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Download Handreichung (Markus Bundi/Lara ... - Haymon Verlag

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Christine Lavant<br />

Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus<br />

________________________________________<br />

Wichtige Themen<br />

• Verrückt/normal<br />

• Existenz<br />

• Armut, Not und Scham<br />

• Schreiben und Wahrhaftigkeit<br />

Eignung<br />

• Das Lesen und Verstehen von Christine<br />

Lavants Aufzeichnungen aus einem<br />

Irrenhaus stellt einige Ansprüche an<br />

das Empathievermögen des Lesers;<br />

psychologische Grundkenntnisse eröffnen<br />

einen differenzierten Zugang.<br />

Eine ergiebige Auseinandersetzung<br />

mit diesem Text – bei dem es oft um<br />

das Nichtgeschriebene geht – dürfte<br />

daher ab 15/16 Jahren möglich sein.<br />

Module<br />

• „Ankommen“ – Wie findet sich ein<br />

Neuankömmling in einem Irrenhaus<br />

zurecht?<br />

• Was unterscheidet den Mensch vom<br />

Tier?<br />

• Die Beziehung von erzählendem Ich<br />

zu den Aufzeichnungen<br />

Zusatzmaterialien<br />

• Comfortably Numb – Angenehm gefühllos,<br />

ein Song von Pink Floyd<br />

Zum Buch<br />

Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus<br />

wurden erst Jahrzehnte nach dem Tod der Schriftstellerin<br />

ein erstes Mal veröffentlicht (im Jahr 2001).<br />

Geschildert wird der sechswöchige Aufenthalt einer<br />

Ich-Erzählerin in einem Irrenhaus, in das sie sich –<br />

nach einem gescheiterten Selbstmordversuch – freiwillig<br />

hat einweisen lassen. Von Schlaflosigkeit gequält<br />

und von Weinkrämpfen geschüttelt, versucht die<br />

Patientin, die nur vielleicht „verrückt“ ist, schreibend<br />

von ihren Erfahrungen im Irrenhaus zu berichten. Die<br />

Aufzeichnungen geben nicht nur einen tiefen Einblick<br />

in die Behandlungsmethoden in der ersten Hälfte des<br />

20. Jahrhunderts, sondern auch in die zeitlosen zwischenmenschlichen<br />

Erfahrungen, die an einem Ort zu<br />

gewärtigen sind, an dem man sich nirgends verstecken<br />

kann.<br />

Zur Autorin<br />

HAYMONtb 2<br />

ISBN 978-3-85218-802-7<br />

Christine Lavant, geboren 1915 in<br />

St. Stefan im Lavanttal/Kärnten,<br />

gestorben 1973 in Wolfsberg. Sie verfasste<br />

Gedichte und Erzählungen, für die<br />

sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, u. a.<br />

1954 und 1964 mit dem Georg-Trakl-Preis und 1970<br />

mit dem Großen Staatspreis für Literatur.<br />

Foto: Brennerarchiv


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 1<br />

Modul 1 „Ankommen“ – Wie findet sich ein Neuankömmling in einem Irrenhaus zurecht?<br />

(Lektüre bis S. 29)<br />

1 Der freiwillige Gang ins Irrenhaus<br />

Mit der Ich-Erzählerin von Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus betreten wir die Abteilung<br />

„Zwei“. Wir verfolgen, wie sich die Protagonistin an einem ihr fremden Ort zurechtzufinden versucht.<br />

Vieles dreht sich bei diesem Ankommen um Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung;<br />

also darum, wie sich die Protagonistin selber begreift und wie sie von andern gesehen und eingeschätzt<br />

wird. In der Psychologie geht man insbesondere dann von einer Störung aus, wenn Eigen- und Fremdwahrnehmung<br />

weit auseinanderdriften. Das aber weiß auch die Protagonistin, und so drehen sich ihre<br />

Gedanken darum, wie sie sich zu verhalten hat, damit sie so gesehen wird, wie es ihren Wünschen entspricht.<br />

Mit andern Worten: An einem fremden Ort fällt man zunächst immer als die oder der „Neue“<br />

auf. Man kann diese Rolle befördern, um einen Sonderstatus beizubehalten, oder man versucht, sich an<br />

die neue Situation anzupassen, um möglichst schnell als Teil des Ganzen zu gelten. Solche – und auch<br />

andere – Gedanken beschäftigen die Ich-Erzählerin beim Eintritt in das Irrenhaus …<br />

a) Lies die ersten beiden Abschnitte (S. 5/6) nochmals aufmerksam durch. Dem Einstieg einer Lektüre<br />

kommt immer eine besondere Bedeutung zu; denn Leserinnen und Leser sollen ja möglichst<br />

dazu animiert werden, weiterzulesen. Welche Stimmung wird in diesem Einstieg vermittelt?<br />

Welche Haltung nimmt die Ich-Erzählerin ein? Welche Wirkung erzielt diese Erzählstimme auf<br />

dich?<br />

b) Bald erfahren wir, dass der Gang ins Irrenhaus zwar ein freiwilliger war, sich aber die ersten<br />

Tage offensichtlich nicht ganz nach den Vorstellungen der Ich-Erzählerin abspielen. Sie tut die<br />

ersten drei Nächte kein Auge zu und wir erfahren, sie sei „mit aller Kraft am Ende“ (S. 9). Lassen<br />

sich Gründe für die Schlaflosigkeit der Protagonistin nennen? Welche Schlüsse zieht sie<br />

selber? Inwieweit sind für dich die Gedankengänge der Ich-Erzählerin (über Feindseligkeiten,<br />

den Hass, das Lachen) nachvollziehbar? Wo würdest du widersprechen wollen?<br />

c) Es kommt zum Gespräch mit dem Gerichtspsychiater, dem Primarius und der Oberschwester (S.<br />

19ff.). Analysiere dieses Gespräch; versuche dabei zu unterscheiden, was allein der Wahrnehmung<br />

der Protagonistin geschuldet ist und was sich darüber hinaus interpretieren lässt. Wie lässt<br />

sich insbesondere die Aussage – „Wieder ein abschreckendes Beispiel dafür …“ (S. 23) – des<br />

Glatzköpfigen beim Hinausgehen verstehen?<br />

d) Der Tod der Mageren scheint der Ich-Erzählerin nur wenige Sätze wert; dennoch lohnt es sich,<br />

diese Textpassage („Die Magere, die im zweiten Bett rechts vor mir lag …“ – bis zum Ende des<br />

Abschnitts, S. 28) genauer ins Auge zu fassen. Wie wird dieser Tod geschildert? Sind Erzählhaltung<br />

und Erzählton dem Ereignis angepasst? Welche Rückschlüsse lassen sich aufgrund der<br />

Erzählweise auf die Protagonistin ziehen?<br />

e) Mit der Feststellung „Vielleicht verfluche ich mich mit jedem dieser Worte, aber dass ich sie<br />

schreiben muss, ist mir am Ende wohl aufgesetzt“ (S. 29) scheint die Protagonistin ein erstes<br />

Zwischenfazit zu ziehen. Interpretiere diese Aussage! – Welche Funktion hat das Festhalten der<br />

Aufzeichnungen für die Ich-Erzählerin? Inwieweit lässt sich diese Funktion an den angefügten<br />

Vergleichen („Brücke bauen“, „Kinder zum Leben bringen“ usw.) ablesen?


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 1<br />

Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 1<br />

2 Figurenkonstellation und -entwicklung<br />

2 Figurenkonstellation und -entwicklung<br />

Nach gut einem Drittel der Lektüre sind die wichtigsten Figuren um die Protagonistin aufgetaucht.<br />

Nach gut Das einem Irrenhaus Drittel hat der einige Lektüre neue sind Begegnungen die wichtigsten mit sich Figuren gebracht, um die Hierarchien Protagonistin und aufgetaucht. Abhängigkeiten Das<br />

Irrenhaus werden hat einige sichtbar. neue Wie Begegnungen stehen aber mit sich diese gebracht, Figuren Hierarchien zur Ich-Erzählerin? und Abhängigkeiten werden<br />

sichtbar. Wie stehen nun aber diese Figuren zur Ich-Erzählerin?<br />

Primarius<br />

Anus<br />

Psychiater<br />

Königin<br />

Renate<br />

Ich-<br />

Erzählerin<br />

Oberschwester<br />

Schw. Minna<br />

Nusserl<br />

Schw. Friedel<br />

Die Magere<br />

…<br />

f) Skizziere die wichtigsten Beziehungen (zum Beispiel in einem Diagramm wie oben); notiere in<br />

Stichworten, wie die jeweiligen Figuren zueinander stehen. Wer ist von wem abhängig? Welche<br />

Beziehung könnte für den weiteren Verlauf der Geschichte noch besonders wichtig werden?<br />

f) Skizziere die wichtigsten Beziehungen (zum Beispiel in einem Diagramm wie oben); notiere<br />

g) Einige Namen in Stichworten, erregen die wie Aufmerksamkeit: die jeweiligen Figuren Die Königin, zueinander das stehen. Nusserl, Wer Anus ist … von Was wem hat abhängig? es damit<br />

auf sich? Welche Beziehung könnte für den weiteren Verlauf der Geschichte noch besonders wichtig<br />

werden?<br />

h) Wie verhält sich die Ich-Erzählerin in diesem Beziehungsgeflecht? Gibt es Anzeichen/Indizien<br />

dafür, g) dass Einige sich Namen ihr Verhalten erregen aufgrund die Aufmerksamkeit: der Kontakte Die verändert? Königin, Wie das steht Nusserl, es um Anus die … Selbsteinschätzung<br />

damit der auf Protagonistin?<br />

Was hat es<br />

sich?<br />

h) Wie verhält sich die Ich-Erzählerin in diesem Beziehungsgeflecht? Gibt es Anzeichen/Indizien<br />

dafür, dass sich ihr Verhalten aufgrund der Kontakte verändert? Wie steht es um die<br />

Selbsteinschätzung der Protagonistin?


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 2<br />

Modul 2 Was unterscheidet den Mensch vom Tier?<br />

(Lektüre bis S. 51)<br />

1 Verrückt oder nicht, krank oder gesund?<br />

Im Text von Christine Lavant ist oft von „Verrückten“ die Rede … eigentlich kein schlechtes Wort,<br />

bezeichnet es doch Menschen, die ver-rückt sind, also etwas vom Normalkurs abgekommen sind. Doch<br />

wie verrückt muss jemand sein, dass sie oder er auch als krank gilt?<br />

a) Für menschliche Zustände, die wir nicht mehr als normal ansehen, kennen wir viele<br />

Bezeichnungen. Erstelle eine Liste solcher Bezeichnungen, die in ihren Bedeutungen<br />

von „ein wenig verrückt“ bis hin zu „verrückter geht es nicht mehr“ reichen.<br />

b) Viele dieser aufgelisteten Wörter gelten als unschön bzw. als politisch unkorrekt; das heißt,<br />

man benutzt sie zwar, allerdings vorzugsweise im Privaten, also unter Freunden. Welche Bezeichnungen<br />

sind deiner Ansicht nach auch in der Öffentlichkeit, in der Zeitung, in wichtigen<br />

Dokumenten verwendbar? Was unterscheidet die einen Bezeichnungen von den andern?<br />

c) Zu Christine Lavants Zeiten scheint die Bezeichnung „Irrenhaus“ noch geläufig gewesen zu<br />

sein, heute werden solche Einrichtungen anders benannt – wie nämlich? Was ist an den neuen<br />

Bezeichnungen „besser“, und warum?<br />

d) Interpretiere folgende beiden Zitate:<br />

„Der Verrückte, der sich für ein Rührei hält, ist nur deshalb abzulehnen, weil er sich in der Minderheit<br />

befindet …“<br />

Bertrand Russell (Geschichte der Westlichen Philosophie, 1946)<br />

„Wer unter den herrschenden Bedingungen gesund bleibt, ist krank.“<br />

Jean-Marc Seiler (Am Anschlag, 2010)<br />

e) Versuche deinerseits eine Definition für „verrückt“ im Sinne von „geistig krank“ zu formulieren!<br />

f) Die Ich-Erzählerin konstatiert: „Es ist gut, verrückt zu sein unter Verrückten, und es war eine<br />

Sünde, ein geistiger Hochmut, so zu tun, als wäre ich es nicht. Warum soll ich nicht auch einmal<br />

irgendwo richtig und ganz daheim sein?“ – Wie ist diese Aussage zu verstehen? Lässt sich<br />

diese Aussage mit den Wein- und Lachkrämpfen der Protagonistin in Zusammenhang bringen?


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 2<br />

2 Pflanze, Tier oder Mensch – und die Seele?<br />

Der Vergleich mit dem Tier findet schon früh in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus seinen Niederschlag.<br />

So berichtet die Ich-Erzählerin von Agnes, die die Krankenschwestern wie ein Tier anfleht,<br />

man möge sie sterben lassen (S. 17/18). Sie wird fortan „die Gekreuzigte“ genannt, die womöglich „auf<br />

den Boden geworfen wie ein Tier“ die nächsten zwanzig Jahre verbringen wird. Wenig später muss die<br />

Protagonistin erkennen, dass das, was sie als Engel sah, lediglich ein Falter ist, mit dem sie sich vergleicht,<br />

vor dem sie sich ekelt (S. 38). Und sie erinnert sich an die Worte von Anus, was dieser über<br />

die „Gruppenseele“ erzählt hat: „Warum soll es nicht so sein. Pflanzen, Steine und Tiere haben eine<br />

Gruppenseele. Und sind wir denn noch mehr als Tiere? Oder einfach verkümmerte Pflanzen, die nach<br />

unten gehen?“ (S. 38, unten) – Eine weitere erhellende Textpassage findet sich auf Seite 50, nachdem<br />

die Ich-Erzählerin eine Pille eingenommen hat: „Ja, ich war auf einmal so willig wie ein Tier und nicht<br />

nur willig, sondern vielleicht nur mehr ein bebendes Tier …“<br />

• Der Schweizer Schriftsteller Dieter Zwicky weist in einer kurzen Erzählung ebenfalls auf Gemeinsamkeiten<br />

zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen hin. Wo finden sich Übereinstimmungen<br />

mit Lavants Text, wo Unterschiede? Inwieweit trägt der Vergleich von Pflanze, Tier und<br />

Mensch? Wie hängen deiner Ansicht nach Denken und Seele zusammen?<br />

Dieter Zwicky (*1957)<br />

Pflanzliches<br />

(aus: Reizkers Kern, Zürich, 2006)<br />

Denken Pflanzen, sobald sie denken, in Grün, in Blattgrün? Geht pflanzliches Denken eher von Blattgrün<br />

aus, um es zu überwinden, weil auch Grün Gefängnis ist?<br />

5<br />

Sind Pflanzen sich selber genug, freuen sie sich immer wieder am nachstoßenden Bauch? Eine Pflanze,<br />

zur Besinnung gebracht, bliebe trotzdem entzückt über die eigene Fülle, den Vorrat an sich selber? Oder<br />

stolperte sie und empfände augenblicklich Starre, was die Kraft und den Saft ihrer grünen Grenzen<br />

angeht?<br />

10<br />

Eine Pflanze muss ja nicht unbedingt eine andere Pflanze denken. Eine Pflanze muss auch nicht zwingend<br />

sich selber denken. Ebenso wenig muss eine Pflanze etwa einen Tiger denken. Sie darf, natürlich. Selbst<br />

einen Menschen darf sie im Visier ihrer Wurzel, im Duft- und Schattenkreis ihrer obersten Knospen<br />

haben.<br />

Nur sind Tiger oder Mensch bloß unruhig, sind demnach auch nur Pflanzen, halt unruhige, besonders<br />

unruhige Pflanzen, gewissermaßen.


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 3<br />

Modul 3 Die Beziehung von erzählendem Ich zu den Aufzeichnungen<br />

(Lektüre bis Schluss)<br />

1 „Aufzeichnungen“ als literarische Gattung<br />

Nicht Roman, nicht Erzählung und auch keine Novelle: Christine Lavant hat bewusst auf eine Gattungsbezeichnung<br />

verzichtet, bzw. diese in den Titel eingebaut. Im Nachwort (S. 99) wird ein Brief<br />

der Autorin zitiert, worin sie unter anderem „die Russen“ und in Klammern Dostojewski erwähnt. Das<br />

ist insofern interessant, weil es von Dostojewski sowohl Aufzeichnungen aus dem Kellerloch wie auch<br />

Aufzeichnungen aus einem Totenhaus gibt – und zum Beispiel von Gogol Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen.<br />

Allerdings spricht man im Falle Dostojewskis von Romanen, bei Gogol steht als Gattungsbezeichnung<br />

Novelle.<br />

a) Versuche, eine Definition von „Aufzeichnungen“ zu formulieren, wie sie zum Text von Christine<br />

Lavant passen könnte.<br />

b) In der Literatur kommen verwandte Gattungsbezeichnungen wie „Journal“, „Tagebuch“ oder<br />

„(Auto-)Biografie“ vor. Meinen diese Begriffe alle mehr oder weniger dasselbe? Wo würdest du<br />

Unterschiede machen?<br />

c) Im Nachwort erfahren wir auch, dass Christine Lavant nach einem Selbstmordversuch mit Tabletten<br />

im Herbst 1935 freiwillig sechs Wochen in der Landesirrenanstalt in Klagenfurt war (S. 88).<br />

Gibt es aber im Text selbst Hinweise darauf, dass Ich-Erzählerin und Autorin identisch sind?<br />

d) Die Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus wurden von der Schriftstellerin 1946 geschrieben, also<br />

elf Jahre nach ihrem Aufenthalt in der Anstalt. Welche Rückschlüsse lassen sich aus dieser Zeitdifferenz<br />

auf den Text ziehen?<br />

e) Die Autorin wählte Christine Lavant als ihren Künstlernamen, mit bürgerlichem Namen hieß sie<br />

Christine Thonhauser, nach ihrer Heirat 1939 Habernig. Was denkst du, welche Gründe haben<br />

die Autorin veranlasst, unter einem Pseudonym ihre Texte zu veröffentlichen?<br />

f) Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden immer wieder gefragt, ob ihre Texte autobiografisch<br />

seien. Ingeborg Bachmann (1926–1973) antwortete auf diese Frage einmal so: „Im Widerstreit<br />

des Möglichen mit dem Unmöglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.“ – Was glaubst du,<br />

wollte sie damit zum Ausdruck bringen? Könnte auch Christine Lavant diese Antwort gegeben<br />

haben?<br />

g) Eine von Lavants Antworten auf die Frage nach dem Selbst lautet so: „Das Selbst ist ein herrliches<br />

Geheimnis hinter tausend und einem Elend und niemals darstellbar. (…) Das wahrhaft<br />

Erlebte oder vielmehr die stückweisen Spiegelbilder davon finden sich mehr oder weniger verzaubert-verdichtet<br />

in meinen Büchern.“ (Nachwort, S. 89) – Versuche, diese Antwort zu interpretieren!<br />

Inwieweit trifft diese Antwort grundsätzlich auf Literatur zu?


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Modul 3<br />

2 Die Liebe und die Angst, existenziell und wahrhaftig<br />

„Das Selbst ist ein herrliches Geheimnis“ erfahren wir von Christine Lavant; ein anderes Geheimnis<br />

– eine verborgene Liebe – ist in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus zentral. Der Ich-Erzählerin<br />

geht es darüber hinaus um Wahrhaftigkeit, auch von Scham und Not ist oft die Rede. Das sind<br />

Themenkreise, die zur Zeit der Niederschrift des Textes auch aus philosophischer Perspektive neu aufgeworfen<br />

wurden, durch den Existenzialismus, wie ihn Jean-Paul Sartre (1905–1980) und andere begründeten.<br />

Diesen existenziellen Themen gilt nun unsere Aufmerksamkeit:<br />

h) Womöglich ist die Liebe das Thema überhaupt in Lavants Aufzeichnungen; auf den Verdacht,<br />

hinter dem Selbstmordversuch der Ich-Erzählerin könnte eine unglückliche Liebe stecken, antwortet<br />

diese: „… denn welche Liebe ist unglücklicher als diese, die nie gefordert und so auch<br />

nie geleistet wird.“ (S. 23, oben) Hinweise auf eine konkrete Liebe finden sich auf derselben<br />

Seite, weiter unten: Zunächst gewärtigen wir eine eigentümliche Lücke, markiert gleich mit drei<br />

Gedankenstrichen, und am Ende der Seite findet sich der geheimnisvolle Satz: „Wenn ich die<br />

Augen zumache und nur den Gerüchen nachgehe, kann ich mir jederzeit einreden, dass ich dort<br />

bin, wo er herumgeht …“ – Lassen sich diese Textstellen entschlüsseln? Welche weiteren Textstellen<br />

kannst du ausmachen, die das Geheimnis der Protagonistin weiter erhellen?<br />

i) Mit Blick auf den Aufenthalt im Irrenhaus finden wir (scheinbar) widersprüchliche Aussagen der<br />

Ich-Erzählerin. Zum einen: „Ja, ich kann mir vorstellen, dass ich hier zu einer Art Ruhe kommen<br />

könnte, wenn es auf einmal hieße, ich müsste für immer hier bleiben.“ (S. 54), zum andern: „Nur<br />

ist es hier völlig aussichtslos, sich zu verbergen, es gibt ja nirgendwo Winkel, und keine Türe ist<br />

verschließbar, nicht einmal die des Klosetts“ (S. 64) Später erfahren wir: „Hier bin auch ich und<br />

will hier bleiben für immer.“ (S. 74) Und gleich auf der folgenden Seite berichtet die Ich-Erzählerin<br />

von ihrer Entlassung aus der Irrenanstalt. – Lässt sich diese Widersprüchlichkeit erläutern?<br />

j) Zu den zentralen Aussagen des Existenzialismus finden wir bei<br />

Jean-Paul Sartre den Satz: „Der Mensch ist das Wesen, das sich<br />

in die Zukunft entwirft.“ Aber auch: „Der Mensch ist dazu verdammt,<br />

frei zu sein.“ – Wie lassen sich diese beiden Aussagen mit<br />

den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus abgleichen? Treffen sie<br />

auch auf die Ich-Erzählerin zu?<br />

k) Auch das Schreiben hat für die Ich-Erzählerin in der Anstalt eine wichtige, um nicht zu sagen:<br />

existenzielle Funktion. – Welche Rolle spielt für sie das Schreiben? Welche Textpassagen geben<br />

darüber genauer Auskunft? Schau dir insbesondere die Stelle auf Seite 66/67 an: „Sie wissen ja<br />

selbst, wie das ist, wenn man schreiben muss, nichtwahr, man schreibt ja nicht selbst, sondern<br />

irgendwer schreibt in uns, weiß Gott, was für hohe Weisheiten da noch zu Tage kommen können.“<br />

– Wie sind Armut, Not und Scham mit dem Schreiben verknüpft?


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Zusatzmaterialien<br />

Zusatz Modul 3 (Die Beziehung von erzählendem Ich zu den Aufzeichnungen)<br />

Im Irrenhaus kommen Pillen, Spritzen und Zwangsjacken zum Einsatz – die Ich-Erzählerin selbst unterzieht<br />

sich einer Arsenkur (wie sie heute in der Praxis nicht mehr gängig ist). Dass Psychopharmaka<br />

durchaus eine Wirkung haben, weiß man heute besser denn je. Wie weit die Gefühlslage der Protagonistin<br />

im Irrenhaus – insbesondere auch in ihren Träumen – der Medikation geschuldet ist, lässt sich<br />

aus dem Text nur bedingt erschließen. Ein eindrückliches Beispiel für medikamentöse Ursache und<br />

subjektiv wahrgenommene Wirkung findet sich in einem Song von Pink Floyd aus dem Album The<br />

Wall. Wer weiß, vielleicht lässt sich mit Hilfe dieses Songs die Situation der Protagonistin im Irrenhaus<br />

ein wenig nachfühlen …<br />

Comfortably Numb<br />

Hello,<br />

Is there anybody in there?<br />

Just nod if you can hear me.<br />

Is there anyone at home.<br />

Come on now,<br />

I hear you´re feeling down.<br />

But I can ease your pain<br />

Get you on your feet again.<br />

Relax,<br />

I‘ll need some information first.<br />

Just the basic facts.<br />

Can you show me where it hurts.<br />

There is no pain you are receding.<br />

A distant ship smoke on the horizon.<br />

You are only coming through in waves.<br />

Your lips move but I can‘t hear what you‘re saying.<br />

When I was a child I had a fever.<br />

My hands felt just like two balloons.<br />

Now I‘ve got that feeling once again.<br />

I can‘t explain you would not understand.<br />

This is not how I am.<br />

I have become comfortably numb.<br />

O.K.<br />

Just a little pinprick.<br />

There‘ll be no more aaaaaaaah!<br />

But you may feel a little sick.<br />

Can you stand up?<br />

I do believe it‘s working good.<br />

That‘ll keep you going through the show.<br />

Come on it‘s time to go.<br />

There is no pain you are receding.<br />

A distant ship smoke on the horizon.<br />

You are only coming through in waves.<br />

Your lips move but I can‘t hear what you‘re saying.<br />

When I was a child,<br />

I caught a fleeting glimpse<br />

Out of the corner of my eye.<br />

I turned to look but it was gone.<br />

I can not put my finger on it now.<br />

The child has grown, the dream is gone.<br />

And I have become<br />

comfortably numb.<br />

I have become comfortably numb.


Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus/Zusatzmaterialien<br />

Comfortably Numb – Angenehm gefühllos<br />

Hallo,<br />

Ist hier drinnen jemand?<br />

Nick nur, wenn du mich hören kannst.<br />

Ist da jemand zu Hause?<br />

Nun komm schon,<br />

Ich höre, dass du dich mies fühlst.<br />

Ich kann deinen Schmerz lindern<br />

und dich wieder auf deine Füße stellen.<br />

Entspann dich.<br />

Ich werde zuerst ein paar Informationen brauchen.<br />

Nur die wichtigsten Fakten.<br />

Kannst du mir zeigen, wo es wehtut.<br />

Es gibt keinen Schmerz, du entfernst dich.<br />

Ein fernes Schiff, Rauch am Horizont<br />

Du kommst nur in Wellen durch.<br />

Deine Lippen bewegen sich, aber ich kann nicht hören, was du sagst.<br />

Als ich ein Kind war, hatte ich Fieber.<br />

Meine Hände fühlten sich an wie zwei Luftballons.<br />

Jetzt habe ich noch einmal dieses Gefühl<br />

Ich kann es nicht erklären, du würdest es nicht verstehen.<br />

Das ist nicht so wie ich bin.<br />

Ich bin angenehm gefühllos geworden.<br />

Ich bin angenehm gefühllos geworden.<br />

O.K.<br />

Nur ein kleiner Einstich.<br />

Es wird kein aaaaaaaah mehr geben<br />

Aber es kann sein, dass dir ein bisschen elend wird.<br />

Kannst du aufstehen?<br />

Ich glaube es wirkt, gut.<br />

Das wird dir helfen durch die Show zu kommen.<br />

Auf geht’s, es ist Zeit zu gehen.<br />

Es gibt keinen Schmerz, du entfernst dich.<br />

Ein fernes Schiff, Rauch am Horizont<br />

Du kommst nur in Wellen durch.<br />

Deine Lippen bewegen sich, aber ich kann nicht hören, was du sagst.<br />

Als ich ein Kind war<br />

Erhaschte ich einen flüchtigen Blick<br />

Aus meinen Augenwinkeln<br />

Ich drehte mich um, um zu sehen, aber es war weg.<br />

Ich kann’s jetzt nicht (mehr) genau sagen<br />

Das Kind ist herangewachsen.<br />

Der Traum ist vorbei.<br />

Ich bin angenehm<br />

gefühllos geworden.


Diese Unterrichtsmaterialien sind dem Buch Lektüren I. Begleitmaterialien zu ausgesuchten Werken<br />

der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ISBN 978-3-7099-7041-6; <strong>Haymon</strong> <strong>Verlag</strong> 2013) von<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong> und <strong>Lara</strong> Dredge entnommen. Im Buch finden Sie zusätzlich weiterführende Materialien<br />

für Lehrerinnen und Lehrer. Ein Exemplar dieses Buchs können Sie unter office@haymonverlag.at<br />

zum Preis von € 9.95 bestellen. Für LehrerInnen ist die Bestellung kostenlos.<br />

Lektüren I bietet Begleitmaterialien zu acht wichtigen Werken der Gegenwartsliteratur aus Österreich,<br />

Südtirol und der Schweiz, die inhaltlich wie formal für die Behandlung im Deutschunterricht prädestiniert<br />

sind. <strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong> und <strong>Lara</strong> Dredge, die aus langjähriger Praxiserfahrung im Deutschunterricht schöpfen,<br />

haben zu diesen Texten didaktische Hilfestellungen ausgearbeitet, die Lehrerinnen und Lehrern in<br />

der Vorbereitung ihres Unterrichts bestmöglich unterstützen. In geschlossene Module gegliedert, ermöglichen<br />

die Begleitmaterialien einen flexiblen Einsatz im Rahmen eines zeitgemäßen Literaturunterrichts.<br />

<strong>Lara</strong> Dredge-Zehnder, lic. phil. I, geboren 1968, Studium der Germanistik und Anglistik, Zürich. Lehrerausbildung<br />

Sekundarstufe II.<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong>, lic. phil. I, geboren 1969. Studium der Philosophie und Germanistik, Zürich. Autor und<br />

Herausgeber.<br />

Beide unterrichten seit Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau.

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