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Kapitalbildung und die Lehre vom Wachstum - Mises.de

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<strong>Kapitalbildung</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Lehre</strong> <strong>vom</strong> <strong>Wachstum</strong><br />

Von Ludwig von <strong>Mises</strong><br />

I<br />

Sehen wir von <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>nd kleinen Schar folgerichtiger Asketen ab, dann dürfen wir<br />

behaupten, daß alle Menschen einen Zustand reichlicherer Versorgung mit irdischen Gütern<br />

einem Zustand weniger reichlicher Versorgung vorziehen. In <strong>die</strong>sem Sinne sind Geschichte<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftspolitik (nicht auch <strong>die</strong> Wirtschaftstheorie) berechtigt, von wirtschaftlichem<br />

Fortschritt zu sprechen, wenn für <strong>die</strong> gesamte Menschheit o<strong>de</strong>r für einen ihrer Teile, <strong>de</strong>n sie<br />

geson<strong>de</strong>rt betrachtet, <strong>die</strong> Versorgung <strong>und</strong> <strong>de</strong>mzufolge auch <strong>die</strong> durchschnittliche<br />

Lebenshaltung verbessert wird. Es muß für <strong>de</strong>n Nationalökonomen nicht beson<strong>de</strong>rs<br />

hervorgehoben wer<strong>de</strong>n, daß solche Verän<strong>de</strong>rungen – ob sie nun Fortschritt o<strong>de</strong>r Rückschritt<br />

be<strong>de</strong>uten – nicht „gemessen“ wer<strong>de</strong>n können.<br />

Das einzige Mittel, wirtschaftlichen Fortschritt bewußt herbeizuführen, ist Erhöhung <strong>de</strong>r<br />

Ergiebigkeit <strong>de</strong>r menschlichen Arbeit. Das geschieht, um mit Böhm-Bawerk zu sprechen,<br />

durch das Einschlagen von Produktionsumwegen, <strong>die</strong> ein Opfer an Zeit erfor<strong>de</strong>rn, doch für<br />

<strong>die</strong>ses Opfer entschädigen durch <strong>die</strong> Menge <strong>und</strong> Beschaffenheit <strong>de</strong>r Erzeugnisse.<br />

Wirtschaftlicher Fortschritt verlangt reichlichere Ausstattung mit Kapitalgütern <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren<br />

zweckmäßigste Verwendung.<br />

Die höhere Lebenshaltung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> wirtschaftlich fortgeschrittenen Län<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n weniger<br />

entwickelten Län<strong>de</strong>rn („<strong>und</strong>er<strong>de</strong>veloped countries“ in <strong>de</strong>r amerikanischen Terminologie,<br />

„Entwicklungslän<strong>de</strong>r“ in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Terminologie) unterschei<strong>de</strong>t, ist <strong>de</strong>r reichlicheren<br />

Kapitalausstattung zuzurechnen. Das wird von keiner Seite offen bestritten.<br />

Indirekt wird jedoch in <strong>de</strong>r Behandlung <strong>de</strong>r Lohnprobleme eine an<strong>de</strong>re Auffassung vertreten.<br />

In <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten arbeiten Arbeitgeber, Lohnempfänger, <strong>die</strong> mit Lohnproblemen<br />

befaßten Regierungsorgane <strong>und</strong> <strong>die</strong> Professoren <strong>de</strong>s „labor economics“ genannten Faches mit<br />

einem Begriff „Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit“, <strong>de</strong>r <strong>die</strong> Kapitalinvestition nicht in Betracht zieht.<br />

Man divi<strong>die</strong>rt <strong>de</strong>n Geldwert <strong>de</strong>s Produkts durch <strong>die</strong> Zahl <strong>de</strong>r Arbeiter <strong>und</strong> nennt <strong>de</strong>n so<br />

gef<strong>und</strong>enen Wert Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit. Ergibt sich, daß <strong>die</strong>ser Wert am En<strong>de</strong> einer Perio<strong>de</strong><br />

größer ist als an ihrem Beginn, wird <strong>die</strong> Differenz Zuwachs <strong>de</strong>r Produktivität <strong>de</strong>r Arbeit<br />

genannt. Gewerkschaftsführer, Funktionäre <strong>de</strong>r Unternehmungen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Unternehmerverbän<strong>de</strong>, Professoren <strong>und</strong> <strong>die</strong> öffentliche Meinung sind darin einig, daß solch<br />

ein Produktivitätszuwachs ganz <strong>de</strong>n Arbeitern gebührt <strong>und</strong> daß <strong>die</strong> Löhne entsprechend<br />

erhöht wer<strong>de</strong>n müssen. Die Lohnverhandlungen drehen sich lediglich um <strong>die</strong> Feststellung <strong>de</strong>s<br />

Tatbestan<strong>de</strong>s, nicht um <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>sätzliche Angemessenheit <strong>de</strong>r Berechnungsmetho<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r um<br />

<strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong> ganze Differenz zu Lohnerhöhungen zu verwen<strong>de</strong>n sei. Es wird nicht darauf<br />

hingewiesen, daß <strong>die</strong> Produktivitätssteigerung nicht etwa erhöhtem Fleiße o<strong>de</strong>r höherer<br />

Geschicklichkeit <strong>de</strong>r Arbeiter, son<strong>de</strong>rn an<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n – in <strong>de</strong>r Regel zusätzlicher<br />

Investition, mitunter auch verbesserter Technik in <strong>de</strong>r Ausnützung schon früher verfügbarer<br />

Ausrüstung – zuzuschreiben ist. Die Vertreter <strong>de</strong>r Unternehmer wi<strong>de</strong>rsprechen nicht <strong>de</strong>r<br />

Auffassung, <strong>die</strong> es für überflüssig hält, <strong>de</strong>m neu investierten Kapital irgen<strong>de</strong>inen Ertrag<br />

zuzugestehen. Gelegentlich wird in <strong>de</strong>r Presse darauf hingewiesen, daß <strong>die</strong> Steigerung <strong>de</strong>r<br />

Produktivität auch <strong>de</strong>n Verbrauchern zugute kommen sollte. Doch niemand fragt, was <strong>de</strong>nn<br />

einen Unternehmer veranlassen könnte, Aufwendungen für <strong>die</strong> Anschaffung von


leistungsfähigeren Werkzeugen zu machen, wenn <strong>de</strong>r gesamte Ertragszuwachs durch<br />

Lohnerhöhung aufgezehrt wird.<br />

II<br />

Man hat <strong>die</strong>se mo<strong>de</strong>rne Fassung <strong>de</strong>s „Rechtes auf <strong>de</strong>n vollen Arbeitsertrag“ zu beachten,<br />

wenn man <strong>die</strong> Gedankengänge verstehen will, <strong>die</strong> zur Ausbildung <strong>de</strong>s jüngsten Zweiges<br />

wirtschaftspolitischer Betrachtung, <strong>de</strong>r <strong>Lehre</strong> <strong>vom</strong> <strong>Wachstum</strong>, geführt haben. Man spricht<br />

nicht mehr von wirtschaftlicher Besserung o<strong>de</strong>r wirtschaftlichem Fortschritt, auch nicht mehr<br />

von wirtschaftlicher Entwicklung. Man hat <strong>de</strong>r Biologie <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s <strong>Wachstum</strong>s entlehnt<br />

<strong>und</strong> wen<strong>de</strong>t ihn metaphorisch auf wirtschaftliche Probleme an.<br />

Für <strong>die</strong> Biologie ist <strong>Wachstum</strong> ein Gegebenes, das sie nicht auf ein an<strong>de</strong>res Gegebenes<br />

zurückzuführen <strong>und</strong> in <strong>die</strong>sem Sinne zu „erklären“ vermag. Wir wissen nicht, was es ist, das<br />

einen winzigen Keim in eine Pflanze, ein Tier o<strong>de</strong>r einen Menschen wachsen läßt. Wir wissen<br />

we<strong>de</strong>r, warum Lebendiges wächst, noch warum es einmal zu wachsen aufhört. Wenn <strong>de</strong>r<br />

metaphorischen Verwendung <strong>de</strong>s Begriffes <strong>Wachstum</strong> irgen<strong>de</strong>in Sinn innewohnt, dann kann<br />

es nur <strong>de</strong>r sein, wirtschaftliche Besserung als Ergebnis einer geheimnisvollen, <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Einwirkung entzogenen Kraft zu beschreiben. Wo <strong>de</strong>r Nationalökonom<br />

reichlichere Kapitalausstattung für <strong>die</strong> Entwicklungslän<strong>de</strong>r for<strong>de</strong>rt, damit sie <strong>die</strong><br />

Wohlstandsstufe <strong>de</strong>r fortgeschritteneren Län<strong>de</strong>r erreichen, reiht <strong>de</strong>r <strong>Wachstum</strong>sforscher<br />

verschie<strong>de</strong>ne Tatbestän<strong>de</strong> aneinan<strong>de</strong>r, <strong>die</strong> Größenverän<strong>de</strong>rung – <strong>Wachstum</strong> – aufweisen.<br />

Die Unzulänglichkeit solcher <strong>Wachstum</strong>sbetrachtung wird offenbar, wenn man feststellt, daß<br />

sie als <strong>Wachstum</strong>serscheinung auch <strong>die</strong> Bevölkerungszunahme anführt.<br />

Bevölkerungszunahme kann <strong>die</strong> Folge <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Fortschritts sein. So hat <strong>die</strong><br />

beispiellose Vermehrung <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s, <strong>die</strong> <strong>die</strong> kapitalistische Produktionsweise<br />

hervorgebracht hat, <strong>die</strong> Volkszahl <strong>de</strong>r kapitalistischen Län<strong>de</strong>r vervielfacht. Wenn aber <strong>die</strong><br />

Zunahme <strong>de</strong>r Bevölkerung <strong>de</strong>r Zunahme <strong>de</strong>r Kapitalausstattung vorauseilt, ist nicht<br />

wirtschaftlicher Fortschritt, son<strong>de</strong>rn fortschreiten<strong>de</strong> Verelendung das Ergebnis. In <strong>die</strong>sem<br />

Sinne haben <strong>die</strong> vielgeschmähten Epigonen <strong>de</strong>r klassischen Nationalökonomie, <strong>die</strong> Marx als<br />

„Vulgärökonomen“ zu brandmarken suchte, immer wie<strong>de</strong>r hervorgehoben, daß nichts an<strong>de</strong>res<br />

als eine <strong>die</strong> Bevölkerungsvermehrung übersteigen<strong>de</strong> Zunahme <strong>de</strong>r <strong>Kapitalbildung</strong> <strong>de</strong>n<br />

Wohlstand <strong>de</strong>r Lohnarbeiter zu heben vermag 1 . Es ist heute je<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r nicht als<br />

Manchestermann in Acht <strong>und</strong> Bann getan wer<strong>de</strong>n will, verwehrt, auf <strong>die</strong>sen unbestreitbaren<br />

Tatbestand hinzuweisen <strong>und</strong> damit das Interesse <strong>de</strong>r Lohnempfänger an reichlicher<br />

<strong>Kapitalbildung</strong> darzulegen. Doch <strong>die</strong> Politik aller Entwicklungslän<strong>de</strong>r, ihr Bestreben,<br />

ausländisches Kapital anzuziehen <strong>und</strong> Kapitalhilfe von <strong>de</strong>n Regierungen <strong>de</strong>r reicheren Län<strong>de</strong>r<br />

zu erhalten, zeigt <strong>de</strong>utlich, daß sie genau wissen, was ihnen fehlt.<br />

Man kann <strong>die</strong> Beliebtheit, <strong>de</strong>ren sich <strong>die</strong> <strong>Wachstum</strong>sforschung heute erfreut, nur verstehen,<br />

wenn man sie als eine neue Phase in <strong>de</strong>m Kampfe gegen Sparen <strong>und</strong> <strong>Kapitalbildung</strong> <strong>und</strong> in<br />

<strong>de</strong>r Empfehlung <strong>de</strong>s „spending“ als Allheilmittel erkannt hat.<br />

1 Vgl. z. B.: J. R. McCulloch, The Principles of Political Economy, 4 th ed, Edinburgh and London 1849, S. 397<br />

ff.


III<br />

M. Tugan-Baranovsky, Emil Le<strong>de</strong>rer, W.T. Foster <strong>und</strong> W. Catchings, John Maynard Keynes<br />

haben mehr o<strong>de</strong>r weniger offen gelehrt, daß Sparen <strong>und</strong> <strong>Kapitalbildung</strong> nutzlos o<strong>de</strong>r selbst<br />

<strong>de</strong>m Gemeinwohl schädlich wären. Ihre Beweisführung, noch vor wenigen Jahren viel<br />

bew<strong>und</strong>ert, wird heute allgemein abgelehnt. Man spricht heute mehr von Kapitalmangel als<br />

<strong>vom</strong> „Wi<strong>de</strong>rsinn <strong>de</strong>s Sparens“.<br />

Alle Regierungen <strong>und</strong> alle politischen Parteien wollen mehr investieren <strong>und</strong> wissen sehr wohl,<br />

daß nur in <strong>de</strong>m Ausmaß investiert wer<strong>de</strong>n kann, in <strong>de</strong>m neues Kapital gebil<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>.<br />

Nichts<strong>de</strong>stoweniger halten sie an Maßnahmen fest, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bildung von neuem Kapital<br />

erschweren <strong>und</strong> Aufzehrung von Teilen <strong>de</strong>s bereits früher gebil<strong>de</strong>ten <strong>und</strong> angelegten Kapitals<br />

bewirken. Daß in <strong>de</strong>n kapitalistischen Län<strong>de</strong>rn Westeuropas <strong>und</strong> Nordamerikas <strong>die</strong><br />

Kapitalausstattung (auf <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>r Bevölkerung gerechnet) noch immer wächst, ist allein<br />

<strong>de</strong>m Umstan<strong>de</strong> zuzuschreiben, daß <strong>die</strong> Steuerpolitik <strong>und</strong> <strong>die</strong> „Sozial“politik es noch nicht<br />

vermocht haben, all das durchzuführen, was <strong>die</strong> Schriften <strong>de</strong>r „fortschrittlichen“ Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Programme <strong>de</strong>r Linksparteien als angemessen bezeichnen. Die Bestrebungen <strong>de</strong>r<br />

Sozialisten, das, was sie „Lücken“ <strong>de</strong>r Gesetzgebung nennen, zu schließen <strong>und</strong> so <strong>de</strong>n<br />

Steuerzahlern alle weitere <strong>Kapitalbildung</strong> unmöglich zu machen, können heute nicht mehr auf<br />

<strong>die</strong> Unterstützung durch <strong>die</strong> abgetane <strong>Lehre</strong> von <strong>de</strong>n üblen Folgen <strong>de</strong>r <strong>Kapitalbildung</strong><br />

rechnen. Da kommt <strong>die</strong> <strong>Lehre</strong> <strong>vom</strong> <strong>Wachstum</strong> recht gelegen. In ihrer Betrachtungsweise<br />

erscheint <strong>die</strong> Zunahme <strong>de</strong>r Kapitalgütermenge nur als ein Element unter vielen an<strong>de</strong>ren, <strong>die</strong><br />

zusammenwirken, um <strong>Wachstum</strong> hervorzubringen. Die Folgen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Beeinträchtigung<br />

eines <strong>die</strong>ser Elemente nach sich zieht, können durch stärkeres <strong>Wachstum</strong> an<strong>de</strong>rer Elemente<br />

wettgemacht wer<strong>de</strong>n. Man darf daher, wenn an<strong>de</strong>re <strong>Wachstum</strong>sfaktoren nicht gehemmt<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>die</strong> <strong>de</strong>r <strong>Kapitalbildung</strong> <strong>und</strong> selbst <strong>de</strong>r Kapitalerhaltung abträgliche Politik fortführen,<br />

ohne das <strong>Wachstum</strong> zu gefähr<strong>de</strong>n.<br />

IV<br />

Der <strong>Wachstum</strong>slehre fällt im Rahmen <strong>de</strong>r antikapitalistischen <strong>und</strong> prosozialistischen<br />

Wirtschaftspolitik noch eine an<strong>de</strong>re Aufgabe zu. Sie soll das Versagen <strong>de</strong>r sozialistischen<br />

Wirtschaftspolitik in Rußland verschleiern.<br />

Die sozialistische <strong>Lehre</strong> aller Richtungen verspricht, <strong>die</strong> Lebenshaltung <strong>de</strong>r Massen<br />

beträchtlich zu verbessern. Sie behauptet, daß <strong>die</strong> kapitalistische Produktionsweise <strong>die</strong><br />

Ergiebigkeit <strong>de</strong>r Produktion hemme <strong>und</strong> so künstlich Knappheit erzeuge. Über<strong>die</strong>s wür<strong>de</strong>n<br />

<strong>die</strong> knappen Mittel ungleich verteilt; einige wenige dürfen in Überfluß schwelgen, wogegen<br />

<strong>die</strong> ungeheure Mehrzahl Not lei<strong>de</strong>. Der Sozialismus wer<strong>de</strong> <strong>die</strong> von einer verkehrten<br />

Gesellschaftsordnung errichteten Hemmnisse <strong>de</strong>r Produktion <strong>und</strong> damit <strong>die</strong> Knappheit <strong>de</strong>r<br />

Genußgüterversorgung beseitigen. Ohne Ausnahme erwarten alle Spielarten <strong>de</strong>s Sozialismus<br />

von <strong>de</strong>r Verwirklichung ihrer Pläne eine gewaltige Verbesserung <strong>de</strong>r durchschnittlichen<br />

Lebenshaltung. Die Volkstümlichkeit <strong>de</strong>r sozialistischen Parteien, <strong>die</strong> ihnen bei <strong>de</strong>n Wahlen<br />

Stimmen zuführt <strong>und</strong> in Revolutionen Kämpfer, ist auf <strong>die</strong>se Erwartungen zurückzuführen.<br />

Im Sinne <strong>die</strong>ser Gedankengänge haben <strong>die</strong> russischen Bolschewiken gleich nach <strong>de</strong>r<br />

Machtübernahme versprochen, daß sie in wenigen Jahren <strong>die</strong> Lebenshaltung <strong>de</strong>r russischen<br />

Massen nicht nur über <strong>de</strong>n Stand unter <strong>de</strong>m zaristischen Regime, son<strong>de</strong>rn auch über <strong>de</strong>n


Stand <strong>de</strong>r kapitalistischen Län<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Westens heben wer<strong>de</strong>n. Immer wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong>n <strong>die</strong>se<br />

Zusagen erneuert.<br />

Es gibt eine ziemlich brauchbare Metho<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Vergleich <strong>de</strong>r Lage <strong>de</strong>r russischen Arbeiter<br />

mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Arbeiter in Westeuropa <strong>und</strong> Nordamerika. Auf Gr<strong>und</strong> von Lohn- <strong>und</strong> Preistabellen<br />

errechnet man, wie lange ein Arbeiter arbeiten muß, um einen bestimmten Gebrauchs- o<strong>de</strong>r<br />

Verbrauchsgegenstand zu erwerben. Die Metho<strong>de</strong> ist gewiß recht roh, da sie <strong>die</strong> Qualität <strong>de</strong>r<br />

Kaufgüter nicht berücksichtigen kann. Obgleich <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sem Mangel entstehen<strong>de</strong>n Fehler<br />

<strong>die</strong> russische Lage günstiger erscheinen lassen, zeigen <strong>die</strong>se Vergleiche immer wie<strong>de</strong>r, daß<br />

<strong>die</strong> Lebenshaltung <strong>de</strong>r Arbeiter im kapitalistischen Westen beträchtlich besser ist als im<br />

kommunistischen Osten. Auch <strong>die</strong> eifrigsten Verfechter sozialistischer I<strong>de</strong>en haben <strong>die</strong><br />

Schlüssigkeit <strong>die</strong>ser Beweisführung nicht zu bestreiten gewagt. Sie ziehen es vor, einen<br />

an<strong>de</strong>ren Weg zur Ermittlung <strong>de</strong>s Tatbestan<strong>de</strong>s einzuschlagen, <strong>de</strong>n Vergleich <strong>de</strong>r Quote <strong>de</strong>s<br />

<strong>Wachstum</strong>s.<br />

Den Ausgangspunkt bil<strong>de</strong>t <strong>die</strong> äußerst anfechtbare Messung <strong>de</strong>s Nationalprodukts. Auch<br />

wenn wir annehmen wollten, daß <strong>die</strong> Berechnung <strong>de</strong>r einzelnen Posten, <strong>de</strong>ren Summierung<br />

<strong>die</strong> als Nationalprodukt bezeichnete Größe ergibt, verläßlich ist, bleibt doch <strong>die</strong> Tatsache, daß<br />

<strong>die</strong> Bewertung notwendigerweise in Geld von verän<strong>de</strong>rlicher Kaufkraft vorgenommen wird.<br />

Auch wenn wir nicht in einem Zeitalter wil<strong>de</strong>n inflationistischen Experimentierens leben<br />

wür<strong>de</strong>n, müßte man <strong>die</strong> Versuche, <strong>die</strong> Größe <strong>de</strong>s Nationalprodukts in Geld zu messen, als<br />

unzulässige Naivität ablehnen.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> solcher in je<strong>de</strong>r Hinsicht anfechtbaren Berechnungen ermittelt man <strong>die</strong><br />

prozentuelle jährliche <strong>Wachstum</strong>squote. Da <strong>die</strong> statistischen Ämter <strong>de</strong>r Sowjets dafür sorgen,<br />

daß <strong>die</strong>se Quote für Rußland höher erscheint als für <strong>die</strong> Vereinigten Staaten, sind sie in <strong>de</strong>r<br />

Lage zu berechnen, wann Rußland <strong>die</strong> Vereinigten Staaten wirtschaftlich überholt haben<br />

wird.<br />

Das Trügerische <strong>die</strong>ser Metho<strong>de</strong> erhellt, wenn man erkennt, daß mit ihrer Hilfe auch gezeigt<br />

wer<strong>de</strong>n kann, wann einer <strong>de</strong>r neuen afrikanischen Staaten in seinem „<strong>Wachstum</strong>“ sowohl <strong>die</strong><br />

Vereinigten Staaten als auch <strong>die</strong> Sowjet-Union überholt haben wird. Ein Zuwachs an<br />

Produktion von <strong>de</strong>rselben Größe be<strong>de</strong>utet in einem weniger entwickelten Gebiet einen weit<br />

höheren prozentuellen Zuwachs als in einem besser entwickelten. Ein Zuwachs von X<br />

Einheiten zur bereits früher produzierten Größe von Y Einheiten mag in einem Falle a vH<br />

Zuwachs, in einem an<strong>de</strong>ren Falle ein Mehrfaches von a vH be<strong>de</strong>uten. Es wäre gut, wenn sich<br />

<strong>die</strong> Fre<strong>und</strong>e <strong>de</strong>r <strong>Wachstum</strong>s-Metapher daran erinnern wollten, daß es unzulässig ist, <strong>die</strong><br />

prozentuale Gewichtszunahme eines Säuglings mit <strong>de</strong>r eines älteren Kin<strong>de</strong>s zu vergleichen,<br />

ohne auf <strong>de</strong>n Alters- <strong>und</strong> Gewichtsunterschied zu achten.<br />

V<br />

Noch in einem an<strong>de</strong>rn Sinne <strong>die</strong>nt <strong>die</strong> <strong>Wachstum</strong>slehre <strong>de</strong>r Verkennung <strong>de</strong>r geschichtlichen<br />

Wahrheit. Sie verzerrt vollkommen das Bild, das sich unsere Zeitgenossen von <strong>de</strong>m größten<br />

weltpolitischen Tatbestand <strong>de</strong>r letzten h<strong>und</strong>ertfünfzig Jahre, <strong>de</strong>r Ausbreitung <strong>de</strong>r materiellen<br />

Errungenschaften <strong>de</strong>r europäischen Zivilisation über alle Teile <strong>de</strong>r Erdoberfläche, machen.<br />

Das System <strong>de</strong>r Kapitalanlage im Ausland, nicht etwa „<strong>Wachstum</strong>“, war es, das <strong>de</strong>n Völkern<br />

Asiens <strong>und</strong> Afrikas <strong>de</strong>n Weg eröffnete, auf <strong>de</strong>m sie sich, falls sie <strong>die</strong> Fähigkeit dazu haben,<br />

<strong>die</strong> geistige Kultur <strong>de</strong>s Westens wer<strong>de</strong>n aneignen können. Wie immer man <strong>de</strong>n Gehalt <strong>de</strong>r<br />

westeuropäisch-nordamerikanischen Gesittung einschätzen mag <strong>und</strong> ob man <strong>de</strong>n Untergang


<strong>de</strong>s bo<strong>de</strong>nständigen Brauchtums <strong>de</strong>r Völker <strong>de</strong>s Ostens bedauert o<strong>de</strong>r billigt, man darf von<br />

<strong>die</strong>sen Dingen nicht in <strong>de</strong>r Weise han<strong>de</strong>ln, in <strong>de</strong>r es <strong>die</strong> herrschen<strong>de</strong>n Auffassungen von<br />

Imperialismus <strong>und</strong> Kolonialwirtschaft tun. Was wären alle <strong>die</strong>se Völker Afrikas, Asiens <strong>und</strong><br />

Lateinamerikas heute, wenn ihnen nicht zuerst England, dann <strong>die</strong> übrigen Län<strong>de</strong>r<br />

Westeuropas <strong>und</strong> schließlich aus Nordamerika <strong>die</strong> Mittel zur Ausbildung ihres<br />

Verkehrswesens <strong>und</strong> zur Verwertung ihrer Naturschätze zur Verfügung gestellt hätten? Die<br />

Volkswirtschaften <strong>die</strong>ser Län<strong>de</strong>r sind nicht spontan „gewachsen“; sie sind durch<br />

Kapitalzufuhr von außen befruchtet <strong>und</strong> geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n. Doch davon wollen <strong>die</strong> nicht<br />

sprechen, <strong>die</strong> Enteignung ausländischen Kapitals „Befreiung“ nennen.<br />

VI<br />

<strong>Wachstum</strong> erscheint in <strong>de</strong>r <strong>Wachstum</strong>slehre als ein <strong>de</strong>r Einwirkung <strong>de</strong>r einzelnen han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />

Menschen entrückter Vorgang. Doch <strong>die</strong> <strong>Lehre</strong> wäre nicht ein Stück <strong>de</strong>r „neuen“<br />

Wirtschaftslehre, wenn sie nicht annehmen wür<strong>de</strong>, daß <strong>die</strong> Größe <strong>de</strong>s jährlichen <strong>Wachstum</strong>s<br />

<strong>vom</strong> Staat beeinflußt, ja <strong>vom</strong> Staat beliebig festgesetzt wer<strong>de</strong>n kann.<br />

In <strong>de</strong>n politischen <strong>und</strong> wirtschaftspolitischen Kämpfen in <strong>de</strong>n Vereinigten Staaten dreht es<br />

sich neben an<strong>de</strong>ren Dingen auch um <strong>die</strong> Größe <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>esregierung zu<br />

bestimmen<strong>de</strong>n Rate <strong>de</strong>s <strong>Wachstum</strong>s. Man schreibt <strong>und</strong> spricht, als ob es im Belieben <strong>de</strong>r<br />

Regierung stün<strong>de</strong>, <strong>Wachstum</strong> bestimmten Umfangs anzuordnen. Man empfiehlt zu <strong>die</strong>sem<br />

Zwecke verschie<strong>de</strong>ne sozialpolitische Maßnahmen. Man streitet um das Ausmaß einer<br />

jährlich vorzunehmen<strong>de</strong>n prozentuellen Erweiterung <strong>de</strong>s Geldumlaufs. Doch man vermei<strong>de</strong>t<br />

es, von <strong>de</strong>m einen Gegenstand zu re<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>n es in <strong>die</strong>sem Zusammenhang allein<br />

ankommt, von <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>r Bildung neuen Kapitals. Man hält an einer Steuergesetzgebung<br />

fest, <strong>die</strong> gera<strong>de</strong>zu darauf ausgeht, <strong>Kapitalbildung</strong> zu erschweren.<br />

Lange kann es so nicht bleiben. Auf <strong>die</strong> Dauer wird alles, was über <strong>Wachstum</strong> vorgebracht<br />

wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n wahren Tatbestand nicht zu verhüllen vermögen. Man wird neu lernen müssen,<br />

daß alle Ziele, <strong>de</strong>nen <strong>die</strong> Wirtschaftspolitik zustrebt, nur durch fortschreiten<strong>de</strong> Vermehrung<br />

<strong>de</strong>r zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Kapitalgüter erreicht wer<strong>de</strong>n können.<br />

[Quelle: F. Greiss/F. Meyer (Hrg.) Wirtschaft, Gesellschaft <strong>und</strong> Kultur. Festgabe für A.<br />

Müller-Armack (1961) 159-165; PDF-Version: www.mises.<strong>de</strong>]

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