Berliner anarchistisches Jahrbuch - North-East Antifascists [NEA]
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gründet. Dies würde eine neue libertäre<br />
Projektkultur bedeuten, die wesentlich<br />
mehr Breitenwirkung und Kommunikationsfähigkeit<br />
hat, als versprengte<br />
kurzlebige Grüppchen libertärer Individuen<br />
oder als anarchoindividuelle*r<br />
Einzelkämpfer*in im Dschungel des<br />
kapitalistischen Daseins.<br />
Eine naheliegende Form wäre schon<br />
einmal, libertäre Wohn- und Baugenossenschaften<br />
zu gründen, ähnlich<br />
dem (Freiburger) Mietshäusersyndikat.<br />
Wohnungen und Wohnen ist ein<br />
unumgängliches Grundbedürfnis jedes<br />
Menschen und die meisten von uns<br />
tragen nach wie vor monatlich einen<br />
Großteil ihres Geldes auf die Bankkonten<br />
von Immobilienspekulanten<br />
jeder Art. Sie setzen sich unendlich erhöhbaren<br />
Mieten und unbefriedigenden<br />
Wohnformen aus und befähigen<br />
die Kapitalinhaber mit dem Surplusgewinn<br />
weitere mehr oder weniger<br />
komfortable Mietmaschinen zu bauen,<br />
die ihnen endlos Geld drucken und<br />
somit täglich ihre Macht über unsere<br />
Grundbedürfnisse erhöhen. Rechnet<br />
jede*r von uns einmal die Nettomiete<br />
zusammen, die sie* oder er* ein Leben<br />
lang an Mietherren zahlt, wird<br />
mensch zu dem Ergebnis kommen,<br />
dass mit diesem Kapitalaufwand zwei<br />
oder drei Ein-Familien-Häuser hätten<br />
gebaut oder erworben werden können.<br />
Es liegt also auf der Hand, dass<br />
es günstiger wäre, selbst Teil z.B. einer<br />
Baugenossenschaft zu sein. Beim<br />
Mietshäusersyndikat wird auf die<br />
günstigen Mieten ein kleiner Solidaritätszuschlag<br />
erhoben, der weiteren<br />
Non-Profit-Projekten die Befreiung<br />
von der Mietsklaverei, für die wir normalerweise<br />
ein bis schlimmstensfalls<br />
zwei Drittel des Monats erwerbstätig<br />
sein müssen, gestattet.<br />
Mit dem Zusammenwohnen und<br />
Selbstverwalten des eigenen Wohnprojektes<br />
wird zunächst einmal interlibertäre<br />
Kommunikation möglich und<br />
eröffnen sich andere Lebensperspektiven<br />
– zum Beispiel die, wenn mensch<br />
das möchte, im eigenen Hausprojekt<br />
wohnen bleiben zu können, bis mensch<br />
sich verändern will oder natürlich aus<br />
dem Leben scheidet. Heute stehen wir<br />
vielfach gerade in Berlin und anderen<br />
Großstädten vor der Realität, nach 20-<br />
30-40-50 Jahren von einem profitgeilen<br />
Spekulanten oder einer gesichtslosen<br />
Kapitalgesellschaft aus der zur Heimat<br />
gewordenen Umgebung per Mieterhöhungen<br />
oder durch perfiede Terrorisierung<br />
durch Baulärm oder ständige<br />
Bedrängung hinausgekantet zu werden.<br />
Nicht ohne durch den neureichen<br />
Nachfolgemieter oder -käufer der nun<br />
Eigentumswohnung dreist angegrinst<br />
zu werden: „Na nun sei’n se doch mal<br />
demokratisch: Sie haben jetzt so lange<br />
hier gewohnt und die Umgebung genossen,<br />
nu lassen’Se andere auch mal!“<br />
Zusammen wohnen heißt aber auch<br />
andere Dinge gemeinsam organisieren<br />
zu können, wie den gemeinsamen<br />
Einkauf, z.B. mit einer Food-Coop oder<br />
einem Genosschafts-Einkaufsmarkt<br />
und die Gestaltung der Umgebung.<br />
Im eigenen Genossenschaftsbau lassen<br />
sich auch Geschäftsräumlichkeiten<br />
unterbringen, in denen für den Broterwerb<br />
gearbeitet werden kann. Dieser<br />
Broterwerb kann ja auch politisch sein<br />
– muss es aber nicht unmittelbar. In<br />
gewissem Ausmaß können auch soziale<br />
Einrichtungen wie Versammlungsräume,<br />
Vereinscafés, Mediatheken,<br />
Kultureinrichtungen, Kinderläden,<br />
Pflegedienste, Arztpraxen etc. bereitgestellt<br />
werden. Dies sind alles vitale<br />
Bedürfnisse einer altersgemischten<br />
Gemeinschaft. Mit „Karthago“ in Zürich<br />
hat der Genosse P.M. mit seinen<br />
Genossenschaftler*innen in teuerster<br />
Innenstadtlage ein Gebäude zu Wohnungen<br />
umgebaut. Weitere Gebäude<br />
sind in Planung und es gibt dort einen<br />
Zusammenschluss von Genossenschaften.<br />
Es ist also möglich – selbst im kapitalistischen<br />
Kerngebiet.<br />
Infos: www.karthago.ch<br />
Die Idee des Projektanarchismus ist<br />
nicht neu: es gibt einige anarchistisch<br />
motivierte Kommuneprojekte, aber es<br />
gab auch die Idee eines „Projekt A“ in<br />
der Stadt. Des Ideengebers Horst Stowasser<br />
Vorstellung nach sollte es eine<br />
Kleinstadt sein, in die anfangs eine<br />
kritische Masse von 200 Leuten hinziehen<br />
sollte. Dies war keine „Stadtübernahme“<br />
oder „Unterwanderung einer<br />
Kleinstadt“, wie es einige Leute herbeiphantasieren<br />
wollten, sondern schlicht<br />
die Herstellung eines kommunikations-<br />
und arbeitsfähigen Zusammenhangs,<br />
der den Mitbewohner*innen im<br />
Ort „Anarchisten“ weniger als bombenwerfende<br />
Phantasiemonster zeigen<br />
würde, sondern als die etwas anderen<br />
Nachbarn, mit denen mensch ganz vernünftig<br />
reden kann, bei denen mensch<br />
seine BioBrötchen kauft oder sich vom<br />
anarchistischen Klempnerkollektiv die<br />
Leitung reparieren lässt. Ein Schritt<br />
zur Normalität von Anarchismus also,<br />
ein Ansatz zu integralem Anarchismus,<br />
der sich im Experiment beweisen<br />
musste.<br />
Leider hat dies nicht so richtig funktioniert,<br />
was aber weniger an den<br />
normalen Nachbarn lag, als an der<br />
Binnenstruktur der leider viel kleiner<br />
als geplanten anarchistischen Gemeinschaft.<br />
Aber es sind wertvolle<br />
Erfahrungen gemacht worden und in<br />
Neustadt an der Weinstraße existieren<br />
noch einige respektable Hinterlassenschaften<br />
dieses Versuchs, wie z.B. der<br />
ÖkoHof oder der Tante-Emma-Laden,<br />
ein anarchistischer Infoladen letzterer<br />
2012 geschlossen.<br />
Das letzte Projekt, das Horst Stowasser<br />
angeschoben hat, war das eines<br />
generationenübergreifenden Wohnens<br />
nach libertären Grundideen, dem sich<br />
JEDER Mensch anschliessen konnte,<br />
der sich auf diese Grundlagen einlassen<br />
wollte – Anarchist*in musste er<br />
nicht sein. Dies war artverwandt zu<br />
den Prinzipien der anarchosyndikalistischen<br />
Gewerkschaften, die auch<br />
nichtanarchistische Menschen aufnahmen,<br />
wenn diese sich den Prinzipien<br />
der Gewerkschaft anschlossen.<br />
Auch dieses Projekt Horst Stowassers,<br />
der Eilhardshof, ist gescheitert – diesmal<br />
an den Tücken des Alltags: der<br />
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