Berliner anarchistisches Jahrbuch - North-East Antifascists [NEA]
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mit Lebensmitteln in die Unterkunft<br />
brachten. „Dadurch fanden Flüchtlinge<br />
und nicht-organisierte Aktivisten in<br />
Würzburg zum ersten Mal in größerem<br />
Maßstab zusammen“, erzählt eine<br />
Würzburger Aktivistin. Geldspenden,<br />
Sachspenden, juristische und organisatorische<br />
Hilfen wurden für den Protest<br />
gesammelt.<br />
Dass diese neuen Kontakte in die traditionell<br />
kleine politische Szene Würzburgs<br />
für die Zukunft wichtig sein sollten,<br />
zeigte sich nur wenige Tage später,<br />
als Flüchtlinge eine explizit politische<br />
Demo organisieren wollten, dabei<br />
aber auf heftigen Gegenwind stießen.<br />
„Diese Demonstration war im übrigen<br />
diejenige“, schrieb GU-Bewohner und<br />
Journalist Arash Zehforoush, „welche<br />
seitens einiger der ‘sozial Engagierten’<br />
nicht nur boykottiert, sondern auch<br />
massivst sabotiert wurde“.<br />
„Zu politisch“, „zu ideologisch“, „weltanschaulich<br />
nicht auf neutralem Boden“,<br />
„Instrumentalisierung“ des<br />
Suizids von Rahsepar waren die<br />
Stichworte, mit denen die erste Demo<br />
am 13. Februar diskreditiert wurde.<br />
Von Seiten des in der Gemeinschaftsunterkunft<br />
ehrenamtlich geführten<br />
Heimcafés, des Würzburger Ausländerbeirats<br />
oder der Würzburger Mon-<br />
tagsspaziergänger wurde dem Protest<br />
unterstellt, von Hintermännern gesteuert<br />
zu werden. „Der Würzburger<br />
Ausländerbeirat vermisste Klarheit<br />
über die Organisatoren der Demonstration“,<br />
berichtete die Mainpost. Und<br />
im Bayerischen Rundfunk behauptete<br />
die Heimcafé-Leiterin Eva Peteler:<br />
„Den meisten Flüchtlingen sind weder<br />
die Initiatoren dieser Demonstration<br />
bekannt, noch ihre Forderungen und<br />
Ziele. Deshalb distanzieren sich viele<br />
heute und sagen: Was ich nicht kenne,<br />
kann ich nicht unterstützen!"<br />
Zu ungeheuerlich war wohl der Gedanke,<br />
dass tatsächlich einmal einige<br />
Flüchtlinge als Individuen ihre<br />
eigene Protestform und ihre eigenen<br />
Verbündeten gewählt haben könnten.<br />
Obwohl es gerade individuelle Kraftanstrengungen<br />
inner- und außerhalb<br />
der GU waren, die die Demo jenseits<br />
von Pro Asyl, kirchlichen oder karitativen<br />
Einrichtungen ermöglichten,<br />
wurden wahnhaft versteckte Organisatoren<br />
im Hintergrund halluziniert.<br />
Als rund einen Monat später, am 19.<br />
März, zehn iranische Flüchtlinge in<br />
einem Zelt mitten in der Würzburger<br />
Innenstadt in den Hungerstreik traten<br />
– nicht einmal das Zelt wurde gespendet,<br />
sondern musste gekauft werden –,<br />
zeigten sich die gleichen Reflexe. „Das<br />
alles findet sehr im Verborgenen statt.<br />
Man weiß nicht, wer dort mit welchen<br />
Zielen operiert“, äußerte sich die schon<br />
zitierte Heimcafé-Leiterin in der Lokalpresse.<br />
Je länger das Zelt danach stand, desto<br />
mehr wurde der Flüchtlingsprotest<br />
durch Stadt und Polizei mit teils absurden<br />
Auflagen mit noch absurderen Begründungen<br />
gegängelt: Nächtigungsverbot,<br />
Verbot des Heizens, Offenhalten<br />
des Pavillons, Beschränkung auf ein<br />
Bett, etc. Die Aktivist*innen zogen<br />
gegen die Stadt Würzburg bis vor den<br />
Verwaltungsgerichtshof in München.<br />
Anwaltsgebühren und Gerichtskosten<br />
im vierstelligen Bereich hätten den<br />
Protest damals mehr als einmal an<br />
den Rand des Scheiterns gebracht, berichten<br />
Helfer*innen.<br />
Als sich bis zu sieben hungerstreikende<br />
Flüchtlinge Anfang Juni außerdem<br />
die Münder zunähten – „es gibt nichts<br />
mehr zu sagen, es wurde alles gesagt“,<br />
schrieben sie – sorgte das für weitere<br />
hastige Distanzierungen. Die grundsätzlich<br />
solidarische grüne Landtagsabgeordnete<br />
Simone Tolle etwa kritisierte<br />
in einem offenen Brief, damit<br />
sei „eine Grenze überschritten“, auch<br />
der Bayerische Flüchtlingsrat und die<br />
Internationale Föderation Iranischer<br />
Flüchtlinge (IFIR) verurteilten die Protestform.<br />
„Besorgt, wohin die Eskalation<br />
treiben würde“ waren laut einer<br />
Stellungnahme auch Pro Asyl, die den<br />
Protest aber ohnehin schon monatelang<br />
ignorierten. Michael Koch vom<br />
Freundeskreis für ausländische Flüchtlinge<br />
in Unterfranken behauptete, die<br />
Aktion mache „die Arbeit kaputt, die<br />
hier seit Jahren für sie betrieben wird“<br />
und sei „von vornherein egoistisch angelegt“<br />
gewesen.<br />
Wie durch ein Wunder gelang es den<br />
Protestierenden trotz aller Widrigkeiten,<br />
ein halbes Jahr, bis September, im<br />
Zelt auszuharren. Die Aktion wurde<br />
im Lauf der Zeit Vorbild für ähnliche<br />
Proteste in Düsseldorf, Osnabrück,<br />
Aub, Regensburg, Bamberg, Berlin,<br />
Nürnberg und Passau. Am 8. September<br />
starteten die Flüchtlinge schließlich<br />
den Fußmarsch von Würzburg<br />
nach Berlin.<br />
Auf dem Marsch<br />
Auch mit dieser Aktion, die sich keine<br />
PR-Agentur besser hätte ausdenken<br />
können, spielten die Flüchtlinge<br />
im Grunde ihr eigenes Spiel. Dadurch<br />
konnten sie entlegene Lager passieren,<br />
sich mit Leidensgenossen austauschen<br />
und sich konkret etwas von der Freiheit<br />
nehmen, die ihnen durch Lagerunterbringung,<br />
Essenspakete und<br />
Residenzpflicht monate- und jahrelang<br />
genommen war.<br />
Wie die Helfer*innen in Würzburg<br />
nicht glauben konnten, dass ihr Zelt<br />
länger als einige Wochen in der Fußgängerzone<br />
stehen würde, war auch<br />
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