Hinduismus/Indien – der Milchozean
Hinduismus/Indien – der Milchozean
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DEUTSCH • Kosmologien <strong>–</strong><br />
Weltentstehungsgeschichten (Thiel)<br />
Der <strong>Milchozean</strong> ist ein Urmeer <strong>der</strong> hinduistischen<br />
Mythologie. Danach besteht die mittlere<br />
Ebene des Kosmos aus konzentrisch angeordneten<br />
Kontinenten, von riesigen Ozeanen<br />
aus verschiedenen Flüssigkeiten getrennt. Der<br />
innerste Ozean enthält Salzwasser, <strong>der</strong> äußerste<br />
ist <strong>der</strong> <strong>Milchozean</strong>.<br />
Damit verbunden ist <strong>der</strong> beliebte hinduistische<br />
Schöpfungsmythos „Das Quirlen des<br />
<strong>Milchozean</strong>s“, <strong>der</strong> in vielen Schriften in verschiedenen<br />
Versionen vorkommt, in den großen<br />
Epen Mahabharata und Ramayana<br />
ebenso wie in einigen Puranas. Er liefert<br />
Grundlage und Erklärung für unzählige weitere<br />
Mythen. Vielfach wurde er verän<strong>der</strong>t,<br />
ergänzt o<strong>der</strong> nur in Auszügen wie<strong>der</strong>gegeben.<br />
In jedem Fall jedoch ist Vishnu die<br />
zentrale Gottheit und immer wie<strong>der</strong> Retter.<br />
Von ihm berichtet die Überlieferung, dass er<br />
im <strong>Milchozean</strong> während einer Weltnacht,<br />
<strong>der</strong> Zeit zwischen zwei Schöpfungen, auf <strong>der</strong><br />
Schlange Shesha im kosmischen Schlaf ruht.<br />
Auf <strong>der</strong> aus seinem Nabel entstehenden<br />
Lotosblüte thront <strong>der</strong> vierköpfige Brahma,<br />
<strong>der</strong> in seinem Auftrag eine neue Schöpfung<br />
hervor bringt.<br />
Thema <strong>der</strong> Geschichte vom „Quirlen des<br />
<strong>Milchozean</strong>s“ ist die Suche nach dem<br />
Unsterblichkeitstrank, Amrita, den Götter<br />
ebenso wie Dämonen begehren, <strong>der</strong> aber für<br />
alle unerreichbar im <strong>Milchozean</strong> verborgen<br />
liegt. Erst das gemeinsame Quirlen des<br />
Urwassers, dass eintausend Götterjahre<br />
gedauert haben soll, lässt das ersehnte Elixier<br />
nach vielen Hin<strong>der</strong>nissen auftauchen.<br />
<strong>Hinduismus</strong>/<strong>Indien</strong> <strong>–</strong> <strong>der</strong> <strong>Milchozean</strong><br />
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Die Butter spielt deswegen eine so große Rolle, weil sie an den alten Schöpfungsmythos<br />
vom im großen <strong>Milchozean</strong> als Schildkröte lebenden Vishnu<br />
rührt. Als Brahma, <strong>der</strong> Schöpfergott, die Schildkröte bewegt, wird die Milch<br />
allmählich fest, ein Butterberg entsteht, aus dem später die Welt hervorgehen<br />
wird. Der wohlgenährte Bauch des Bu-Dai Buddha, auch „Happy Buddha“<br />
genannt, findet seine Entsprechung im weiterem Attribut des prall gefüllten<br />
Stoffbeutels. Beide stehen sie für Wohlstand und Potenz. Das Streichen über<br />
den Bauch einer Buddhastatue gilt vielen Gläubigen als glücksverheißend.<br />
Vishnu auf <strong>der</strong> Schlange Shesha im Urmeer und Gemahlin Lakshmi, die als<br />
Verehrungsgeste seine Füße massiert, während aus seinem Nabel auf einer<br />
Lotosblüte sitzend <strong>der</strong> vierköpfige Schöpfergott Brahma erscheint.<br />
Vishnu ist eine <strong>der</strong> wichtigsten Formen des Göttlichen im <strong>Hinduismus</strong>, kommt<br />
jedoch bereits in den Veden vor. Im Vishnuismus gilt er als die Manifestation<br />
des Höchsten. Seine Shakti, die weiblich gedachte Seite des Göttlichen, ist<br />
die Göttin Lakshmi, die als seine Gattin gilt. Vishnu ist Teil <strong>der</strong> Trimurti, einer im<br />
<strong>Hinduismus</strong> sehr bekannten Konzeption <strong>der</strong> „drei Gestalten“. Diese besteht aus<br />
drei Aspekten des Göttlichen, die mit den fundamentalen Prinzipien des Kosmos<br />
in Verbindung stehen: • die Schöpfung: Brahma • die Erhaltung: Vishnu<br />
• die Kraft <strong>der</strong> Zerstörung: Shiva<br />
Ravi_Varma-Lakshmi<br />
Lakshmi ist die hinduistische Göttin des Glücks und <strong>der</strong> Schönheit, nicht nur<br />
Spen<strong>der</strong>in von Reichtum, son<strong>der</strong>n auch von geistigem Wohlbefinden, von Harmonie,<br />
von Fülle und Überfluss, Beschützerin <strong>der</strong> Pflanzen. Sie ist die Shakti,<br />
die erhaltende Kraft des Vishnu, und dessen Gemahlin.<br />
Lakshmi wird auch Shri-Lakshmi genannt, und als Shri ist sie ein Attribut des Vishnu,<br />
an dessen Körper sie als Symbol z. B. in Form eines Dreieckes erscheint.<br />
Schon die Veden berichten über Lakshmi, die Göttin <strong>der</strong> Schönheit. Nach <strong>der</strong><br />
Mythologie entstieg sie dem <strong>Milchozean</strong>, als dieser durch die Devas (Götter)<br />
und Asuras (Dämonen) auf <strong>der</strong> Suche nach Amrita (Trank, <strong>der</strong> unsterblich<br />
macht, Ambrosia) aufgeschäumt wurde. Dieser Mythos berichtet weiter, wie<br />
sie, dem Wasser entstiegen, Vishnu als Gatten erwählte.<br />
Kumbh Mela (links) ist das größte Fest im <strong>Hinduismus</strong>, eine rituelle Waschung<br />
an einem beson<strong>der</strong>s Heiligen Ort. Kumbh („Krug“) und Mela („Fest“) ist die<br />
Übersetzung dazu. Die Kumbh Mela wird nur alle 12 Jahre gefeiert und folgt<br />
dem Zyklus des Jupiters. Dieses religiöse Fest findet nur in vier verschiedenen<br />
Orten <strong>Indien</strong>s statt: Prayag (Allahabad), Haridwar, Ujjain und Nashik.
DEUTSCH • Kosmologien <strong>–</strong><br />
Weltentstehungsgeschichten (Thiel)<br />
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Viele mythologische Vorstellungen des <strong>Hinduismus</strong> basieren<br />
auf <strong>der</strong> populären Geschichte vom „Quirlen des<br />
<strong>Milchozean</strong>s“: Sie erklärt nicht nur wichtige Attribute<br />
vieler Götterdarstellungen, wie Vishnus Brustjuwel, den<br />
Mond an Shivas Stirn, den Elefanten Indras sowie die<br />
Darstellung <strong>der</strong> Lakshmi mit den vier Elefanten. Die<br />
Erzählung enthält auch die Überlieferung vom zweiten<br />
Avatar Vishnus, Kurma, die Schildkröte, welche die Welt<br />
vor ihrem Untergang rettet. Ebenso findet Nilakanta,<br />
eine populäre Form Shivas als Helfer, hier ihren<br />
Ausgangspunkt.<br />
Eine <strong>der</strong> verschiedenen Ursprungsmythen zum größten<br />
Badefest <strong>der</strong> Welt, <strong>der</strong> Kumbha Mela, begründet die<br />
Entstehung gleichfalls mit einer Begebenheit in diesem<br />
Mythos: Als Götter und Dämonen um den Krug (kumbha)<br />
mit dem Amrita stritten, verschütteten sie vier dieser kostbaren<br />
Tropfen. Wo sie zur Erde fielen entstanden heilswirksame<br />
Orte, an denen die Feste noch heute stattfinden.<br />
Der dem <strong>Milchozean</strong> entstiegene Dhanvantari, laut<br />
Puranas wie<strong>der</strong>um eine Form Vishnus, gilt als Quelle des<br />
Ayurveda, <strong>der</strong> traditionellen indischen Heilkunst.<br />
Wie in an<strong>der</strong>en Erzählungen <strong>der</strong> indischen Überlieferung<br />
lässt die reiche Symbolik <strong>der</strong> Bildsprache des Mythos<br />
unzählige Erklärungsmodelle zu.<br />
Der Stupa<br />
Mit Stupa war in uralten Zeiten <strong>der</strong> Erdhügel gemeint,<br />
<strong>der</strong> über den Überresten einer toten Person errichtet<br />
wurde (aus dem Sanskrit stup: aufhäufen, ansammeln).<br />
Dieser Hügel hatte die Form einer Halbkugel und war<br />
meist aus Erde o<strong>der</strong> auch aus Stein gemacht: die In<strong>der</strong><br />
setzten einen Stab in den Mittelpunkt <strong>der</strong> Halbkugel und<br />
beerdigten die Gebeine unter ihm. Der Stab wurde als<br />
Verbindung zum Zentrum des Universums angesehen,<br />
welches alle Energie sammelte und die Geburt allen<br />
Lebens beeinflusste. Die (Halb-)Kugel als Symbol für<br />
Vollständigkeit zeigte die Balance von Energie im<br />
Universum, wurde zum Symbol des Universums.<br />
<strong>Hinduismus</strong>/<strong>Indien</strong> <strong>–</strong> <strong>der</strong> <strong>Milchozean</strong><br />
Götter und Dämonen stritten ständig miteinan<strong>der</strong> und viele von ihnen kamen in<br />
den Kämpfen um. So baten sie Vishnu um Rat und dieser schlug den Göttern<br />
ein Bündnis mit den Dämonen vor, um Amrita, das Getränk <strong>der</strong> Unsterblichkeit,<br />
zu erlangen. Um den Berg Mandara (in an<strong>der</strong>en Versionen Meru genannt)<br />
wanden sie als Seil die Schlange Vasuki und machten ihn so zum Quirl. Mit<br />
dem Einverständnis von Ozean und Vasuki konnte das Rühren beginnen. Die<br />
Götter zogen am Schwanz, die Dämonen am Kopf. Lange zeichnete sich kein<br />
Erfolg ab, <strong>der</strong> Berg drohte sogar im Ozean zu versinken. Da nahm Vishnu die<br />
Form einer riesigen Schildkröte an, kroch unter den Berg um ihn auf dem<br />
Rücken langsam aus dem Wasser zu heben und zu stützen.<br />
Mit dem Quirl aus Berg und Schlange rührten die Verbündeten das Wasser<br />
weiter, bis dieses schließlich so weiß wie Milch wurde. Plötzlich drohte ein<br />
schreckliches, aus dem Wasser aufsteigendes Gift alle zu vernichten. Doch<br />
Shiva eilte zu Hilfe, er trank das Gift Halahala bis zum letzten Tropfen aus.<br />
Seitdem ist sein Hals „nil“, d.h. blau, und darum nennt man ihn auch<br />
„Nilakanta“, „<strong>der</strong> mit dem blauen Hals“. Das Quirlen konnte weitergehen und<br />
nacheinan<strong>der</strong> erschienen aus dem milchigweißen Ozean verschiedene<br />
Kostbarkeiten.<br />
Zuerst kam Chandra, <strong>der</strong> Mond, zum Vorschein, <strong>der</strong> jetzt die Stirn Shivas<br />
schmückt. Uchchaishrava, das weiße Pferd, erhielt <strong>der</strong> Dämonenkönig, musste<br />
es jedoch bald an Indra abtreten. Das Juwel Kaushtuba trägt nun Vishnu und<br />
die Wunschkuh Kamadhenu wurde Eigentum <strong>der</strong> Rishis. Kalpavrksha, den<br />
Wunschbaum, pflanzte Indra in seinen Garten. Sogar die Göttin Lakshmi stieg<br />
strahlend schön auf einer Lotus-Blüte aus dem Ozean. Ihr Erscheinen löste<br />
Begeisterung unter allen Anwesenden aus, und die vier Himmelselefanten<br />
gossen segnend aus goldenen Krügen Wasser über sie. Lakshmi selbst wählte<br />
Vishnu zu ihrem Gatten. Wie<strong>der</strong> ging das Quirlen weiter. Dann erschien<br />
Varuni, die Göttin des Weines, welche die Dämonen für sich behielten.<br />
Schließlich tauchte aus dem Wasser die Gestalt eines dunklen, jungen Mannes<br />
auf, reich geschmückt mit Juwelen und mit einer Blütenkette um den Hals. Es<br />
war Dhanvantari, <strong>der</strong> Arzt <strong>der</strong> Götter und Ursprung je<strong>der</strong> Heilkunst. In seiner<br />
Hand hielt er wonach sich alle sehnten, einen großen Krug mit Amrita, dem<br />
Getränk <strong>der</strong> Unsterblichkeit. Hatten Götter und Dämonen bis jetzt zusammengearbeitet,<br />
begann nun wie<strong>der</strong> Streit. Trotz <strong>der</strong> Vereinbarung, alles zu teilen,<br />
wollten die Dämonen das kostbare Getränk gierig an sich reißen. Da kam<br />
Vishnu herbei, jedoch diesmal in Gestalt einer begehrendswerten jungen Frau,<br />
Mohini. Freundlich lächelnd erbot sich die Schöne, Amrita an alle zu verteilen.<br />
Durch einen Trick jedoch verabreichte sie nur den Göttern das Elixier, die in<br />
ihrer Verliebtheit unaufmerksamen Dämonen dagegen gingen leer aus. Nur<br />
einer von ihnen, Rahu, hatte sich misstrauisch unter die Götter gemischt, um<br />
auch einen Tropfen zu erhalten. Doch Sonne und Mond verrieten ihn und<br />
Vishnu/Mohini schlug mit <strong>der</strong> Wurfscheibe blitzschnell Rahus Kopf ab, noch<br />
bevor das Amrita, das er gerade geschluckt hatte, den Körper erreichen konnte.<br />
Nur sein Kopf wurde damit unsterblich, <strong>der</strong> Körper fiel leblos zur Erde.<br />
Seither will Rahu sich an Sonne und Mond rächen, indem er immer wie<strong>der</strong><br />
versucht, sie zu verschlucken. Auf <strong>der</strong> Erde lässt sich das als Sonnen- o<strong>der</strong><br />
Mondfinsternis beobachten. Die durch das Amrita gestärkten Götter aber<br />
erhielten ihren Platz im Himmel zurück.<br />
Die Textquellen berichten unterschiedlich, welche Gegenstände aus dem<br />
Wasser auftauchten und in welcher Reihenfolge. Die Zahl schwankt zwischen<br />
neun und vierzehn. Außer den genannten kommen häufig noch Airavata vor,<br />
<strong>der</strong> Elefant, <strong>der</strong> nun als Begleittier von Indra gilt, Parijata, ein himmlischer<br />
Baum, <strong>der</strong> mit seinen Blüten die ganze Welt parfümiert, sowie die Apsaras,<br />
himmlische Tänzerinnen. Gelegentlich nennen die Schriften Vijaya, eine<br />
Medizinpflanze, die gegen jede Vergiftung hilft, einen Schirm für Varuna, ein<br />
weiteres Pferd, das die Sonne für sich beanspruchen darf, Ohrringe für die<br />
Göttin Aditi und die als göttlich verehrte Tulsi-Pflanze.