Familien<br />

keinen großen Streit und keine Auseinandersetzungen mehr über die Frage,<br />

wer das Haupt ist oder wer hier zu bestimmen hat - weil es mehr gegenseitiges<br />

Verständnis gibt. Wir werden immer mehr in der Lage sein, dem anderen entgegenzugehen,<br />

wenn es um Konflikte geht. Wir sind auch kompromissbereiter.<br />

Erfolgreich kommunizieren<br />

Zu einer guten Kommunikation gehört die Fähigkeit, zum richtigen Zeitpunkt<br />

und am richtigen Ort die richtigen Dinge anzusprechen. Manchmal ist es<br />

wichtig, Angelegenheiten sofort, unmittelbar anzusprechen. Andere Anliegen<br />

lassen sich in einer entspannten Atmosphäre oder nach einer Pause besser klären.<br />

Eindeutigkeit in der Kommunikation erleichtert es beiden Partnern, einander<br />

besser zu verstehen. Die Körperhaltung trägt zum Gelingen oder Misslingen<br />

eines Gesprächs bei. Durch sorgfältiges Zuhören schenken wir dem Partner<br />

unsere Aufmerksamkeit. Wenn Ehepaare sagen: Wir kommunizieren nicht<br />

- dann sagen sie mit anderen Worten: Ich mag das nicht, wie du kommunizierst<br />

und was du mir erzählst. Denn es ist nicht möglich, nicht zu kommunizieren.<br />

Auch durch Stille kann ich kommunizieren. Frei nach dem Motto: Dich<br />

interessiert ja doch nicht, was ich fühle und denke, dir ist ja doch alles egal,<br />

warum soll ich da mit dir reden?<br />

Intimität lernen und pflegen<br />

Intimität ist eine wunderbare und zugleich auch eine schreckliche Erfahrung.<br />

Wenn ich intim bin, gehe ich ein Risiko ein. Ich öffne mich und offenbare, wie<br />

ich mich fühle. Um Intimität erleben zu können, muss ich lernen, mit meinen<br />

Ängsten umzugehen.<br />

Dr. Schnarch hat einige interessante Bemerkungen zur Intimität gemacht. Er<br />

spricht von einer Intimität, die von außen bestimmt wird und einer Intimität,<br />

die von innen bestimmt wird. Wenn wir im allgemeinen über Intimität spre-<br />

324


GARCIA: ERFOLGREICHE EHE<br />

chen, dann ist es die, die von außen an uns heran getragen wird. Bei dieser<br />

Form der Intimität achte ich darauf, dass der andere mich mit meinen Gefühlen<br />

und Gedanken auch annimmt. Ich sage nur, was der andere auch akzeptieren<br />

kann, was seine Ängste nicht zu sehr schürt oder seine Geduld nicht übermäßig<br />

strapaziert. Ich taste ab, was ich dem anderen zumuten kann, ohne dass<br />

er mich ablehnt. Das Problem bei dieser Form der Intimität ist die Abhängigkeit<br />

von meinem Gegenüber. Ich öffne mich nur soweit, wie der andere mich<br />

akzeptiert. In diesem Fall kann ich mich eigentlich nicht richtig öffnen, es findet<br />

nur eine begrenzte Kommunikation statt.<br />

Auf der anderen Seite finden wir die von innen bestimmte und von innen<br />

bewertete Intimität. Dazu muss ich mich selbst gut kennen und zu meinen Gefühlen<br />

und Gedanken stehen können. Selbst auf die Gefahr hin, dass mein Gegenüber<br />

mich nicht versteht oder eine andere Position vertritt, öffne ich mich<br />

und mein Innerstes. Vielleicht hat er mich dann nicht mehr so gern, wie ich es<br />

mir wünschen würde. Ich könnte auch Ärger, Wut oder Ablehnung durch meine<br />

Worte hervorrufen. Trotzdem kann ich mich aus meiner inneren Intimität so<br />

darstellen, wie es für mich stimmig ist.<br />

Hier können wir den Bogen zur Selbstdifferenzierung spannen, von der wir<br />

bereits gesprochen haben. Von innen bestimmte Intimität setzt voraus, dass ich<br />

zu dieser Selbstdifferenzierung fähig bin. Gleichzeitig nehme ich mich und<br />

meinen Partner wahr. Ich kann selber verantworten, was ich sage und tue. Ich<br />

kann die Reaktion des Partners wahrnehmen und verantwortlich vor mir selbst<br />

und vor ihm handeln.<br />

Sehen wir uns ein Beispiel an. Ich habe Freundinnen aus meiner Jugendzeit,<br />

mit denen ich einmal die Woche an einem Abend musiziere. Diese Zeit tut mir<br />

einfach gut. Mein Mann sagt vielleicht, er fühle sich vernachlässigt, weil er<br />

den Abend alleine verbringen muss. Wenn ich ihn wirklich liebe, dann könne<br />

ich auch bei ihm auftanken. Wenn ich Angst davor habe, ihm weh zu tun und<br />

von der von außen bestimmten Intimität abhängig bin, dann werde ich sehr<br />

ängstlich. Oh, oh, oh - vielleicht meint er, ich liebe ihn nicht? Ich könnte überlegen,<br />

meine Treffen mit den Freundinnen auf einmal im Monat zu reduzieren.<br />

Aber weil ich mich innerlich nicht wohl fühle, verringert sich unsere Intimität.<br />

Ich frage mich, ob er mich wirklich liebt. Will er wirklich mein Bestes? Wenn<br />

ich aber auf der anderen Seite deutlich machen kann, dass ich ihn wirklich<br />

liebe und trotzdem die Begegnung mit der Musik und meinen Freundinnen<br />

einmal in der Woche will, dann geht es mir gut. Ich versuche ihm zu zeigen,<br />

dass ich diese Zeit für die Stärkung meiner Persönlichkeit brauche. Ich traue<br />

ihm zu, dass er damit fertig werden wird. Es könnte sein, dass er sich im Mo-<br />

325


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

ment nicht ganz gut fühlt. Er wird akzeptieren müssen, dass ich außer ihm<br />

noch andere Menschen brauche, um glücklich zu sein. Ich möchte ja keine<br />

Trennung von ihm. Es könnte sein, dass er diesen Abend auch etwas mit seinen<br />

Freunden unternimmt. Oder er verlegt seine Sitzungen auf diesen Abend.<br />

Wenn ich nicht in der Lage bin, ihm meine Gefühle, meine Wünsche und das<br />

Warum zu erklären, werden wir das Gespür für Intimität verlieren.<br />

Natürlich gehört zur Intimität auch die Sexualität. Ich mag diese Art, wie die<br />

Bibel über Sexualität redet. Sie drückt es so aus: jemanden erkennen, ein<br />

Fleisch sein. Sexuelle Intimität bedeutet, sich zu öffnen durch Sex. Diese Öffnung<br />

gelingt Erwachsenen in der Regel besser <strong>als</strong> jungen Leuten. Deshalb erleben<br />

sie besseren Sex <strong>als</strong> junge Menschen. Im allgemeinen ist ein Mann mit<br />

50 erwachsener im Sex <strong>als</strong> mit 20. Sexuelle Intimität wächst stärker im Kopf<br />

<strong>als</strong> durch Technik. Der richtige Kick entsteht durch die geistige, seelische,<br />

gefühlsmäßige und körperliche Intimität. Großartiger Sex ist die Integration<br />

deines Kopfes, des Herzens und des Geistes mit deinen Genitalien. Wenn <strong>als</strong>o<br />

sexuelle Probleme auftauchen, dann ist es oft so, dass viele andere Probleme<br />

die Beziehung belasten. Auch hier verhilft mir die bessere Fähigkeit zur Differenzierung<br />

zu größerem Glück. Dies wird im folgenden Gedicht von Khalil<br />

Gibran (Der Prophet) treffend ausgedrückt:<br />

„Lasst noch einen Abstand zwischen eurer Einheit sein.<br />

Lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen.<br />

Liebt einander, aber lasst daraus kein Liebesband werden.<br />

Vielmehr soll eure Liebe eine bewegte See<br />

zwischen den Stränden eurer Liebe sein.<br />

Füllt den Becher des anderen, aber trinkt nicht aus einem Becher.<br />

Gebt dem anderen Brot, aber esst nicht von demselben Laib.<br />

Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich, aber genießt es auch,<br />

alleine zu sein.<br />

Die Saite der Laute kann Musik nur dann zum Erklingen bringen,<br />

wenn sie frei schwingen kann.<br />

Gebt eure Herzen - aber nicht in die Verfügungsgewalt des anderen.<br />

Denn nur das Band des Lebens kann eure Herzen zusammenhalten.<br />

Steht zueinander, aber seid nicht zu dicht beieinander.<br />

Denn die Säulen des Tempels stehen auseinander, um das Dach zu halten.<br />

Und der Eichenbaum und die Zypresse wachsen nicht<br />

in demselben Schatten.“<br />

326


GARCIA: ERFOLGREICHE EHE<br />

Ich denke, das ist sehr wahr. Was ist Intimität? Fachleute für Beziehungen<br />

haben dazu folgende Definitionen formuliert:<br />

„Intimität ist eine Kombination von Konfliktlösung, Zuneigung, Zusammenhalt,<br />

Sexualität, Identität, Kompatibilität, Autonomie und Ausdrucksfähigkeit.“<br />

(Patton and Waring)<br />

„Eine intime Beziehung ist eine Beziehung, in der keiner der Partner<br />

schweigt, sich opfert, sich selbst betrügt, in der jeder seine Stärken und Verwundbarkeiten<br />

in gleicher Weise ausdrücken kann.“ (Learner)<br />

„Intimität ist abhängig von dem Maß der Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion<br />

und dem Gebrauch einer komplexen Sprache. Es ist eine „Ich-Du“ Erfahrung.<br />

Sie beinhaltet die Offenlegung von persönlichen Informationen. Sie<br />

wächst durch Konflikt, Selbstbewertung und Selbstoffenbarung. Das erfordert<br />

die Konfrontation mit sich selbst und die Öffnung zum Partner hin“.<br />

(Schnarch)<br />

„Das Erfahren des innersten Ichs durch intensive, intellektuelle, hörbare<br />

und/oder emotionale Kommunikation mit einer anderen Person.“ (Keifer)<br />

„Die Erfahrung des Offenseins, Verwundbarseins und der Fähigkeit, die innersten<br />

Gefühle und Gedanken mitzuteilen.“ (Beavers)<br />

Konfliktlösung<br />

Im letzten, kurzen Teil meines Beitrages befassen wir uns mit der Bedeutung<br />

der Konfliktlösung für eine erfolgreiche Partnerschaft. Konflikte gehören zur<br />

Partnerschaft wie die Luft zum Atmen. Konflikte sind ein normaler Teil unserer<br />

Beziehung. Wir lieben Konflikte nicht, weil wir befürchten, sie könnten<br />

uns in eine Krise führen, die uns viel Kraft kostet oder der wir nicht gewachsen<br />

sind. Deshalb lieben wir Konflikte nicht, sondern fürchten uns manchmal<br />

vor ihnen. Das Zeichen für Konflikt ist in der chinesischen Sprache gleichzeitig<br />

auch ein Symbol für Chance oder Gelegenheit. Gelingt es uns, Konflikte zu<br />

lösen, dann bergen sie viele Chancen zur persönlichen Reife und zum Wachstum<br />

der Partnerschaft in sich. Gerade unter Christen kann sich ein verhängnisvolles<br />

Missverständnis einschleichen: Christen dürfen keine Konflikte haben.<br />

Werden Konflikte vermieden, klein gemacht, geleugnet oder verdrängt, fehlt<br />

327


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

es natürlich an der notwendigen inneren Einstellung und Übung, um aus Krisen<br />

Chancen zu machen. Vermeidung von Konflikten ist einer der häufigsten<br />

Gründe für eine Scheidung.<br />

Erfolgreiche Paare sind erfolgreiche Konfliktlöser. Sie haben einen Weg gefunden,<br />

Konflikte so zu lösen, dass beide mit der Art der Konfliktlösung zufrieden<br />

sind. Ein Paar ist in der Lage Konflikte zu lösen, wenn der gegenseitige<br />

Respekt und die Achtung voreinander bestehen bleiben. Je mehr Achtung<br />

und Respekt - Liebe- die Partner füreinander empfinden, desto stärker gelingt<br />

es ihnen, die kleinen und großen Konflikte zu lösen. Das Bekenntnis zum<br />

christlichen Glauben alleine reicht nicht aus, um Differenzen zu überwinden.<br />

Die Liebe zwischen zwei Menschen vergeht nicht so plötzlich, wie sie oft<br />

entsteht. Die Rückentwicklung ist ein schleichender Prozess, den wir beeinflussen<br />

können. Dem Verlust der Liebe geht eine lange Phase stetig wachsender<br />

Unzufriedenheit und des Verlustes der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung<br />

voraus.<br />

Die Forschung gibt uns Hinweise darauf, dass es mindestens drei erfolgreiche<br />

Formen der Konfliktlösung gibt, die Ehen stabil und glücklich machen.<br />

Die konstruktive, die impulsive und die vermeidende Form der Konfliktlösung.<br />

Paare, die das Muster der konstruktiven Konfliktlösung üben, sind Meister<br />

des gegenseitigen Zuhörens und Verstehens. Sie legen ihre unterschiedlichen<br />

Standpunkte ruhig und gelassen dar. Sie kommen in der Regel zu Lösungen,<br />

die beide Seiten befriedigen und folgendes Muster aufweisen: gegenseitiges<br />

Verstehen, Überzeugen, Kompromissbereitschaft. In einer impulsiven Ehe<br />

gibt es viele Konflikte über kleine und große Anlässe. Differenzen werden<br />

engagiert und impulsiv ausgetragen. Es gibt keinen distanzierten oder zurückgenommen<br />

Partner. Diese Paare wollen überzeugen und kämpfen für Offenheit<br />

und Ehrlichkeit. Dabei drücken sie mehr positive und negative Gefühle aus <strong>als</strong><br />

harmonische Paare. Sie finden Lösungen und setzen sich impulsiv und engagiert<br />

für gemeinsame Lösungen ein. Konflikvermeidende Paare sind sich einig<br />

darüber, dass sie Konflikte haben und auch nicht gelöst haben. Sie sind sich<br />

über ihre Uneinigkeit einig und vermeiden es auch, diese zu überwinden. So<br />

passen sich die Partner einer Lösung an, ohne den Konflikt emotional oder von<br />

der Sache her aufgearbeitet zu haben.<br />

Alle drei Formen der Konfliktlösung haben aber auch ihre Grenzen, an deren<br />

Überwindung Paare ein Leben lang arbeiten können. Lernwilligkeit und Veränderungsbereitschaft<br />

ist ein Kapital, mit dem Paare sich dem Lernprozess<br />

stellen können. Leider kann ich an dieser Stelle nicht mehr auf konkrete Anregungen<br />

dafür eingehen.<br />

328


GARCIA: ERFOLGREICHE EHE<br />

Konflikte haben auch mit Schuld und Versagen zu tun. Damit Schuld nicht<br />

zur Störung einer Beziehung wird, müssen wir lernen, um Vergebung zu bitten,<br />

zu vergeben und zu akzeptieren, dass vergeben wurde.<br />

Habt ihr heraushören können, welchen Traum ich für die Paare in unseren<br />

Gemeinden und für die Paare in unserer Umwelt träume? Es macht mich<br />

glücklich zu sehen, wie Paare lernen, erfolgreiche Beziehungen zu bauen.<br />

Denn sie sind der beste Schutz gegen die zerstörenden Folgen der Scheidung.<br />

Vielleicht konnte ich euch auch ermutigen, an euren eigenen Beziehungen zu<br />

bauen. Mag sein, dass ich euch Impulse geben konnte, in euren Gemeinden<br />

regelmäßig Seminare, Gesprächskreise oder Gruppen anzubieten, in denen<br />

Christen und Nichtchristen lernen, in stabilen und glücklichen Beziehungen zu<br />

leben.<br />

329


Scheidung und Wiederverheiratung<br />

an der Pioneer Memorial Church<br />

Beurteilung der Richtlinien<br />

Ada Garcia<br />

Ergebnisse und Erfahrungen<br />

1. Auf der Grundlage der Richtlinien über Scheidung und Wiederheirat der<br />

Pioneer Memorial Church (PMC) glauben wir, dass die Gemeinde ein berechtigtes<br />

Interesse an der Gesundheit der Ehen ihrer Mitglieder hat.<br />

2. Die Gemeinde unternimmt jede Anstrengung, die Versöhnung und Wiederherstellung<br />

von Beziehungen zwischen Gemeindegliedern erleichtert.<br />

Dabei folgen wir folgenden bewährten Schritten der Versöhnung:<br />

a. Eheliche Schwierigkeiten sind mindestens einem Mitglied des Arbeitskreises<br />

(Committee, nicht Board!) bekannt.<br />

b. Der Arbeitskreis bestimmt zwei Mitglieder, die jeweiligen Ehepartner<br />

zu besuchen (gewöhnlich ein Mitglied des entsprechenden<br />

Geschlechts), um festzustellen, ob das Ideal der Versöhnung in diesem<br />

Fall angemessen ist und um die erforderliche Hilfe für die Einzelnen<br />

anzubieten.<br />

c. Es wird davon ausgegangen, dass unabhängig davon, ob Versöhnung<br />

möglich ist oder nicht, in jedem Fall Beratung [im Sinne von<br />

professioneller Einzel- oder Paarberatung d. Hsg.] notwendig ist,<br />

die deshalb empfohlen wird.<br />

d. In einigen Fällen ist dies erfolgreich und das Paar entscheidet sich<br />

zur Versöhnung. Wenn das der Fall ist, wird Nachbetreuung und<br />

gezielte Beratung empfohlen.<br />

e. In einigen anderen Fällen findet eine räumliche oder rechtliche<br />

Trennung statt. Wenn sich das Paar zur Versöhnung entschließt,<br />

wird das Vorgehen nach Punkt d. empfohlen.<br />

f. Wenn aufgrund von sexueller Untreue, Misshandlung, Verlassen<br />

des Partners, Inzest und /oder Homosexualität festgestellt wird,<br />

dass Versöhnung unmöglich ist, wird Scheidung unter Bedauern<br />

331


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

332<br />

akzeptiert. Der Arbeitskreis empfiehlt dann dem Gemeindeausschuss,<br />

dass die Scheidung akzeptiert wird. Die Freiheit zur Wiederheirat<br />

ist damit NICHT automatisch gegeben, sondern richtet<br />

sich nach den Richtlinien der Gemeinde.<br />

g. Nach der Scheidung bietet die Gemeinde Scheidungsnachsorge an,<br />

um den Einzelnen im Heilungsprozess zu begleiten, Fehleinschätzungen<br />

und Verfehlungen bei sich selbst zu analysieren und das eigene<br />

Leben wieder aufzubauen. Die Gemeinde empfiehlt, dass die<br />

Person sich der Anbahnung neuer Partnerschaften [„dating“] enthält,<br />

solange das Scheidungsverfahren im Gange ist und bis der<br />

Arbeitskreis einen Abschlussbescheid [letter of closure] erteilt.<br />

h. Nach einer Zeitspanne von gewöhnlich ein bis zwei Jahren erteilt<br />

der Arbeitskreis einen „Abschlussbescheid“, in dem festgestellt<br />

wird, dass die Person aus Sicht der Gemeinde frei ist, neue Partnerschaften<br />

einzugehen und wieder zu heiraten, da sie Anzeichen von<br />

Erneuerung und geistlichem Wachstum gezeigt hat. Die „Anzeichen“<br />

richten sich nach folgenden Kriterien:<br />

i. Positive Beziehung zur Gemeinde<br />

ii. Positive Haltung gegenüber Rat[schlägen]<br />

iii. Geist der Vergebung<br />

iv. Positive Beziehung mit und Verantwortlichkeit für betroffene<br />

Kinder<br />

v. Positive Annahme der eigenen persönlichen Anteile am<br />

Zerbruch der Beziehung.<br />

i. Wenn mindestens ein Partner nicht bereit ist, mit dem Plan der<br />

Gemeinde zur Versöhnung und Hilfe [care] zu kooperieren, reagiert<br />

der Arbeitskreis mit einem „Brief der Liebe“ [Letter of Love]<br />

und unterhält weiterhin fürsorglichen Kontakt in jeder möglichen<br />

Weise. Manchmal resultiert dies in einer Entscheidung zur Versöhnung.<br />

j. Wenn eine räumliche oder rechtliche Trennung stattfindet, reagiert<br />

der Arbeitskreis mit einem „Brief der Sorge“ [Letter of Concern],<br />

in welchem die genauen Gründe für unsere Sorge genannt und auf<br />

Beratung und Versöhnung gedrängt werden.<br />

k. Wenn bekannt wird, dass die Scheidung eingereicht wurde, verschickt<br />

der Arbeitskreis einen „Brief der angebotenen Möglichkeiten“<br />

[Letter of Informed Options] und fährt mit fürsorglichen Kontakten<br />

in jeder möglichen Weise fort.


GARCIA: ERGEBNISSE PMC<br />

Bewertung<br />

l. Wenn eine der Empfehlungen der Gemeinde von dem Einzelnen<br />

nicht befolgt wurde, gibt der Arbeitskreis nach der Scheidung eine<br />

der folgenden Empfehlungen an den Gemeindeausschuss: Recht<br />

auf Wiederheirat (wegen akzeptabler Scheidungsgründe); Streichung<br />

der Mitgliedschaft in der Gemeinde; korrigierende Seelsorge<br />

(censure); keine korrigierende Seelsorge, aber nicht frei, wieder zu<br />

heiraten; keine Entscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt.<br />

1. Im Laufe der Jahre war der Arbeitskreis recht erfolgreich im Bemühen,<br />

Kontakt zu den Paaren, die durch Schwierigkeiten und Scheidung gingen,<br />

herzustellen und zu halten.<br />

2. Da sehr oft niemand von den Eheproblemen weiß, bevor sie so ernst werden,<br />

dass ein oder beide Partner eine Scheidung in Betracht ziehen, gibt es<br />

nur wenige, aber sehr geschätzte Fälle, in denen wir zur Versöhnung helfen<br />

konnten. Der Arbeitskreis für Familienleben arbeitet an mehr präventiven<br />

Gelegenheiten, um Paaren zu helfen, bevor die Dinge so schlimm<br />

werden, dass Hilfe fast unmöglich ist.<br />

3. Viele Paare, die durch eine Scheidung gehen, haben ihre Wertschätzung<br />

für die Unterstützung, die Gebete und Zeit, die ihnen in dieser traumatischen<br />

Zeit ihres Lebens gegeben wurde, zum Ausdruck gebracht. Dies habe<br />

ihnen geholfen, in Kontakt mit der Gemeinde zu bleiben und in der<br />

christlichen Erfahrung zu wachsen.<br />

4. Es gab Fälle, in denen wir Einzelne vor den Arbeitskreis geladen haben,<br />

um sie liebevoll, aber deutlich mit ihrem unangemessenem Verhalten zu<br />

konfrontieren. Diese Erfahrung hat ihnen entweder geholfen, solches Verhalten<br />

aufzugeben oder zu erkennen, dass es Dinge gibt, die nicht leicht zu<br />

nehmen sind.<br />

5. Wir haben manchmal Schwierigkeiten gehabt, rechtzeitig die entsprechenden<br />

Briefe an jene zu versenden, die sich nicht an die Richtlinien der Gemeinde<br />

halten. Dies lag vor allem an Zeitbegrenzungen.<br />

6. Wir haben auch Schwierigkeiten erlebt, Einzelne zu einem Abschluss zu<br />

führen. Manchmal, weil sie sich der Nachsorge nach der Scheidung entziehen,<br />

in anderen Fällen, weil sie fortziehen.<br />

7. Im Moment sind wir in einem Prozess der Neubewertung, um festzustellen,<br />

wie wir am besten jenen Langzeitfällen helfen können, die noch nicht<br />

zum Abschluss gekommen sind.<br />

333


Pädagogische Beratungskonzepte<br />

für Ehekonflikte und Scheidungsprobleme<br />

Andreas Erben<br />

Pädagogisch orientierte Beratungskonzepte werden in verschiedenen Problembereichen<br />

angewendet. Linehan (1993) entwickelte zum Beispiel ein Lernprogramm<br />

bestehend aus 10 Lektionen für PatientInnen mit einer Borderline<br />

Diagnose. Pence und Paymar (1993) legten ein Kurrikulum für Männer vor,<br />

die ihre Partnerin physisch missbraucht hatten. Dieses sogenannte „Deluth<br />

Modell“ wird mittlerweile in verschiedenen Ländern angewendet. Springle<br />

(1993) veröffentlichte ein Lernprogramm für Christen, die eine innere Abhängigkeit<br />

von anderen Menschen (Codependency) entwickelt haben.<br />

Das pädagogische Modell hat gegenüber dem medizinischen Modell eine<br />

Reihe von Vorzügen. Pädagogische Programme sind weniger kostenintensiv<br />

und können auch von geringer qualifiziertem Personal durchgeführt werden;<br />

sie reduzieren den inneren Widerstand in den Hilfesuchenden und haben eine<br />

präventive Funktion (Guerney, 1977). Der Hilfesuchende übernimmt Verantwortung<br />

für die Verbesserung seiner Lebenssituation und wird ermutigt, selbst<br />

Initiative zu entwickeln (Ginsberg, 1997).<br />

Pädagogische Beratungskonzepte für Ehekonflikte<br />

Auch im Bereich der Eheberatung haben pädagogisch orientierte Konzepte<br />

Einzug gehalten. Im deutschsprachigen Raum hat besonders das Reziprozitätstraining<br />

(Schindler, Hahlweg & Revenstorf, 1982) auf sich aufmerksam<br />

gemacht. Weit früher hat in den USA Guerney (1977) ein ähnliches Konzept<br />

vorgelegt, das Relationship Enhancement (RE; übersetzt: Beziehungs-<br />

Verbesserung) heißt. Die Anfänge dieses Programms reichen bis in das Jahr<br />

1962 zurück, <strong>als</strong> Bernard Guerney Psychologieprofessor an der Rutgers Universität<br />

war.<br />

In RE geben TherapeutInnen ihre Fertigkeiten an die KlientInnen weiter,<br />

damit diese ihr Verhalten sich selbst und anderen Menschen gegenüber<br />

verbessern können und ihre persönlichen und zwischenmenschlichen Ziele<br />

leichter erreichen (Guerney, 1977; L. Guerney & B. Guerney, 1985). Obwohl<br />

Katharsis in diesem Therapiestil geschätzt wird, liegt ein besonderes Gewicht<br />

335


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

auf zukünftigen Handlungsmöglichkeiten. Neun grundlegende Fertigkeiten<br />

werden gelehrt und geübt, u.a. Einfühlungsvermögen, ausdrucksvolle Offenheit,<br />

miteinander Reden und Verhandeln, Probleme lösen und Konflikte bewältigen,<br />

Generalisieren und Dranbleiben. Eine Therapeutin, die diesem Modell<br />

folgt, arbeitet <strong>als</strong> kompetente und engagierte Trainerin. Verschiedene<br />

Techniken werden angewandt, um die KlientInnen im therapeutischen Prozess<br />

voranzubringen. Dazu gehören u.a. einen neuen Rahmen schaffen, Verstärken,<br />

Vorbild sein, <strong>als</strong> Voraus-Modell dienen, Stichworte geben, Probleme der<br />

Problempartner ansprechen, Coaching durch Stellvertretung und Extremcoaching.<br />

Die Studie von Ross, Baker und Guerney (1985) wies die Effektivität<br />

von RE-Therapie im Vergleich mit anderen Ansätzen in der Paartherapie nach.<br />

Christliche Therapeuten erkannten in der RE-Therapie biblische Konzepte<br />

wieder. Guerney selbst weiß um spirituelle Aspekte seines Ansatzes und sieht<br />

RE sogar <strong>als</strong> Operationalisierungsmethode einiger christlicher Kernkonzepte<br />

(Erben, 1998). Er war in einer sehr ethisch ausgerichteten jüdischen Familie<br />

aufgewachsen, in der die Goldene Regel <strong>als</strong> Lebensmaxime gepflegt wurde.<br />

Eston Williams, ein ehemaliger amerikanischer Methodistenpastor, wandte<br />

gegen Ende der 70er Jahre <strong>als</strong> erster Therapeut RE im christlichen Kontext<br />

systematisch an (Erben, Gray, Leader & Habenicht, 1995). Williams war in<br />

verschiedenen protestantischen Gemeinden in Pennsylvania aktiv. Nordling<br />

brachte RE gegen Ende der 80er Jahre in die Arbeit der katholischen Kirche<br />

ein (Erben et al.). Dank seiner Vermittlung basiert heute das Ehevorbereitungsprogramm<br />

„To Love and to Cherish“ des „Office of Family Life“ (Büro<br />

für Familienbildung,1993) der Erzdiözese von Washington, D.C. zu großen<br />

Teilen auf RE. Im Norddeutschen Verband der Gemeinschaft der Siebenten-<br />

Tags-Adventisten in Deutschland wird ab Herbst 2000 Relationship Enhancement<br />

im Rahmen der Ausbildung zum Trainer für partnerschaftliches Gespräch<br />

und Konfliktmanagement gelehrt.<br />

Pädagogische Beratungskonzepte für Scheidungsprobleme<br />

Im Gefolge des starken Anstiegs der Scheidungsrate in den USA seit den<br />

frühen 60er Jahren (Cherlin, 1981) ist dort wohl auch das Bedürfnis nach praktischen<br />

Konzepten im Umgang mit den Scheidungsfolgen gewachsen. Erben<br />

(1997) fand, dass geschiedene Mitglieder dreier konservativer protestantischer<br />

Kirchen besonders nach Scheidungsseminaren und Selbsthilfegruppen für Geschiedene<br />

fragten. Elf Prozent der 360 Geschiedenen in seiner Stichprobe<br />

machten entsprechende Angaben <strong>als</strong> Reaktionen auf eine Frage mit offenem<br />

336


ERBEN: PÄDAGOGISCHE BERATUNGSKONZEPTE<br />

Antwortformat („Wie hätte die Gemeinde nach der Ehescheidung helfen können?“).<br />

Nur etwa 5% der Befragten erwähnten pastorale Begleitung. Sahlin<br />

und Sahlin (1997) berichten, dass mehr <strong>als</strong> 70% der befragten Adventisten in<br />

ihrer zusammengefassten Stichprobe bestehend aus drei Teilstichproben (Pacific<br />

Union Conference, Columbia Union Conference, North American Division<br />

Family Study) der Meinung waren, dass Scheidungsbewältigungsseminare in<br />

den Gemeinden gebraucht werden. Fisher (1992a) glaubt, dass das pädagogische<br />

Modell die effektivste Methode ist, um Menschen bei der Bewältigung<br />

ihrer Ehescheidung zu helfen.<br />

Im Rahmen dieses Beitrags sollen in Kürze drei verschiedene Seminare für<br />

Scheidungsbewältigung vorgestellt werden. Fisher (1992a) entwickelte das<br />

„Rebuilding: When Your Relationship Ends“-Seminar. Während des Seminars<br />

wird sein populäres Buch über Scheidungsbewältigung (Fisher, 1992b) verwendet.<br />

Den Anpassungsprozess nach der Ehescheidung vergleicht Fisher<br />

(1992a, 1992b) mit der Besteigung eines Berges. Seine “Aufbaublöcke” werden<br />

<strong>als</strong> Wegmarkierungen gesehen (Fisher, 1992a). Fisher (1992b) betont,<br />

dass Gruppengespräche und das Kennenlernen von Mitbetroffenen den Heilungsprozess<br />

fördern. Selbst nach dem Ende eines jeden Seminarabends noch<br />

sollte es den Teilnehmern ermöglicht werden, miteinander über ihre Probleme<br />

zu sprechen (Fisher, 1992a). Sowohl zu Beginn <strong>als</strong> auch am Ende des zehnwöchigen<br />

Programms wird den Teilnehmern die „Fisher Divorce Adjustment<br />

Scale“ vorgelegt. Dieses 100 Fragen umfassende Instrument soll den Grad der<br />

Scheidungsbewältigung der Teilnehmer messen. Die Skala wird auch gelegentlich<br />

in der Scheidungsforschung verwendet (Plummer & Koch-Hattem,<br />

1986; Lindsay & Scherman, 1987; Erben, 1993). Eine kurze Übersicht über<br />

sein Seminar, das nach eigenen Angaben (Fisher, 1992a) zu Beginn der 90er<br />

Jahre schon mehr <strong>als</strong> einhunderttausend Teilnehmer in den USA, Kanada,<br />

Australien und Großbritannien hatte, findet sich in der beigefügten Tabelle.Seit<br />

1978 bietet die „Good News Community“ in Grand Rapids, Michigan,<br />

Geschiedenen ihre Hilfe an. Diese christliche Organisation, die ursprünglich<br />

innerhalb der Reformierten Kirche beheimatet war, stützt sich weitgehend auf<br />

freiwillige Helfer, die selbst die schmerzvolle Erfahrung einer Ehescheidung<br />

gemacht haben. Im „Statement of Faith“ (Good News Community, 1993) wird<br />

erklärt, dass die spirituelle Wiederherstellung ein essentieller Teil der Heilung<br />

ist. Ein neunwöchiges „Coping With Divorce“-Seminar wird regelmäßig angeboten.<br />

Der Kurs wurde vorwiegend für Menschen entwickelt, die sich in der<br />

Schmerzphase nach dem Abbruch einer Beziehung befinden (Good News<br />

Community, o.J.). Die einzelnen Themen werden von Fachleuten behandelt.<br />

337


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Das Buch „Growing Through Divorce” von Smoke (1976) wird <strong>als</strong> begleitende<br />

Lektüre von den Seminarteilnehmern gelesen (Good News Community,<br />

1985). Nach jedem Seminarabend wird zu einem Beisammensein in einem<br />

Restaurant eingeladen. Eine zusammenfassende Übersicht der Schwerpunkte<br />

dieses Seminars bietet die beigefügte Tabelle. Seit 1979 gibt es in Grand Rapids<br />

auch eine besondere Kirche für geschiedene Christen, die „Good News<br />

Worship Community“, eine Schwesterorganisation der „Good News Community“<br />

(Good News Worship Community, 1987).<br />

Die Southern Baptist Convention, eine große baptistische Kirche in den<br />

USA, hat verschiedene Programme für themenzentrierte Selbsthilfegruppen<br />

entwickelt, die „LIFE Support“ (übersetzt: Lebenshilfe) genannt werden. Im<br />

von Jones (1993, S. 9) zusammengestellten Handbuch wird erklärt, dass die<br />

Gemeinde von Gott dazu berufen wurde, ein heilendes Umfeld für verletzte<br />

und mit Problemen beladene Menschen zu sein. Die Lebenshilfe-Gruppen<br />

sind „Rettungsleinen“ für Menschen in Not. Dabei werden die fundamentalen<br />

Wahrheiten der Bibel angewendet (S. 11). Die Lebenshilfe-Gruppen können<br />

gewaltige Auswirkungen auf Beziehungen und Lebensziele haben<br />

(S. 19).<br />

Smith (1994), ein geschiedener Lutheraner, entwickelte ein Scheidungsbewältigungs-Seminar<br />

für die „LIFE Support Serie“ der Südstaaten-Baptisten.<br />

Er baute die Themeneinheiten des Seminarstoffes auf den Grundlagen des<br />

Trauer-Prozesses von Rando (1992-93, S. 45) auf. Rando beschreibt diesen<br />

Prozess in den sechs Schritten (Übersetzung vom Autor, teilweise im Blick auf<br />

die Scheidungssituation umformuliert):<br />

- den Verlust eingestehen<br />

- auf die Trennung reagieren<br />

- erinnern an und nacherleben von Person und Beziehung<br />

- die alten Bindungen an den Ex-Partner und die alten Vorstellungen<br />

über das Leben aufgeben<br />

- sich neu auf das Leben einstellen, um besser angepasst ins Leben<br />

zurückzukehren, ohne das Vergangene zu vergessen<br />

- wieder in das Leben investieren<br />

Wie Smith (1994, S. 24) erkannt hat, kommt es bei der Bewältigung der Verlusterfahrung<br />

auf die einzelnen Entscheidungen des Trauernden an. Wer sich<br />

einem oder sogar mehreren der Schritte im Trauer-Prozess verweigert oder sie<br />

nur teilweise vollzieht, wird schwerer mit dem Verlust fertig (Rando, 1992-<br />

93).<br />

Eine Übersicht über die einzelnen Themenkomplexe von Smiths Seminar<br />

338


ERBEN: PÄDAGOGISCHE BERATUNGSKONZEPTE<br />

findet sich in der nachfolgenden Tabelle. Smith (1995) legte auch eine Anleitung<br />

für Gesprächsleiter vor.<br />

Der Vergleich zwischen den drei unterschiedlichen Seminarkonzepten zeigt,<br />

dass sowohl bei Fisher <strong>als</strong> auch bei Smith der Prozesscharakter der Scheidungsbewältigung<br />

betont wird. Der Ehe- und Familientherapeut Fisher widmet<br />

allerdings <strong>als</strong> Einziger emotionalen Problemen eine besondere Stoffeinheit.<br />

Smith stellt die Entwicklung einer neuen Lebenseinstellung eindeutig in<br />

den Rahmen christlicher Lehre. Sowohl bei Fisher <strong>als</strong> auch im Konzept der<br />

„Good News Community“ finden sich Elemente, die von Rando im Trauer-<br />

Prozess benannt wurden, jedoch nur Smith folgt diesem Konzept systematisch.<br />

Smiths Konzept besticht durch seine klare theoretische Fundierung<br />

Schlussbemerkung<br />

Pädagogische Beratungskonzepte für Klienten mit Ehekonflikten oder<br />

Scheidungsproblemen sind auch im kirchlichen und freikirchlichen Bereich in<br />

Deutschland anwendbar. Gemeindeglieder mit den nötigen Grundvoraussetzungen<br />

könnten <strong>als</strong> GesprächstrainerInnen oder GesprächsleiterInnen für themenzentrierte<br />

Gruppen ausgebildet und supervisorisch begleitet werden.<br />

Hauptamtliche Mitarbeiter würden entlastet. Die Entwicklung von Gemeinden<br />

<strong>als</strong> heilende Gemeinschaften würde gefördert.<br />

339


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Drei Seminare für Geschiedene im Vergleich<br />

Autor Harold Ivan Smith Bruce Fisher Good News Community<br />

Name “A Time for Healing” “Rebuilding…” “Coping with Divorce”<br />

Hintergrund Southern Baptist Reformierte Kirche<br />

1. Einheit Lerne, deine Scheidung<br />

eher <strong>als</strong> Prozess zu sehen,<br />

<strong>als</strong> ein Ereignis<br />

2. Einheit Gib bewusst die Bindungen<br />

an deine(n) „Ex“<br />

und andere Menschen auf<br />

3. Einheit Revidiere die alten<br />

Vorstellungen darüber,<br />

wie das Leben „sein<br />

sollte“<br />

4. Einheit Passe dich an die neuen<br />

Realitäten in deinem<br />

Leben an<br />

5. Einheit Widerstehe der Versuchung,<br />

dich auf geheuchelte/billige<br />

Beziehungen<br />

einzulassen<br />

6. Einheit Baue im Heilungsprozess<br />

auf Gottes Gnade<br />

und lass dich zu neuem<br />

Leben erwecken<br />

7. Einheit Baue dir ein neues, realistisches<br />

Verständnis von<br />

Sexualität auf<br />

8. Einheit Überprüfe dein Verhältnis<br />

zu Festen und<br />

Feiertagen und schaffe dir<br />

neue Traditionen<br />

9. Einheit Verstehe die biblische<br />

Sicht von Scheidung und<br />

Wiederverheiratung<br />

Überblick über den<br />

Anpassungsprozess; statt<br />

Krise die kreative Erfahrung<br />

sehen<br />

Sich anpassen: Den eigenen<br />

Verhaltensmustern<br />

auf die Spur kommen, ein<br />

neues, authentisches<br />

Verhalten entwickeln<br />

Trauern über meine<br />

Verluste<br />

Ärger und Zorn bewältigen<br />

Das Selbstwertgefühl<br />

stärken<br />

Wandel: Persönliches<br />

Wachstum erleben, Verantwortung<br />

für mein<br />

Leben übernehmen<br />

Offenheit: Masken ablegen<br />

und endlich anfangen,<br />

ich selbst zu sein<br />

Liebe: Mich selbst lieben<br />

lernen, damit ich<br />

andere Menschen wirklich<br />

lieben kann<br />

Neue Beziehungen zu<br />

anderen Menschen entwickeln<br />

10. Einheit Die eigene Sexualität<br />

annehmen, verstehen und<br />

entfalten<br />

Der Realität in die Augen<br />

sehen, die Phasen der<br />

Ehescheidung verstehen<br />

Die Vergangenheit hinter<br />

sich lassen<br />

Die Ehescheidung und<br />

wichtige Zuschauer<br />

Auswirkung der Scheidung<br />

auf Kinder<br />

Aus der Einsamkeit heraustreten<br />

Selbstwertgefühl aufbauen<br />

Verantwortung für<br />

mein Leben übernehmen<br />

Risiken und Vorzüge<br />

von Beziehungen, mit<br />

jemand anfreunden, mit<br />

jemand „gehen“<br />

Als Single leben lernen<br />

340


ERBEN: PÄDAGOGISCHE BERATUNGSKONZEPTE<br />

Literatur:<br />

Cherlin, A. J. Marriage, Divorce, Remarriage. Cambridge, MA: Harvard, 1981.<br />

Erben, A. Divorce Adjustment of Seventh-Day Adventists a Pilot Study. Magisterarbeit an der<br />

Andrews Universität. Unveröffentlicht. Berrien Springs, Michigan, 1993.<br />

Erben, A. Predictors of Divorce Adjustment Among Members of Three Conservative<br />

Protestant Denominations. Dissertation an der Andrews Universität. Unveröffentlicht.<br />

Berrien Springs, Michigan, 1997.<br />

Erben, A. Jesus as a Model of Behavior: An Interview With Bernard Guerney. Journal of<br />

Psychology and Christianity, 17(1), 55-60, 1998.<br />

Erben, A., Gray, S., Leader, E., & Habenicht, D. J. A Christian Perspective on Relationship<br />

Enhancement: Considerations und Applications. Vortrag zur CAPS Convention, Virginia<br />

Beach, USA,April 1995.<br />

Fisher, B. F. Rebuilding: When Your Relationship Ends. Facilitator Manual For the Ten Week<br />

Rebuilding Seminar. Boulder, CO: Family Relations Learning Center, 1992.<br />

Fisher, B. F. Rebuilding: When Your Relationship Ends. San Luis Obispo: Impact, 1992.<br />

Good News Community. Coping With Divorce. Grand Rapids: Autor, o.J.<br />

Good News Community. Syllabus: Coping With Divorce Seminar. (Grand Rapids): Autor,<br />

1985.<br />

Good News Community. Statement of Faith. (Grand Rapids): Autor, 1993.<br />

Good News Worship Community. Good News Worship Community. Grand Rapids: Autor,<br />

1987.<br />

Ginsberg, B. G. Relationship Enhancement Family Therapy. New York: Wiley, 1997.<br />

Guerney, B. G. Relationship Enhancement. San Francisco: Jossey-Bass, 1977.<br />

Guerney, L., & Guerney, B. G. The Relationship Enhancement Family of Family Therapies.<br />

In L.L’Abate & M. Milan (Hrsg.) Handbook of Social Skills Training and Research. New<br />

York: Wiley, 1985.<br />

Jones, J. (Hrsg.). LIFE Support Leader’s Handbook. Nashville: LifeWay, 1993.<br />

Lindsay, G. R., & Scherman, A. The Impact of Children and Time Lapse Since Divorce on<br />

Women’s Postdivorce Adjustment. Journal of Mental Health Counseling, 9(3), 174-183,<br />

1987.<br />

Linehan, M. M. Skills Training Manual For Treating Borderline Personality Disorder. New<br />

York: Guilford, 1993.<br />

The Office of Family Life. To Love and to Cherish: Leader’s Manual. Washington, D.C.: The<br />

Archdiocese of Washington, 1993.<br />

341


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Pence, E., & Paymar, M. Education Groups For Men Who Batter: The Duluth Model. New<br />

York: Springer, 1993.<br />

Plummer, L. P., & Koch-Hattem, A. Family Stress and Adjustment to Divorce. Family Relations,<br />

35(4), 523-529, 1986.<br />

Rando, T. A. The Increasing Prevalence of Complicated Mourning: The Onslaught is Just<br />

Beginning. OMEGA—Journal of Death and Dying, 26(1), 43-59, 1992-93.<br />

Ross, E. R., Baker, S. B., & Guerney, B. G. Effectiveness of Relationship Enhancement Therapy<br />

Versus Therapist’s Preferred Therapy. The American Journal of Family Therapy, 13(1),<br />

11-21, 1985.<br />

Sahlin, M. & Sahlin, N. A New Generation of Adventist Families. Portland, OR: Center for<br />

Creative. Ministry, 1997.<br />

Schindler, L., Hahlweg, K., & Revenstorf, D. Partnerschaftsprobleme: Diagnose und Therapie:<br />

Therapiemanual. Berlin: Springer, 1998.<br />

Smith, H. I. A Time for Healing: Coming to Terms With Your Divorce. Nashville: Life Way,<br />

1994.<br />

Smith, H. I. A Time for Healing: Coming to Terms With Your Divorce: Facilitators’s Guide.<br />

Nashville: LifeWay, 1995.<br />

Smoke, J. Growing Through Divorce. Eugene, OR: Harvest House, 1976.<br />

Springle, P. Untangling Relationships: A Christian Perspective on Codependency. Houston:<br />

Rapha, 1993.<br />

342


Mediation im Trennungs- und Scheidungskonflikt<br />

Ein ergänzendes seelsorgerliches Angebot.<br />

Eine Einführung im Überblick<br />

Klaus Schmitz<br />

Trennungen und Scheidungen sind Wirklichkeiten auch innerhalb christlicher<br />

Gemeinden. Mit dem Christsein ist weder die Garantie auf lebenslanges<br />

Eheglück gegeben noch die Gewähr der Meisterschaft zur Bearbeitung<br />

zwischenmenschlicher Konflikte. Paare, die sich trennen, haben häufig<br />

unter Konfliktbedingungen zahlreiche Fragen zu klären, Probleme zu<br />

lösen und tragfähige Regelungen zu finden, zum Beispiel:<br />

- Wer behält die Wohnung?<br />

- Wer zahlt wem Unterhalt?<br />

- Wie werden Hausrat und Vermögen verteilt?<br />

- Was geschieht mit den Kindern?<br />

Mit der Unterstützung durch in Mediation 1 geschulte Personen finden die<br />

Betroffenen Wege zur eigenverantwortlichen, realitätsgerechten, zukunftsfähigen<br />

und schadensbegrenzenden Konfliktlösung.<br />

Mediation ist eine Konfliktbearbeitung,<br />

- in einem außergerichtlichen Konfliktregulierungsmodell<br />

- mit ergebnisorientiertem Problemlösungsansatz<br />

- mit kommunikativer Vermittlung und Beratung<br />

1 Der Begriff ist eine Übernahme aus dem Englischen auf der Grundlage eines lateinischen<br />

Wortstammes und bezeichnet das Vermitteln. Das entsprechende methodische Verfahren<br />

wurde in Amerika Ende der 70er Jahre zunächst von Juristen entwickelt und angewandt.<br />

Von dort kam es nach Deutschland. Zur knappen Information über Mediation <strong>als</strong><br />

Verfahren bei Trennung und Scheidung vgl. Gary J. Friedmann, Die Scheidungsmediation.<br />

Anleitung zu einer fairen Trennung (Vorwort Erster Teil, S. 11-55) sowie das Nachwort<br />

im Blick auf die Geschichte der Mediation für Deutschland von Hannelore Diez und<br />

Heiner Krabbe (ebd. S. 335ff). – Für mich ergibt sich eine einheitliche Aufgabe und<br />

Grundhaltung in meinem Dienst <strong>als</strong> Theologe bzw. Pastor: Es geht ums Verstehen. Dieser<br />

„hermeneutische“ Ansatz prägt die theologische Exegese ebenso wie die Seelsorge und<br />

die Mediation.<br />

343


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

344<br />

- durch Stärkung von Bereitschaft und Fähigkeit der Parteien zu<br />

sinnvoller Kooperation und hilfreicher Kommunikation<br />

- in einem inneren, emotionalen wie äußeren, formalen Prozess.<br />

Mediation ist anwendbar,<br />

- in Wirtschaft und Politik<br />

- in der Gesellschaft/Öffentlichkeit (z.B. Täter-Opfer-Ausgleich)<br />

- im Bereich von Institutionen<br />

- im Bereich des Arbeitsrechtes<br />

- in Nachbarschaftsstreitigkeiten (auch z.B. in Konflikten in christlichen<br />

Gemeinden)<br />

- in Familienangelegenheiten 2 (z.B. Schulfragen; Erziehungsprobleme;<br />

Erbschaftskonflikte)<br />

- im Trennungs- und Scheidungskonflikt 3<br />

In der Bearbeitung des Konfliktes geht es ergebnis- und zielorientiert um<br />

praktische Regelungen des zukünftigen Alltags der Personen bzw. Parteien.<br />

Damit diese Regelungen realitätsgerecht und tragfähig sein können, ist<br />

es unerlässlich, auch in angemessener Weise den Hintergrund der Konflikte<br />

bzw. Probleme zu betrachten und zu bearbeiten.<br />

Der 'Hintergrund' der Konfliktbearbeitung im Mediationsprozess im Blick<br />

auf die Parteien:<br />

- persönliche Interessen und Bedürfnisse<br />

- Gefühle<br />

- Beziehungsprobleme<br />

- intrapersonale Probleme<br />

- persönliche Werte<br />

- kommunikative Probleme/'Missverständnisse'<br />

2 Seitens des Europarates gibt es eine detaillierte Empfehlung an die Mitgliedsstaaten vom<br />

21.1.1998, Familienmediation <strong>als</strong> methodisches Verfahren einzuführen, zu fördern oder<br />

zu verbessern. Abdruck z.B. in der Neuen Juristischen Wochenzeitung, NJW, 28/1998, S.<br />

XX.XXII.<br />

3 Ein grundsätzlicher Konflikt mit der Rolle des Seelsorgers bzw. dem biblischen „Gebot“<br />

zur Versöhnung (1. Korinther 7, 11) entsteht m.E. keineswegs; die Paare werden nicht zur<br />

Trennung bzw. Scheidung hin beraten, sondern in der von ihnen getroffenen Entscheidung<br />

zur Trennung bzw. Scheidung im Sinne der Mediation professionell begleitet. Die vom<br />

Paar für notwendig erachtete Trennung oder Scheidung wird dabei, m.E. ganz in Übereinstimmung<br />

mit biblisch-christlicher Ethik, eigenverantwortlich und „friedlich“ vollzogen,<br />

wenn man so will in Analogie zur paulinischen Empfehlung in 1. Korinther 6, 1.4-6.


SCHMITZ: MEDIATION<br />

- Information<br />

- Sichtweisen<br />

- strukturelle Bedingungen<br />

- rechtliche Rahmenbedingungen<br />

Vorgehensweise und Zielsetzung der Mediation in Abgrenzung von anderen<br />

Methoden:<br />

Art Focus Ziel/ Ergebnis<br />

Gerichtliche<br />

Auseinandersetzung<br />

mit anwaltlicher Vertretung<br />

Sichtbarer Konflikt,<br />

Rechtsansprüche, formal<br />

- juristisch<br />

gen.“<br />

Schlichtung/ Vermittlung,<br />

Verhandlung<br />

/Konfliktmanagement<br />

Mediation<br />

Therapie<br />

Sichtbarer Konflikt +<br />

Konflikthintergrund,<br />

Verhandlungserfolg<br />

Sichtbarer Konflikt<br />

+ Hintergrundkonflikt<br />

+ Persönlichkeitsanteile,<br />

Interessen/Bedürfnisse,<br />

Notwendigkeiten<br />

für eine gelingende<br />

Zukunft<br />

Sichtbarer Konflikt und<br />

die grundlegende Störung<br />

ist Ausdruck<br />

von/für Persönlichkeitsprobleme,<br />

Prägung/Unbewusstes,<br />

Hintergrundkonflikt<br />

"Siegen im Rechtsstreit"<br />

„Sich durchsetzen ge-<br />

„Kompromiss“, „Interessensausgleich“,<br />

„gütliche<br />

Einigung“<br />

„Sich verständigen<br />

auf...“ Gemeinsam erarbeitete,<br />

verbindliche<br />

Vereinbarung, frei=<br />

selbst gewählt, fest=<br />

gültig, fair= für alle<br />

akzeptabel<br />

Heilung, Verhaltensänderung<br />

Der Rahmen der Mediation und die Verfahrensregeln für die Parteien/Personen:<br />

1. Autonome Parteien/Personen mit autonomen Erfahrungen<br />

- freier Wille;<br />

- beiderseitiger Wunsch bzw. Bereitschaft, Probleme zu lösen<br />

- jeder denkt für sich selbst<br />

2. Wichtige Informationen werden eingebracht<br />

- alle relevanten Daten/Fakten stehen zur Verfügung und<br />

345


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

werden von allen (soweit nötig) verstanden;<br />

- Fachberater werden nach Absprache hinzugezogen<br />

(= in der Regel von den Personen aufgesucht)<br />

3. Unterschiede werden anerkannt/akzeptiert<br />

- gilt für Meinungsverschiedenheiten und übrige Unterschiede<br />

4. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen<br />

- jeder darf für sich entscheiden;<br />

- keiner hat das Recht und die Macht, für den anderen zu entscheiden;<br />

- gemeinsame Entscheidungen beinhalten die eigenen Interessen/<br />

Bedürfnisse bzw. Werte und die Sichtweise des anderen<br />

Die Rolle des Mediators/der Mediatorin (bzw. der Mediatoren 4 )<br />

Der Mediator/die Mediatorin ist nicht:<br />

Anwalt<br />

- ergreift nicht Partei<br />

Richter<br />

- hat keine Macht, den Streitfall zu entscheiden;<br />

- hat kein fixes Ziel oder Ergebnis vor Augen<br />

Therapeut<br />

- will nicht heilen<br />

Freund<br />

- will nicht zufrieden bzw. „glücklich“ machen<br />

Der Mediator/die Mediatorin ist:<br />

- neutral/allparteilich<br />

bezüglich sachlicher Ergebnisse und inhaltlicher Stellungnahmen<br />

- (engagiert) distanziert 5<br />

enthält sich persönlicher Wertungen<br />

- verantwortlich<br />

für den Ablauf des Prozesses nach den Regeln und im Rahmen der<br />

Mediation<br />

4 Insbesondere in Familienangelegenheiten geschieht Mediation z.Zt. häufig in Co-<br />

Mediation, darin gerne in interdisziplinären Zweier-Teams (vorzugsweise aus den Bereichen<br />

Psychologie, Pädagogik, Theologie und Sozialarbeit sowie Jura).<br />

5 Eine Trennungs- bzw. Scheidungsmediation bei einem Paar, mit dem man in der Ehekrise<br />

seelsorgerlich gearbeitet hat, ist deshalb nicht (gut) möglich.<br />

346


SCHMITZ: MEDIATION<br />

- Helfer<br />

bei der Selbsthilfe der Parteien/Personen zur Lösung des Konfliktes<br />

im Erreichen einer gütlichen und befriedigenden gemeinsamen Lösung<br />

Die Aufgaben des Mediators/der Mediatorin:<br />

- Eigenverantwortung der Parteien stärken<br />

- Autonomie ermöglichen<br />

- Ungleichgewichte reduzieren<br />

- effektive Kommunikation etablieren und fördern<br />

- Verständnis bei den Parteien für einander/für die jeweilige Sicht<br />

schaffen<br />

- aktiv zuhören, strukturieren<br />

- sich selbst und die anderen verstehen<br />

Phasen/Stufen der Mediation 6<br />

I Einführung in den Mediationsprozess<br />

- Grundkonflikt; Geeignetheit 7 ;Grundregeln; Mediationsvertrag<br />

- Kontaktaufnahme; Bestandsaufnahme<br />

- Erläuterungen zum Mediationsprozess<br />

- Einhaltung der Grundregeln; Vertrag<br />

II Themenbereiche erkennen bzw. entwickeln<br />

Themensammlung; Regelungspunkte; Rangfolge und Bedeutung der Themen<br />

- für jede Konfliktpartei<br />

- Informationen sammeln; Offenlegung von relevanten Daten und<br />

Fakten<br />

- Bereiche der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung herausarbeiten;<br />

Prioritätenliste anfertigen<br />

- emotionale Bedeutung für die Parteien<br />

- regelungsbedürftige Fragestellungen feststellen<br />

6 In der Literatur und bei den Ausbildungsinstituten gibt es zwar unterschiedliche Zählungen<br />

(z.B. drei, fünf oder gar acht Stufen), aber im Prinzip überall die gleiche Abfolge.<br />

7 Prinzipiell für die Mediation ungeeignet sind Personen, die zum Denken nicht fähig sind<br />

(z.B. wegen Hirnschädigung) oder unverantwortlich leben (z.B. akute Suchtprobleme);<br />

gewalttätiges Verhalten ist ebenso ein Ausschlussgrund.<br />

347


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

III Auf dem Weg in die Tiefe des Konflikts - und zu Lösungen<br />

Konfliktbearbeitung; Entwicklung von Optionen/Alternativen<br />

- Herausarbeiten der Interessen/Bedürfnisse bzw. der konkreten<br />

Notwendigkeiten für die Zukunft<br />

- Vertiefung des Verstehens (durch und auch für den Mediator) Entwicklung<br />

verschiedener Optionen und Wahlmöglichkeiten; Regelung/Umsetzung<br />

von konkreten Einzelpunkten<br />

IV Einigung anstreben/erzielen: Verhandeln und Entscheiden<br />

Bezugspunkte für Entscheidungen klären; Realisierbarkeit überprüfen<br />

- Lösungskriterien entwickeln; vorschnelle Lösungen verhindern<br />

- Metaebene bez. eigener Bezugspunkte (der Parteien):<br />

Normen; Werte; grundlegende Verhaltensweisen<br />

- Einbeziehung mitbeteiligter Personen (z.B. Kinder);<br />

- Einbeziehung von beratenden Fachleuten (Recht; Finanzen)<br />

- Formulierung von praktikablen (Einzel-)Vereinbarungen<br />

V Abschluss der Mediation: Mediationsvereinbarung<br />

Ausarbeitung und Inkrafttreten der Vereinbarung<br />

- schriftliche Ausarbeitung der Vereinbarung<br />

- Klärung von offenen Fragen<br />

- rechtsgültige Fassung der Vereinbarung:<br />

rechtliche Schritte (ggf. notarielle Beurkundung)<br />

- Mediierung von Übergangs- bzw. Abschiedsritualen<br />

- spätere Überprüfungen, Anpassungen oder Veränderungen (z.B.<br />

bez. Laufzeit; Finanzielles)<br />

Dauer der Mediation<br />

- ca. 8 - 12 Sitzungen<br />

- innerhalb von 6 - 12 Monaten<br />

Ausbildung<br />

- bei entsprechender Vorbildung und sozialpsychologischer oder juristischer<br />

Tätigkeit auch nebenberuflich möglich<br />

- in der Regel ca. 2 Jahre (Seminare; Arbeitsgruppen; Literatur; Arbeit<br />

mit konkreten Fällen; Supervision)<br />

- es gibt inzwischen auch universitäre Ausbildungsgänge, z.B. Uni<br />

Oldenburg oder Fernuni Hagen<br />

348


SCHMITZ: MEDIATION<br />

Adressen8<br />

Bundes-Arbeitsgemeinschaft für Familien-Mediation e.V.<br />

(BAFM), c/o RA Christoph Paul, Eisenacher Str. 1; 10777 Berlin<br />

• Bundesverband Mediation e. V., Rosenanger 20; 31595 Steyerberg<br />

• und andere, sei es <strong>als</strong> Verband mit Regionalgruppen oder <strong>als</strong> Einzelinstitut<br />

Literatur:<br />

Besemer, Christoph; Mediation - Vermittlung in Konflikten, Stiftung Gewaltfreies Leben,<br />

Baden 2.A. 1994.<br />

Breidenbach, Stephan; Mediation. Struktur, Chancen und Risiken von Vermittlung im<br />

Konflikt; Otto Schmidt Vlg., Köln 1995.<br />

Bundeskonferenz für Erziehungsfragen (Hg.); Scheidungsmediation. Möglichkeiten und<br />

Grenzen; Votum Verlag, 1995.<br />

Dulabaum, Nina L.; Mediation: Das ABC. Die Kunst, in Konflikten erfolgreich zu vermitteln,<br />

Beltz, Weinheim 1998.<br />

Fisher, Roger/ Ury, William/ Patton, Bruce; Das Harvard-Konzept. Sachgerecht verhandeln<br />

- erfolgreich verhandeln, Campus, Frankfurt/M. 15.A. 1997.<br />

Friedman, Gary J.; Die Scheidungsmediation. Anleitung zu einer fairen Trennung, Rowohlt,<br />

Reinbek 1996.<br />

Haynes, John M.; Scheidung ohne Verlierer, Kösel, München 1993.<br />

Jochheim, Barbara; Trennung, Scheidung und Finanzen, Ein Taschenguide, Haufe Verlagsgruppe,<br />

1999.<br />

Kolb, Deborah M (Hg.); When Talk Works. Profiles of Mediators, Jossey-Bass, San Francisco<br />

1994.<br />

Krabbe, Heiner (Hg.); Scheidung ohne Richter. Neue Lösungen für Trennungskonflikte,<br />

Rowohlt, Reinbek 1993.<br />

Mähler, Hans-Georg/ Mähler, Gisela/ Duss-von Werdt, Josef; Faire Scheidung durch<br />

Mediation, Gräfe & Unzer, 1994.<br />

Napp-Peters, Anneke; Familien nach der Scheidung, Kunstmann, 1995.<br />

8 Für den Bereich Familienmediation z.B. in Gary J. Friedmann, a.a.O., S. 349ff.<br />

349


Anhang


Tabu: Geschiedene Pastoren -Ehen<br />

Drei Frauen blicken zurück<br />

Ein Bereich, der das Thema „Ehescheidung und Wiederheirat“ noch einmal<br />

dramatisch zuspitzt und der wohl auch deshalb stark tabuisiert wird, ist der Bereich<br />

der gescheiterten Ehen von Pastoren und Predigern. Wenn im Norddeutschen<br />

Verband der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland<br />

(NDV) in einem Zeitraum von 10 Jahren etwa 70 Pastoren vorzeitig aus<br />

dem Predigt-Amt ausgeschieden sind 1 und wir weiterhin vorsichtig schätzen,<br />

dass 20% davon aufgrund von Eheproblemen ihr Amt niedergelegt haben, dann<br />

bedeutet dies, dass jedes Jahr mit dem Scheitern mindestens einer Ehe von Pastoren<br />

innerhalb des NDV zu rechnen ist! Gerade bei Seelsorgern ist ein solches<br />

Scheitern aber mit dem Gefühl verbunden, so etwas dürfe nicht passieren. Es<br />

kann nicht sein, was nicht sein darf - so wird jedenfalls oft gedacht. Darum<br />

werden die Augen vor der schmerzhaften Realität gerne verschlossen: Es entsteht<br />

ein Tabu.<br />

In Vorbereitung auf das Symposium wollten wir mit diesem Tabu umgehen<br />

und haben eine Reihe von ehemaligen Frauen ehemaliger Prediger angesprochen,<br />

um einmal eine Perspektive zur Thematik darzustellen, die oftm<strong>als</strong> zu<br />

kurz kommt. Wir haben sie eingeladen, sich – wenn sie wollten – zum Thema<br />

des Symposiums zu äußern. Dabei haben wir keinerlei Vorgaben gemacht. Ob<br />

sie ihre eigene Erfahrung oder Grundsätzliches niederschreiben wollten, war<br />

ihnen überlassen. Drei Frauen haben sich bereit erklärt etwas niederzuschreiben.<br />

Für ihren Mut und ihre Offenheit gebührt ihnen Respekt und Dank! Die<br />

Dokumente sind sehr unterschiedlich. Sie haben aber eines gemeinsam: den<br />

Schmerz und die Verwundung, die auch Jahre danach noch spürbar sind. Gehen<br />

wir deshalb behutsam mit diesen Dokumenten um!<br />

Wir haben die Dokumente nur soweit redaktionell bearbeitet wie es nötig war,<br />

um die Identität der Schreiberinnen zu schützen. Sie kommen im Übrigen aus<br />

1 Nach einer Erhebung des Instituts für Familien- und Sozialforschung der <strong>Theologische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong> Friedensau für die Jahre 1985-1995. Im Norddeutschen Verband sind zur Zeit etwa<br />

210 Pastoren angestellt. Somit beträgt der Prediger“schwund“ etwa 1/3 der gesamten Predigerschaft<br />

innerhalb von 10 Jahren.<br />

353


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

verschiedenen Bereichen des NDV. Es wäre müßig feststellen zu wollen, wer<br />

sich hinter den Dokumenten verbergen könnte. Die beschriebenen Erfahrungen<br />

und Gefühle lassen sich durch viele ähnliche Aussagen anderer (Prediger-)<br />

Frauen bestätigen. Es sind keine Einzelfälle.<br />

Erster Rückblick: Erfahrungen mit der Gemeinschaft nach meiner Ehetrennung<br />

Nach knapp 20 Jahren Ehe verließ mein Mann mich und unsere gemeinsamen<br />

Kinder vor vielen Jahren, um zu einer anderen Frau zu ziehen, die er kurze Zeit<br />

vorher kennen gelernt hatte. Er war bis zu diesem Zeitpunkt Prediger und seit<br />

einigen Jahren in der Vereinigung tätig. Die Trennung fand von einem Tag auf<br />

den anderen statt, nachdem sein Verhältnis herauskam.<br />

Es war nicht das erste Mal, dass er mich betrogen hatte. Ich hatte ihm in der<br />

Vergangenheit des öfteren andere „Seitensprünge“ verziehen - aus Rücksicht<br />

auf die Kinder und in der Hoffnung auf eine Besserung. Nun war der Bruch<br />

jedoch endgültig und nach außen offensichtlich. Ich fühlte mich <strong>als</strong> Versager,<br />

und mein Selbstwertgefühl war auf dem Nullpunkt <strong>als</strong> verlassene und betrogene<br />

Ehefrau.<br />

Hinzu kam die Existenzangst in finanzieller/materieller Hinsicht: Mein Mann<br />

zog Mitte des Monats aus. Sein letztes Gehalt erhielt er für diesen Monat. Wovon<br />

sollte ich mit meinen Kindern nun leben? Wovon die Miete bezahlen? Was<br />

sollte nun werden, wie sollte es weitergehen? Bisher hatte sich mein Mann stets<br />

um alle finanziellen und amtlichen Belange gekümmert. Er brach nun jeglichen<br />

Kontakt ab und entzog sich jeder Verantwortung. Im Gegenteil: Er versuchte<br />

noch, auf unsere Kosten für sich das meiste herauszuschlagen, indem er beispielsweise<br />

das gemeinsame Sparkonto einfach sperren ließ.<br />

Ich war seit unserer Hochzeit nicht mehr berufstätig gewesen, hatte mich um<br />

die Kinder gekümmert, die Arbeit meines Mannes <strong>als</strong> Predigerehefrau aktiv<br />

unterstützt und war durch einige Operationen auch gesundheitlich nicht so fit.<br />

Hinzu kam, dass wir erst wenige Jahre vorher hierher versetzt worden waren: In<br />

ein neues Bundesland, weit weg von allen Verwandten und Freunden. So sah<br />

meine Situation aus. Ich fühlte mich sehr hilflos.Was blieb mir <strong>als</strong>o? Was half<br />

mir?<br />

An erster Stelle sicher mein Vertrauen zu Gott. An ihn klammerte ich mich<br />

fest und hoffte auf seine Führung. Dann war da die örtliche Gemeinde, zu der<br />

ich gehörte. Hier spürte ich: Ich bin nicht allein, da sind Geschwister, die Anteil<br />

354


ANHANG: TABU<br />

nehmen und Hilfe anbieten (finanziell, aber auch ganz praktisch). Auch der<br />

Prediger vor Ort und seine Frau standen mir sehr bei.<br />

Die Erfahrungen mit der Gemeinschaftsleitung in dieser Zeit dagegen habe<br />

ich nicht <strong>als</strong> sehr unterstützend erlebt. Trotzdem soll das Folgende keine Anklage<br />

oder Beschuldigung sein, weil ich weiß, wie schwer es ist, sich in das<br />

Leid des anderen hineinzuversetzen.<br />

Nach dem Weggang meines damaligen Mannes bekam ich recht bald Besuch<br />

von einem Vertreter der Dienststelle meines Mannes. Er bot mir ein Darlehen<br />

an, das ich jedoch nicht in Anspruch nahm. Wie sollte ich es auch zurückzahlen?<br />

Und ich wollte mich auf keinen Fall verschulden. Außerdem riet mir ein<br />

Verwandter strikt davon ab, da kein Administrator befugt sei, von sich aus<br />

solch ein Angebot zu machen...<br />

Gleichzeitig wurde mir von der Gemeinschaftsleitung nahegelegt, die Dienstwohnung<br />

doch schnellstmöglich zu räumen, um Platz für den Nachfolger zu<br />

machen. So hatte ich gleich noch ein neues Problem. (Als wenig mutmachend<br />

habe ich hier auch den Kommentar empfunden: „Die Predigerfrau Schw. X hat<br />

in der gleichen Situation gleich ihre Wohnung freimachen können.“) Das konnte<br />

ich auch nicht so schnell lösen, da ich einen Wohnberechtigungsschein benötigte,<br />

um eine Wohnung zu bekommen. Für diesen Schein brauchte ich den<br />

Nachweis, dass meine Kinder bei mir lebten. Die bestätigende Unterschrift<br />

hierzu wollte mein damaliger Mann jedoch nicht leisten. (Nachdem die Dienststelle<br />

nach etlichem Hin und Her ihm ein Notariat empfohlen hatte, bekam ich<br />

dort seine Unterschrift - auf meine Kosten.)<br />

In den Sommerferien machte ich mit meinen Kindern ein wenig Urlaub bei<br />

Geschwistern. Vorher hatte ich die Dienststelle über meine Abwesenheit informiert,<br />

falls der neue Kollege käme, um sich die Wohnung anzusehen. Mir wurde<br />

gesagt, ich könne ruhig fahren, er käme in dieser Zeit nicht. Es kam dann<br />

wohl doch anders; jedenfalls ging der besagte Administrator mit einem Schlüssel,<br />

den er sich vermutlich über den Vermieter, die Grundstücksverwaltung der<br />

Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, besorgt hatte, in meine Wohnung,<br />

um diese den neuen Mietern zu zeigen. Da jemand aus der Gemeinde die<br />

Wohnung hütete, erfuhr ich davon. Als ich den Administrator darauf hin ansprach<br />

und ihm sagte, dass ich diese Art nicht korrekt fände, sagte er mir: „Wir<br />

haben dir Geld gegeben und du regst dich auf.“ Da war ich froh und dankbar,<br />

dass ich kein Geld angenommen hatte und wies ihn auch darauf hin.<br />

Das, was ich hier empfunden und erlebt habe, ist einfach der Eindruck: Von<br />

Seiten der Dienststelle sah man nur die eigenen Probleme (möglichst schnell<br />

die Dienstwohnung wieder zur Verfügung zu erhalten) - es gab kein wirkliches<br />

355


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Anteilnehmen an meiner Situation und Not. Ich (und meine Kinder) war einfach<br />

ein lästiges Problem für sie. Keiner fragte, wie es meinen Kindern mit der ganzen<br />

Sache ging. Keiner bot mir Hilfestellung bei der Frage, an welche Stellen<br />

und Ämter ich mich wenden müsse wegen Wohnungssuche und Sozialunterstützung.<br />

Ich hatte hier auch keine großen Erwartungen. Aber im Gegensatz zu den Erfahrungen,<br />

die ich in dieser Zeit bei verschiedenen Ämtern machte (hier habe<br />

ich zum Teil echtes Mitgefühl und ungewöhnliches Engagement erlebt), wurde<br />

mir die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der so oft betonten<br />

„Familie der Predigerschaft“ deutlich. Nur zwei Predigerkollegen (der eine mit<br />

seiner Frau) besuchten mich in dieser Situation, fragten nach und nahmen Anteil,<br />

obwohl ich durch Freizeiten, Predigerfamilientreffen und sonstige Mitarbeit<br />

auf verschiedenen Ebenen doch einige kannte. Kein Anruf, keine Karte,<br />

nichts. Ich gehörte nicht mehr dazu.<br />

Diese beiden Besuche und einer von der Ehefrau eines leitenden Mitarbeiters<br />

haben mir gut getan. Schön war auch, dass der Nachfolger meines ehemaligen<br />

Mannes mir dam<strong>als</strong> von sich aus sagte: „Lass dir Zeit und such dir eine Wohnung,<br />

in der ihr euch auch wohlfühlt.“<br />

Ich glaube, dass viel Versagen und Versäumnis in solchen Situationen durch<br />

den Umstand entstehen, dass das Thema Scheidung und erst recht die eines<br />

Predigers oder gar eines leitenden Mitarbeiters tabu sind. Man kann es nicht<br />

fassen, dass so etwas geschieht und ist hilflos im Gedanken an die Betroffenen -<br />

und meidet daher die Begegnung.<br />

Gott hat mich durch diese schwere Zeit hindurchgeführt und mich immer<br />

wieder gesegnet - auch durch andere Menschen. Dafür bin ich dankbar. Auch<br />

wenn das Leidvolle von dam<strong>als</strong> ebenfalls Spuren hinterlassen hat. Gut, dass<br />

Gott es so eingerichtet hat, dass man die unangenehmen Dinge schneller vergisst,<br />

so dass es sicher noch so manches andere Schwere gab, das ich hier nicht<br />

berichtet habe.<br />

Zweiter Rückblick: Gedanken zum Thema Ehekrise in Predigerfamilien<br />

Als gläubige Frau und Verantwortungsträgerin in der Gemeinde war es für<br />

mich (uns) sehr schwierig, über unsere Eheprobleme zu sprechen. Hauptsächlich,<br />

weil ich wusste, dass solche Probleme nicht nur bei der einen Person bleiben,<br />

sondern (aus Gefühlen der Sorge und Verantwortung vielleicht) mehr oder<br />

weniger weitergegeben werden würden. Da mein Ehepartner dam<strong>als</strong> in der Leitungsebene<br />

der Gemeinschaft arbeitete, sahen wir keine Möglichkeit der Hilfe.<br />

356


ANHANG: TABU<br />

Wir hätten uns nur eventuell an ganz eng stehende Freunde oder an außerhalb<br />

der Gemeinde Stehende gewandt.<br />

Gründe, es nicht zu tun, waren Ängste der Bloßstellung, der Nichtachtung, der<br />

Arbeitslosigkeit, Existenzängste und Ängste um Glaubwürdigkeit, weil der<br />

Dienst in der Gemeinde – vor allem der Dienst eines Predigers – an sehr hohe<br />

Ideale (darunter ein vorbildliches Ehe- und Familienleben zu führen) geknüpft<br />

war und einen wichtigen Punkt in unserer Gemeinschaft darstellt.<br />

Die Seelsorge an Predigern kannten wir und kenne ich nicht. Meiner Erfahrung<br />

nach gab es das nicht. Ich denke, wenn keine guten und engen Freundschaften<br />

bestehen (z.B. durch den ständigen Ortswechsel und die Einstellung,<br />

dass Prediger keine festen Freundschaften entstehen lassen sollten), muss jeder<br />

mit seinem Problem selbst zurechtkommen. Ich habe in den letzten Jahren mehrere<br />

Versuche unternommen, dass geschiedenen Predigern nach dem Gemeindeausschluss<br />

Seelsorge und somit Aufarbeitung der Probleme angeboten werden.<br />

Diese Versuche scheiterten bis auf eine Ausnahme. Wünschenswert wäre<br />

die Möglichkeit, außerhalb der Gemeinschaft Seelsorge oder Beratungsmöglichkeiten<br />

in christlichen Kreisen zu finden.<br />

Zur Wiederverheiratung kann ich nur aus meiner Sicht schreiben: Durch die<br />

biblischen Maßstäbe denke ich, nicht wieder heiraten zu dürfen. Dieses Thema<br />

wird inzwischen in den Medien offener diskutiert, trotzdem bleibt der Makel,<br />

geschieden zu sein. Es liegt an der Persönlichkeit, wie der Geschiedene mit<br />

diesen Maßstäben umgeht:<br />

- Wie sieht es der Betroffene?<br />

- Wie geht die Gemeinde damit um?<br />

- Wie lebe ich mein Leben (in der Gemeinde und in der Öffentlichkeit)?<br />

Für mich persönlich ist eine Wiederverheiratung sehr schwierig. Ich glaube,<br />

der Wunsch, nicht allein leben zu wollen, ist ein ganz normales und natürliches<br />

Bedürfnis des Menschen, und für die positive Entwicklung ist unter anderem<br />

eine Familie sehr wichtig ...<br />

Dritter Rückblick: Einmischung oder Verantwortung<br />

Ist das Scheitern einer Ehe tatsächlich eine Sache, die nur zwei Menschen und<br />

ihre Familie betrifft? In gutem Glauben und mit besten Absichten wurde es versprochen:<br />

„... bis dass der Tod uns scheidet.“ Mit Fürbitte und Segen begleitet<br />

von der Gemeinde, so manches Mal mit sanftem, aber deutlichem Druck gedrängt<br />

von der Gemeinschaft. Manche Prediger-Ehe älteren Datums hat da ihre<br />

eigene Geschichte ... Wie viel Verantwortung hat die Gemeinschaft für ihren<br />

357


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Einfluss? Genügt es dann, bei Ausbruch einer ernsten Krise bedauernd die<br />

Hände zu heben mit den dünnen Worten: „Das ist eine Sache zwischen euch -<br />

da mischen wir uns nicht ein“? Oder ist nicht gerade die Gemeinschaft gefordert<br />

zur Einmischung aus Verantwortung? Wer Gottes Wort zuspricht am Anfang<br />

und in der Hoffnung auf Gelingen auch vor Einmischung in diesen privatesten<br />

Raum nicht zurückschreckt, bleibt etwas schuldig, wenn er angesichts<br />

des Scheiterns schweigt und von dem Sterben mitten im Leben die Augen verschließt.<br />

Ich wünschte mir, dass es gelingen würde, in Krisensituationen das Paar behutsam<br />

zu begleiten, auch wenn das Bedürfnis nur von einem Partner artikuliert<br />

wird - aus Verantwortung der Ehe-Person gegenüber. Hier habe ich - trotz deutlicher<br />

Signale meinerseits - die Verantwortung und Einmischung der Gemeinschaft<br />

schmerzlich vermisst.<br />

Es ist gut gemeint, oft mit beachtlichem und dankenswerten Aufwand an Engagement<br />

und Einfühlung betrieben, aber für die Heilung einer Ehe sicher nicht<br />

ausreichend, wenn Seelsorge sich auf die Person beschränkt, die den größten<br />

Leidensdruck hat und sie in Anspruch nimmt. So fühle ich mich trotzdem im<br />

Stich gelassen, nicht ernst genug genommen und abgeschrieben.<br />

Es bleibt die bittere Erfahrung, geschieden zu werden gegen meinen Willen,<br />

gegen mein Hoffen und gegen mein Verständnis von Ehe.<br />

358


Teil I: Grundsätze einer Beziehung<br />

Eine erfolgreiche Ehe<br />

Ada Garcia<br />

Gott zum Partner haben<br />

- Pflegt eine enge Beziehung zu Gott<br />

- Findet gemeinsam wichtige Werte<br />

- Redet ehrlich über Einstellungen und geistliche Hingabe<br />

- Pflegt bedeutungsvolle religiöse Rituale und gemeinsame geistliche Erfahrungen<br />

- Sucht einen gemeinsamen Auftrag und eine Vision. Tauscht euch über<br />

Weltanschauungen aus<br />

Beurteilt euch selbst und arbeitet am Wachstum der Persönlichkeit<br />

- Was heißt es, sich zu unterscheiden?<br />

- Warum ist es wichtig, eine starke persönliche Identität zu haben?<br />

- Wie schafft man ein Gleichgewicht von Individualität und Gemeinsamkeit?<br />

Hingabe an die Ehe<br />

- Was ist Hingabe?<br />

o Die Hingabe aus Zwang<br />

• Moralische Zwänge:<br />

• Scheidung ist aus moralischen Gründen f<strong>als</strong>ch<br />

• Hingabe aus Verpflichtung<br />

• Rücksicht um der Kinder willen<br />

• Rücksicht um des Partners willen<br />

• Pragmatische Zwänge:<br />

• Für immer verlorene Investitionen<br />

• Sozialer Druck<br />

• Unvollendete Aufgaben<br />

• Qualität von Alternativen<br />

• Wirtschaftliche Abhängigkeiten<br />

• Vermutung, keine neuen Partner zu haben<br />

359


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

o Der Wille zur persönlichen Hingabe:<br />

• Wunsch nach einer Beziehung auf lange Sicht<br />

• Die Beziehung hat Priorität<br />

• Zufriedenstellendes Maß an Gemeinsamkeit<br />

• Zufriedensein mit dem persönlichen Einsatz<br />

• Zufriedensein mit dem Partner<br />

Teil II: Bausteine der Beziehung<br />

Experte der eigenen Beziehung sein<br />

- Die Beziehung regelmäßig bewerten<br />

- Um die Stärken der eigenen Ehe wissen<br />

- Die Schwächen in der Ehe kennen<br />

- Erreichbare Ziele entwickeln<br />

- Das Gute tun und auf das Schwierige verzichten<br />

Die Freundschaft miteinander stärken<br />

- Sich gegenseitig gut kennen lernen:<br />

o Vorlieben<br />

o Abneigungen<br />

o Persönliche Charakterzüge<br />

o Träume und Hoffnungen<br />

o Siege und Kämpfe<br />

o Verwundungen und Heilungen<br />

o Gefühle<br />

o Lebensziele und Vermächtnis<br />

- Zeit miteinander verbringen. Etwas gemeinsam machen. Täglichen Kontakt<br />

miteinander haben<br />

- Dem anderen jeden Tag durch kleine Dinge zeigen, wie wichtig er für dich<br />

ist<br />

- Schützt eure Freundschaft vor Konflikten<br />

- Seid positiv<br />

- Habt Freude und seid humorvoll<br />

- Nehmt einander an<br />

360


ANHANG: GARCIA GLIEDERUNG EHE<br />

Zeigt einander Zuneigung<br />

- Den Einfluss des anderen akzeptieren<br />

- Sich gegenseitig mit Respekt behandeln<br />

- Entscheidungen gemeinsam treffen. Den anderen stark machen<br />

- Nicht nur die eigenen Interessen sehen, auch die des anderen achten<br />

(Phil. 2,3.4.)<br />

- Zugeständnisse machen und lernen, Kompromisse einzugehen<br />

Effektiv kommunizieren lernen<br />

- Den richten Ort und Augenblick wählen und die richtige Art finden<br />

- Deutlich kommunizieren<br />

- Auf Einstellungen, Verhaltensweisen und Situationen achten, die die<br />

Kommunikation beeinflussen können:<br />

o Einstellungen:<br />

• Überzeugungen und Erwartungen<br />

• Gefühlslage und Empfindungen<br />

• Stereotype und Vorurteile<br />

• Körperliche und emotionale Anspannungen<br />

• Angelernte Muster<br />

• Selbstwertgefühl<br />

• Verteidigungshaltungen<br />

o Verhaltensweisen:<br />

• Unaufmerksamkeit<br />

• Körperhaltung<br />

• Art des Fragens<br />

• Unterschiede im Stil<br />

o Situationen:<br />

• Unterbrechungen<br />

• Wohlfühlebene<br />

• Alleine oder in Gegenwart anderer<br />

- Gut zuhören, um den anderen wirklich zu verstehen<br />

Intimität entwickeln und stärken<br />

- Intimität <strong>als</strong> wunderbare und beängstigende Erfahrung zugleich.<br />

- Was ist Intimität?<br />

o „Gefühle in einer Beziehung, die Nähe, Verbundensein und<br />

Bindung hervorrufen. Intimität ist der Wunsch, das Wohlergehen<br />

des Geliebten zu fördern, miteinander Glück zu erleben und<br />

361


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

den Geliebten hoch zu achten, sich aufeinander im Bedarfsfall<br />

verlassen zu können, sich gegenseitig zu verstehen, sich selbst<br />

mitteilen und sich gegenseitig informieren zu können, emotionale<br />

Unterstützung zu erhalten und zu geben, vertraut miteinander<br />

zu kommunizieren und sich wertzuschätzen“. (Sternberg)<br />

o „Intimität ist eine Kombination von Konfliktlösung, Zuneigung,<br />

Zusammenhalt, Sexualität, Identität, Kompatibilität, Autonomie<br />

und Ausdrucksfähigkeit.“ (Patton and Waring)<br />

o „Eine intime Beziehung ist eine Beziehung, in der keiner der<br />

Partner schweigt, sich opfert, sich selbst betrügt, in der jeder<br />

seine Stärken und Verwundbarkeiten in gleicher Weise ausdrücken<br />

kann.“ (Learner)<br />

o „Intimität ist abhängig von dem Maß der Selbstwahrnehmung,<br />

Selbstreflexion und dem Gebrauch einer komplexen Sprache.<br />

Es ist eine „Ich-Du“ Erfahrung. Sie beinhaltet die Offenlegung<br />

von persönlichen Informationen. Sie wächst durch Konflikt,<br />

Selbstbewertung und Selbstoffenbarung. Das erfordert die Konfrontation<br />

mit sich selbst und die Öffnung zum Partner hin“.<br />

(Schnarch)<br />

o „Das Erfahren des innersten Ichs durch intensive, intellektuelle,<br />

hörbare und/oder emotionale Kommunikation mit einer anderen<br />

Person.“ (Keifer)<br />

o „Die Erfahrung des Offenseins, Verwundbarseins und der Fähigkeit,<br />

die innersten Gefühle und Gedanken mitzuteilen.“<br />

(Beavers)<br />

- Der Unterschied zwischen selbstgeleiteter und fremdgeleiteter Intimität<br />

o Fremdgeleitete Intimität:<br />

• Reduziert die Angst und vermittelt ein kurzfristiges<br />

Selbstverständnis<br />

• Optimiert deine Funktionstüchtigkeit und lässt dich besser<br />

fühlen.<br />

• Ist Abhängig von Annahme und Mitgefühl<br />

• Es hat auf Dauer Nachteile:<br />

• Jeder der Partner wird abhängiger von der Laune<br />

des anderen und damit unfähiger, in Stresszeiten<br />

wahre Intimität zu erleben.<br />

• Verleitet dich zur Hoffnung, dass der Partner<br />

selbstverantwortlich ist, während du gleichzeitig<br />

362


ANHANG: GARCIA GLIEDERUNG EHE<br />

hoffst, er ist es nicht. Das führt zur unterschwelligen<br />

Konkurrenz.<br />

• Ist sehr begrenzend, weil es zur Selbstdarstellung<br />

führt und nicht zur Selbstöffnung. Selbstdarstellung<br />

ist das Gegenteil von Intimität: eher ein Affentheater<br />

<strong>als</strong> Offenheit.<br />

• Sie erlaubt einem Partner, den anderen zu manipulieren.<br />

Es führt dazu, sowohl deine Beziehung <strong>als</strong> auch deinen<br />

Partner zu kontrollieren, um Kontrolle über dich selbst<br />

zu gewinnen.<br />

o Selbstgeleitete Intimität:<br />

• Erfordert die Fähigkeit, das wahre Ich zu kennen und zu<br />

zeigen, auch wenn der Partner das nicht akzeptiert oder<br />

dich bewertet.<br />

• Erfordert die Fähigkeit, die eigene Angst zu besänftigen<br />

oder sich nicht von der Angst anderer anstecken zu lassen.<br />

• Sie entwickelt sich langsam von innen durch die Selbstkonfrontation.<br />

Sie ist die Erkenntnis seiner selbst durch<br />

die Gegenwart des Partners, und die gleichzeitige<br />

Wahrnehmung der unaufhebbaren Distanz zum anderen.<br />

• Deine Fähigkeit zur Abgrenzung hält Schritt mit der<br />

wachsenden Bedeutung des Partners für dich.<br />

• Trennung und Differenzierung halten sich die Waage<br />

mit Gemeinsamkeit und gegenseitiger Abhängigkeit.<br />

Die eigenen Bedürfnissen und die Bedürfnisse des Partners<br />

stehen in einer Balance zueinander.<br />

- Sexuelle Intimität<br />

o Die Erfahrung von „erkennen“ und „ein Fleisch sein“<br />

o Sexuelle Intimität <strong>als</strong> Selbstöffnung durch Sex<br />

o Wie man Ganzheit durch Sex erfährt:<br />

• Spiritualität<br />

• Emotionale Verbindung<br />

• Körperliche Stimulierung<br />

• Gefühle und Gedanken<br />

o Wie man das eigene sexuelle Potential erforscht (Schnarch):<br />

• Den emotionalen Anteil vertiefen<br />

• Die sexuellen Variationsmöglichkeiten erhöhen<br />

363


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

• Ängste reduzieren<br />

• Emotionale Energien erweitern<br />

• Lernen, Angst auszuhalten und zu beruhigen<br />

• Bewältigung der unterschwelligen Spannungen und ehelichen<br />

Probleme<br />

• Lernen, den Partner noch mehr zu wollen und zu lieben<br />

o Die Erfahrung von erfüllter Sexualität ist keine Frage der Technik,<br />

sondern das Integrieren von Kopf, Herz und Verstand mit<br />

den Genitalien.<br />

- Die Balance zwischen dem „Wir“ und dem „Ich“ (Siehe dazu: Gedicht von<br />

Khalil Gibran: „Der Prophet“ zitiert in Ada Garcia, Eine erfolgreiche Ehe<br />

bauen)<br />

III Retter in der Beziehung<br />

Lernen, den Konflikt zu bewältigen<br />

- Konflikte <strong>als</strong> Teil des Lebens<br />

- Wie Menschen auf Konflikte reagieren:<br />

o Kämpfen<br />

o Erzwingen<br />

o Unterwerfen<br />

o Erlahmen<br />

o Vermeiden (gewohnheitsmäßiges Vermeiden ist der primäre<br />

Anlass für Scheidungen)<br />

o Konfrontieren<br />

- Warum Konflikte schwierig sind:<br />

o Ursachen liegen tiefer, wie beim Eisberg.<br />

o Zugrunde liegende Strukturen des Konfliktes:<br />

• Was geschehen ist oder hätte geschehen sollen oder wer<br />

hat recht; wer was gesagt hat; wer ist schuld. Trügerische<br />

Behauptungen:<br />

• Ich habe recht; Du bist f<strong>als</strong>ch. Die Wahrheit ist:<br />

keiner ist richtig oder f<strong>als</strong>ch, sondern es bestehen<br />

unterschiedliche Wahrnehmungen,<br />

Interpretationen und Werte.<br />

• Ich kenne deine Absichten. Die Wahrheit ist:<br />

Absichten sind unsichtbar und komplex.<br />

364


ANHANG: GARCIA GLIEDERUNG EHE<br />

• Du bist schuld. Die Wahrheit ist: Fast immer ist<br />

das, was sich ereignete, das Ergebnis von dem,<br />

was beide getan oder nicht getan haben.<br />

• Die Gefühle:<br />

• Integrierter Teil des Konflikts<br />

• Verstehen der Gefühle<br />

• Reden über Gefühle<br />

• Umgang mit Gefühlen<br />

• Identitätsfragen:<br />

• Wer wir sind und wie wir uns sehen.<br />

• Wie man ‚über sich selbst’ fühlt (Selbstbild).<br />

• Tragweite des Konflikts für das Selbstbild<br />

o Konfliktlösung hängt nicht nur davon ab, ob eine Person den<br />

Konflikt ansprechen kann, sondern sie ist genauso abhängig<br />

von der Denkweise und emotionalen Stabilität der anderen Person<br />

- Konfliktlösung erleichtern:<br />

o Beruhigende Ausgangssituation<br />

o Sich selbst und den Partner besänftigen<br />

o Lernen, Klärungsversuche zu beginnen oder darauf zu reagieren<br />

o Standpunkte und Positionen deutlich ausdrücken<br />

o Die wahren Anliegen erforschen<br />

o Flexibel und offen sein<br />

o An der emotionale Stabilität arbeiten<br />

o Tolerant sein<br />

o Nach gemeinsamen akzeptablen Lösungen suchen.<br />

- Strategien um festgefahrene Situationen zu lösen:<br />

o Wiederhole dich nicht<br />

o Hör auf, schau hin und höre zu<br />

o Sammle mehr Informationen<br />

o Weniger Kampf, mehr erforschen<br />

o Verstehendes Zuhören<br />

o Meide Blickkontakt, geh spazieren oder leg eine Pause ein<br />

o Frieden schließen mit Humor und Akzeptanz<br />

o Unstimmigkeiten sind Teil jeder guten Ehe. Lerne trotz aller<br />

Differenzen zu tanzen.<br />

- Unterschiedliche Weisen der Konfliktlösung:<br />

o Kompromisse<br />

365


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

o Aushandeln<br />

o Abwechseln<br />

o Ergänzen<br />

o Alternativen finden<br />

o Aus praktischen Gründen vereinfachen<br />

o Unabhängige Lösungen<br />

o Teillösungen<br />

o Verbinden<br />

o Integrieren<br />

o Win - Win Lösungen (beide sind Gewinner)<br />

Akzeptiere Veränderungen und verändere dich<br />

- Wir verändern uns alle. Veränderungen sind unausweichlich. Es ist<br />

unmöglich, sich nicht zu verändern. Aber Veränderung ist kein gleichförmiger<br />

Prozess.<br />

- Wir alle wollen Veränderungen und fürchten uns auch davor. Wir<br />

brauchen beides: Gleichgewicht und Veränderung.<br />

- Die Veränderung einer Person verändert das ganze System. Systeme<br />

fürchten Veränderungen und möchten sie blockieren<br />

- Lerne neue Sichtweisen und Meinungen zu integrieren.<br />

- Lerne die Veränderungen im Lebenszyklus der Familie willkommen zu<br />

heißen und an ihnen teilzunehmen.<br />

- Stufen der Veränderung:<br />

o Etwas Fremdartiges tritt auf (geplant oder ungeplant). Neue<br />

Bedürfnisse und Situationen entstehen (z.B. das erste Kind wird<br />

geboren).<br />

o Die bisherigen Regeln funktionieren nicht mehr. Es muss sich<br />

etwas ändern. Das kostet Anstrengung, ruft Verteidigungen,<br />

Ärger, Angst und manchmal Chaos hervor.<br />

o Ziellos werden Lösungen gesucht. Neue Situationen sollen mit<br />

alten Methoden gelöst werden. Das geht nicht immer.<br />

o Irritationen nehmen zu. Die Familie fährt sich fest. Konflikte,<br />

Anspannung und Angst nehmen zu.<br />

o Eine Krise bricht aus (Ein Symptom bricht aus, um die Krise<br />

ohne Veränderung zu lösen).<br />

o Veränderungen beginnen. Das System zerbricht oder verändert<br />

sich. Es werden neue Rollen und Wege erarbeitetet, die zu der<br />

366


ANHANG: GARCIA GLIEDERUNG EHE<br />

neuen Situation passen. Es entsteht ein neues Bewusstsein der<br />

Integration<br />

o Das Neue wird eingeübt, bis es Stabilität, Vertrautheit und<br />

Sicherheit bringt.<br />

Lerne Untreue zu vermeiden<br />

- Sei dir im Klaren darüber, was Untreue ist<br />

o Vertrauensbruch, Verrat einer Beziehung, Bruch einer Vereinbarung<br />

o Arten der Untreue:<br />

• Sexuell<br />

• Emotional<br />

• Kombiniert<br />

• Zufällig (einmalig, unter bestimmten Umständen)<br />

• Romantisch (einmalig aber intensiv. Fühlt sich wie Liebe<br />

an)<br />

• „Eheliche Vereinbarung“ (offen, oder bewusste oder<br />

unbewusste Kooperation)<br />

• Liebeleien (andauernd, ständige Untreue)<br />

o Beide Partner sollten darin übereinstimmen, was für sie Untreue<br />

ist<br />

o Wenn nicht darüber geredet wird, kann die Ehrlichkeit der Beziehung<br />

darunter leiden<br />

o Wenn du wissen willst, ob etwas Untreue ist, frage den Partner.<br />

Wenn du es geheim halten möchtest, dann ist es Untreue.<br />

- Verbanne f<strong>als</strong>che Einstellungen<br />

o Untreue kommt in glücklichen Ehen nicht vor. Wenn es zu einer<br />

Affäre kommt, ist dies ein Beweis für mangelnde Liebe in der<br />

Ehe. Die Wahrheit ist: Es ist nur die halbe Wahrheit. Jeder kann<br />

von einem Menschen angezogen werden. Jeder ist verletzbar.<br />

Es sollte darüber geredet werden, damit keine Taten folgen. Eine<br />

Affäre ist nicht Sache der Gefühle, sondern der Entscheidung.<br />

o Jeder hat Affären, das ist normal. Die Wahrheit ist: Statistiken<br />

in denen behauptet wird, in der Hälfte aller Ehe komme Untreu<br />

vor, sind irreführend. Oft kommt Untreue im letzten Jahr einer<br />

sterbenden Ehe vor. Eheliche Treue bleibt die Norm in intakten,<br />

beständigen Ehen.<br />

367


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

o Untreue ist harmlos (gerade wenn der Partner darüber<br />

nichts weiß...). Die Wahrheit ist: Untreue ist gefährlich<br />

und richtet großen Schaden an. Ehen können sich von<br />

Affären erholen, aber nur unter großer Anstrengung und<br />

großen Schmerzen. Oft zerstört es über kurz oder lang<br />

die Ehe.<br />

o Sex außerhalb der Ehe ist besser. Die Wahrheit ist:<br />

Häufig ist Sex nicht der wahre Grund. Er ist zu Hause<br />

oft besser! Die Wahl eines anderen Partners geschieht<br />

nicht so sehr wegen der Ähnlichkeit zum Partner, sondern<br />

wegen der Unterschiedlichkeit. Der Unterschied<br />

kann <strong>als</strong> Diagnose für Probleme innerhalb der Ehe dienen.<br />

o Die Affäre kommt durch eine unvollkommene Ehe. Die<br />

Wahrheit ist: Alle Ehen sind unvollkommen. Die Unzufriedenheit<br />

in der Ehe mag oder mag auch nicht die<br />

Hauptursache sein, aber die Entscheidung, welche<br />

Schritte daraus Folgen, ist immer eine eindeutige, individuelle<br />

Entscheidung. (Der unglückliche Partner hat<br />

die Wahl zwischen Scheidung, Szene machen, Streit,<br />

Therapie oder sonst etwas ...)<br />

o Es ist besser, die Affäre des Partners zu ignorieren. Die<br />

Wahrheit ist: Affären gedeihen in der Heimlichkeit.<br />

Wenn das Thema vermieden wird, wir die ehe nur noch<br />

schlechter. Unehrlichkeit und Leugnung sind für die<br />

Ehe schädlich.<br />

o Nach einer Affäre ist eine Scheidung unabdingbar. Die<br />

Wahrheit ist: Eine Affäre ist eine Ehekrise. Wie in jeder<br />

Krise kann die Ehe besser oder schlechter werden. Einige<br />

Paare trennen sich nach einer Affäre. Andere Paare<br />

bleiben unter schrecklichen Umständen zusammen. Andere<br />

nutzen die Affäre, um eine stabilere und bessere<br />

Ehe zu bauen.<br />

- Stärke deine Bindung<br />

- Halte Abstand zu allen, die deine Beziehung gefährden könnten:<br />

o Im Beruf:<br />

368


ANHANG: GARCIA GLIEDERUNG EHE<br />

• Vermeide es, mit derselben Person regelmäßig<br />

alleine Pausen zu machen<br />

• Triff dich auf Dienstreisen mit Kollegen in öffentlichen<br />

Räumen, nicht in einem Zimmer mit<br />

einem Bett<br />

• Trinke und tanze nicht mit Kollegen auf<br />

Konferenzen oder Partys<br />

• Rede mit Kollegen nicht über deine persönlichen<br />

Gefühle oder deine Sorgen<br />

• Mit Freunden des anderen Geschlechts:<br />

• Eine emotionale Affäre ist geprägt durch<br />

Heimlichkeit, emotionale Nähe und sexuelle<br />

Anziehungskraft. Sei mit niemandem<br />

alleine, von dem du dich angezogen<br />

fühlst.<br />

• Versuche nicht, einen unglücklichen<br />

Menschen zu trösten, der sein Herz bei<br />

dir ausschüttet. Suche für ihn einen Gesprächspartner<br />

desselben Geschlechts<br />

oder einen Therapeuten.<br />

• Erzähle niemandem, was du vor deinem<br />

Partner verschweigst. Wenn du geheime<br />

Dinge austauscht, entwickelt sich eine<br />

tiefe emotionale Nähe und Attraktivität.<br />

• Wenn dein Gesprächspartner die Ehe<br />

herunterspielt, erzähle etwas Positives<br />

über deine Ehe<br />

• Bearbeite deine Probleme in der Ehe mit<br />

deinem Partner und nicht mit einem anderen<br />

Menschen des anderen Geschlechts.<br />

Löse deine Probleme in deiner<br />

Ehe. Vermeide sie nicht.<br />

• Wenn du einen Gesprächspartner außerhalb<br />

deiner Beziehung brauchst, suche<br />

dir einen Freund und nicht einen Feind<br />

deiner Ehe.<br />

• Mit alten Flammen:<br />

369


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

370<br />

• Wenn du deine alte Liebe triffst, nimm<br />

deinen Partner mit<br />

• Gehe nicht mit einer alten Flamme essen<br />

• Triff dich mit der alten Liebe nicht in<br />

deiner Wohnung, wenn du alleine bist<br />

• Online – Freundschaften<br />

• Diskutiere deine Online – Beziehungen<br />

mit deinem Partner. Zeige ihm deine E-<br />

Mails, wenn er Interesse hat<br />

• Beteilige deinen Partner an der Korrespondenz,<br />

damit keine f<strong>als</strong>chen Erwartungen<br />

geweckt werden<br />

• Tausche keine sexuellen Fantasien Online<br />

aus<br />

• Tausche keine intimen Gedanken aus<br />

• Entziehe dich durch Online Kontakte<br />

nicht deinem Partner. Begrenze deine<br />

Online – Zeiten<br />

• Mit verführerischen Personen<br />

• Sage deutlich und unmissverständlich<br />

Nein. Sei nicht zu höflich.<br />

• Zuhause ist diese Person wahrscheinlich<br />

anders.<br />

• Rede förmlich über deine Einstellung<br />

• Gib keine nonverbalen Zeichen<br />

• Flirte nicht<br />

• Vermeide Kontakt und lange Erklärungen<br />

• Sage deutlich Stop! Du brauchst nicht<br />

freundlich zu bleiben. Wenn du nicht in<br />

Ruhe gelassen wirst, erzähle vertrauenswürdigen<br />

anderen davon<br />

• Nimm deinen Partner mit<br />

• Wenn nichts hilft, schreibe alles auf und<br />

informiere entsprechende Stellen darüber<br />

- Bewahre die Fairness in deiner Ehe<br />

o Pflege eine zufriedenstellende, faire eheliche Beziehung


ANHANG: GARCIA GLIEDERUNG EHE<br />

o Gib in deiner Ehe mehr <strong>als</strong> du erhältst. Je mehr du investierst,<br />

desto stärker wird deine Hingabe<br />

- Sei ehrlich. Nichts ist so zerstörerisch wie die Lüge. Ehrlichkeit<br />

ist die Mitte der Intimität. Rede über die Dinge, die dich verunsichern,<br />

die dir Schuldgefühle machen oder die ihr unterschiedlich<br />

einschätzt.<br />

- Brich Versuchungen sofort ab<br />

o Es ist normal, versucht zu werden. Aber du brauchst<br />

nicht darauf zu reagieren<br />

o Rede mit deinem Partner in einer angemessenen Art<br />

darüber<br />

o Lasse deiner Phantasie über die Beziehung zu einer anderen<br />

Person keinen freien Lauf<br />

o Flirte nicht. Es könnte eine Einladung sein, die beantwortet<br />

werden will<br />

o Arbeite an deiner Ehe, erhalte sie gesund<br />

- Suche soziale Unterstützung<br />

o Suche dir Freunde, die glücklich verheiratet sind und<br />

nicht auf Abenteuer aus sind<br />

o Baue Freundschaften mit Personen des gleichen Geschlechts<br />

auf, die pro Ehe eingestellt sind<br />

o Sieh und lies Stoff, der die Ehe respektiert<br />

Erlebe die Wohltat der Vergebung, so oft wie nötig<br />

- Warum wir Vergebung nötig haben<br />

- Was Vergebung ist<br />

- Was Vergebung nicht ist<br />

- Was wir tun können, wenn mir Unrecht getan wurde und andere keine<br />

Verantwortung dafür übernehmen<br />

- Schritte zur Vergebung und zur Heilung<br />

o Mache einen Termin aus, an dem du über die Probleme<br />

sprichst, die vergeben werden müssen<br />

o Bring dich konkret ein und behandle dein Problem, hole dir die<br />

Erlaubnis, darüber zu reden<br />

o Benenne die Verletzungen und Einstellungen, die euch beide<br />

betreffen<br />

o Der Schuldige bittet den Verletzten um Vergebung<br />

o Der Betroffene sichert die Vergebung zu<br />

371


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Literatur:<br />

o Wenn möglich (nötig), verpflichtet sich der Schuldige, sein<br />

Verhalten oder seine Einstellungen zu verändern<br />

o Akzeptiere, dass Vergebung Zeit benötigt. Vergebung ist ein<br />

Prozess.<br />

Brown, Philip M. The Death of Intimacy. New York: The Haworth Press, 1995.<br />

Gottman, John M. The Seven Principles for Making Marriage Work. New York: Crown Publishers,<br />

1999.<br />

Heitler, Susan. The Power of Two: Secrets to a Strong and Loving Marriage. Oakland, CA:<br />

New Harbinger Publications, 1997.<br />

Lerner, Harriet G. The Dance of Intimacy. New York: Harper & Row, 1989.<br />

Markman, Howard; Stanley, Scott and Blumberg, Susan. Fighting for Your Marriage. San<br />

Francisco, CA: Jossey-Bass Publishers, 1994.<br />

Pittman, Frank. Grow Up! How Taking Responsibility Can Make You a Happy Adult. New<br />

York: St. Martins Griffin, 1998.<br />

Pittman, Frank. Private Lies: Infidelity and the Betrayal of Intimacy. New York: W. W. Norton<br />

& Company, 1989.<br />

Satir, Virginia. Conjoint Family Therapy. Palo Alto, CA: Science and Behavior Books, 1967.<br />

Satir, Virginia. The Satir Approach to Communication. Palo Alto, CA: Science and Behavior<br />

Books, 1989.<br />

Schnarch, David. Constructing the Sexual Crucible: An Integration of the Sexual. New York:<br />

W. W. Norton & Company, 1991.<br />

Schnarch, David. Passionate Marriage. New York: W. W. Norton & Comny,1977.<br />

Sternberg, Robert J. The Triangle of Love. New York: Basic Books, Inc., 1987.<br />

Stone, Douglas; Patton, Bruce and Heen, Sheila. Difficult Conversations: How to Discuss<br />

What Matters Most. New York: Penguin Group, 1999.<br />

372


Was ist Treue?<br />

William Loveless<br />

1. Eine lebenslange Hingabe (1.Mose 2,24).<br />

2. Ein zunehmendes Einfühlungsvermögen füreinander.<br />

3. Die Entwicklung, Bereicherung und Erweiterung einer geschlechtlichen<br />

Beziehung mit dem Partner, egal wie viele Frustrationen, Enttäuschungen<br />

und Fehlschläge es geben mag.<br />

4. Dem Partner eine bereichernde Rückmeldung geben, die das notwendige<br />

Selbstbewusstsein <strong>als</strong> Sexualpartner aufbaut und nicht schwächt.<br />

5. Widerstand gegen die Auflösung einer Beziehung.<br />

Kreative Treue<br />

Mit Sex umgehen:<br />

1. Lernen,<br />

a. darum zu bitten<br />

b. darauf anzuspielen<br />

c. sich zu verabreden<br />

d. den Verlauf der sexuellen Begegnung zu verstehen<br />

e. und die sexuelle Begegnung nachklingen zu lassen.<br />

2. Lernen, aufbauend und fördernd zu reagieren.<br />

3. Lernen miteinander zu experimentieren.<br />

4. Regelmäßig erfreuen und berühren.<br />

373


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Erinnerungen an deine Liebesgeschichte<br />

William Loveless<br />

In unserem sehr beschäftigten Leben mit den vielen Terminen könnte die Erinnerung<br />

an die eigene Liebesgeschichte und das Reden darüber eine wahre<br />

Belebung sein. Viele empfinden es <strong>als</strong> hilfreich, die folgenden Fragen schriftlich<br />

zu beantworten und sich dann mit dem Partner darüber auszutauschen.<br />

Vielleicht lachst du oder weinst du ein bisschen, wenn du zurückdenkst.<br />

1. Wie hast du deinen Partner kennen gelernt?<br />

2. Was hat dich zuerst zu ihm hingezogen?<br />

3. Was habt ihr bei eurem ersten Treffen gemacht?<br />

4. Wann wusstest du, dass diese Beziehung etwas Besonderes sein könnte?<br />

5. Was ließ dich glauben, dass diese Beziehung etwas Besonderes sein könnte?<br />

6. Was haben deine Freunde zu deiner Beziehung gesagt?<br />

7. Was hat deine Familie zu deiner Beziehung gesagt?<br />

8. Hast du Hürden überwinden müssen, um mit dem Partner zusammenzusein?<br />

374


ANHANG: LOVELESS<br />

9. Was hat dich zu dem Entschluss gebracht, diesen Menschen zu heiraten?<br />

10. Was liebtest du an der Art eurer Kommunikation?<br />

11. Welche Dinge habt ihr am liebsten zusammen gemacht?<br />

12. Wie hat dich dein Partner wissen lassen, dass er dich liebte und du ihm etwas<br />

bedeutest?<br />

13. Wie habt ihr euch gegenseitig umeinander gekümmert?<br />

14. Was waren in der frühen Zeit die Stärken eurer Beziehung?<br />

15. Was hast du in der frühen Phase in eurer körperlichen Beziehung am meisten<br />

geliebt?<br />

16. Hast du empfunden, dass aufgrund eurer neuen Beziehung alte Wunden und<br />

Schmerzen zu heilen begannen?<br />

17. In welcher Zeit habt ihr euch am stärksten verbunden gefühlt? Was habt ihr<br />

dann gemacht? Was waren die Umstände?<br />

375


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Bevor du dich trennst...<br />

30 Fragen zum Nachdenken<br />

William Loveless<br />

1. In einem Satz: Warum denke ich an Trennung?<br />

2. Wenn wir unsere Ehe wiederholen könnten - was würde ich anders machen?<br />

3. Wenn wir unsere Ehe noch einmal beginnen könnten - was würde ich mir<br />

von dir anders wünschen? Warum?<br />

4. Was waren bis jetzt die positivsten Höhepunkte in unserer Ehe?<br />

5. Warum habe ich mich früher gerne mit dir getroffen?<br />

6. Welche 5 – 10 Dinge bringen Druck in unsere Ehe? Warum?<br />

7. Was müsste ich tun, um diesen Druck zu vermindern?<br />

8. Was bewundere ich bei dir am meisten?<br />

9. Welche positiven Dinge würde ich am stärksten vermissen, wenn wir geschieden<br />

wären?<br />

10. Ganz ehrlich - wie empfinde ich unser Sexualleben? Warum?<br />

11. Was macht mir beim Sex mit dir am meisten Freude?<br />

12. Wie empfinde ich unsere Fähigkeit zu kommunizieren? Warum?<br />

13. In welchen 5 Bereichen haben wir eine mangelhafte Kommunikation?<br />

Warum?<br />

14. Zu welcher Zeit hatte ich den Eindruck, wir hätten die allerbeste Verständigung<br />

miteinander gehabt?<br />

15. Ganz ehrlich, wie haben wir uns gegenseitig ermutigt und wertgeschätzt<br />

oder auch nicht?<br />

16. Was empfinde ich über deine Einstellung zum Geld?<br />

376


ANHANG: LOVELESS<br />

17. Auf welche Weise wird durch meine Einstellung zum Geld unsere Beziehung<br />

beeinflusst?<br />

18. Welche Richtlinien gibt die Bibel darüber, wie ich mich zu dir verhalten<br />

sollte? Und in Bezug auf Scheidung?<br />

19. Wie würde ich die ideale Ehe beschreiben? Warum?<br />

20. Wie geht es mir damit, wenn wir zusammen beten?<br />

21. Wie geht es mir, wenn ich weiß, dass du für mich betest?<br />

22. Wie würde ich mich fühlen, wenn du heute sterben würdest?<br />

23. Wie würde eine Scheidung mein Selbstbild beeinflussen?<br />

24. Wie lange ist es her, dass wir ein Wochenende gemeinsam und woanders<br />

erlebt haben? Warum?<br />

25. Ganz nüchtern: was würde bei einer Scheidung mit unseren Kindern passieren?<br />

Was passierte mit unseren Eltern? Und was mit unseren Freunden?<br />

Was bei unserem Arbeitgeber? Was mit unserem Besitztum?<br />

26. Was wäre bei einer Scheidung das Schlimmste für mich?<br />

27. Will ich wirklich eine Trennung oder würde ich mir in unserer Beziehung<br />

eine Veränderung zum Besseren wünschen? Was müsste sich ändern? Warum<br />

und wie?<br />

28. Es ist ganz leicht, dir die Schuld für unsere Probleme zu geben - aber mal<br />

ehrlich: welche Fehler liegen ganz klar bei mir?<br />

29. Würde ich im Fall einer Scheidung „mein Gesicht verlieren“?<br />

30. Wie kann diese bedrückende, konfliktreiche und schmerzvolle Zeit zu einer<br />

Zeit des Lernens und Besinnens werden, die unsere Ehe stärkt - für die<br />

nächsten 50 Jahre?<br />

377


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Eine gemeinsame Bilanz ziehen<br />

William Loveless<br />

Welches sind die Grundelemente, um den Zusammenbruch einer Ehe einigermaßen<br />

nachvollziehen zu können? Eine angemessene Sichtweise hat vier<br />

unerlässliche Merkmale:<br />

1. Sie muss eingestehen, dass das Verhalten beider Partner sowohl förderlich<br />

<strong>als</strong> auch schädlich für die Beziehung war. Keiner von beiden<br />

war nur gut oder nur schlecht. Jede angemessene Bilanz muss davon<br />

ausgehen, dass zugegeben wird, dass beide Partner sowohl zum Gelingen<br />

wie zum Misslingen ihrer Ehe beigetragen haben.<br />

2. Sie muss eingestehen, dass das Verhalten beider Partner viel mehr von<br />

ihrer Beziehung zueinander bestimmt wurde <strong>als</strong> von externen Faktoren<br />

wie z.B. Freunden, Schwiegereltern oder beruflichem Stress. Jede<br />

angemessene Bilanz betont, dass jeder Partner seine Rolle spielte und<br />

beim anderen sowohl die positiven wie die negativen Verhaltensweisen<br />

gefördert hat.<br />

3. Sie muss anerkennen, dass sich beide Partner zusammen den ihnen<br />

bevorstehenden Herausforderungen stellen können, auch wenn ihre<br />

Beziehung von externe Faktoren beeinflusst wird. Jede angemessene<br />

Bilanz muss herausfinden, wo das Paar gut kooperiert hat und wo es<br />

besser hätte zusammenarbeiten können, um Herausforderungen von<br />

außen zu begegnen.<br />

4. Sie muss frei sein davon, das Verhalten des Partners in generalisierenden<br />

Wesenszügen beschreiben zu wollen (z.B. "Er war faul" oder "Sie<br />

war egoistisch"). Jede angemessene Bilanz muss Wert darauf legen zu<br />

sehen, für welche Handlungen sich der andere im jeweils unterschiedlichen<br />

Fall entschieden hat, statt sich an den Eigenschaften des anderen<br />

festzubeißen, die er in die Beziehung eingebracht hat.<br />

378


ANHANG: LOVELESS<br />

Hilfreiche Fragen:<br />

- Was fandet ihr am anderen anziehend, <strong>als</strong> ihr euch begegnet seid?<br />

- Was führte euch zu der Entscheidung, einander heiraten zu wollen?<br />

- Was hat jeder von euch getan, um eure Ehe zu einer gelingenden Beziehung<br />

zu machen?<br />

- Wie hat jeder von euch dazu beigetragen, dass die Beziehung nicht gelungen<br />

ist ?<br />

- Was macht dich immer noch wütend? Wodurch könntest du zu dieser Situation<br />

beigetragen haben?<br />

- Was ruft bei dir noch immer Schuldgefühle hervor? Was könnte der Partner<br />

zu dieser Situation beigetragen haben?<br />

- Was hast du selbst aus dieser Erfahrung gelernt, das dich in die Lage versetzen<br />

wird, deine nächste Ehe erfolgreicher zu führen?<br />

379


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

380<br />

Was macht Patchwork-Familien erfolgreich?<br />

Paarbeziehungen<br />

Ergebnisse aus der Forschung<br />

William Loveless<br />

Wiederverheiratete Partner sind zufriedener, wenn sie Verantwortung miteinander<br />

teilen und Entscheidungen gemeinsam treffen.<br />

Stiefkinder, die im Haushalt des Stiefvaters aufgewachsen sind, zeigen weniger<br />

Verhaltensauffälligkeiten, wenn die Ehe glatt, aber individuell gelaufen ist.<br />

Auf längere Sicht gesehen ist die eheliche Anpassung dann größer, wenn<br />

Stiefvater und Stiefkinder eine enge Beziehung entwickeln und positiv miteinander<br />

umgehen.<br />

Wer Stiefkinder adoptiert, hat offensichtlich größere Entscheidungskraft im<br />

Bereich ehelicher Sex.<br />

Beziehungen zwischen Stief-Eltern und Stief-Kindern<br />

Von Anfang an sollten Stiefeltern versuchen, die Zuneigung der Stiefkinder zu<br />

gewinnen. Stiefeltern sollten herausfinden, was ihre Stiefkinder gerne tun und<br />

sich daran beteiligen; der leibliche Elternteil des Kindes kann einige dieser Aktivitäten<br />

herausfinden helfen. Der Stiefelternteil könnte dem Stiefkind in einem<br />

Bereich eine Fähigkeit oder ein Wissen beibringen, an dem beide Interesse haben.<br />

Für jugendliche Stiefkinder kann es leichter sein, ein neues Elternteil zu<br />

akzeptieren, wenn der Stiefelternteil Geldmittel in die Familie einbringt.<br />

Stiefeltern sollten behutsam auf die Stiefkinder zugehen. Sie sollten den Kindern<br />

die Führung überlassen, wie schnell die Beziehung wächst.<br />

Stiefeltern sollten nicht damit aufhören Freunde zu sein, wenn sie erst einmal<br />

eine gute Beziehung zu den Stiefkindern aufgebaut haben.<br />

Stiefeltern sollten ihren Stiefkindern gegenüber herzlich und unterstützend<br />

sein und nicht so sehr maßregeln oder Regeln aufstellen.


ANHANG: LOVELESS<br />

Beziehungen zwischen Eltern und Kindern<br />

Leibliche Eltern, die mit ihren Kindern zusammenwohnen, sollten mit ihren<br />

Kindern weiterhin Dinge alleine unternehmen. In Stiefvater-Familien, wo die<br />

Mütter weniger mit ihren Kindern unternehmen, benehmen sich die Kinder in<br />

der Schule häufiger daneben und zeigen häufigere innere und äußere Verhaltensauffälligkeiten.<br />

Außerdem haben Stiefväter bessere Beziehungen zu ihren<br />

Stiefkindern, wenn die Mütter gute Beziehungen zu ihren Kindern haben.<br />

Kinder sind besser in der Schule und zeigen weniger innere und äußere Verhaltensauffälligkeiten,<br />

wenn die Eltern bestimmend sind. „Bestimmend sein“<br />

bedeutet, wenn Eltern sowohl unterstützend und herzlich sind <strong>als</strong> auch klare<br />

Strukturen und Durchsetzungsvermögen in der Verhaltenskontrolle der Kinder<br />

praktizieren. Eltern sollten aktiv in die Schulaktivitäten der Kinder eingebunden<br />

sein, die Aktivitäten mit Gleichaltrigen beobachten und sollten Spaß-Zeiten<br />

mit den Kindern verbringen. Größere elterliche Wärme und Anteilnahme, bessere<br />

Kommunikation und mehr elterliche Zusicherung stehen in Beziehung zu<br />

einer besseren Eltern-Kind-Beziehung.<br />

Stiefmütter finden sich besser in ihre Rolle ein, wenn der leibliche Vater sich<br />

an der Erziehung beteiligt.<br />

Kinder sind besser in der Schule und haben weniger Verhaltensprobleme,<br />

wenn ihre Mütter wiederverheiratet sind <strong>als</strong> nur mit einem Partner zusammenzuleben.<br />

Eltern-Kind-Beziehungen können in Patchwork-Familien zu eng sein.<br />

Eine Eltern-Kind-Kommunikation, die positiv ist und von Jugendlichen <strong>als</strong><br />

wirksam angesehen wird, steht in Beziehung zur Zufriedenheit des Jugendlichen<br />

mit dem Leben in der Patchwork-Familie und der Anpassung der Kinder.<br />

381


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Co-Eltern 1<br />

Kindern geht es besser, wenn ihre Eltern freundlich oder auch förmlich miteinander<br />

umgehen <strong>als</strong> wenn sie miteinander über die Kinder streiten.<br />

Ein gemeinsames Sorgerecht hat eine bessere Anpassung der Kinder zur Folge,<br />

wenn die Co-Eltern nicht streiten. Darüber hinaus haben Jugendliche, deren<br />

Eltern das Sorgerecht teilen, bessere Beziehungen zu ihren Stiefeltern und der<br />

engeren Stiefverwandschaft.<br />

Entscheide dich, welche Art von Co-Eltern-Beziehung (wenn überhaupt) du<br />

gerne haben würdest.<br />

Sei skeptisch, wenn du Negatives über Patchwork-Familien hörst.<br />

Optimismus über das Leben in Patchwork-Familien steht in Bezug zur Zufriedenheit<br />

mit dem Leben in Patchwork-Familien.<br />

Beziehungen verbessern sich oft mit der Zeit. Stiefväter, die länger verheiratet<br />

sind, empfinden positiver über ihre Stiefkinder und fühlen sich mehr angenommen<br />

von ihnen.<br />

Der Zusammenhalt in der Familie steht in Beziehung zur Zufriedenheit in der<br />

Patchwork-Familie.<br />

Patchwork-Familien, die flexibler bei ihrer Urlaubsplanung sind, genießen die<br />

Ferien mehr. Jugendliche, die den Haushalt ihrer Patchwork-Familie <strong>als</strong> flexibel<br />

empfinden, sind zufriedener mit dem Leben in der Patchwork-Familie <strong>als</strong> diejenigen,<br />

die geringere Flexibilität merken.<br />

1 Gemeint sind die getrennt lebenden leiblichen Eltern der gemeinsamen Kinder<br />

382


Dokumente


Bericht der Studienkommission<br />

„Ehescheidung und Wiederheirat“<br />

Erklärung zum Dokument:<br />

Auf der Generalkonferenz von 1995 in Utrecht votierten die Delegierten für<br />

die Einsetzung einer Studienkommission zum Thema „Ehescheidung und Wiederheirat“.<br />

1 Diese Kommission wurde 1997 durch den Ausschuss der Generalkonferenz<br />

installiert. 2 Ihr gehörten neben dem Vorsitzenden Matthew A. Bediako,<br />

dem stellvertretenden Vorsitzenden Jan Paulsen, dem Sekretär Ronald M.<br />

Flowers und der assoziierten Sekretärin Karen M. Flowers insgesamt 15 Teilnehmer<br />

aus allen Teilen der Welt an. Die Teilnehmer waren Experten aus den<br />

Bereichen Theologie, Ethik, Familientherapie und Administration. Die Kommission<br />

tagte zwischen 1997 und 1999 insgesamt vier Mal an unterschiedlichen<br />

Orten. Dabei wurden wissenschaftliche Referate vorgetragen und diskutiert<br />

und Einschätzungen aus dem Weltfeld durch weitere Experten angehört. Die<br />

Aufgabe der Studienkommission bestand darin, Empfehlungen für Veränderungen<br />

der Gemeindeordnung zu erarbeiten.<br />

Diese Empfehlungen dienten <strong>als</strong> Arbeitsgrundlage des Ausschusses für die<br />

Gemeindeordnung, der daraus die Vorschläge für Neuformulierungen der Gemeindeordnung<br />

erarbeitete, die dann – mit kleinen Modifikationen – auf der<br />

Generalkonferenz 2000 in Toronto zur erfolgreichen Abstimmung kamen.<br />

Mit Einverständnis der zuständigen Stellen der Generalkonferenz veröffentlichen<br />

wir hier <strong>als</strong>o ein internes Dokument einer Studienkommission, die einem<br />

anderen gemeinschaftsinternen Gremium „zugearbeitet“ hat. Es handelt sich<br />

somit nicht um ein offizielles Dokument im Sinne eines Beschlusses oder einer<br />

Verlautbarung. Verbindlich ist und bleibt die Gemeindeordnung. Doch gibt<br />

gerade dieses Dokument Einblicke in die Argumentation unterschiedlicher Experten<br />

aus der weltweiten Adventgemeinde, weshalb wir für die Möglichkeit<br />

der Veröffentlichung dankbar sind. 3<br />

1 Beschluss GCS 95-1054.<br />

2 Beschlüsse der Frühjahrstagung 1997 der ADCOM109-97Ga – 109-97GC.<br />

3 Dieses Dokument war auch den Delegierten der Generalkonferenz 2000 in Toronto verteilt<br />

worden, um den Hintergrund der vorgeschlagenen Änderungen der Gemeindeordnung besser<br />

verstehen zu können.<br />

385


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Das Dokument:<br />

Einleitung<br />

Im Lauf der Geschichte der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten<br />

haben viele Gruppen, Ausschüsse und beratende Versammlungen die Themenbereiche<br />

Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat studiert in dem ständigen Bemühen,<br />

<strong>als</strong> Gemeinde den Willen Gottes zu verstehen und um den Gemeindemitgliedern<br />

Hilfestellung und den Beratern eine Leitlinie an die Hand geben zu<br />

können. Der jetzige Ausschuss von Mitgliedern aus dem ganzen Weltfeld setzt<br />

dieses Bemühen um ein klärendes Verständnis von Ehe, Ehescheidung und<br />

Wiederheirat fort, um den Gemeinden eine Hilfe anzubieten.<br />

Es hat drei Versammlungen gegeben: vom 14. – 16. September 1997 in Hoddesdon,<br />

England; vom 25. – 29. Januar 1998 in Montemorelos, Mexiko und<br />

vom 30. Mai – 3. Juni in Cohutta Springs, Georgia, USA. Die Studienkommission<br />

der Generalkonferenz für Ehescheidung und Wiederheirat hat das Thema<br />

aus biblischer, theologischer und historischer Sicht bearbeitet. Auch die Aussagen<br />

von E.G.White, Situationsberichte aus aller Welt und andere Forschungsberichte<br />

wurden in Betracht gezogen. Die Kommission legte am 25. September<br />

1998 der Generalkonferenz und den Verantwortlichen in den Divisionen einen<br />

Zwischenbericht vor. Während eines vierten Treffens vom 4. - 6. April 1999<br />

bereitete die Kommission den vorliegenden Bericht vor, der die Kommentare<br />

von den Verantwortlichen der Generalkonferenz und den Divisionen berücksichtigte,<br />

die am 25. September 1998 in Iguassu Falls, Brasilien, getagt hatten.<br />

Dieser Bericht enthält folgende Punkte:<br />

- Biblische Prinzipien zur Ehe<br />

- Biblische Prinzipien bezüglich Ehescheidung und Wiederheirat<br />

- Die Rolle der Gemeinde in Fragen von Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat<br />

- Empfehlungen<br />

Zwei Anhänge sind hinzugefügt:<br />

- Anhang A: Berufung der Mitglieder der Studienkommission. Bezugsrahmen<br />

und Aufgabenstellung<br />

- Anhang B: Eine Auflistung der schriftlichen Arbeiten und Berichte,<br />

die der Kommission in England und Mexiko unterbreitet wurden.<br />

386


ANHANG: GK STUDIENKOMMISSION<br />

Biblische Prinzipien der Ehe<br />

1) Gottes ursprünglicher Plan für die Ehe<br />

a) Der Ursprung der Ehe<br />

Die Ehe ist göttlichen Ursprungs. Gott selbst führte die erste Hochzeit am<br />

sechsten Schöpfungstag durch, <strong>als</strong> er Adam und Eva <strong>als</strong> Mann und Frau zusammenführte<br />

(1.Mose 2,18-25). Indem Er sie in der Ehe vereinigte, sagte<br />

Gott: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und<br />

seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch“ (1. Mose 2,24).<br />

Es war Gottes Absicht, diese Ehe zum Musterbeispiel für alle künftigen<br />

Ehebeziehungen zu machen. Christus bekräftigte das ursprüngliche Konzept<br />

der Ehe (Matthäus19,3-6). So wurde die Ehe von Gott <strong>als</strong> engste menschliche<br />

Beziehung gesegnet.<br />

b) Der Ehebund<br />

Die Ehe ist ein Bund, den Mann und Frau miteinander und mit Gott schließen.<br />

Die Eheleute versprechen sich gegenseitig ihre Liebe, Treue und Hingabe,<br />

solange sie leben (Sprüche 2,17; Maleachi 2,14). Der Ehebund ist auf<br />

Liebe gegründet (Epheser 5,28 und 29; Titus 2,4). Diese Liebe befähigt<br />

Mann und Frau, sich gegenseitig bedingungslos anzunehmen, des anderen<br />

Fehler und Versagen zu mitzutragen und sich über Siege und Errungenschaften<br />

des anderen zu freuen. Paulus beschreibt die Art von Liebe, die<br />

notwendig ist, um den Ehebund gelingen zu lassen: “Wer liebt, ist geduldig<br />

und gütig. Wer liebt, der ereifert sich nicht, er prahlt nicht und spielt sich<br />

nicht auf. Wer liebt, der verhält sich nicht taktlos, er sucht nicht den eigenen<br />

Vorteil und lässt sich nicht zum Zorn erregen. Wer liebt, der trägt keinem<br />

etwas nach; es freut ihn nicht, wenn einer Fehler macht, sondern wenn er<br />

das Rechte tut. Wer liebt, der gibt niem<strong>als</strong> jemand auf, in allem vertraut er<br />

und hofft er für ihn; alles erträgt er mit großer Geduld“ (1.Korinther 13,4-<br />

7).Dauer der Ehe. Die Ehe ist eine lebenslange Verpflichtung beider Partner<br />

füreinander (Markus 10,2-9; Römer 7,2). Paulus deutet darauf hin, dass die<br />

Hingabe, die Christus für seine Gemeinde hat, ein Modell für die Beziehung<br />

zwischen Ehemann und Ehefrau ist (Epheser 5,31.32). Gott beabsichtigte,<br />

dass diese Beziehung so dauerhaft sein sollte wie die Beziehung von Christus<br />

zu seiner Gemeinde.<br />

387


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

388<br />

c) Die Vorrangstellung der Ehe<br />

Paulus sah die eheliche Beziehung <strong>als</strong> die vorrangige Beziehung in der Familie<br />

(Epheser 5,22.23). Die Ehe hat Vorrangstellung unter allen anderen<br />

menschlichen Beziehungen, sogar der zwischen Ehepartner und dessen Eltern<br />

(1.Mose,2,24). Keine andere zwischenmenschliche Beziehung sollte in<br />

unangemessener Weise das Eheverhältnis stören.<br />

d) Sexuelle Intimität in der Ehe<br />

Sexuelle Intimität in der Ehe ist ein göttliches Geschenk an die menschliche<br />

Familie. Sie ist ein wesentlicher Teil der Ehe und nur auf die Ehe bezogen<br />

(1.Mose 2,24; Sprüche 5,15-20). Dieserart Intimität, die ausschließlich zwischen<br />

Ehemann und Ehefrau geteilt werden soll, fördert eine ständig wachsende<br />

Nähe, Glück und Sicherheit und sorgt für den Fortbestand der<br />

menschlichen Rasse. Die Ehe soll nicht nur monogam sein, sie ist auch von<br />

Gott <strong>als</strong> eine heterosexuelle Beziehung eingesetzt (Matthäus 19,4.5).<br />

e) Geistliche Übereinstimmung in der Ehe<br />

Geistliche Übereinstimmung in der Ehe ist entscheidend, wenn eine Ehe im<br />

Gleichklang mit dem Plan Gottes gelebt werden soll (Amos 3,3; 2.Korinther<br />

6,14). Gott wünscht, dass durch ihre Einheit Mann und Frau die Liebe Gottes<br />

erfahren, seinen Namen ehren und Zeugen seiner Macht sind. In der<br />

ganzen Bibel wird die Ehe <strong>als</strong> ein Bild der Beziehung zwischen Gott und<br />

seinem Volk gebraucht (Jesaja 54,5-7; Hosea 2,19.20; Epheser 5,25-28;<br />

Offenbarung 21,2).<br />

f) Ehe <strong>als</strong> Partnerschaft<br />

Als Partner in der Ehe tragen Mann und Frau in gleicher Weise Verantwortung<br />

für das Gelingen der Ehe (1.Mose 1,26-28). Während ihre Verantwortungsbereiche<br />

unterschiedlich sein können, ist doch keiner von beiden wichtiger<br />

<strong>als</strong> der andere und keiner darf den anderen dominieren. Ihre Beziehung<br />

zeichnet sich durch Gemeinsamkeit und Kameradschaft aus (1.Mose 2,18).<br />

Als Mann und Frau ordnen sie sich einander unter (Epheser 5,21), um sich<br />

gegenseitig zu ermutigen und in Liebe aufzubauen (1.Thessalonicher. 5,11).<br />

E.G. White schrieb über die Ehepartnerschaft: „Eva wurde von einer Rippe<br />

aus Adams Seite geschaffen. Sie sollte ihn nicht <strong>als</strong> Haupt beherrschen, aber<br />

auch nicht unterdrückt werden. Sie sollte ihm vielmehr ebenbürtig zur Seite<br />

stehen, und er sollte sie lieben und beschützen.“ (Patriarchen und Propheten,<br />

Kapitel 2).


ANHANG: GK STUDIENKOMMISSION<br />

2) Die Auswirkungen des Sündenfalls auf die Ehe<br />

Der Sündenfall wirkte sich auf die Ehe zerstörerisch aus. Als Adam und<br />

Eva sündigten, verloren sie die Einheit, die sie mit Gott und miteinander<br />

gekannt hatten (1.Mose 3,6-24). Ihre Beziehung war ab da gekennzeichnet<br />

von Schuld, Scham, Anschuldigungen und Schmerz. Der Fluch der Sünde<br />

brachte es mit sich, dass dem Mann die Herrschaft übergeben wurde<br />

(1.Mose 3,16; siehe auch Patriarchen und Propheten Kap. 3). Wo die Sünde<br />

regiert, gehören zu ihren traurigen Auswirkungen auf die Ehe Entfremdung,<br />

böswilliges Verlassen, Untreue, Vernachlässigung, Missbrauch, Gewalt,<br />

Trennung, Ehescheidung, Beherrschung des einen Partners durch den<br />

anderen und sexuelle Perversion. Nicht-monogame Ehen zeigen gleichfalls<br />

die Auswirkungen der Sünde auf die Einrichtung der Ehe. Solcherart Ehen<br />

wurden zwar in alttestamentlichen Zeiten praktiziert, waren aber nicht in<br />

Übereinstimmung mit dem göttlichen Modell. Der Plan Gottes für die Ehe<br />

macht es erforderlich, dass sein Volk über weitverbreitete kulturelle Sitten<br />

hinausgeht, wenn sie mit der Bibel nicht übereinstimmen.<br />

3) Wiederherstellung und Heilung<br />

a) Das göttliche Ideal ist in Christus wiederhergestellt<br />

Durch die Erlösung der Welt von der Sünde und ihren Folgen möchte Gott<br />

auch die Ehe zum ursprünglichen Ideal zurückführen. Das ist die Vision für<br />

diejenigen, die <strong>als</strong> Wiedergeborene im Königreich Christi leben, deren Herzen<br />

durch den Heiligen Geist gereinigt wurden und deren erstes Ziel im Leben<br />

die Verherrlichung des Herrn Jesus Christus ist (1.Petrus. 3,7).<br />

b) Einssein und Gleichheit in Christus wiederhergestellt<br />

Das Evangelium betont die Liebe und die gegenseitige Unterordnung von<br />

Mann und Frau (1.Kor. 7,3.4; Epheser 5,21). Das Vorbild für die Führung<br />

des Mannes finden wir in der selbstaufopfernden Liebe und dem Dienst<br />

Christi an seiner Gemeinde (Epheser 5,24.25). Petrus ermahnt die Männer<br />

eindringlich, ihre Frauen zu respektieren und sie mit Rücksicht zu behandeln<br />

(1.Petrus. 3,7), und Paulus weist die Frauen an, ihre Männer zu respektieren<br />

(Epheser 5,23). Im Kommentar zu Epheser 5,22-28 heißt es bei E.G.<br />

White: „Weder Mann noch Frau soll den andern beherrschen wollen. Der<br />

Mann soll seine Frau mit Liebe und Zärtlichkeit behandeln, so wie Christus<br />

seine Gemeinde hegt und pflegt. Die Frau soll ihren Ehemann achten und<br />

389


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

lieben. Beide sollen einen Geist der Freundlichkeit pflegen und fest entschlossen<br />

sein, den andern nie zu betrüben noch zu verletzen.“ (E.G.White:<br />

Schatzkammer der Zeugnisse Bd. 3, S. 81) In Christus sollen Einssein,<br />

Gleichheit und Gemeinsamkeit in der Ehe wiederhergestellt werden.<br />

c) Gnade für alle<br />

Gott will die Ganzheit wiederherstellen und alle mit sich versöhnen, die<br />

dem himmlischen Standard nicht entsprochen haben (2.Korinther. 5,19).<br />

Das schließt diejenigen ein, die die Erfahrung einer zerbrochenen Ehebeziehung<br />

hinter sich haben.<br />

d) Die Rolle der Gemeinde<br />

Moses im Alten Testament und Paulus im Neuen Testament hatten es mit<br />

den Problemen zu tun, die durch zerbrochene Ehen verursacht wurden<br />

(5.Mose 24,1-5; 1.Korinther 7,10-16). Beide waren sich des Ide<strong>als</strong> bewusst<br />

und versuchten auf konstruktive und versöhnende Weise mit denen umzugehen,<br />

die dem göttlichen Ideal nicht entsprachen. So sollte auch heutzutage<br />

die Gemeinde Gottes das Ideal vor Augen haben und gleichzeitig eine versöhnende,<br />

vergebende und heilende Atmosphäre schaffen, in der es Verstehen<br />

und Mitleid gibt, wenn Zerrüttung vorkommt<br />

Biblische Prinzipien bezüglich Ehescheidung und Wiederheirat<br />

Der Umgang der Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten mit Ehescheidung<br />

und Wiederheirat muss göttlich geleitet sein. Die Bibel selbst bietet außer<br />

Anweisungen und ganz bestimmten Beispielen eine weite Palette von<br />

Grundsätzen an, die die Gemeinde befähigen, den göttlichen Absichten treu zu<br />

sein und gnädig mit jenen umzugehen, die eine Ehescheidung erleiden.<br />

1) Ehescheidung entspricht nicht Gottes ursprünglicher Absicht, <strong>als</strong> er die Ehe<br />

einsetzte (Matthäus 19,3-8; Markus 10,2-9), aber die Bibel schweigt nicht<br />

darüber. Weil Ehescheidung <strong>als</strong> Folge des Sündenfalls vorkam, sollte die<br />

biblische Gesetzgebung den verursachten Schaden begrenzen (5.Mose 24,1-<br />

4). Die Bibel versucht durchgehend, die Ehe zu erhöhen und Ehescheidung<br />

abzuwehren, indem die Freuden der ehelichen Liebe und die Treue beschrieben<br />

werden (Sprüche 5,18-20; Hohelied 2,16; 4,9 - 5,1), indem auf die<br />

eheähnliche Beziehung Gottes zu seinem Volk hingewiesen wird (Jesaja<br />

390


ANHANG: GK STUDIENKOMMISSION<br />

54,5; Jeremia 3,1), indem das Augenmerk auf die Möglichkeit der Vergebung<br />

und der ehelichen Erneuerung gerichtet wird (Jeremia 3,1; Hosea 3,<br />

1-3; 11,8.9) und indem darauf hingewiesen wird, wie Gott die<br />

Ehescheidung und das dadurch verursachte Elend hasst (Maleachi 2,15.16;<br />

Hosea 2,3). Jesus stellte die Sicht der Schöpfung von der Ehe <strong>als</strong> lebenslangem<br />

Bund zwischen einem Mann und einer Frau wieder her (Matthäus 19,4-<br />

6; Markus 10,6-9). Viele biblische Anweisungen bestätigen die Ehe und<br />

wollen Probleme, die dazu beitragen, die den Ehebund schwächen<br />

oder zerstören, verbessern (Epheser 5,21-33; Hebräer 13,4; 1.Petr. 3,7).<br />

2) Der Ehebund beruht auf dem Grundsatz von Liebe, Treue, Ausschließlichkeit,<br />

Vertrauen und Unterstützung, der von beiden Partnern im Gehorsam zu<br />

Gott aufrecht erhalten wird (1.Mose 2,24; Matthäus 19,6; 1.Korinther 13;<br />

Epheser 5,21-29; 1.Thessalonicher 4,1-7). Werden diese Grundsätze verletzt,<br />

ist der Ehebund im Kern gefährdet. Die Bibel weiß, dass tragische<br />

Umstände den Ehebund zerstören können. Jesus lehrte, dass der Ehebund<br />

durch sexuelle Unmoral unheilbar zerbrechen kann (Matthäus 5,32; 19,9).<br />

Dazu zählen eine Reihe von unrechtmäßigen sexuellen Verhaltensweisen.<br />

Paulus deutet an, dass der Tod das Ende des Ehebundes ist (Römer 7,2.3),<br />

ebenso wie das Verlassen durch einen ungläubigen Ehepartner, der nicht<br />

länger verheiratet sein will (1.Korinther 7,15). Damit ist die Liste der destruktiven<br />

Faktoren nicht erschöpft, die zu Zerbruch und Ehescheidung führen<br />

können.<br />

3) Das Wort Gottes verurteilt Gewalt in persönlichen Beziehungen (1.Mose<br />

6,11; Psalm 11,5; Jesaja 58,4.5; Römer 13,10; Galater 5,19-21). Es entspricht<br />

dem Geist Christi, zu lieben und anzunehmen, den Nächsten zu fördern<br />

und aufzubauen, nicht aber zu missbrauchen oder zu erniedrigen (Römer<br />

12,10; 14,19; Epheser 4,26; 5,28.29; Kolosser 3,8-14; 1.Thessalonicher<br />

5,11). Unter den Nachfolgern Christi ist kein Platz für tyrannische<br />

Kontrolle und Missbrauch von Macht oder Autorität (Matthäus 20,25-28;<br />

Epheser 6,4). Gewalt in Ehe und Familie ist besonders abscheulich und zerstört<br />

den Ehebund (Maleachi 2,14-16; siehe auch Adventist Home,<br />

S. 343, engl.).<br />

4) Wenn die Ehe zusammenzubrechen droht, sollte jede Anstrengung von beiden<br />

Partnern und der Gemeinde oder Familie, die ihnen dient, unternommen<br />

werden, um eine Versöhnung im Einklang mit göttlichen Prinzipien für die<br />

391


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Wiederherstellung verletzter Beziehungen zu erreichen (Hosea 3,1-3;<br />

1.Korinther 7,10.11; 13, 4-7; Galater 6,1).<br />

5) Für eine zerbrochene Ehe ist die göttliche Gnade das einzige Heilmittel.<br />

Wenn die Ehe trotz aller Versuche zur Versöhnung misslingt, sollten beide<br />

Partner dazu ermutigt werden, ihre Erfahrungen zu überprüfen und die Gnade<br />

und das Erbarmen Gottes anzunehmen. Gott will ja diejenigen trösten,<br />

die verwundet sind. Gott nimmt ebenso die Reue von jenen an, die die<br />

zerstörerischsten Sünden begangen haben, selbst solche, die nicht wiedergutzumachende<br />

Konsequenzen mit sich bringen (2.Samuel 11,12; Psalm<br />

34,18; 86,5; Joel 2,12.13; Johannes 8,2-11; 1.Johannes 1,9).<br />

6) Gemeindemitglieder werden aufgerufen, zu vergeben und die anzunehmen,<br />

die Fehler begangen haben, weil Gott auch vergeben hat (Jesaja 54,5-8;<br />

Matthäus 6,14.15; Epheser 4,32). Die Bibel fordert zu Geduld, Mitleid und<br />

Vergebungsbereitschaft auf <strong>als</strong> christliche Fürsorge für jene, die Unrecht<br />

getan haben (Matthäus 18, 10-20; Galater 6, 1-2).<br />

7) Dadurch, dass Gott vergibt und heilt, ist die Möglichkeit eines Neuanfangs<br />

gegeben (Psalm 34,22; Jeremia 3,22; 31,17; Markus 5,1-20; Johannes 8,11;<br />

2.Korinther 5,17; 1.Johannes 1,9; siehe auch Selected Messages, Bd.2, S.<br />

339-340, engl.) 4<br />

8) Die Ehe spielt eine wesentliche gesellschaftliche Rolle unter Gläubigen und<br />

beinhaltet die Verantwortung eines Ehepaares gegenüber der Gemeinde und<br />

der Gemeinde gegenüber einem Ehepaar. Bei der Eheschließung bekennt<br />

sich das Paar zum adventistischen Glauben und akzeptiert damit auch die<br />

moralische Autorität seiner Gemeinde (1.Korinther 12; Epheser 4). Die<br />

Gemeinde <strong>als</strong> der Leib Christi, in dem sein Geist wohnt, ist dazu gerufen,<br />

eine Ehe zu bestätigen, zu segnen, zu nähren, zu erhalten und zu pflegen.<br />

Die Gemeinde hat die Verantwortung zu führen und hat die Autorität, die<br />

Grundsätze des Wortes Gottes in schwierigen und komplexen Fällen von<br />

Ehescheidung und Wiederheirat anzuwenden (Matthäus 16,19; 18,8; Johannes<br />

20,22.23; 1.Korinther 5,3-5; 6,1-6). Weiterhin hat sie die Verpflichtung,<br />

4 Ellen G. White wandte dieses Prinzip in ihrem eigenen Dienst bei einigen schwierigen Fällen<br />

von Ehescheidung und Wiederheirat an. Für weitere Hinweise siehe Elbio Peryra, Marriage,<br />

Divorce and Remarriage in the Writings of Ellen G. White, Ellen G.White Estate, Feb. 1987.<br />

392


ANHANG: GK STUDIENKOMMISSION<br />

durch Anwendung von erlösenden Maßnahmen und Seelsorge irrende Gemeindemitglieder<br />

in die Nachfolge Jesu zurückzuführen (Matthäus 18,15-<br />

20; Galater 6,1; Hebräer 12,7-12).<br />

Die Rolle der Gemeinde bezüglich Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat<br />

Weil die Ehe ein Teil Struktur der Gemeinschaft der Gläubigen ist, wird sie<br />

von der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten <strong>als</strong> eine primäre<br />

menschliche Beziehung hochgehalten, bejaht und unterstützt. Die Gemeinde<br />

erkennt die Herausforderungen an die Ehe in unserem Zeitalter und fühlt sich in<br />

ihrem Dienst für die Familien den biblischen Prinzipien verpflichtet. Es ist an<br />

erster Stelle die Ortsgemeinde, die verantwortlich für die Anwendung der Glaubensgrundsätze<br />

und Richtlinien der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-<br />

Adventisten in Bezug auf Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat ist. Wenn die<br />

Gemeinde den Ehen und Familien dient, sollte sie ihre Überzeugung hinsichtlich<br />

der biblischen Grundsätze auf praktische Weise folgendermaßen deutlich<br />

machen:<br />

1) Förderung des Wachstums in der Ehe<br />

Die Gemeinde bietet eine Reihe von Hilfen für Paare vor und in der Ehe an.<br />

Sabbatschule, Gottesdienste, verschiedene Gemeindeaktivitäten für jede Altersgruppe<br />

sowie das adventistische Schulsystem bieten Möglichkeiten zur<br />

Erziehung über Ehe- und Familienleben.<br />

a) Ehevorbereitung<br />

Alle Paare, die einen adventistischen Pastor zur Trauung wünschen, werden<br />

für die Ehe vorbereitet. Effektive Ehevorbereitung ist ein Prozess von mindestens<br />

12 Stunden Interaktion zwischen dem Pastor/ Berater und dem Paar.<br />

Gemeinsam erarbeiten sie die große Bandbreite der Beziehungsfragen, wobei<br />

der Pastor/Berater die Rolle eines Trainers übernimmt. Wenn im Laufe<br />

dieses Prozesses ernsthafte Probleme deutlich werden, sollte das Paar ermutigt<br />

werden, seinen Hochzeitstermin zu verschieben oder über die Entscheidung<br />

zum Heiraten noch einmal nachzudenken. Wenn der Pastor sich mit<br />

der Entscheidung zu heiraten unwohl fühlt, kann er die Trauung verweigern.<br />

b) Ehe-Unterricht und Bereicherung<br />

Die Gemeinde hilft Paaren, zusammen zu wachsen, die Ehe zu genießen<br />

und dem göttlichen Plan der Ehe zu entsprechen. Ehe-Unterricht und Ehe-<br />

393


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

394<br />

Bereicherung fördern Wachstum, indem dem Paar Gelegenheiten geboten<br />

werden, Intimität zu entwickeln und Fähigkeiten zur Bewältigung von Differenzen<br />

und Problemen/Krisen zu erlernen.<br />

c) Überweisung an Berater<br />

Die Gemeinde bemüht sich um gefährdete Paare, indem sie diese ermutigt,<br />

unterstützende Mittel in Anspruch zu nehmen. Die Gemeinde kultiviert angemessene<br />

geistliche Gaben, die hilfreich und heilend wirken. Sie weist<br />

auch auf professionelle Fachkräfte im Umfeld hin und überweist bei Bedarf.<br />

d) Bereicherung für Pastoren-Ehepaare<br />

Die Gemeinde ermutigt ihre Pastoren, den eigenen Familien Zeit zu widmen,<br />

schafft Möglichkeiten der Bereicherung für Pastoren-Ehen, sorgt bei<br />

Bedarf für anonyme Beratung und bietet berufsbegleitende Programme, die<br />

für den Dienst an Familien befähigen.<br />

2) Ermutigung zur ehelichen Versöhnung<br />

Die Gemeinde ermutigt Menschen in einer Ehekrise, ihre Differenzen zu klären<br />

und eine gesunde Ehe zu bauen. Sie sorgt für angemessene geistliche Begleitung<br />

und Unterstützung. Wenn Gewalt und Missbrauch vorliegen, muss besondere<br />

Fürsorge angewandt werden, um die Schwachen zu schützen, den Missbrauch<br />

zu stoppen und den Täter zur Verantwortung zu ziehen. In manchen<br />

Fällen von Gewalt und Missbrauch kann eine Aussöhnung nicht möglich sein.<br />

3) Hilfestellung nach dem Zusammenbruch der Ehe<br />

Trotz aller Bemühungen und Vorsorgemaßnahmen kann es sein, dass Paare ihre<br />

Ehe nicht aufrecht erhalten können. So ein Zusammenbruch ruft danach, dass<br />

die Gnade Gottes durch die Gemeinde sichtbar werden soll. Die Gemeinde fördert<br />

einen Heilungsdienst, der Genesung von der Ehescheidung für Erwachsene<br />

und Kinder anbietet, der Täter und Opfer von Gewalt und Missbrauch an professionelle<br />

Stellen überweist und der in den täglichen Bedürfnissen unterstützt.<br />

4) Hilfestellung für wiederverheiratete Paare<br />

Die Gemeinde bietet spezielle Ehevorbereitung für Leute an, die eine Wiederheirat<br />

in Betracht ziehen. Sie macht Angebote für Ehe-Bereicherung, die eingehen<br />

auf die speziellen Fragen von Wiederverheirateten und für Erziehung, zugeschnitten<br />

auf die Familien, deren Kinder durch Wiederverheiratung zusammengebracht<br />

werden.


ANHANG: GK STUDIENKOMMISSION<br />

5) Erhaltung der Integrität der Gemeinde und korrigierende Seelsorge<br />

Wenn die Gemeinde ihre Verantwortung ernst nimmt und vor der Welt die Gerechtigkeit<br />

und Gnade Gottes reflektiert, sorgt sie für das Wohlergehen ihrer<br />

Mitglieder und schützt deren Ansehen. Das Verhalten jedes Gemeindemitgliedes<br />

wirkt sich auf die ganze Umgebung aus. Genauso hat das Verhalten der<br />

Gemeinde Auswirkungen auf jedes Mitglied. Die Gemeinde <strong>als</strong> eine anbetende<br />

und bezeugende Gruppe hat die Verantwortung, die Grundsätze des Wortes<br />

Gottes zu lehren und anzuwenden. So baut und unterstützt, tröstet, lehrt und<br />

korrigiert sie. In Bezug auf jedes Mitglied sieht die Gemeinde <strong>als</strong> Sinn und Ziel<br />

der korrigierenden Seelsorge die Wiederherstellung der Person zu treuer Nachfolge<br />

und Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde. Korrigierende Seelsorge ist<br />

auch eine Möglichkeit der Gemeinde, um ihre Treue zu biblischen Grundsätzen<br />

zu bestärken und zu bekunden.<br />

a) Wenn Ehescheidung stattfindet<br />

Um ihre Mitglieder bei einer Ehescheidung zu schützen, muss die Gemeinde<br />

das Ansehen und Privatsphäre der Partner und aller unmittelbar von der<br />

Ehescheidung Betroffenen hüten. Die Gemeinde streckt ihre Hände aus zu<br />

allen, die durch den Ehescheidungsprozess gehen und ermutigt sie, in der<br />

Gemeinschaft der Gläubigen zu bleiben. Die Gemeinde macht außerdem die<br />

Sicherheit und das Wohlergehen von Kindern zu ihrer ersten Priorität. Sie<br />

ermutigt die Eltern, die Bedürfnisse ihrer Kinder über den eigenen Interessen<br />

und Wünsche zu stellen. Sie macht die Eltern verantwortlich für die<br />

Verpflichtungen ihren Kindern gegenüber, einschließlich finanzieller Pflichten.<br />

Geschiedenen wird geraten, sich genügend Zeit zu nehmen - für gewöhnlich<br />

einige Jahre - um die Ursachen für das Scheitern ihrer Ehe anzusprechen,<br />

um die Verantwortung für ihren Anteil am Zusammenbruch der<br />

Ehe zu übernehmen, um den Prozess der Heilung und Vergebung zu durchlaufen<br />

und um schließlich einen Abschluss zu finden.<br />

Um die Glaubensgemeinde bei einem Ehescheidungsfall zu schützen, bemüht<br />

sich die Gemeinde, das zerreißende und auf Trennung abzielende<br />

Verhalten, das oft mit der Ehescheidung einhergeht, zu vermindern. Um der<br />

Seelsorge willen mag die Gemeinde entscheiden, dass die, die sich im Ehescheidungs-Genesungsprozess<br />

befinden, nicht in führenden Ämtern tätig<br />

sind. Wenn Einzelne nach Meinung der Gemeinde keine Reue zeigen, wenig<br />

bzw. keine Anstrengungen für die Unterstützung ihrer Familie machen,<br />

die Gemeinde in Verruf bringen oder in anderer Weise die obigen Richtli-<br />

395


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

396<br />

nien nicht akzeptieren, mag die Gemeindeversammlung sie unter Bedauern<br />

korrigierender Seelsorge unterstellen. Diese korrigierende Seelsorge kann<br />

aus einer befristeten Entfernung aus einem Gemeindeamt, aus Gemeindezucht<br />

oder Gemeindeausschluss bestehen.<br />

b) Überlegungen bezüglich der Wiederheirat<br />

Bevor die Betroffenen damit beschäftigt sind, eine neue ernsthafte Beziehung<br />

einzugehen, sollten sie ermutigt werden, den vorgenannten Heilungsprozess<br />

zu durchlaufen. Wenn über Wiederheirat nachgedacht wird, bietet<br />

die Ortsgemeinde Beratung an. Sie unterstützt die Entscheidung, wenn sie<br />

mit biblischen Grundsätzen übereinstimmt. Jene, deren Wiederheirat nicht<br />

im Einklang mit biblischen Grundsätzen steht, sollten unter korrigierende<br />

Seelsorge gestellt werden.<br />

Empfehlungen<br />

Die folgenden Empfehlungen ergeben sich aus dem Kapitel über „Biblische<br />

Prinzipien“ des Berichtes der Studienkommission „Ehescheidung und Wiederheirat“<br />

der Generalkonferenz. (Sie stellen praktische Antworten auf ganz reale<br />

Situationen im Leben vieler Gemeindemitglieder und auf Herausforderungen an<br />

die Gemeinden dar.)<br />

Eine Zusammenstellung der passenden Schriftstellen und Prinzipien, die eine<br />

christliche Antwort auf das Thema Ehescheidung und Wiederheirat untermauern<br />

sollen, ist keine einfache Aufgabe. Es bedarf weiteren Studiums. Dennoch<br />

erfordert die Dringlichkeit der Umstände die zur Zeit bestmögliche Antwort der<br />

Gemeinschaft. Aufgrund der Studie der Kommission „Ehescheidung und Wiederheirat“,<br />

die ihre Erkenntnisse aus der Bibel und dem Schrifttum von E.G.<br />

White gewonnen hat, wird<br />

empfohlen,<br />

1) das Kapitel des Gemeindehandbuches "Ehescheidung und Wiederheirat“<br />

umzubenennen in "Ehe, Ehescheidung und Wiederheirat“ und hierin die<br />

biblischen Prinzipien der Ehe aufzunehmen;<br />

2) im Gemeindehandbuch Richtlinien für die Ortsgemeinden aufzunehmen,<br />

durch die Paare vor der Ehe, in der Ehe, bei Zerbruch einer Ehe und bei<br />

Wiederheirat unterstützt werden;


ANHANG: GK STUDIENKOMMISSION<br />

3) im Gemeindehandbuch beim Thema „Ehescheidung und Wiederheirat“ darauf<br />

hinzuweisen, dass das zweifache Ziel der korrigierenden Seelsorge darin<br />

besteht, zu retten und zu korrigieren. Angemessene Korrektur hat nichts mit<br />

Strafe zu tun;<br />

4) auf die Verwendung einer seelsorgerlichen (ausgleichenden) Ausdrucksweise<br />

im Gemeindehandbuch zu achten, wo es um Ehescheidung und Wiederheirat<br />

geht. Weil es in vielen Fällen nicht möglich ist, leicht oder exakt festzustellen,<br />

welches oder wessen Verhalten zum Zusammenbruch der Ehe geführt<br />

hat, ist eine seelsorgerliche (ausgleichende) Ausdrucksweise eher angebracht<br />

<strong>als</strong> eine Sprache, die richtet, verurteilt oder Personen <strong>als</strong> „schuldig<br />

oder unschuldig“ etikettiert. Solche Ausdrücke schaffen oft Barrieren, die<br />

Menschen daran hindern, ihre Differenzen untereinander oder mit der Gemeinde<br />

der Gläubigen zu klären. Seelsorgerliche (ausgleichende) Sprache<br />

schließt nicht aus, dass Einzelne oder Paare zur Verantwortung gezogen<br />

werden und dass diejenigen unter korrigierende Seelsorge gestellt werden,<br />

deren Verhalten eindeutig den Ehebund verletzt und die eheliche Beziehung<br />

zerstört;<br />

5) den zweiten Satz von Punkt 8 auf Seite 183 des Gemeindehandbuchs genau<br />

so neu zu formulieren, dass daraus keine Schlussfolgerung für die Möglichkeit<br />

eines fortdauernden Ehebruchs gezogen werden kann, wofür die Kommission<br />

weder in der Bibel noch bei E.G.White Unterstützung gefunden hat;<br />

6) in Kapitel 15 des Gemeindehandbuchs den Ausdruck „korrigierende Seelsorge“<br />

<strong>als</strong> übergeordneten Begriff zu wählen, wenn „Ausschluss aus der<br />

Gemeinde“ vorgesehen ist. Der Ausdruck „korrigierende Seelsorge“<br />

schließt die Möglichkeiten Ausschluss, Missbilligung und/oder eine vorübergehende<br />

Enthebung aus dem Amt ein;<br />

7) den Begriff „der schuldige Teil“ (Gemeindehandbuch, Thema „Our Position“,<br />

Seite 182, Nr. 2, Ende des zweiten Absatzes) zu ersetzen durch „alle<br />

Beteiligten“, so dass es heißt „Die Gemeinde wird aufgefordert, mit den Beteiligten<br />

liebevoll und ausgleichend umzugehen“;<br />

8) einen Absatz <strong>als</strong> zweiten Absatz in das Gemeindehandbuch, „Our Position“,<br />

S. 182, Nr. 3 hinzuzufügen mit dem Ziel, dass Pastoren und Gemeindeleiter,<br />

397


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

die mit sensiblen Informationen zu tun haben, bei Offenlegung sehr diskret<br />

damit umgehen sollten;<br />

9) den folgenden Satz <strong>als</strong> zweiten Satz in das Gemeindehandbuch, „Our Position“,<br />

Seite 183, Nr. 8, hinzuzufügen: „Darum könnten die Möglichkeiten<br />

für den Einsichtigen eng begrenzt sein. Seine/ihre Bitte um Wiederaufnahme<br />

<strong>als</strong> reguläres Gemeindemitglied soll erwogen werden, nachdem eine angemessene<br />

Beratung stattgefunden hat, an welcher der Pastor und der Gemeindeausschuss<br />

beteiligt sind, und, wenn nötig, auch ein Ausschuss, der<br />

für solche Fälle von der Vereinigung vorgesehen wurde“;<br />

10) im Gemeindehandbuch „Our Position“, Seite 182 und 183, Nr. 4, durch folgenden<br />

Absatz zu ersetzen: „Der Ehepartner, dessen zugegebener Akt der<br />

Untreue gegenüber dem Ehegelübte zum Zusammenbruch der Ehe geführt<br />

hat, soll der korrigierenden Seelsorge unterzogen werden. Die Ortsgemeinde<br />

soll die Art und Weise der Korrektur bestimmen und dem Betroffenen<br />

die Gründe und das Ziel der Maßnahmen erklären. Nach dem Ermessen der<br />

Gemeinde kann diese Maßnahme für einen bestimmten Zeitraum festgesetzt<br />

sein. Während der Dauer der korrigierenden Seelsorge soll die Gemeinde<br />

<strong>als</strong> Instrument des Auftrags Gottes jede Anstrengung unternehmen, um dem<br />

Betroffenen fürsorglich und geistlich zur Seite zu stehen“;<br />

11) sexuellen Missbrauch in das Verständnis der Gemeinde von porneia hinzuzufügen<br />

(Gemeindehandbuch, Seite 182, Nr. 2, über „Unzucht“ und „sexuelle<br />

Irrwege“). (Siehe „Biblische Prinzipien bezüglich Ehescheidung und<br />

Wiederheirat“ Punkt 2);<br />

12) körperliche Gewalt in der Ehe <strong>als</strong> Untreue gegenüber dem Ehegelübde zu<br />

betrachten (Siehe „Biblische Prinzipien bezüglich Ehescheidung und Wiederheirat“<br />

Punkt 3);<br />

13) das Verlassen des Ehepartners <strong>als</strong> Untreue gegen das Ehegelübde zu kennzeichnen<br />

(Siehe „Biblische Prinzipien bezüglich Ehescheidung und Wiederheirat“<br />

Punkt 2).<br />

398


The Pioneer Memorial Church, Andrews University, Berrien Springs,<br />

Michigan, USA:<br />

Richtlinien bei Scheidung und Wiederverheiratung<br />

Diese Richtlinien begleiten und informieren für den Dienst an Mitgliedern<br />

der „Pioneer Memorial Church“ 1<br />

Die Ehe war Teil der göttlichen Schöpfungsordnung (1.Mose 1,27; 2,18-24),<br />

durch die eine „ein Fleisch“-Beziehung (1.Mose 2,24) aufgebaut wurde, und<br />

Jesus erklärte, dass man sie nicht scheiden dürfe (Markus 10,9). Doch in einer<br />

gefallenen Welt, in der es schwache Menschen nicht schaffen, dem göttlichen<br />

Ideal entsprechend zu leben (Römer 3,23), wird die Ehe-Beziehung manchmal<br />

im Wesen zerstört und dann äußerlich aufgelöst.<br />

Das Gesetz des Mose stellte <strong>als</strong> Konzession an die menschliche Schwäche<br />

fest, dass eine Ehe scheitern kann und versuchte, die Folgen dieses Versagens<br />

zu lindern (5.Mose 24,1-4), obwohl Jesus betont, dass dieses Gesetz nur wegen<br />

des menschlichen Abweichens von Gottes ursprünglichem Plan existierte<br />

(Markus 10,5.6).<br />

Paulus wiederholt die Lehre des Herrn, dass es Scheidung nicht geben sollte<br />

(1.Kor. 7,10.11), und er fügt widerstrebend hinzu, dass Trennung und Scheidung<br />

nicht immer vermieden werden kann, weil eine Weiterführung der Ehe<br />

von der Zustimmung beider Partner abhängig ist. In solchen Fällen ist ein<br />

Gläubiger „nicht gebunden“ und sollte in Frieden leben dürfen (1.Korinther<br />

7,12-15). Ein Ehepartner, der gehen möchte, kann nicht gezwungen werden zu<br />

bleiben.<br />

Das göttliche Schöpfungsideal ist nicht das einzige Wort an die Menschheit,<br />

denn sonst wären die Sünder ohne Hoffnung. Zu den Sündern spricht Gott<br />

Worte des Heils, um ihnen den Weg zur Buße, Rückkehr und zum Neubeginn<br />

zu öffnen. Verdammung braucht nicht für immer zu gelten (Johannes 3,17).<br />

Erlösung in Christus Jesus ermöglicht eine neue Schöpfung (2.Korinther 5,17).<br />

Unser Herr hat der Gemeinde die Autorität zum Binden und Lösen gegeben<br />

(Matthäus 18,18), und die Sprache des Bindens und Lösens bezieht sich auf<br />

die Ehe (1.Korinther 7,15.27.39; Römer 7,2).<br />

1<br />

Sie sind auf die Schrift gegründet, im Gebet durchdacht, in Liebe geschrieben und von der<br />

Gemeinde durch Abstimmung angenommen worden.<br />

399


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die Gemeinde hat daher die Verantwortung, ihre Mitglieder darin zu unterstützen,<br />

Gottes Ideal anzustreben, und, wenn das nicht geht, sie zu heilen und<br />

wiederherzustellen. Den Zerbrochenen verkündigt die Gemeinde Gottes die<br />

Vergebung. Doch damit ihre Interventionen nicht launenhaft und widersprüchlich<br />

oder zu hart oder zu nachgiebig sind, werden hiermit einige Richtlinien<br />

festgelegt. Diese Prinzipien und Richtlinien werden einzelne Mitglieder aufbauen<br />

und diejenigen unterstützen, die für die Durchführung des Willens der<br />

Gemeinde verantwortlich sind.<br />

1. DIE DAUERHAFTIGKEIT DER EHE<br />

Eine christliche Ehe ist eine exklusive Beziehung und eine lebenslange Verpflichtung<br />

zwischen einem Mann und einer Frau. Um ihretwillen, um ihrer<br />

Kinder willen und um der Gemeinde willen möchte der Herr, dass sie bis zum<br />

Tode miteinander verbunden bleiben. Gott hasst Scheidung (Markus 10,2-9;<br />

Matthäus 5,32; 19,3-10; Lukas 16,18; 1.Korinther 7,10.11; Römer 7,2; Maleachi<br />

2,16).<br />

2. DER TATBESTAND VON SCHEIDUNGEN<br />

Die Zerrüttung und der abgefallene Zustand der Menschheit wirkt sich auch<br />

auf die Gläubigen aus. Manchmal erzeugt aus verschiedenen Gründen auch die<br />

Ehe von Gläubigen so viel Leid für die Partner, dass sie auseinander bricht und<br />

stirbt. Scheidung hinterlässt bei allen Beteiligten Wunden: den früheren Partnern,<br />

ihren Kindern, ihren Eltern und der Gemeinde. Die Einrichtung „Familie“<br />

ist geschwächt und die Gesellschaft beschädigt.<br />

Die Schrift anerkennt die traurige Tatsache, dass Ehen zerbrechen und<br />

Scheidungen passieren und hat deshalb Prinzipien festgelegt, die helfen sollen,<br />

die schlimmsten Auswirkungen dieser schrecklichen Realität zu mindern. Die<br />

Schrift definiert Ehebruch und das Verlassen des Partners <strong>als</strong> Situation, unter<br />

denen Scheidung zugelassen wird. Sogar der Herr dachte über die Scheidung<br />

von seiner Partnerin, Israel, nach (5.Mose 24,1-4; Jeremia 3,8; Matthäus 5,32;<br />

1.Korinther 7,15).<br />

3. VERANTWORTUNG UND ROLLE DER GEMEINDE<br />

Weil Gott sich für das Wohlergehen der Gemeinde und ihrer Mitglieder verantwortlich<br />

fühlt und die Mitglieder wiederum das Wohlergehen der Gemein-<br />

400


ANHANG: PMC RICHTLINIEN<br />

de beeinflussen, zu der sie gehören, tragen alle eine gemeinsame Verantwortung.<br />

Wie bei Mitgliedern in einer Familie darf ein Einzelner nicht die Verantwortung<br />

außer Acht lassen, die sich durch die Beziehungen ergibt, die ihn<br />

oder sie an die anderen in der Familie binden. Weil das Leiden von einem das<br />

Leiden aller ist, hat die Gemeinde fraglos die Verantwortung, sich angemessen<br />

für das Wohlergehen ihrer Mitglieder zu interessieren und sich einzubringen,<br />

besonders, wenn es um das Wohlergehen der Ehe geht.<br />

4. AUTORITÄT DER GEMEINDE<br />

Das Neue Testament nimmt manchmal auf Ehe und Scheidung Bezug, indem<br />

es von gebunden und gelöst spricht (Römer 7,1; 1.Korinther 7,15.27). Der<br />

christlichen Gemeinde ist die Autorität zum Binden und Lösen übertragen<br />

worden (Matthäus 18,18).<br />

Letztendlich muss die Gemeinde mit einem behutsamen Verständnis an Gottes<br />

Wort herangehen, unter der Führung des Heiligen Geistes, und muss die<br />

Rechtmäßigkeit der Gründe für Scheidung und Wiederheirat aus Gottes Sicht<br />

beurteilen. Diese Entscheidung wird nicht einfach durch die beteiligten Parteien<br />

oder die Rechtsvertreter des Staates getroffen. Mitglieder der „Pioneer-<br />

Familie“ sollten nicht Ehe, Scheidung oder Wiederheirat bedenken, ohne den<br />

Rat, die Führung und den Segen der Gemeinde einzuholen, die sich von ganzem<br />

Herzen das geistliche, gefühlsmäßige und materielle Wohlergehen aller<br />

ihrer Mitglieder wünscht.<br />

Dementsprechend hat die Gemeinde mit Recht einige besondere Erwartungen<br />

bezüglich Scheidung und Wiederheirat. Diese Erwartungen werden <strong>als</strong><br />

faire und verlässliche Äußerung der Gemeinde dargelegt und sollen zeigen,<br />

dass sie alle Mitglieder in dieser lebenswichtigen Angelegenheit liebevoll berät<br />

und führt.<br />

5. DIE ERWARTUNGEN DER GEMEINDE<br />

Erwartungen vor einer Heirat<br />

- Außer unter sehr ungewöhnlichen Umständen sollen die Brautleute mindestens<br />

3 Monate vor der Trauung ein Eheberatungsgespräch und ein Gespräch<br />

über die Trauung mit dem Pastor, der die Trauung durchführt, einplanen.<br />

401


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

- In der Zeit zwischen der Verlobung und der Trauung sollen die Brautleute<br />

sorgfältig und systematisch ihr zukünftiges Leben miteinander planen und<br />

die Möglichkeiten der Führung und Unterweisung nutzen, die die Gemeinde<br />

bereitstellt. Der Pastor, der die Trauung durchführt, ist dafür verantwortlich,<br />

dass diese Vorbereitung angemessen stattgefunden hat.<br />

- Sexuelle Intimitäten oder Zusammenleben werden für die Ehe reserviert.<br />

Solche Intimität vor der Ehe wird durch die Schrift und die christlichen<br />

Prinzipien verboten, weil sie die Aussicht auf eine erfolgreiche Ehe zerstören.<br />

Erwartungen an verheiratete Paare<br />

- Verheiratete Mitglieder werden auf die Art ihrer Liebe zu ihren Ehepartnern<br />

achten und lernen, sie immer weiter durch Fürsorge, Gespräche und<br />

Vertrauen auszudrücken. Die Gemeinde, repräsentiert durch qualifizierte<br />

Pastoren, Lehrer und Ratgeber, wird Führung durch Predigten, Gruppendiskussionen,<br />

Workshops und Beratung anbieten.<br />

- Wenn ernsthafte Schwierigkeiten in einer Ehe auftreten, sollten die Ehepartner<br />

um Hilfe durch einen qualifizierten Pastor, Berater oder durch das<br />

Eheberatungsteam der Pioneer-Memorial-Gemeinde nachsuchen. Die Lösung<br />

ihrer Probleme und der Erhalt ihrer Ehe wird das wichtigste Anliegen<br />

sein.<br />

- Wenn Probleme trotz der Beratung weiterbestehen, sollte sich jeder Ehepartner<br />

mit einem Pastor, Berater oder dem Eheberatungsteam der Gemeinde<br />

beraten. Das Eheberatungsteam zusammen mit dem Pastor wird<br />

jede Mühe auf sich nehmen, um dem Paar zu helfen, seine Ehe zu retten.<br />

- Der Pioneer-Memorial-Gemeinde liegen ihre Mitglieder so sehr am Herzen,<br />

dass sie keine Initiative für eine Trennung oder Scheidung akzeptiert,<br />

falls die Gemeinde nicht sicher ist, dass keine Mühe gescheut wurde, um<br />

die Eheprobleme bewusst, direkt und ideenreich anzusprechen. Die letzte<br />

Entscheidung liegt sicher bei dem Ehepaar, um jedoch in einer guten Beziehung<br />

zur Gemeinde zu bleiben, brauchen sie die ausdrückliche Genehmigung<br />

derjenigen, denen die Gemeinde die Autorität übertragen hat, eine<br />

solche Genehmigung zu erteilen.<br />

402


ANHANG: PMC RICHTLINIEN<br />

Erwartungen bei Entfremdungszeiten in der Ehe<br />

Der Sinn dieser Erwartungen ist, den Schaden, der durch die Trennung und<br />

Scheidung auf das Ehepaar, ihre Kinder, die Gemeinde und die Gesellschaft<br />

zukommt, so weit wie möglich zu begrenzen.<br />

Es ist der Wunsch und das Gebet der Gemeinde, dass unter dem verändernden<br />

und heiligenden Einfluss des Heiligen Geistes Ehepaare, die getrennt sind oder<br />

sogar geschieden wurden, sich doch versöhnen und Gott verherrlichen <strong>als</strong> liebevolles,<br />

sorgendes Paar. Die Gemeinde erkennt allerdings auch an, dass es<br />

Fälle geben kann, bei dem ein verhärteter oder verschlossener Geist diese<br />

Möglichkeit ausschließt.<br />

- Während der Trennung und Scheidung sollten die Ehepartner alles in ihrer<br />

Macht stehende tun, um die Sicherheit des Heims und der Familie für jedes<br />

beteiligte Kind sicherzustellen. Sie müssen verstehen, dass die materielle<br />

und emotionale Sicherheit der Kinder wichtiger ist <strong>als</strong> ihre eigenen Wünsche<br />

und ihr eigenes Wohlergehen.<br />

- Jeder frühere Ehepartner muss den Ruf des anderen schützen. Trotz verwundeter<br />

Gefühle muss jeder Nachsicht aufbringen, um Bitterkeit und unnötigen<br />

Zank zu vermeiden und die Würde der beteiligten Personen, ihrer<br />

Familien und der Gemeinde zu schützen. Sie dürfen tatsächliche<br />

oder angenommene Fehler der anderen nicht mit Personen diskutieren, die<br />

nicht Teil des Problems oder der Lösung des Problems sind.<br />

- Im Geiste der Bergpredigt sollen sie sich um Gerechtigkeit, Redlichkeit<br />

und Großmut bemühen, wenn sie zu einer Übereinkunft kommen und ihre<br />

Rechte und ihr Eigentum aufteilen wollen. Sie sollen sich an alle Versprechen<br />

halten und alle rechtlichen Erfordernisse des Scheidungsverfahrens<br />

erfüllen.<br />

- Die Ehepartner sollen von Rendezvous Abstand nehmen, bis die Scheidung<br />

endgültig ist; ihr Blick und ihre Aufmerksamkeit soll sich auf die<br />

zerbrechende Ehe konzentrieren. Mitgläubige sollten nicht zum Aufbau<br />

anderer Beziehungen in dieser Zeit ermuntern.<br />

- Während der Trennung sollen die Ehepartner einen zölibatären Lebensstil<br />

führen.<br />

Erwartungen an die Scheidungspartner in Bezug auf das Gemeindeleben<br />

Die Gemeinde ermuntert Mitglieder, die den Schmerz einer Scheidung<br />

durchleiden, sich am Leben und der Gemeinschaft der Gemeinde zu beteiligen.<br />

403


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Der Anstand erfordert, sich Zeit für die Heilung zu nehmen und gewisse Begrenzungen<br />

anzuerkennen:<br />

- Eine Person, die Beratung durch die Gemeinde erfährt, sollte diese Beratung<br />

annehmen, ohne auf Gemeinde-Präzedenzfälle oder angenommene<br />

Ungereimtheiten in der Gemeinde zu verweisen.<br />

- Um das Zeugnis der Gemeinde in Bezug auf die Heiligkeit der Ehe zu<br />

schützen, sollte jemand, der eine Scheidung anstrebt oder sich immer<br />

noch von einer Scheidung erholt, gebeten werden, nicht <strong>als</strong> offizieller<br />

Vertreter der Gemeinde zu fungieren, indem er gewisse Gemeindeämter<br />

ausübt.<br />

- Bis die Genesung von einer Scheidung vollständig ist, was durch diejenigen<br />

entschieden werden soll, die von der Gemeinde dazu beauftragt<br />

worden sind, die früheren Ehepartner zu begleiten, sollten die Geschiedenen<br />

nicht danach trachten, ihren Gemeindebrief zu einer anderen Gemeinde<br />

schicken zu lassen. Wenn einer oder beide in einen entfernten<br />

Ort ziehen, wird der Pastor oder ein Vertreter der Pioneer-Gemeinde<br />

Kontakt mit dem Ortsprediger aufnehmen und sie werden miteinander<br />

entscheiden, wer am besten dazu geeignet ist, die Genesung des Gemeindemitgliedes<br />

am neuen Ort zu begleiten und zu fördern. Diese Person<br />

wird dann entscheiden, wann der Vorgang abgeschlossen ist und wann<br />

das Gemeindeglied formal überwiesen werden kann.<br />

- Bis die Gemeinde oder ihre beauftragten Vertreter entscheiden, dass die<br />

Genesung zufriedenstellend abgeschlossen ist, soll keiner der Geschiedenen<br />

eine neue Liebesbeziehung aufnehmen oder ohne die Zustimmung<br />

der Gemeinde wieder heiraten.<br />

- Wenn in der Beurteilung der Gemeinde ein Gemeindemitglied es nachhaltig<br />

ablehnt, diese Richtlinien zu akzeptieren, wird sie/er bedauerlicherweise<br />

unter korrigierende Seelsorge gestellt, einschließlich der Möglichkeit<br />

des Ausschlusses.<br />

6. PROZESS DER HEILUNG UND WIEDERHERSTELLUNG<br />

Die Gemeinde wird für den Prozess der Heilung und Genesung Hilfe "verschreiben".<br />

Diese Hilfe besteht normalerweise aus fachlicher oder pastoraler<br />

Beratung und Teilnahme an einer Scheidungs-Selbsthilfegruppe. Dies Verfahren<br />

versucht die folgenden Ziele zu erreichen:<br />

- eine positive Beziehung zur Gemeinde<br />

- eine positive Beziehung zur Beratung<br />

404


ANHANG: PMC RICHTLINIEN<br />

- einen Geist der Vergebung<br />

- eine positive Beziehung zu den beteiligten Kindern<br />

- eine eindeutige Anerkennung der eigenen persönlichen Beteiligung am<br />

Zerfall der Beziehung.<br />

7. ZEIT FÜR DEN ABSCHLUSS<br />

Die Erfahrung hat gezeigt, dass der Vorgang der Heilung und Wiederherstellung<br />

nach einer Scheidung viel Zeit erfordert, oft sogar Jahre. Bis zu einem<br />

gewissen Grad ist dieser Vorgang nie abgeschlossen, denn mancher Schaden<br />

bleibt für immer bestehen.<br />

Der Pastor muss in Absprache mit dem Ehe-Dienst entscheiden, ob genügend<br />

Zeit vergangen und eine Heilung deutlich ist, bevor jemand, der durch<br />

eine Scheidung gegangen ist, an eine Wiederheirat denkt. Obwohl es richtig<br />

ist, dass man im Letzten vor Gott verantwortlich ist, ist es auch wahr, dass eine<br />

gegenseitige Verantwortung zwischen dem Gemeindemitglied und der Gemeinde<br />

besteht. Die Führung durch die Gemeinde muss gesucht und befolgt<br />

werden. Was die Gemeinde auf Erden löst, soll auch im Himmel los sein. Die<br />

Gemeinde wird diese schwere Verantwortung in bewusster Weise in Übereinstimmung<br />

mit den Richtlinien und Prinzipien wahrnehmen, wie sie hier niedergelegt<br />

sind und darf sich nicht scheuen, den Abschluss zu verkünden, wenn<br />

die richtige Zeit gekommen ist.<br />

8. ABSCHLUSS<br />

Ausreichende Wiederherstellung braucht Zeit und sollte zu einem Abschluss<br />

führen. Ein Abschluss findet nach Ansicht der Gemeinde statt, wenn die Person,<br />

die durch eine Scheidung gegangen ist, Heilung erfahren hat und wenn<br />

die Gemeinde diese Heilung bestätigt. Untersuchungen und die Erfahrung haben<br />

gezeigt, dass mindestens ein Jahr, vorzugsweise zwei Jahre oder mehr für<br />

eine ausreichende Heilung erforderlich sind. Die Pioneer-Memorial-Gemeinde<br />

wird die offizielle Anerkennung des Abschlusses für ihre Mitglieder in Gegenwart<br />

derjenigen, die den Heilungsprozess durchgemacht haben, autorisieren.<br />

Ein formaler Vermerk des Abschlusses wird vom Gemeindeschreiber in<br />

den Akten abgelegt.<br />

405


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

9. NACH DEM ABSCHLUSS<br />

Nachdem der Abschluss offiziell anerkannt worden ist, werden alle Begrenzungen<br />

für das Leben in der Gemeinde (wie oben ausgeführt) aufgehoben und<br />

die Person wird für berechtigt erklärt, eine Wiederheirat einzugehen, allerdings<br />

unter derselben Führung wie bei jedem anderen Gemeindeglied, das<br />

heiraten will.<br />

Damit bringt die Gemeinde ihr Zeugnis sowohl mit Festigkeit wie auch mit<br />

Barmherzigkeit zum Ausdruck und versucht, die Heiligkeit der Ehe, den Erhalt<br />

von Familien und der Gesellschaft und das Wohlergehen der einzelnen Mitglieder<br />

zu bewahren. Sie hält ein hohes Ideal aufrecht, doch tut sie es in Barmherzigkeit.<br />

Sie verkündet Gottes Willen, doch auch die Sicherheit seiner Vergebung.<br />

Die Gemeinde anerkennt, dass Gott um die menschliche Schwachheit<br />

weiß. Sie versucht zuerst, zerbrochene Familien wieder ganz zu machen, doch<br />

wenn das nicht erfolgreich ist, versucht sie zerbrochene Menschen zu heilen.<br />

In all diesem sucht die Gemeinde Gottes Willen zu tun, indem sie ihre Mitglieder<br />

im Ganzen heil macht.<br />

406


The Loma Linda University Church of Seventh-day Adventists,<br />

California, USA, August 1989:<br />

Richtlinien über Ehe, Ehescheidung und den<br />

Heilungsprozess nach einer Scheidung<br />

Der Universitätsgemeinde ist die Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe ein<br />

wichtiges Anliegen. Es ist außerdem ihr aufrichtiger Wunsch, sowohl ein moralisch<br />

einwandfreies Leben <strong>als</strong> auch die persönliche Erfüllung in der Ehe zu fördern.<br />

Aus diesen Gründen hat die Gemeinde die folgenden Richtlinien bezüglich<br />

Ehe, Ehescheidung und den Heilungsprozess danach entwickelt.<br />

Diese Richtlinien drücken die Verpflichtung der Gemeindemitglieder aus,<br />

sich persönlich - einschließlich ihrer Zeit, ihrer Fürsorge und ihres Einsatzes -<br />

für gesunde eheliche Beziehungen uneingeschränkt einzubringen. Wir sind bereit<br />

dies zu tun, weil wir erkennen, dass starke, stabile und dauerhafte Ehen für<br />

unser persönliches und unser gemeindliches geistliches Wohlergehen unerlässlich<br />

sind.<br />

Ehevorbereitung<br />

Die Pastoren der Universitätsgemeinde führen Hochzeiten nur dann durch,<br />

wenn die Heiratswilligen die Ehe ernst genug nehmen, um langfristige Pläne zu<br />

legen und Vorbereitungen zu treffen. Dazu gehört, dass die Braut und der<br />

Bräutigam mindestens drei Monate vor ihrem gewünschten Hochzeitstermin<br />

mit dem Pastor in Verbindung treten, von dem sie gern getraut werden möchten.<br />

Während dieser Zeit sollen sie sich sorgfältig und intensiv auf ihr zukünftiges<br />

gemeinsames Leben vorbereiten.<br />

Gemeindemitglieder, die sich auf die Ehe vorbereiten, haben <strong>als</strong> Möglichkeiten<br />

die persönliche Beratung durch einen Pastor, Seelsorger oder Therapeuten<br />

und Ehevorbereitungskurse, die von der Gemeinde und der Loma Linda Universität<br />

gefördert werden.<br />

Die Unauflöslichkeit der Ehe<br />

Durch die Pastoren bringt die Gemeinde den Gemeindemitgliedern das biblische<br />

Ideal der Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe nahe. Dieses Ideal ist für<br />

407


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

alle gleich wichtig, ob sie alleinstehend, verheiratet oder geschieden sind. Eine<br />

christliche Ehe ist die uneingeschränkte und lebenslange Entscheidung einer<br />

Frau und eines Mannes füreinander - egal, ob die Hochzeit eine religiöse oder<br />

eine nur standesamtliche Form hatte. Durch Predigten, Seminare, Workshops,<br />

schriftliches Material und andere Hilfsmittel gibt die Gemeinde allen Mitgliedern<br />

Unterstützung und Hilfestellung an die Hand, um glückliche und erfolgreiche<br />

Ehen zu führen.<br />

Der Ausschuss für Ehe-Seelsorge und den Heilungsprozess nach einer<br />

Scheidung<br />

Der Ausschuss für Ehe-Seelsorge und den Heilungsprozess nach einer Scheidung<br />

besteht aus Personen, die aufgrund von Erfahrung oder Ausbildung die<br />

Qualifikation haben, diese Aufgabe zu erfüllen. Sie werden im Rahmen der<br />

Gemeindewahlen von der Gemeinde für einen Zeitraum von zwei oder mehr<br />

Jahren gewählt.<br />

Die Aufgabe des Ausschusses ist es, die Pastoren und andere Personen mit beratender<br />

Funktion zu einer konsequenten Anwendung der Richtlinien zu ermutigen.<br />

Nach einer Scheidung wird die Empfehlung des Pastors oder Seelsorgers,<br />

den Heilungsprozess <strong>als</strong> abgeschlossen anzusehen (siehe Absatz 9), von dem<br />

Ausschuss entgegengenommen und gegebenenfalls bestätigt.<br />

Ein Ehegelöbnis<br />

Die verheirateten Mitglieder der Universitätsgemeinde werden hiermit ermutigt,<br />

das folgende Ehe-Gelöbnis abzulegen. Es stellt ein Bekenntnis zur Heiligkeit<br />

und Unauflöslichkeit der Ehe dar. Die Auflösung einer Ehe sowie jeder<br />

Schritt in diese Richtung wird <strong>als</strong> ein Abweichen von diesem Bekenntnis angesehen.<br />

Dieses Gelöbnis drückt auch die Bereitschaft aus, die Vorgangsweise zu<br />

akzeptieren und aktiv zu unterstützen, mit der die Gemeinde auf besondere<br />

Probleme eingeht.<br />

Wir werden auf die Qualität unserer Liebe zueinander achten, die sich in Fürsorge,<br />

Kommunikation und Vertrauen ausdrückt. Wir werden diese Qualitäten<br />

aktiv weiterentwickeln und danach streben, unsere eigenen Interessen zugunsten<br />

unseres Partners zurückzustellen.<br />

Wir werden oft mit unseren Freunden über das Thema Ehe sprechen und<br />

werden gemeinsam danach trachten, dass unsere Beziehung gestärkt wird und<br />

wächst. Wenn jemand in unserem Freundeskreis andauernde Eheprobleme hat<br />

408


ANHANG: LLU RICHTLINIEN<br />

und unsere Hilfe braucht, dann werden wir das zu unserer vordringlichen Aufgabe<br />

und Verpflichtung machen.<br />

Wir sind uns dessen bewusst, dass es in jeder Ehe Probleme gibt. Wenn in unserer<br />

eigenen Ehe ernsthafte Problem auftreten, werden wir den Rat eines Pastors<br />

oder einer anderen Person suchen, die uns helfen kann, unsere Probleme<br />

zu lösen und unsere Ehe zu bewahren. Dieses Ziel soll das wichtigste sein, das<br />

wir im Leben verfolgen und die oberste Priorität bei der Verwendung unserer<br />

Zeit haben.<br />

Wenn die Probleme andauern, sind wir bereit zu erkennen, dass wir eine<br />

Gruppe von Menschen brauchen, die uns persönlich intensiv unterstützt. In Absprache<br />

mit unserem Pastor oder Seelsorger wird jeder von uns ein oder zwei<br />

Vertrauenspersonen auswählen (vorzugsweise aus unserer Ortsgemeinde), die<br />

sich um uns kümmern und für uns beten und uns so helfen, uns nicht von der<br />

Gemeinschaft in der Gemeinde zu entfernen.<br />

Wir werden eine Trennung oder Scheidung nicht in Erwägung ziehen, bis wir<br />

uns ernsthaft und aufrichtig bemüht haben, unsere Probleme kreativ und konstruktiv<br />

zu lösen. Dabei werden wir für die Möglichkeit offen bleiben, dass unsere<br />

Ehe doch noch gerettet werden kann.<br />

Wenn unsere Bemühungen nicht erfolgreich sind und einer von uns rechtliche<br />

Schritte zu einer Trennung oder Scheidung unternimmt, werden wir unseren<br />

Pastor oder Seelsorger bitten, den Ausschuss für Ehe-Seelsorge und den Heilungsprozess<br />

nach einer Scheidung zu informieren. Mit der Hilfe unserer<br />

selbstgewählten Vertrauenspersonen, die uns persönlich beistehen, werden wir<br />

den Heilungsprozess durchmachen.<br />

Dieses Gelöbnis und die darin beschriebenen Handlungen sollen dazu dienen,<br />

die Ehen der Mitglieder der Universitätsgemeinde zu bewahren und zu stärken.<br />

Maßnahmen in Verbindung mit dem Heilungsprozess<br />

Von der Gemeinde wurden Maßnahmen ausgearbeitet, um den Heilungsprozess<br />

nach einer Scheidung zu begleiten und zu unterstützen. Diese Maßnahmen<br />

umfassen regelmäßige Beratungsgespräche mit einem Pastor oder Seelsorger<br />

und einen kontinuierlichen Kontakt mit den selbstgewählten Vertrauenspersonen<br />

zur persönlichen Unterstützung. Auch die Teilnahme an Gruppengesprächen<br />

kann dazu gehören. Diese Maßnahmen dienen dazu, persönliches und<br />

geistliches Wachstum zu ermöglichen und zu fördern, wie es sich dann in verschiedener<br />

wichtiger Art und Weise zeigt:<br />

1. Kreativ und konstruktiv mit Entfremdung und Einsamkeit leben.<br />

409


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

2. Bezüglich des eigenen Verhaltens und seines Einflusses auf die Eheprobleme<br />

Einsichten gewinnen, die eigene Rolle anerkennen und die Verantwortung<br />

dafür übernehmen.<br />

3. Vergeben und Vergebung annehmen.<br />

4. Den Empfindungen und Bedürfnissen anderer mit zunehmender Sensibilität<br />

gegenübertreten.<br />

5. An emotionaler und geistlicher Disziplin und Tragfähigkeit zunehmen.<br />

6. Einen realistischen und zuversichtlichen Blick für die Zukunft bewahren.<br />

Die Beziehung zur Gemeinde<br />

Während des Heilungs- und Gesundungsprozesses werden die Menschen, die<br />

eine Trennung oder Scheidung erlebt haben, ermutigt, so aktiv wie möglich am<br />

Leben und der Gemeinschaft der Universitätsgemeinde teilzunehmen. Dabei<br />

anerkennen sie folgende Vereinbarungen:<br />

1. Der Gemeindebrief wird nicht an eine andere Gemeinde überstellt, bis der<br />

Heilungs- und Gesundungsprozess formal abgeschlossen wurde. Im Falle<br />

eines Umzugs wird der Pastor oder Seelsorger versuchen, den Heilungsprozess<br />

mit der Unterstützung qualifizierter Personen am neuen Wohnort<br />

weiter zu begleiten.<br />

2. Um überstürzte Beziehungen zu vermeiden, während sie noch unter einer<br />

erst kurz zuvor zerbrochenen Ehe leiden, gehen diese Menschen während<br />

des Heilungsprozesses keine erneute Ehe ein.<br />

3. Sie nehmen am Leben und Dienst der Gemeinde in einer Art und Weise<br />

teil, die nach dem Urteil der Prediger der Einstellung der Gemeinde zu<br />

Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe entspricht und der geistlichen und<br />

emotionalen Heilung des betroffenen Gemeindemitgliedes selbst dienlich<br />

ist.<br />

4. Falls sie die Maßnahmen in Verbindung mit dem Heilungsprozess nicht<br />

für sich in Anspruch nehmen, werden Gemeindebriefe zusammen mit einer<br />

Kopie dieser Richtlinien überstellt, zusammen mit der Empfehlung<br />

sowohl an das Gemeindemitglied <strong>als</strong> auch an die aufnehmende Gemeinde,<br />

ähnliche Maßnahmen anzubieten.<br />

410


ANHANG: LLU RICHTLINIEN<br />

Die Erwartungen der Gemeinde<br />

Im Falle einer Trennung oder Scheidung erwartet die Gemeinde folgendes<br />

Verhalten von Seiten der beiden Betroffenen:<br />

1. Dass sie zu ihrem Ehe-Gelöbnis stehen, indem sie keine Beziehung suchen<br />

oder eingehen, bis die Scheidung rechtskräftig ist.<br />

2. Dass beide ihre gute Absicht zeigen, indem sie alle Versprechen halten,<br />

sich an alle rechtlichen Verpflichtungen in Verbindung mit der Scheidung<br />

halten und sich weiterhin um das körperliche und seelische Wohl ihres<br />

Mannes/ihrer Frau und der Kinder kümmern.<br />

3. Dass sie in Worten und Taten den guten Ruf des früheren Ehemannes oder<br />

der früheren Ehefrau wahren und in all ihren Beziehungen nach der Goldenen<br />

Regel leben (Matthäus 7,12). Dazu gehören die Beziehungen zueinander,<br />

zu ihren Kindern, zu Verwandtschaft und Freundeskreis, zu den<br />

Gemeindegliedern und zur Gesellschaft <strong>als</strong> ganzer.<br />

4. Dass sie sich intensiv und lang genug einer seelsorgerlichen Beratung unterziehen,<br />

um Heilung zu ermöglichen und so die Wahrscheinlichkeit zu<br />

vergrössern, dass eine eventuelle zukünftige Ehe gesund und dauerhaft ist.<br />

5. Dass sie einen Lebensstil wahren, der das Prinzip der Unauflöslichkeit der<br />

Ehe und der sexuellen Liebe <strong>als</strong> etwas Einzigartiges bejaht.<br />

Solch ein Verhalten dient dazu, das Trauma einer Trennung oder Scheidung<br />

zu minimieren, insbesondere dann, wenn auch Kinder betroffen sind. Außerdem<br />

beschleunigt solch ein Verhalten den Heilungsprozess aller Betroffenen.<br />

Das Ende des Heilungsprozesse<br />

Die Erfahrung der Gemeinde zeigt, dass der Prozess der Heilung und Gesundung<br />

nach einer Scheidung für die meisten Menschen eine lange Zeit in Anspruch<br />

nimmt. Wenn nicht äußerst ungewöhnliche Umstände vorliegen, kann<br />

man sicher eher von Jahren <strong>als</strong> von Monaten ausgehen. Es ist schwierig, den<br />

genauen Zeitpunkt zu bestimmen, wann das Trauma einer zerbrochenen Ehe<br />

überwunden ist, denn ein gewisser Schaden wird immer bleiben. Nicht einmal<br />

der Pastor oder Seelsorger oder andere dem Geschiedenen Nahestehende können<br />

in dessen Herz sehen. Sie können nicht bis ins letzte entscheiden, wie aufrichtig<br />

jemand versucht hat, dem Ideal von ehelicher Liebe und Treue entsprechend<br />

zu leben. Das ist eine Angelegenheit zwischen dem betreffenden Menschen<br />

und Gott.<br />

411


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Der formale Abschluss des Heilungsprozesses<br />

Wenn diejenigen, die durch den Heilungsprozess nach einer Scheidung gehen,<br />

im beratenden Kontakt mit ihrem Pastor oder Seelsorger und ihren selbstgewählten<br />

Vertrauenspersonen zu der Meinung gelangen, dieser Prozess könne<br />

abgeschlossen werden, überdenken sie noch einmal mit ihrem Pastor ihre Erfahrungen<br />

unter Berücksichtigung der in den Abschnitten 5 und 7 aufgeführten<br />

Punkten. Wenn es zu diesem Zeitpunkt angebracht erscheint, empfiehlt der Pastor<br />

dem Ausschuss für Ehe-Seelsorge und dem Heilungsprozess nach einer<br />

Scheidung, diesen Prozess <strong>als</strong> beendet zu betrachten. Der Ausschuss bestätigt<br />

die Empfehlung. Der Familienstand oder das Verhalten des früheren Ehepartners<br />

wird dabei nicht in Betracht gezogen.<br />

So wie die Gemeindefamilie bei einer Hochzeit anerkennt, dass zwei Personen<br />

durch die Ehe verbunden sind, so ist die formale Beendigung die Anerkennung<br />

der Gemeinde, dass die frühe und intensive Phase der Heilung nach einer<br />

Scheidung abgeschlossen ist. Die Gemeinde will allen Gemeindemitgliedern<br />

sowohl in schwierigen <strong>als</strong> auch in glücklichen Zeiten beistehen und sie unterstützen.<br />

Sie maßt sich jedoch nicht an, über Schuld und Unschuld zu befinden<br />

oder über die Aufrichtigkeit der Reue bezüglich vergangener Fehler zu bestimmen.<br />

Blick in die Zukunft<br />

Wenn der Heilungsprozess nach einer Scheidung formal abgeschlossen wurde,<br />

freut sich die Gemeinde über rege Beteiligung an ihren verschiedenen Aktivitäten<br />

und Diensten. Der Gemeindebrief wird ohne besonderen Kommentar<br />

auf Wunsch in eine andere Gemeinde überstellt. Wenn das Gemeindemitglied<br />

zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft eine erneute Heirat plant, nimmt die<br />

Gemeinde daran Anteil wie bei jedem anderen Gemeindemitglied auch. So bezeugt<br />

die Gemeinde sowohl die sündenvergebende <strong>als</strong> auch die lebensumwandelnde<br />

Gnade Gottes.<br />

Die Aufnahme von Gemeindemitgliedern<br />

Wenn jemand in die Universitätsgemeinde aufgenommen werden möchte<br />

(durch Taufe, Bekenntnis des Glaubens oder Gemeindebrief), der/die kurz zuvor<br />

eine Trennung oder Scheidung durchgemacht hat, so wird erwartet, dass<br />

er/sie an dem Prozess der Heilung und Gesundung teilnimmt, wie in den Absät-<br />

412


ANHANG: LLU RICHTLINIEN<br />

zen 5 und 6 dieser Richtlinien beschrieben und dass er/sie den in Absatz 7 ausgeführten<br />

Erwartungen an sein/ihr Verhalten entsprechend lebt.<br />

Die Vergangenheit bewältigen<br />

Ein Gemeindemitglied, das einmal eine Scheidung durchgemacht hat, ohne<br />

danach den hier beschriebenen Heilungsprozess durchzumachen, sollte mit einem<br />

Pastor oder Seelsorger über diese Erfahrung reden und darüber, was vielleicht<br />

zu diesem späteren Zeitpunkt noch zur Gesundung getan werden könnte.<br />

Nichtbeachtung der Überzeugungen in der Gemeinde<br />

Wenn ein Gemeindemitglied durch seine Einstellung und sein Verhalten ständig<br />

und unverhohlen die Überzeugungen der Gemeinde bezüglich der Unauflöslichkeit<br />

der Ehe und der Einzigartigkeit der sexuellen Liebe missachtet, wird<br />

dies <strong>als</strong> der Wunsch verstanden, nicht länger Mitglied der Gemeinde zu sein.<br />

Bevor jedoch der Ausschluss des Gemeindemitgliedes in irgendeiner Weise in<br />

Erwägung gezogen wird, sollte der Pastor oder eine andere dazu bestimmte<br />

Person das Gemeindemitglied über seinen Wunsch, aus der Gemeinde auszutreten,<br />

befragen.<br />

Nichtteilnahme am Heilungsprozess nach einer Scheidung<br />

Wenn diese Richtlinien auf ein Gemeindemitglied anzuwenden sind, dieses<br />

aber den Pastor nicht ins Vertrauen zieht oder nicht am Heilungs- und Genesungsprozess<br />

teilnehmen will, wie er hier beschrieben wird, wird die Gemeinde<br />

durch den Pastor oder eine andere dazu bestimmte Person weiterhin ihre Liebe<br />

und ernste Sorge auszudrücken versuchen. Außerdem wird die Gemeinde in<br />

ihrem Wunsch, die Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe zu bezeugen, versuchen,<br />

sowohl denen, die diesen Prozess durchmachen <strong>als</strong> auch allen Gemeindegliedern<br />

den Wert und die Wichtigkeit des Heilungsprozesses zu vermitteln.<br />

Gemeindemitglieder, die sich im Falle einer Scheidung nicht den Massnahmen<br />

dieser Richtlinien unterziehen, entscheiden sich damit auch gegen die Hilfe,<br />

die die Gemeinde während des Heilungsprozesses anbietet. Sie distanzieren<br />

sich dann auch von der Möglichkeit eines formalen Abschlusses, den die Gemeinde<br />

folgen sehen möchte.<br />

413


EHESCHEIDUNG UND WIEDERHEIRAT<br />

Die Verpflichtung der Gemeinde<br />

Mit diesen Richtlinien drücken die Mitglieder der Universitätsgemeinde ihr<br />

Verständnis von dem Wesen und der Wichtigkeit der Ehe aus. Wir drücken<br />

damit auch unsere ganz persönliche Verpflichtung aus, uns in unsere Ehen und<br />

in unsere Sorge füreinander einzubringen. Es ist unsere Absicht, zum ersten<br />

angemessene Mittel zur Ehevorbereitung zur Verfügung zu stellen, zweitens die<br />

Ehen aller unserer Mitglieder zu schützen und zu stärken, drittens im Falle<br />

schwerwiegender Eheprobleme echte Hilfestellung zu geben und viertens im<br />

Falle einer Scheidung beiden Beteiligten beim Heilungs- und Gesundungsprozess<br />

zu helfen. In diesem Sinne wollen wir zu jeder Zeit unterstützen und helfen.<br />

414


ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS<br />

Abkürzungsverzeichnis und formale Begriffserklärungen<br />

Elb<br />

GK<br />

GN<br />

Hfa<br />

LLUC<br />

PMC<br />

STA<br />

Elberfelder Bibelübersetzung<br />

Generalkonferenz der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-<br />

Adventisten<br />

- Delegiertenversammlung der weltweiten Gemeinschaft,<br />

die organisatorisch, gemeindepolitisch und dogmatisch<br />

das höchste Organ der Gemeinschaft darstellt und zur<br />

Zeit alle 5 Jahre tagt<br />

- Auch benutzt für den Verwaltungssitz der weltweiten<br />

Gemeinschaft in Washington DC, USA<br />

„Gute Nachricht“- Bibelübersetzung<br />

„Hoffnung für alle“ – Bibelübersetzung<br />

Loma Linda University Church (in Loma Linda, Kalifornien,<br />

USA)<br />

Pioneer Memorial Church (Gemeinde der Andrews University,<br />

in Berrien Springs, Michigan, USA)<br />

Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten<br />

White, E. G. Ellen Gould White (geboren 1827 in Maine, USA, gestorben<br />

1915 in USA). Prophetisch begabte Persönlichkeit in der Adventbewegung.<br />

Mitbegründerin der Gemeinschaft, Autorin,<br />

Rednerin und Ratgeberin der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-<br />

Adventisten. Zahlreiche Veröffentlichungen, alle deutschsprachigen<br />

im Advent-Verlag, Lüneburg und Krattigen (CH).<br />

415


AUTOREN<br />

Die Autoren<br />

Andreas Bochmann, Ph.D. (USA), Jg. 1959, Pastor, Ehe- u. Lebensberater,<br />

Supervisor, Dozent an der <strong>Theologische</strong>n <strong>Hochschule</strong> Friedensau.<br />

Andreas Erben, Jg. 1957, Pastor, Ehe- u. Lebensberater, hat mit einer Dissertation<br />

über Ehescheidung an der Andrews University (USA) promoviert.<br />

Ada Garcia, M.A., Jg. 1952, Familientherapeutin, Dozentin an der Andrews<br />

University (USA) und Mitglied der „Studienkommission Ehescheidung und<br />

Wiederheirat“ der Generalkonferenz der Siebenten-Tags-Adventisten.<br />

Matthias Kramer, Jg. 1964, Rechtsanwalt in Bremen, Gemeindeleiter.<br />

Werner Lange, Jg. 1951, Pastor in Gifhorn.<br />

William Loveless, Ed.D., Jg. 1928, emeritierter Pastor der Loma Linda University<br />

Church, Pastoralpsychologe, Dozent an der Loma Linda University<br />

und der La Sierra University, USA.<br />

Klaus Schmitz, Mag. Theol., Jg. 1948, Pastor, Mediator, Lehrbeauftragter<br />

für NT und Systematische Theologie an der <strong>Theologische</strong>n <strong>Hochschule</strong> Friedensau.<br />

Klaus-J. van Treeck, Jg. 1952, Pastor, Psychotherapeut (HPG), Supervisor<br />

und Leiter des Referats Fortbildung der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-<br />

Adventisten in Deutschland.<br />

Hartmut Wahl, Jg. 1948, Pastor im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden<br />

in Deutschland, Ehe- und Lebensberater, Familientherapeut, Supervisor,<br />

Leiter von „Beratung & Lebenshilfe e.V.“ (Evangelisch-Freikirchliche<br />

Beratungsarbeit Berlin-Brandenburg).<br />

Lothar Wilhelm, Jg. 1938, Pastor und Vorsteher der Gemeinschaft der<br />

Siebenten-Tags-Adventisten in Nordrhein-Westfalen.<br />

416

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