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pa - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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Die klösterliche Welt Tibets (vor 1950)<br />

in säkularer Perspektive<br />

<strong>Horst</strong> <strong>Südkamp</strong>


3<br />

Inhalt<br />

I ....................................................................................................................................................................................................................................... 5<br />

EINLEITUNG ........................................................................................................................5<br />

DER SAGHA: IDEE UND MÖGLICHKEIT ............................................................................20<br />

DIE BUDDHISTISCHE MISSIONIERUNG TIBETS .....................................................................28<br />

Die erste Phase des Buddhismus in Tibet ......................................................................28<br />

Tsidar (Phyi-dar) oder die „zweite Verkündung der Lehre“..........................................33<br />

DAS KLOSTER, BAU EINES VERHÄLTNISSES ZUR ERDE: ORT DER EINKEHR..........................38<br />

Lage..........................................................................................................................40<br />

Größe der Klöster......................................................................................................47<br />

II ................................................................................................................................................................................................................................... 51<br />

DAS KLOSTERWESEN IN POLITISCHER PERSPEKTIVE ...........................................................51<br />

Das demographische Bild .............................................................................................51<br />

Die politische Stellung des monastischen Systems .........................................................62<br />

Der institutionelle Aufbau der großen Klöster...............................................................71<br />

Das Beispiel der Klöster Drepung (’Bras-spus) und Sera (Se-ra)................................79<br />

Kleinere Filialklöster....................................................................................................84<br />

Das Kloster als Grundherr............................................................................................91<br />

III................................................................................................................................................................................................................................100<br />

DAS KLOSTER ALS WIRTSCHAFTLICHE ORGANISATION .....................................................100<br />

Die Einkünfte der Klöster............................................................................................101<br />

Der Unterhalt oder die Einkünfte der Mönche ............................................................110<br />

IV ................................................................................................................................................................................................................................116<br />

SOZIALE STATUSORDNUNG IM MONASTISCHEN SYSTEM....................................................116<br />

Die Verwaltungshierarchie des Klosters .....................................................................116<br />

Der Abt (mKhan-po) ...............................................................................................117<br />

Die Uchö (dBu-chos) ..............................................................................................117<br />

Die Kämmerer (Phyag-sbug) ..................................................................................117<br />

Das Kloster als übergeordnete Körperschaft...............................................................120<br />

Tshogchen Shenggo (Tsogs-chen Zhal-ngo)............................................................120<br />

Die Tshiso (Spyi-gso)..............................................................................................120<br />

Phodrang De<strong>pa</strong> (Pho bra sDe-<strong>pa</strong>).........................................................................120<br />

Lachi (bLa-spyi)......................................................................................................121<br />

Richi (Ri-spyi).........................................................................................................121<br />

Der Labrang (bLa-bra).............................................................................................122<br />

DIE GEISTLICHE STATUSORDNUNG TIBETISCHER KLÖSTER................................................124<br />

Der Mönch, der Klosterinsasse und das Ordensmitglied .............................................124<br />

Die Rekrutierung der Möche und ihre sozialen Hintergründe......................................129<br />

Vom Postulanten zum Novizen ....................................................................................136<br />

Die tibetischen Orden .................................................................................................139<br />

Gebildete und ungebildete Mönche: dPe-cha-ba und sGrogs-med...............................147<br />

Die Klostermilizen (rdod-rdab oder ldab-ldob)...........................................................156<br />

V..................................................................................................................................................................................................................................162<br />

GENUIN TIBETISCHE INSTITUTIONEN ................................................................................162<br />

Der bLa-ma (Skr. Guru)..............................................................................................162<br />

Der Tulku ...................................................................................................................166<br />

VI ................................................................................................................................................................................................................................175<br />

IM SPIEGEL SOZIALER ROLLEN.........................................................................................175<br />

Hoch und Niedrig .......................................................................................................177<br />

Laien und Mönche ......................................................................................................180<br />

Der Status der Frau ....................................................................................................182<br />

Körperliche Züchtigung ..............................................................................................185<br />

VII ..............................................................................................................................................................................................................................189<br />

DAS MONASTISCHE ERZIEHUNGS- UND BILDUNSGSSYSTEM...............................................189


4<br />

Vinaya (tib. lDul-ba)...................................................................................................189<br />

Der Ausbildungsrahmen im Dratsang oder Kolleg......................................................191<br />

Die Grundausbildung der Postulanten und Novizen....................................................195<br />

Das Curriculum im Kloster Sakya .............................................................................198<br />

Der Geshe (dGe-bshes)...............................................................................................200<br />

VIII.............................................................................................................................................................................................................................204<br />

DER KLOSTERALLTAG .....................................................................................................204<br />

Ein Tag im Kloster Namgyel .......................................................................................204<br />

Ein Tag im Kloster Pemiongchi (Padma bya rtse).....................................................208<br />

Tagesprogramm im Kloster Se-ra.............................................................................210<br />

Außerklösterliche Ritualdienste...................................................................................212<br />

IX ................................................................................................................................................................................................................................216<br />

DAS KLOSTER IM SOZIALEN UND POLITISCHEN BEZUGSRAHMEN .......................................216<br />

X..................................................................................................................................................................................................................................224<br />

ANHANG 1 DIE MÖNCHSTRACHT....................................................................................224<br />

ANHANG 2 HÜTE UND KAPPEN DER MÖNCHE..................................................................233<br />

ANHANG 3 LITHURGISCHE GEGENSTÄNDE......................................................................234<br />

ANHANG 4 INSTRUMENTALE RITUALBEGLEITUNG...........................................................235<br />

XI ................................................................................................................................................................................................................................241<br />

LITERATUR......................................................................................................................241


5<br />

I<br />

Einleitung<br />

Die Institutionen: Mönch, Kloster und Orden, definieren und bedingen<br />

sich gegenseitig in ihren Funktionen als Ordensmitglied, Ordenswirkungsstätte,<br />

als Insasse dieser Stätte und als Ort der ureigenen Methode<br />

der Lebensführung (ordo), welche die Ordensregeln jeweils definieren.<br />

Spricht man über eine dieser Institutionen, dann hat man die<br />

beiden anderen stets vorausgesetzt.<br />

Klöster sind in dieser Welt Stützpunkte oder Schnittstellen eines weltabgewandten<br />

geistlichen Lebens, das immer auch Einfluß nehmen will<br />

auf jene Welt, von der es sich abwendet. Sie sind ein geistlicher Ge-<br />

Sven Hedin, Ansicht von Tashi Lhunpo (Transhimalaja, 1, Leipzig 1922, S.241)<br />

genentwurf zur alltäglichen Lebensweise der Laien, auf deren Unterstützung<br />

sie aber dennoch stets angewiesen bleiben. Die Ordensregeln<br />

umreißen im engeren Sinne die Methode der geistlichen Lebensführung<br />

nicht nur innerhalb der klösterlichen Mauern und die Bedingungen<br />

der Mitgliedschaft. Der Orden repräsentiert die Vereinigung der<br />

Personen, die sich um das gemeinsame geistliche Ziel vereint haben.


6<br />

Nach dem Willen des Ordens- oder Religionsstifters sollten die Laien<br />

den Lebensunterhalt der Mönchsgemeinschaft durch freiwillige Zuwendungen<br />

garantieren und sich auf diesem Wege Verdienste (dGeba)<br />

erwerben, damit sich die Möchsgemeinschaft ihrer religiösen<br />

Aufgabe ohne Ablenkung durch weltliche Angelegenheiten widmen<br />

könne. Dieses Versorgungskonzept wurde in der Feudalgesellschaft<br />

durch Standesdifferenzierung beider Gruppen politisch institutionalisiert,<br />

so daß einem bestimmten Stand der Laien als Hörigen die Versorgung<br />

der Mönche, die in den Stand der Herren versetzt wurden, als<br />

Standespflicht auferlegt wurde. Ein Vorteil dieser Regelung für das<br />

Kloster bestand in der Kalkulierbarkeit der regelmäßigen Zuwendungen<br />

durch die Laien, welche die Mönche vom obligatorischen Bettelgang<br />

befreite.<br />

Wie sehr die Zwecke, das Handeln und die Übungen der Mönche im<br />

Kloster und im Orden auch religiös bestimmt sein mögen, soziologisch<br />

repräsentieren ihre Begriffe organisierte Formen des Zusammenlebens,<br />

Rechtsformen wie juristische Personen oder Körperschaften<br />

nicht nur kirchlichen Rechts, Statussysteme mit differenzierten<br />

Rollen, kulturelle Idealtypen, angestrebte und ausgeführte Lebensstile<br />

relativ autonomer Gemeinschaften, die in ihren Grenzen nach selbst<br />

gesetzten Regeln leben und in einem durch Status geregelten Verhältnis<br />

mit der übrigen Gesellschaft.<br />

Wer Regeln folgt, hat sich diszipliniert. Wer sich diszipliniert, unterwirft<br />

sein Verhalten der Erfüllung bestimmter Zwecke, und d.h. er<br />

handelt nach eigenem individuellen Willen; denn daß man etwas<br />

zweckgemäß hervorzubringen vermag, zeichnet ja den Willen aus. Die<br />

im Kloster geübte Methode der Lebensführung appelliert nicht nur an<br />

den individuellen Willen, sondern sie setzt seine Entscheidung voraus,<br />

sie stellt eine soziale Organisation des Verhaltens dar, die den individuellen<br />

Willen institutionalisiert, die ihre Maximen und Regeln nur<br />

auf der Grundlage der Geltung und Zustimmung des individuellen<br />

Willens jedes einzelnen Klostermitgliedes zu verwirklichen vermag,<br />

gerade weil sie ihn auf ihre Regeln hin verpflichtet. Damit erweist sich<br />

das Kloster als eine der frühesten sozialen Einrichtungen (wenn nicht<br />

gar als die früheste), die explizit auf dem individuellen Willen aufbauen<br />

und sein Vermögen als soziale Institution herausstellen und fördern.<br />

Als Schöpfungen des Willens, der Übereinkunft verschiedener Willen<br />

im Hinblick auf einen bestimmten Zweck, realisieren die Institutionen:<br />

Mönch, Orden und Kloster, einen der drei Grundtypen, in welche


7<br />

die soziale Strukturlehre die Erscheinungen der Gruppe differenziert:<br />

Gemeinschaft, Gesellschaft und Bund, d.h. sie repräsentieren die Solidaritätsform<br />

des Bundes, die zwischen den beiden Grundformen der<br />

Solidarität: Gemeinschaft und Gesellschaft, eine eigentümliche Mittelstellung<br />

einnimmt.<br />

In eben dieser sozialen Qualität des monastischen Systems als Beispiel<br />

der Solidaritätsform des Bundes, in ihrem besonderen Vereinswie<br />

Vertragscharakter und in seiner ausgebildeten Verwaltungsorganisation<br />

und ihrer Disziplin lag einst seine fortschrittliche Kraft für den<br />

Strukturwandel der tibetischen Gesellschaft von der Stammes- zur<br />

Feudalgesellschaft. Das monastische System bot dem König, der von<br />

der Zustimmung seiner fürstlichen Vasallen abhängig war, die<br />

Chance, sich von dieser Abhängigkeit zu befreien, d.h. die soziale,<br />

wirtschaftliche und politische Alternative der Reorganisation seiner<br />

Legitimation: die soziale Alternative, weil die Solidaritätsform Bund<br />

quer stand zur Konstitution der alten Bindungen und Pflichten; die<br />

wirtschaftliche Alternative, weil dem Regenten in dem Bund ein neuer<br />

loyaler Vasall erstand, der ihn als Schwertführer brauchte, so wie er<br />

dessen Qualifikationen in Verwaltung und Organisation benötigte<br />

gegen jene Vasallen, deren Mitregentschaft er abstreifen wollte; die<br />

politische Alternative, weil dieser monastische Bund mit sich als<br />

Institution, die allein auf der Übereinstimmung des Willens im Hinblick<br />

auf Zwecke basierte, in reiner Form das ausgebildet hatte, was<br />

die Grundlage allen politischen Handelns darstellt, die Organisation<br />

der Willensbildung und der Institutionen der Durchsetzung eines<br />

allgemeinen Willens.<br />

Das monastische System, und zwar in der Form, in der es nach seiner<br />

Entwicklung in Indien nach Tibet gekommen war, repräsentierte, obwohl<br />

der Zweck seiner Organisation ein religiöser war, sowohl durch<br />

die Art seiner Mitgliederselektion als auch durch die Art der institutionellen<br />

Absicherung seiner monastischen Lebensführung in der<br />

weltlichen Gesellschaft das zukunftsweisende Beispiel einer politischen<br />

Organisation, die unabhängig war von alten Stammesbindungen<br />

und Allianzpflichten, aber im Hinblick auf die Organisation der Willensbildung<br />

und der Institutionen ihrer Durchsetzung äußerst erfolgreich<br />

und in jener Zeit deshalb auch faszinierend wirken mußte. Diese<br />

Qualitäten der klösterlichen Organisation legte die reichspolitische<br />

Anbindung der Klöster geradezu nahe.<br />

„Der Mönch, als der exemplarisch religiöse Mensch, war- wenigstens<br />

in den Orden mit rationalisierter Askese, (…) zugleich der erste spezi-


8<br />

fisch »methodisch«, mit »eingeteilter Zeit« und steter Selbstkontrolle,<br />

unter Ablehnung alles unbefangenen »Genießens« und aller nicht dem<br />

Zweck seines Berufs dienenden Inanspruchnahme durch »menschliche«<br />

Pflichten, lebende »Berufsmensch« und somit dazu prädestiniert,<br />

als Werkzeug jener bürokratischen Zentralisierung und Rationalisierung<br />

der Herrschaftsstruktur (…) zu dienen und zugleich, kraft seines<br />

Einflusses als Seelsorger und Erzieher, die entsprechende Gesinnung<br />

innerhalb der religiös gestimmten Laien zu verbreiten.“ 1<br />

Die Klöster erfüllten also nicht nur ihre Funktion als die Zentren der<br />

Verbreitung einer weltanschaulichen Gesinnung, sondern auch als die<br />

Zentren sozialer und politischer Reorganisation in jener Gesellschaft,<br />

in der sie sich etablieren konnten.<br />

Die Möglichkeit politischer Instrumentalisierung des monastischen<br />

Systems wäre aber wirkungslos geblieben, wenn dieses System (das<br />

monastische) nicht auch selbst in jenem politischen System, welches<br />

das monastische so dringend brauchte, eine Chance erkannt hätte, seinem<br />

ureigensten religiösen Ziele näher zu kommen. Und eben in dieser<br />

Chance muß man den Grund suchen, der die Mönche überhaupt<br />

erst dazu hat bewegen können, sich auf diese Allianz mit der Regierung<br />

der Welt einzulassen.<br />

Diese Chance wird von seinem historischen Ergebnis her am besten<br />

erkennbar, und zwar aus der Perspektive jenes realen Dramas, in das<br />

der religiöse Kreis den Staat, den er schließlich regierte, verwickelt<br />

hatte. Dem Mönchstum erstand die Chance zur Verwandlung einer<br />

„Weltecke“ in ein Reich der Verwirklichung des von ihm angestrebten<br />

Heils und der Vorbereitung dieses Heilsgeschehens, in ein Reich, in<br />

dem jeder die Möglichkeit erhielt, sich auf den Weg des Dharma begeben<br />

zu können und „in den Strom (der Befreiung) einzutreten“. Diese<br />

Chance der Verwandlung einer noch nicht erwachten, säkularen<br />

Welt in ein heiliges Reich, in dem jeder sich nach seiner Begabung<br />

auf dem Weg zur großen Befreiung befindet, ist derart erschütternd,<br />

daß keiner, der zum Orden des Buddha gehörte, es auch nur gewagt<br />

hätte, sie nicht zu ergreifen, denn das war ja die Chance der Verwandlung<br />

der Welt in den Sagha, in jenes Kleinod, in dem sich der Dharma<br />

entfalten kann, weil ein jeder vom Vinaya geleitet wird und sich<br />

gemäß dieser Disziplin auf die Buddhaschaft vorbereitet.<br />

Nur von dieser Ergriffenheit her des frühen Mönchstums in Tibet kann<br />

man begreifen, warum es überhaupt von seiten des Mönchstums zu<br />

jener für Tibet typischen Allianz von Politik und Mönchstum hat kom-<br />

1 M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S.699


9<br />

men können, und warum das Mönchstum schließlich nach der politischen<br />

Macht im Staate streben konnte. Vom Garanten der Königsmacht<br />

entwickelte sich das Mönchstum in Tibet zur geistigen Mitte<br />

der Kultur und schließlich zum Repräsentanten der Staatsmacht und<br />

glaubte sich dabei stets geleitet von seinem religiösen Ziel. 2<br />

Das Kloster als geistige Mitte heißt das Kloster als Kultstätte, als<br />

Schule, als Hospital, als Hospiz, als landwirtschaftlicher und als Gewerbebetrieb,<br />

als Pflegestätte der Künste und Wissenschaften, kurz als<br />

Zentrum der Kultur. 3 Das Ergebnis dieses Versuchs erntete auch jenseits<br />

religiöser Reflexion jenen Respekt, den Max Weber ihm auf folgende<br />

Weise gezollt hatte. „Die Bauten, wie das Berg-Kloster Potala<br />

bei Lhasa, die Existenz der- heute verfallenen- Wissenschaft selbst in<br />

Klöstern zweiten Ranges und die Entstehung einer immerhin umfangreichen<br />

religiösen Literatur, sowie noch mehr einer Aufspeicherung<br />

von Kunstwerken zum Teil ersten Ranges in diesen Weide- und Wüstengebieten,<br />

in meist 5000 Meter Höhe über dem Meer auf einem 8<br />

Monate des Jahres gefrorenen Boden und mit einer reinen Nomaden-<br />

Bevölkerung ist unter allen Umständen eine eindrucksvolle Leistung,<br />

die nur der hierarchisch straff organisierte lamaistische Kloster-Buddhismus<br />

mit seiner schrankenlosen Macht über die Laien vollbringen<br />

konnte.“ 4<br />

Bevor man sich mit dem Scheitern dieses Versuches auseinandersetzt,<br />

der grundsätzlich durch die Abhängigkeit zu begründen ist, in welche<br />

sich das monastische System gegenüber ausländischen Hegemonialherrn<br />

mongolischer und chinesischer Provenienz auslieferte 5 , tut man<br />

gut daran, sich jenes wahrhaft erhabenen und weltlich ausgedrückt: revolutionären<br />

Vorhabens zu erinnern, das der Idee nach dem „Gottesstaat“<br />

des hl. Augustinus durchaus an die Seite gestellt werden kann,<br />

d.h. der Wiederauflage des Konzepts einer Transzendenz im Diesseits.<br />

Das Kloster war und ist es bis 1950 geblieben, die geistige Mitte des<br />

tibetischen Volkes, auch weil diese Mitte es vermochte, sich aus den<br />

weniger sichtbaren Quellen religiöser, kultureller und sozialer Erfah-<br />

2 Zur Entstehungsgeschichte der Grundlagen des tibetischen Kirchenstaates schon im Verlaufe der Yarlung<br />

Dynastie siehe: Eva K.Dargyay, Sangha and State in Imperial Tibet, in: E.Steinkeller, (Hrsg), Tibetan History<br />

and Language, studies dedicated to Uray Géza on his seventieth birthday, Arbeitskreis für Tibetische und<br />

Buddhistische <strong>Studien</strong>, Wien 1991, p.111-127<br />

3 Siehe: Thubten Jigme Norbu u. C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.107<br />

4 M.Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, II, Tübingen 1966, S.316<br />

5 Diese Option, sich auf monastische Systeme stützender Herrschaft, gehört mit Weber zu den Strukturmerkmalen<br />

jeder Hierokratie. Der Gegensatz des priesterlichen oder monastischen Charisma „gegen das politische<br />

Heldencharisma hat die Hierokratie überall den Erobererstaaten als ein Mittel der Domestikation unterworfener<br />

Völker empfohlen. So ist die tibetanische wie die jüdische und die spätägyptische Hierokratie von der Fremdherrschaft<br />

teils gestützt, teils geradezu geschaffen worden.“ M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen<br />

1980, S. 689-690


10<br />

rung zu speisen. Man kann durchaus von einer Monastifizierung der<br />

tibetischen Gesellschaft sprechen, die zunächst ein Ideal war, aber im<br />

Laufe der Geschichte, während zweier Perioden (Mongolenzeit und<br />

Dalai-Lama-Regentschaft) tatsächlich deutlich an politischer Kontur<br />

gewann, und zwar besonders im Hinblick auf die Kontrolle der politischen<br />

Macht; denn in diesen Zeiten beschränkte sich die Funktion der<br />

Laiengesellschaft ganz wesentlich auf ihren Dienst am Mönchswesen.<br />

Obwohl die Genesis dieser Verschmelzung des monastischen und des<br />

politischen Systems in Tibet nicht das Thema dieses Essays ist, betreffen<br />

doch die soziologischen Strukturmomente, die dabei eine wesentliche<br />

Rolle gespielt haben: Verein, Vertrag und Bund, sein Thema.<br />

Wir lassen es deshalb hier mit einer Feststellung von Tucci auf sich<br />

beruhen und kehren noch einmal zur Trivialität der Eingangsfeststellungen<br />

zurück: „Es zeigt sich, daß das Klosterwesen Tibets nicht unbeträchtlich<br />

von den einst in Indien bestehenden großen Mönchsgemeinden<br />

abweicht;“ 6 denn in Tibet war das Mönchstum bis 1950 der<br />

regierende Stand, der Souverän Tibets zugleich auch das monastische<br />

Oberhaupt und das Kloster somit eine Schaltzentrale von Politik und<br />

Gesellschaft. Das Mönchstum repräsentierte bis zu jenem Jahr neben<br />

den Ständen der Laienschaft einen eigenen sozialen Stand und eine<br />

eigene politische Klasse, die keiner anderen Autorität unterstand als<br />

jener des Ordens, deren Mitglied die Mönche jeweils waren.<br />

Tibets Klöster sind als relativ autarke Siedlungsalternativen also auch<br />

im Kontext der buddhistischen Ökumene buddhistische Klöster eigener<br />

Prägung und Tradition. Diese Feststellung ist sicher trivial, aber<br />

hat man sie trotzdem getroffen, dann stellt sich sofort die Frage nach<br />

der Besonderheit des tibetischen Klosterwesens im Kontext des Buddhismus,<br />

deren Untersuchung auch speziell unter diesem Blickwinkel<br />

(historisch und kulturgeschichtlich bedingte Alternativen des buddhistischen<br />

Mönchswesens) noch aussteht. Die Eigenheiten tibetischer<br />

Klöster in dieser Perspektive zu reflektieren, wäre gewiß aufschlußreich,<br />

aber diesem durchaus faszinierenden Aspekt ihres Wesens gilt<br />

das Interesse hier nicht. Er kommt daher auch immer nur dann zur<br />

Sprache, wenn er die Strukturen betrifft, die allein Gegenstand dieses<br />

Essays sind.<br />

Mönch, Orden und Kloster sollen hier zunächst nur unter den Gesichtspunkten<br />

des Vereins und seiner Mitglieder thematisiert werden,<br />

der, respektive die sich von der Welt isolier(t)en, aber dennoch mit ihr<br />

6 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.179


11<br />

verstrickt bleiben, seiner Mitgliederselektion und der Institutionen der<br />

Zielverwirklichung, weiter unter den Gesichtspunkten von sozialem<br />

Status und Rolle, und zwar kloster- und ordensintern wie in der Gesellschaft,<br />

sofern die Quellen das hergeben.<br />

Der Idee des claustrum, des von der Welt abgesonderten Ortes, werden<br />

von der Anlage her nur die kleinsten Klöster in Tibet gerecht. 7<br />

Auch davon gibt es in Tibet sehr viele, ja die meisten der Klöster sind<br />

eher kleinere Klöster. Aber ihre Filiation (dgon-lag, le-lag) mit den<br />

größeren Klöstern, welche das Land auch kulturell und politisch geprägt<br />

hatten, rechtfertigt es, zunächst jene Klöster ins Auge zu fassen,<br />

welche den Ton angaben, sowohl für ihre kleineren Filialen (dgon lag)<br />

als auch kulturell und politisch im Land. Diese Affiliation der kleinen<br />

Klöster mit den großen monastischen Zentren relativiert wiederum das<br />

primäre Motiv des claustrum und veranlaßt selbst diese kleinen Klöster,<br />

welche dafür die besten Voraussetzungen mitbringen, im Namen<br />

ihrer Oberen zu weltbezogenem Handeln, zeigt auch sie als Schaltzentralen<br />

von Wirtschaft und Staat, wenn auch häufig weniger auffällig.<br />

Die historischen Umstände der Entwicklung des Buddhismus in Tibet<br />

haben die Klöster von Anfang an mehr und anderes sein lassen als die<br />

"hauslosen", geistlichen Zentren buddhistischer Frühgeschichte. Sie<br />

hatten in einem Lande, das als föderales Königtum mit starken Feudalkonkurrenten<br />

der Könige regiert wurde, nur dann eine Chance gehabt,<br />

sich zu etablieren, wenn sie unter dem Schutz von Regenten<br />

und/oder Feudalherren standen, welche die Klöster von Beginn an als<br />

Vasallen und Feudalherren etablierten, weil etablieren mußten, und<br />

politisch auf dem Wege der Übertragung von Regierungsfunktionen<br />

an der Regierung des Landes beteiligten. So begannen sie ihre Karrieren<br />

in Tibet als die wichtigsten Träger königlicher wie auch adliger<br />

Missions-, Wirtschafts- und Verwaltungspolitik und wurden im Verlaufe<br />

ihrer sozialen und kultutrellen Integration zu den Zentren des<br />

Wissens eben auch dieser Künste, 8 die bald auch das Zepter selbst in<br />

die Hand zu nehmen in der Lage waren.<br />

7 Die von Sven Hedin besuchten Klöster im Süden und Südwesten Tibets zählten Belegschaften zwischen 4 und<br />

200 Mönchen, die Mehrzahl zählt Belegschaften deutlich unter 50. Das trifft auch für die meisten Klöster zu, die<br />

der Ethnohistorische Atlas Tibets von Peter Kessler in seinen ersten Teilausgaben der Gebiete von Ling, Derge,<br />

Tehor und Mili auflistet.<br />

8 „Patronage of these monasteries gradually spread in Tibet to the rich landlords and aristocratic families who, by<br />

letting out their lands to tenants, were able to amass fortunes and share it with the monasteries.“ R.Khosla, Architecture<br />

and Symbolism in Tibetan Monasteries, in: P.Oliver (ed.), Shelter, Sign and Symbol, London 1975,<br />

p.71


12<br />

„Hundertfünfzig Familien mit entsprechenden Liegenschaften und<br />

Ländereien wurden von K’ri sro lde brtsan zum Unterhalt des Tempels<br />

von bSam yas und zur Ausübung der vorgeschriebenen Riten bereitgestellt,<br />

ferner hundert Familien für den Klosterbetrieb als solchen.<br />

Der Ertrag der Ländereien und Weideflächen hatte alles Erforderliche<br />

zu liefern: 75 Maß (k’al) Gerste jährlich (nach anderen Quellen monatlich)<br />

für den Abt, der dazu noch 1500 Unzen Butter, ein Pferd,<br />

Tinte, Salz bekommen mußte. Die sich der Meditation widmenden<br />

Mönche, die sgom c’en, hatten ein Anrecht auf 55 Maß Gerste und<br />

800 Unzen Butter, die- vielleicht aus Indien stammenden- im Kloster<br />

lebenden indischen Lehrmeister (crya) auf 55 Maß Reis und hundert<br />

Maß Butter, die nicht zum dauernden Wohnsitz im Kloster verpflichteten<br />

bandhya auf 800 Maß Gerste, auf Papier und Tinte, die Zöglinge<br />

auf 25 Maß Gerste und Tuchstücke…<br />

Die entsprechenden Urkunden bestätigen… den Aufstieg einer neuen<br />

Rechtsperson, des im Besitz von Ländereien und beweglichen Gütern<br />

befindlichen Klosters.“ 9 Diese neue Rechtsperson, von der Tucci<br />

spricht, ist der geistliche Grundherr (snags-<strong>pa</strong>) mit seinem Beneficium<br />

(chos gzhis-ka), das Ergebnis einer Allianz des kom<strong>pa</strong>rativen Vorteils,<br />

des politischen Vorteils für den Regenten und der religiösen Chance<br />

für die Mönche, jenes Königreich in einen großen Sagha zu verwandeln,<br />

in ein genuin buddhistisches Milieu.<br />

Im Gefolge von Besetzungen des Landes durch benachbarte Großmächte,<br />

zuerst der Mongolen (im 13. und 14. Jh.) und dann später der<br />

Chinesen (seit dem 17.Jh.), bildete sich in Tibet eine kirchenstaatliche<br />

oder hierokratische Herrschaftsstruktur heraus, die bis zu einem gewissen<br />

Grade die einstige Allianz der Yarlung-Könige mit dem<br />

Mönchstum restaurierte, nämlich jene Arbeitsteilung von Schwert und<br />

Geist, gemäß der auch jene fremden Herrscher das Mönchstum mit<br />

der Verwaltung und Regierung des okkupierten oder in Vasallschaft<br />

versetzten Landes betrauten. In Zuge dieser Allianz brauchte sich nur<br />

der Frieden einzustellen, d.h. die Entbehrlichkeit des Schwertführers<br />

des Glaubens jenen zu veranlassen, sich auf seine eigene Domäne zurückzuziehen,<br />

um die Faktizität des Kirchenstaates in dem Gebiet hervorzubringen,<br />

das bevorzugt von den Mönchen verwaltet wurde. Es<br />

bildete sich also in diesen Epochen (Yüan-Suzeränität, Koshoten-Suzeränität<br />

und Ch’ing-Suzeränität) jene kirchenstaatliche Herrschaftstruktur<br />

heraus, die sich primär auf die Klöster als ihren eigentlichen<br />

9 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.22


13<br />

Macht- und geistlichen Wirkungszentren stützen konnte, und schuf so<br />

jene Institution, welche die Welt außerhalb Tibets als den lamaistischen<br />

Mönchsstaat kennt.<br />

Den Reisenden und den europäischen Forschern fielen bis 1950 daher<br />

auch stets die anderen als die geistlichen Funktionen tibetischer Klöster<br />

mehr ins Auge. Sie beschrieben die Klöster als Städte oder größere<br />

Wohngemeinden, als Handels- und Gewerbezentren, als Magazine,<br />

Kontore, als Verwaltungsstellen der Landesregierung, dann auch als<br />

Schulen und rituelle oder liturgische Zentren ihrer Region. 10<br />

Als Marktplatz, als Konzentration handwerklicher Betriebe und als<br />

Großhandelsunternehmen stellte das Kloster einen bedeutenden wirtschaftlichen<br />

Faktor seiner Region dar, als Grundherrschaft, als Gutsbesitzer<br />

mit einer betrachtlichen Anzahl von Hintersassen (chos gzhi´i<br />

mi ser) repräsentierte das Kloster mit seiner Führung, dem Klosteradel<br />

(snags-<strong>pa</strong>), neben dem Laienadel (sger-<strong>pa</strong>) den herrschenden Stand<br />

des Landes. Als Vertreter der Regierung auf regionaler Ebene agierte<br />

das Kloster außerdem als Staatsmacht, d.h. die tibetischen Klöster waren<br />

bis 1950 Institutionen des herrschenden Standes, der Politik und<br />

zum Teil auch der Regierung; sie machten sich scheinbar mehr als<br />

Standeseinrichtungen bemerkbar, als politische und wirtschaftliche Institutionen,<br />

denn als geistliche Zentren kontemplativen Lebens, als<br />

Zentren der Meditation und der monastischen Schulung, was sie natürlich<br />

auch immer waren.<br />

Das tibetische Kloster ist diesem Essay primär Gegenstand als soziale<br />

Tatsache (fait sociale 11 ), als Institution sozialer Regeln und Zwänge<br />

nach innen wie nach außen, d.h. nach außen als Institutionen wirtschaftlichen<br />

und politischen Handelns, nach innen als hierarchisch organisiertes<br />

Statusgefüge mit der entsprechenden Erwartungsvorgabe<br />

für die einzuübenden Verhaltensmuster, die dann als typische Rollen,<br />

als Verhaltensweisen, die man gegenseitig im Kloster voneinander erwartet,<br />

in Erscheinung treten. Diese betreffen dann auch das Verhältnis<br />

des Klosters zu seiner nicht klösterlichen Umwelt, des monastischen<br />

Systems zur Welt der Laien, das Verhältnis der Welt der lha-sde<br />

zu jener der mi-sde.<br />

Heute sind wir Zeuge der Auswirkungen einer Verschiebung politischer<br />

Hegemonien in einer sich technologisch annähernden Welt, d.h.<br />

10 Schon für die erste Periode der buddhistischen Missionierung Tibets gilt mit Tucci die Feststellung: „Das<br />

Kloster ist nicht nur Besitztum, es treibt auch Handel. Mit den Geschäfts- und Handelsbeziehungen befassen sich<br />

die bandhe.“ G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei,<br />

Stuttgart, Berlin, Köln Mainz 1970, S.25<br />

11 Siehe zu diesem Begriff: E.Durkheim, Regeln der soziologischen Methode, Neuwied, Berlin 1965, S.105ff


14<br />

des Drucks dieser Veränderungen der sozialen, wirtschaftlichen und<br />

politischen Strukturen auf das Erscheinungsbild und das Wesen auch<br />

des monastischen Systems, das wieder auf seine Kernfunktionen reduziert<br />

wird, sowohl in dem von China besetzten Land als auch in den<br />

Gebieten, in denen das tibetische Exilvolk und die Exilregierung um<br />

die politische Autonomie ihres Landes kämpfen, d.h. heute versteht<br />

man leichter die gestaltenden Faktoren, die auch das Klosterwesen in<br />

das Spiel der politischen und sozialen Kräfte der Gesellschaft einbeziehen,<br />

in der es sich damals eingerichtet hatte und nur einrichten<br />

konnte, weil es außerklösterliche Funktionen in Politik und Gesellschaft<br />

auf sich nahm. Nur die Bedingungen jener vergangenen kulturellen<br />

und sozialen Epoche und ihre Auswirkungen auf das Klosteroder<br />

Mönchswesen stehen hier im Vordergrund des Interesses.<br />

Manche Positionen in der monastischen Hierarchie tibetischer Klöster<br />

vor 1950 wurden mit dem erfolgreichen „Schulabschluß“, mit den erreichten<br />

scholastischen Graden und Titeln erworben, andere erbte<br />

man; die einen zeigten, wie weit man es mit Fleiß und Können bringen<br />

konnte, die anderen repräsentierten das Privileg der Herkunft aus<br />

adligen Häusern oder der „Gnadenwahl“ glücklicher Inkarnationen,<br />

die unter Umständen auch ihre Wahl in den unteren Schichten traf. 12<br />

Das bloße soziale Herkommen offerierte einem entweder soziale, respektive<br />

klerikale Chancen oder es verschloß sie einem von vornherein.<br />

Die Ausnahmen bestätigten auch hier die Regel. 13<br />

Die markante politische Funktion der tibetischen Klöster und ihre organisatorische<br />

Ausrichtung auf die Zweckerfüllung dieser Aufgabe<br />

brachte sie von Anfang an in den Widerspruch zur Idee des claustrum<br />

oder der „Hauslosigkeit“, da sie ja das weltliche Engagement der Einrichtung<br />

institutionalisierten, und Ämter wie Funktionen in das Zentrum<br />

des Handelns rückten, welche eine primär weltliche Titulatur für<br />

jene Mönche schaffen mußte, die diese hauptberuflich wahrzunehmen<br />

hatten: Kämmerer, Zeugmeister, Beamte der Regierung, usw..<br />

Als Institution der Herrschaft wurden sie ganz entgegen der monastischen<br />

Idee außerdem zu einer Einrichtung der Aufrechterhaltung bestimmter,<br />

historisch bedingter ordnungspolitischer Zustände (Feudalgesellschaft),<br />

einer weltlichen Ordnung, einer sozialen Standeshierarchie<br />

mit durch Geburt geerbten, für die jeweiligen Stände unter-<br />

12 Sarat Chandra Das, The Monastic University of Tashi Lhunpo, Journ.of Buddhist Text Society, I, <strong>pa</strong>rt 6, S.18;<br />

E. Kawaguchi, Three Years in Tibet, Benares, London 1909, S.559; Ch.Bell, Portrait of the Dalai Lama, London<br />

1946, S.264<br />

13 Siehe: Sarat Chandra Das, The Monastic University of Tashi Lhunpo, Journ.of Buddhist Text Society, I, <strong>pa</strong>rt<br />

6, S.18; E. Kawaguchi, Three Years in Tibet, Benares, London 1909, S.559; Ch.Bell, Portrait of the Dalai Lama,<br />

London 1946, S.264; R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140


15<br />

schiedlichen Rechten, die durch sie ihre religiöse Legitimation erfuhr<br />

und damit den oppositionellen Versuchen ihrer Veränderung oder Reform<br />

Hindernisse auch aus der vorherrschenden weltanschaulichen<br />

Richtung in den Weg legten. Diese Wirkung schien auch dem genuinen<br />

Ziel der Religion entgegen zu wirken, wenngleich sie als Konsequenz<br />

eben jenes Projektes erscheint, in dem sich erwachte Geister<br />

erbarmen und in die Welt treten, um diese zur Erleuchtung zu führen.<br />

Diese Barmherzigkeit offenbart sich ja gerade über ihr Engagement in<br />

der Welt und will in dieser Welt agieren. Doch eines ist die Absicht<br />

und das Motiv, das andere aber ist das, was die durch jene Motive geleiteten<br />

Taten in der Welt hervorgebracht haben.<br />

Differenzierung klösterlicher Funktionen in Tibet<br />

Kloster<br />

Leitung<br />

Magazine Kontore Bez.Regierung Rit. Zentrum Schule<br />

Kämmerer Kämmerer Abt et al. Abt Rel. Häupter Liturgen Lehrer Schüler<br />

Provost<br />

<strong>Studien</strong>präfekt<br />

Verwaltung<br />

geistliche Aufgaben/Funktionen<br />

Die Funktionen des Klosters erscheinen schon dem ersten flüchtigen<br />

Blick nach zwei Bereichen gegliedert, nach dem Bereich der weltlich<br />

orientierten Verwaltung und dem der geistlichen und rituellen Ämter<br />

und Aufgaben. Diese Zweiteilung der Funktionen in die weltlichen<br />

und die geistlichen Aufgaben, reflektieren auch die Titel der Inhaber<br />

klösterlicher Ämter (dazu unten mehr).<br />

Die sozialen Standesunterschiede der tibetischen Gesellschaft spiegeln<br />

sich auch in der Differenzierung des Mönchtums in eine Klasse der<br />

Literati oder Petschaba (dPe-cha-ba) und eine Klasse der ungeschulten,<br />

der weniger gebildeten oder ungebildeten Mönche (sGrogs-med),<br />

von denen die eine als Minorität die Klosterelite repräsentiert und die<br />

andere die Mehrheit jener in untergeordneten Diensten stehenden<br />

Mönche, die von ihren Oberen hin und wieder auch als politisches<br />

Druckmittel, ausdrücklich auch als Milizen (rdab-rdob/ldab-ldob)<br />

eingesetzt wurden.<br />

Auch diese äußerliche soziale Differenzierung könnte eine Spiegelung<br />

dessen sein, was man auf seinem Weg zur Erfüllung der Lehre bereits


16<br />

oder noch nicht erreicht hat. Es wäre durchaus eine soziale Statushierarchie<br />

in der Konsequenz einer geistigen Rangordnung denkbar, von<br />

manchen „Meritokratie“ genannt.<br />

Von außen her, von den Zwängen der Welt aus gesehen, scheint es<br />

dagegen so, daß sich innerhalb des Klosters, das aus historischen und<br />

politischen Gründen in Tibet Grundherr wurde, sich eben wegen dieses<br />

sozialen Status des Klosters auch die klösterliche Gesellschaft in<br />

einen oberen und einen unteren Stand differenzieren mußte, nicht anders<br />

als die feudale Gesellschaft, wenn auch im monastischen System<br />

die Standesschranken deutlich leichter zu <strong>pa</strong>ssieren waren als in der<br />

politischen Ordnung der Laienwelt.<br />

Stein hielt jedenfalls dafür: "Social classes are maintained inside the<br />

monasteries." 14 Was für diese Ansicht spricht, wird deutlich, wenn<br />

man sich vergegenwärtigt, daß neben diesen beiden Alternativen<br />

Kloster Tikse, aus: M.Pietri, M.Perrot, Lights of Ladakh, Paris 1985, S.61<br />

(Stand und Bildung) hierarchisch und funktional bedingter Zweiteilung<br />

der Mönche noch eine dritte Zweiteilung monastischer Positionen<br />

erscheint, nämlich dann, wenn man den Status danach beurteilt,<br />

ob mit ihm ein Gelübde (sDom-<strong>pa</strong>) verbunden ist. Dann nämlich zeigt<br />

sich das ganze Statusgefüge in der Aufteilung seiner Positionen und<br />

Titel nach den erforderlichen Gelübden und weist all jene Stellungen<br />

und Titel ohne Gelübdepflicht im eigentlichen monastischen Sinne als<br />

14 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140


17<br />

sekundäre aus, welche allein die besonderen Bedingungen der<br />

jeweiligen klösterlichen Organisation hervorgebracht haben.<br />

Auch für diese Erscheinung der Statusdifferenzierung gibt es also verschiedene<br />

Perspektiven, die man zunächst getrennt einnehmen muß,<br />

um danach entscheiden zu können, ob sie sich wirklich decken oder<br />

nicht.<br />

Charakteristisch für Tibet ist auch das demographische Verhältnis von<br />

Klerus und Laiengesellschaft. Bleichsteiner spricht von einem Verhältnis<br />

vier zu eins. Danach wäre jeder vierte Mann in Tibet ein<br />

Mönch gewesen (dazu unten mehr). 15 Auch dieses demographische<br />

Verhältnis reflektiert die soziale und politische Stellung des Klerus.<br />

Die Tatsache, daß es fast keine Familie gab, ohne ein Mitglied im monastischen<br />

System, spricht sowohl für das Durchdrungensein der Gesellschaft<br />

von dem geistlichen Zweck des monastischen Systems als<br />

auch für dessen weltliche, d.h. soziale wie politische Macht in der Gesellschaft.<br />

Hier sei auch an die mit Rücksicht auf die Bevölkerungszahl des Landes<br />

bemerkenswert große Zahl der Klöster erinnert. Die Eigenarten<br />

des lamaistischen Klosterwesens sind speziell auch im Vergleich mit<br />

der buddhistischen Ökumene auffällig. „In keinem anderen buddhistischen<br />

Lande ist das Klosterthum entwickelter, keines zählt nach der<br />

Masse seiner Bevölkerung so viele und so colossale Klöster, als Tibet<br />

und die Mongolei.“ 16<br />

In Tibet soll es nach Waddell, der sich in diesem Falle wohl auf Huc<br />

und Gabet bezog und deshalb so niedrig schätzte, um 1906 über 3000<br />

Klöster gegeben haben. 17 Bei einer Bevölkerungszahl von 3,9 Millionen<br />

(„Outer Tibet“ um 1910) kommen dann auf 1300 Tibeter ein Kloster.<br />

Das ist eine beachtliche Klosterdichte. Bezogen auf die alte Bundesrepublik<br />

Deutschland von 1974 bräuchte es dort 46.153 Klöster,<br />

um diese tibetische Proportion zu erreichen. Nach dieser tibetischen<br />

Proportion hätte es dann 1974 auch in jedem zweiten Ort der BR-<br />

Deutschland ein Kloster geben müssen. 18<br />

Die bedeutendsten Klöster in Tibet waren: Samye (bSam-yas) mit<br />

etwa 200 Mönchen, das erste demonstrative Kloster in der Yarlung-<br />

15 „Man darf nicht vergessen, daß in Tibet und der Mongolei durchschnittlich der vierte Teil der männlichen<br />

Bevölkerung den geistlichen Beruf ausübt." R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.116<br />

16 C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha, II, Berlin 1859, S.257-8<br />

17 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.265. Siehe auch: C.F.Koeppen, Die Religion des<br />

Buddha, II, Berlin 1859, S.349; Der chinesische Zensus nennt für die Zeit um 1950 eine Zahl von 2711. Siehe:<br />

Han Suyin, Chinas Sonne über Lhasa, München 1980<br />

18 Diese Schätzung bezieht sich auf die Angaben in: J.Müller, Müllers Großes Deutsches Ortsbuch, Wuppertal<br />

1974


18<br />

Ägide, die Klöster Ganden (dGa-ldan) mit 3300 Mönchen, Sera (Sera)<br />

mit 5500 Mönchen und Drepung (Bras-spus) mit 7000-10.000<br />

Mönchen heißen auch die „Drei Residenzen“. Tashi Lhunpo (bKrashis<br />

Lhun-po) mit 4000 Mönchen ist das Kloster des Panchen Lama.<br />

Die drei Residenzen und Tashi Lhunpo waren Gründungen des 15.<br />

Jahrhunderts. Namgyel Chöde (rNam-rgyal Chos-sde), das Kloster<br />

des Dalai Lama, beherbergt zwischen 150 und 200 Mönche. Als weitere<br />

berühmte Namen wären zu nennen: Sanga chöling (gSa-sngags<br />

Chos-gli), Namling (rNam-gLi), Reting (Rva-sgres) mit über 1000<br />

Mönchen, Sakya (Sa-skya) mit 500 Mönchen, Phuntsoling (Phuntshogs-gLi),<br />

Samding (bSam-ldi), dessen Mönche (50-100) von einer<br />

Äbtissen (!) geführt wurden, Drigung ('Bri-gu), Mindoling (sMin<br />

grol-gLi) mit rund 500 Mönchen, Dorjedra (rDo-rje-brag) mit etwa<br />

200 Mönchen, Palri (dPal-ri), Tshal (Tshal), Tsurphu (mTshur-phu)<br />

mit 1500 Mönchen, Derge (sDe-sge) mit 2000 Mönchen und das Königskloster<br />

von Derge mit 300 Mönchen, Chamdo (Ch'ab-mdo) mit<br />

2000 Mönchen, Kumbum (sKu-’bum) mit 4000 Mönchen. Das lamaistische<br />

Kloster in Peking, der Yung-’ho kung, zählte 1000 Mönche. In<br />

Westtibet standen die einst bedeutenden Klöster von sGu-ge und Tholing<br />

(mTho-gLi).<br />

In der Mongolei lebten 1906 im Kloster Urgya-Kuren 14.000 Mönche.<br />

In Kökö Chotun standen 5 Klöster, die zusammen 20.000 Mönche<br />

beherbergten. 19 Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, besonders,<br />

wenn man auch noch die Klöster Ladakhs 20 , Sikkims 21 oder Bhutans 22<br />

aufzählen wollte. 23<br />

Sie alle repräsentierten Knotenpunkte von Netzwerken filial verknüpfter<br />

Klöster, von denen aus die verschiedenen Orden oder Schulen<br />

(manche sagen auch Sekten) des Lamaismus ihren Einfluß auf das<br />

Land zu gewinnen trachteten und reflektierten mit der Ausdehnung ihrer<br />

Verbreitung auch den flächendeckenden Erfolg ihrer Bemühungen.<br />

Die Mehrzahl steht an bedeutenden Pilgerrouten oder Handelswegen,<br />

einige an strategischen Positionen der Landesverwaltung. Auch ihre<br />

landschaftliche Lage reflektiert also die politische und wirtschaftliche<br />

19 Koeppen nennt für diesen Bereich der Gelben Kirche noch höhere Mönchszahlen. Siehe: C.F.Koeppen, Die<br />

Religion des Buddha, II, Berlin 1859, S.377<br />

20 Bis zur Islamisierung Ladakhs, die 1841 einsetzt, d.h. bis 1834 wird die Zahl der Mönche Ladakhs auf 12.000-<br />

20.000 geschätzt, d.h. 8% bis 11% der Bevölkerung Ladakhs waren zu jener Zeit Mönche. Siehe: C.F.Koeppen,<br />

Die Religion des Buddha, II, Berlin 1859, S.372<br />

21 Koeppen nennt für Sikkim um 1850 eine Zahl von 1000 Mönchen. Siehe: C.F.Koeppen, Die Religion des<br />

Buddha, II, Berlin 1859, S.365<br />

22 Die Zahl der Mönche in Bhutan um 1850 schätzt Koeppen auf 10.000. Siehe: C.F.Koeppen, Die Religion des<br />

Buddha, II, Berlin 1859, S.363<br />

23 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.268-286


19<br />

Bedeutung des monastischen Systems in der tibetischen Gesellschaft,<br />

ihre Vermählung mit dem Land. Die Legenden um die ersten 12 Klöster<br />

Tibets reflektieren diesen Aspekt. Die Lage der Klöster reproduziert<br />

also auch ein älteres landrechtliches Schema, das schon die vorbuddhistischen<br />

Lokalschreine geleitet hatte, die kultische Manifestation<br />

des Rechtes seiner Bewohner auf das Land.<br />

In Spektrum dieser hier angerissenen Perspektiven zur Stellung des<br />

monastischen Systems in der Gesellschaft werden sich die folgenden<br />

Erörterungen bewegen. Sie werden dem Phänomen in seiner Komplexität<br />

zwar nicht gerecht, aber indem sie einzelne, mehr weltliche<br />

Aspekte beleuchten, dienen sie auch dem Verständnis des komplexeren<br />

Ganzen.


20<br />

Der Sagha: Idee und Möglichkeit<br />

Jeder Buddhist, der sich zu seiner Religion bekennt, hat die „Drei<br />

Kleinodien“ (tib. dKo-mchog gsum= Die Drei Kostbarkeiten: Buddha,<br />

tib. Sas-rgyas; Dharma, tib. Chos; Sagha, tib. dGe-’dun) 24 gesprochen<br />

und damit sein Bekenntnis zu ihnen feierlich zum Ausdruck gebracht.<br />

Das Ziel der religiösen Übungen ist die Erleuchtung, d.h. die<br />

Buddhaschaft, der Weg zu ihr ist der Dharma, das Gesetz und die Methode,<br />

die zur Erleuchtung führen, zusammengefaßt in dem Edlen<br />

Achtfältigen Pfad, und alle, die sich auf diesen Weg begeben haben,<br />

bilden die religiöse Gemeinschaft, den Sagha, der im eigentlichen<br />

Sinne die Gemeinschaft jener ist, deren Lebensführung sich ausschließlich<br />

am Dharma orientiert, was streng genommen nur das monastische<br />

Leben, d.h. die „Hauslosigkeit“, ermöglicht (tib. khyim-nas<br />

’byu-<strong>pa</strong>). Der Mönch steht deshalb für den Buddhismus im Zentrum<br />

seiner Bemühungen, denn wie man es auch immer wenden will, man<br />

kommt an dieser monastischen Art der Lebensführung nicht vorbei,<br />

wenn man dem Dharma ernsthaft folgt und den Weg, den er führt,<br />

nicht unterbrechen oder aufgeben will. Der Mönch ist der Mittelpunkt<br />

der buddhistischen Gemeinde, des Sagha, und das Vorbild buddhistischer,<br />

d.h. der methodisch am Dharma orientierten Lebensführung.<br />

Sein Status ist der buddhistische Status <strong>pa</strong>r excellence, solange er sich<br />

konsequent um das Ziel seiner religiösen Übungen bemüht. Allgemeiner:<br />

der Mönch ist hier der eigentliche homo religiosus. Der tibetische<br />

Begriff für Sagha, Gedün (dGe-’dun), bezieht sich konsequenterweise<br />

allein auf die Gemeinschaft der Mönche, der man nur dann angehört,<br />

wenn man mindestens ein Rabdschung (Rab-chu) oder Dra<strong>pa</strong><br />

(Grva-<strong>pa</strong>) geworden ist, d.h. wenigstens die 10 Regeln befolgt. Pander<br />

zitiert eine tibetische Redewendung, welche die Stellung des geistlichen<br />

Führers unterstreicht: „Falls es keine Lamas gäbe, so könnte es<br />

auch keine Buddhas geben.“ 25<br />

Die buddhistische Lehre teilt also die Gesellschaft, wenn auch nicht<br />

immer ausdrücklich, in zwei Gruppen. In Tibet „society is divided into<br />

two groups of people, the human class (mi-sde) and the godly class<br />

(lha-sde). The first is formed by the householders (khyim-thab, khyim-<br />

24 Tri ratna: „Ich nehme meine Zuflucht zu Buddha, ich nehme meine Zuflucht zum Gesetz (Dharma), ich nehme<br />

meine Zuflucht zur Gemeinde (Sagha).“ Siehe: R.Pischel, Leben und Lehre des Buddha, Leipzig, Berlin 1917,<br />

S.103<br />

25 E.Pander, Das lamaistische Pantheon, Zeitschrift für Ethnologie, 21, Berlin 1889, S.44


21<br />

bdag, khyim-<strong>pa</strong>), those who lead a regular family life; the second by<br />

those who have left the household (khyim-nas ’byu-<strong>pa</strong>) to devote<br />

their lives to religion.” 26<br />

„Buddhas Tod läßt seine Jünger, wohl schon damals über einen<br />

großen Teil Indiens verstreut, als eine Mönchsgemeinde zurück, die<br />

kein sichtbares Haupt hat und allein in der vom Meister verkündeten<br />

Lehre und Ordnung ihr unsichtbares Haupt sieht.“ 27 Aus dieser Hinterlassenschaft:<br />

dem Andenken an das Vorbild Buddhas, seiner Lehre<br />

und der Mönchsgemeinde, bilden sich also die Grundelemente buddhistischen<br />

Gemeindelebens heraus, die Drei Juwelen, als Institutionen<br />

der Kultpflege, und zwar mit dem Zentrum der Mönchsgemeinschaft<br />

als der berufenen Hüterin der beiden ersten Kostbarkeiten.<br />

Die Gemeinschaft der Buddhisten teilte sich schon zu Buddhas Lebzeiten<br />

in eine Laien- und in eine klerikale Gemeinde, die in Klöstern<br />

(vihra, saghrma, tib. dGon-<strong>pa</strong> oder Chog-sde) lebte. Während die<br />

Laiengemeinde sich vor allem den fünf Sittenregeln (<strong>pa</strong>ca sla, tib.<br />

tshul-khrims oder blang-dor) unterwirft und es dem Klerus mit ihren<br />

Gaben und Schenkungen ermöglicht, seine weitergehenden Ziele zu<br />

verwirklichen, praktiziert der Klerus jene Methoden und Übungen,<br />

welche ihn der Erlösung zum Wohle aller und zum eigenen Wohle<br />

näher bringen.<br />

Tibetisch Sanskrit Klerus Hauslose<br />

dGe-slo Bhiku Mönch Passive Tugenden:<br />

dGe-slo-ma bikuni Nonne Entsagung, Loslösung<br />

Laien (tib. k’yim-<strong>pa</strong>) Haushalter<br />

dGe-bsen upsak männlich Aktive Tugenden<br />

dGe-bsen upsika weiblich Freigebigkeit, Güte<br />

Die klerikale Gemeinde besteht aus den Mönchen (bhikkhu,skr. biku)<br />

und Nonnen (bhikkhuni, skr. bikuni) respektive aus Novizen (skr.<br />

ramaera, tib. dGe-tshul-<strong>pa</strong>) und Novizinnen (skr. ramaerika, tib.<br />

dGe-tshul-ma), welche als Mönche noch weitere, strengere Regeln<br />

und Gebote befolgen als die Laien, nämlich die 220-253 des Prtimoka<br />

(des Regelbuches oder „Stra der Befreiung“, tib. So sor thar<br />

<strong>pa</strong>’i mdo), welches als eine der ältesten Grundlagen des gesamten<br />

buddhistishen Gemeinderechts angesehen werden darf. 28 „Es ist ein<br />

26 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.120<br />

27 H.Oldenberg, Buddha, München 1961, S.312<br />

28<br />

Die Prtimoka-Regeln beinhalten die 4 Verstöße (Prjika), die 13 Regeln über schwere Sünden<br />

(Sanghvaesa), die 2 Aniyata, 30 Regeln über leichtere Sünden (Naisargika-pryacittika), Regeln über 90<br />

Verstöße (Prjacitta), 4 Vorschriften der Prüfung und des Geständnisses (Prtideanya), 100 Verhaltensvorschriften<br />

(Sikkaraya), 7 Regeln über Dispute unter Mönchen (Adhikaraa amatha).


22<br />

Verzeichnis aller Begehungs- und Unterlassungssünden, welche der<br />

geistliche Sohn des Buddha zu vermeiden hat, und wird deshalb an<br />

den regelmäßigen Beichttagen in den Versammlungen der Priester<br />

verlesen.“ 29<br />

„Vom Standpunkt der Lehre aus gelten auch für die tibetischen<br />

Mönchsgemeinden die in der Vinaya-Disziplin (’dul-ba) kodifizierten<br />

Einzelbestimmungen, besonders die Regeln des So sor thar <strong>pa</strong> (prtimoka).<br />

Mit geringen Ausnahmen befolgen alle Lehrrichtungen bei<br />

der Mönchsweihe die prtimoka-Vorschriften.“ 30<br />

Der Klerus befolgt aber grundsätzlich auch die für die Laien-Gemeinde<br />

vorbildlichen fünf Regeln allgemeiner Sittlichkeit (<strong>pa</strong>ca sla):<br />

1) nicht töten*<br />

2) nicht stehlen*<br />

3) nicht unkeusch leben*<br />

4) nicht lügen* 31<br />

5) Rauschmittel meiden<br />

Diese Regeln zu befolgen, gelobt der Rabdschung. Außerdem beachtet<br />

er als Rabdschung auch noch folgende 5 Gebote, welche deutlich als<br />

Verschärfung oder Ergänzungen der <strong>pa</strong>ca sla zu erkennen sind:<br />

6. die sexuelle Enthaltsamkeit (siehe 3.)<br />

7. die Armut (kein Gold und Silber annehmen) (siehe 2.)<br />

8. die maßvolle und zeitlich geregelte Ernährung<br />

9. die Meidung sinnlicher Erregung und von Vergnügungsfeiern<br />

(siehe 3) und 5))<br />

10. die Einfachheit der Körperpflege und des Lebenswandels (kein<br />

Schmuck, Parfüm, keine bequeme Lagerstatt). 32<br />

Im Noviziat oder als Getshul beachtet der Anwärter dann 36 Regeln.<br />

Dem vollen Umfang der 253 Regeln des Regelbuches unterwirft sich<br />

erst der voll ordinierte Mönch, der Gelong (dGe-slo).<br />

„Aus der Vinaya-Literatur, die in zahlreichen Übersetungen im chinesischen<br />

Kanon vorliegt, in dessen Rahmen die verschiedenen Schulen<br />

mit ihren jeweiligen Fassungen der Vinaya-Disziplin vertreten sind,<br />

liegt in Tibet das Vinaya-System der Mlasarvstivdin-Schule vor.“ 33<br />

29 C.F..Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.332<br />

30 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.127<br />

31 *= die 4 Kardinalpflichten; als Verstöße heißen sie im Sanskrit: Prjika.<br />

32 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.128<br />

33 Siehe: C.F..Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.334 und G.Tucci, Die<br />

Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart, Berlin, Köln<br />

Mainz 1970, S.128


23<br />

Der Eintritt sowohl in die Laiengemeinde als auch in Buddhas Orden<br />

stand ursprünglich allen, mit Ausnahme der körperlich Entstellten,<br />

Gebrechlichen, der Kranken, der Kinder, der Hörigen und der Kriminellen,<br />

frei. Diese Ausschlüsse reflektieren auf Behinderungen des<br />

Körpers und des sozialen oder beruflichen Standes, mit der Absicht,<br />

strukturelle Zielkonflikte zwischen dem Orden und der Gesellschaft<br />

zu vermeiden.<br />

Der Eintritt in die Gemeinde stand also grundsätzlich jedem frei, denn<br />

es hieß ja: >Geöffnet sei allen das Tor der Ewigkeit; / Wer Ohren hat,<br />

höre das Wort und glaube


24<br />

er vorher einem anderen Mönchsorden angehört hatte, eine viermonatliche<br />

Probezeit.“ 39 Die nächste, höhere Weihe (u<strong>pa</strong>sam<strong>pa</strong>d= das<br />

Hingelangen) bedeutete dann auch den Eintritt in den Kreis der Mönche<br />

(Pali bhikkhu, tib. dGe-slos). Ihr ging das Aufnahmeersuchen des<br />

Novizen (tib. dGe-tshul) oder Kandidaten voraus. Auf die Wiederholung<br />

des Aufnahmebegehrens folgte das Verhör und die Prüfung<br />

durch die Mönchsgemeinde. Danach wurden die 4 Regeln mönchischer<br />

Disziplin im extramonastischen Leben verkündet:<br />

1) Als Speise nur das Erbettelte<br />

2) Als Gewand nur ein Stoff aus Lumpenfetzen<br />

3) Als Obdach nur ein schützender Baum<br />

4) Als Arzenei nur das Urin des Viehs.<br />

Nach der Verkündung dieser Regeln folgte die Mitteilung der 4<br />

großen- oder Kardinalgebote der Mönche (Pham-<strong>pa</strong>), welche die ersten<br />

vier Gebote des 253 Gebote umfassenden Gesamtkanons dartsellen:<br />

1) Kein Geschlechtsverkehr (siehe Gebot 6 oben), 2) Kein Diebstahl<br />

(siehe Gebot 2 oben), 3) Nicht Töten (siehe Gebot 1 oben), 4)<br />

Keine geistliche Hochstapelei oder: Verzicht auf den frommen Betrug<br />

(siehe Gebot 4 oben).<br />

Mit der Annahmeerklärung dieser Kardinalpflichten schloß die U<strong>pa</strong>sam<strong>pa</strong>d<br />

ab.<br />

Der Ordinierte erhielt daraufhin das gelbe Gewand, das er sich anlegte,<br />

nachdem er sich Bart und Haare schneiden ließ.<br />

Tricivara= drei Gewänder 40<br />

1 Uttarasaghti, tib. Sham-thabs Mönchskleid, mit dem Gürtel um die Hüften befestigt<br />

2 Antaravsaka (Nivsana), Untergewand, auf bloßem Leib getragen<br />

tib. sNam spyar<br />

3 saght, tib. gZan Gewand, über d. linke Schulter getragen<br />

die Nonnen außerdem:<br />

5 sakalika tib. sKe-rag Gürtel<br />

6 kula Rock<br />

Nach dieser Weihe war der Ordinierte ein Mönch auf Probe. Später<br />

wurde er dann nach der Einführung in die weiteren Gebote und einigen<br />

Prüfungen zum eigentlichen Mönch ordiniert (skr. jnapticaurthakarman=<br />

die (eigentliche) Mönchsweihe; nach skr. jnapti= Antrag).<br />

Als bhikkhu stand dem Ordinierten auch die Anrede: ayasma= Ehrwürdiger,<br />

zu. Das Gelübde band aber nicht lebenslänglich. Der Austritt<br />

aus dem Orden war für einen Ordinierten jederzeit möglich (tib.<br />

39 H.Oldenberg, Buddha, München 1961, S.319<br />

40 Siehe: C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.340-342


25<br />

rab ’byun sdom slar phul), ebenso wie der Wiedereintritt des Ausgetretenen.<br />

41<br />

Grimshaw skizziert den Weg vom Laien zum Gelong im Klosterleben<br />

Ladakhs: „Die meisten Mönche waren dem Kloster von ihren Eltern<br />

als kleine Jungen übergeben worden. Ihre formelle Aufnahme vollzog<br />

sich in zwei Stufen: erst das Noviziat (Beachtung der 5 buddhistischen<br />

Vorschriften…), und mehrere Jahre danach die volle Ordination (Beobachtung<br />

5 weiterer Vorschriften…).“ 42 Den Regeln nach, die einzuhalten<br />

sind, meint sie natürlich zunächst die dGe-bsen-Stufe (5 Regeln)<br />

und danach die Postulantenzeit des Rabdschung (10 Regeln), da<br />

der Novize bereits 36 Regeln beachtet.<br />

In den tibetischen Klöstern der reformierten Orden eröffnete sich dem<br />

Mönch erst nach abgelegter Verpflichtung (sdom), die Prtimkoa-Regeln<br />

zu befolgen, der Weg des Mahyna, d.h. der Weg der Erleuchtung<br />

(byan c’ub sdom), und der Weg des Tantra (snags sdom). „Andere<br />

Schulen, z.B. die ri-ma-<strong>pa</strong>, halten die Weihen gemäß den prtimoka-Regeln<br />

nicht für allgemein obligatorisch. Dieser Richtung zufolge<br />

kann das den Weg der Erleuchtung betreffende Gelübde oder jenes<br />

inbezug auf den Weg der sags auch ohne den Umweg über die<br />

prtimoka-Vorschriften abgelegt werden, die Teilnahme am sonstigen<br />

Leben der Klostergemeinschaft vorausgesetzt. Diese Möglichkeit<br />

besteht für die dGe lugs <strong>pa</strong> Mönche nicht.“ 43<br />

Der Buddha hatte keine verbindliche Gemeindeordnung für die gesamte<br />

Anhängerschaft hinterlassen, es gab anders als in Tibet keine<br />

„Universalkirche“ (als die man die Gelbe Kirche strukturell ansprechen<br />

kann), sondern nur regional wirksame und rechtlich autonome<br />

Einzelgemeinden, nicht einmal Diözesen ( im Sinne von<br />

Verwaltung) oder Kirchenkreise, welche ja Verwaltungseinheiten<br />

eines Universal- oder überregional organisierten Verbandes gewesen<br />

wären. 44 „Der Schwerpunkt der ganzen kirchenregimentlichen Tätigkeit,<br />

wenn überhaupt von einer solchen gesprochen werden darf, fiel<br />

in die Peripherie, in die kleinen Gemeinden der in demselben Bezirk<br />

wohnenden Brüder. Im Wanderleben dieser Bettelmönche aber, in ihrem<br />

steten Kommen und Gehen, in das nur die Monate der Regenzeit<br />

41 Siehe: C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.336-340<br />

42 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.58<br />

43 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.127<br />

44 Waddell vergleicht unter Hinweis auf Koeppen allerdings die Klösteräbte der großen tibetischen Klöster mit<br />

Bischöfen und damit deren Hoheit über ihre Filialklöster (dgon lag) mit Diözesen: „Only the larger cloisters<br />

have a Khan-po, who has the right to supervise several smaller Lamaseries and temples, and whose position<br />

seems to be such that he is com<strong>pa</strong>red as a rule with the catholic bishop.“ L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New<br />

York 1972, p.173


26<br />

Stillstand brachten, fluktuierte natürlich auch der Bestand dieser engeren<br />

Gemeinde fortwährend.“ 45<br />

Alle Gemeindebeschlüsse waren nur für die Einzelgemeinde verbindlich,<br />

jede andere konnte in der gleichen Angelegenheit ganz entgegengesetzt<br />

entscheiden und alle Schenkungen, selbst wenn sie an die „Gemeinde<br />

der vier Weltgegengenden“ gerichtet waren, unterstanden der<br />

Verfügungsgewalt der Gemeinschaft, der sie im Einzelfall überreicht<br />

wurden.<br />

Dieser fehlende rechtliche Unterbau einer universalen Gemeindeordnung,<br />

d.h. der Organisation der Nachfolger des Buddha, hat dann auch<br />

jene S<strong>pa</strong>ltungen () gefördert, welche den Buddhismus in seiner<br />

Vielfalt bis heute auszeichnen und die Versuche, ihnen zu begegnen,<br />

die sich historisch in Zeiten und Ländern mit feudalstaatlicher Verfassung<br />

zutrugen.<br />

Durch die Institution des Lama (bLa-ma), ein Titel, der ursprünglich<br />

dem Tulku (sPrul-sku) vorbehalten war (siehe unten), gewann der tibetische<br />

Buddhismus jene diözesane Kirchen-Struktur, die über ihre<br />

Aufzweigung in den Schülern des Meisters, die ihrerseits Meister ihrer<br />

Schüler waren und über das Land (die Länder) verteilt eigene Labrangs<br />

(bLa-brang) gründeten, die sich aber alle auf die Linie ihres<br />

Ur-Meisters bezogen (und sich ihr disziplinarisch unterwarfen), jene<br />

Kirchenstruktur, welche sich von Nordindien bis in die Mongolei,<br />

nach Rußland und China ausdehnen konnte und die Organisationshindernisse<br />

der frühbuddhistischen Gemeindeorganisation zu überwinden<br />

vermochte.<br />

Tuccis Kommentar der tibetischen Verhältnisse hinsichtlich des Vinaya<br />

fügt jene in diesen historischen Kontext bruchlos ein: „Die für<br />

den Mönch und die interne Organisation der Klöster geltenden Regeln<br />

und Gebote unterscheiden sich also beträchtlich von denen des ursprünglichen<br />

Vinaya. Auch die Würde eines dge bes, eines Meisters<br />

der Theologie, so wie sie jetzt in den dGe lugs <strong>pa</strong>-Schulen verstanden<br />

wird, ist eine besondere Schöpfung, in der sich die eigentümlichen<br />

Lehrmethoden der Sekte widerspiegeln.“ 46<br />

Die ersten institutionellen, d.h. gesellschaftlich verbindlichen Formen<br />

einer buddhistischen Gemeindeordnung inspirierten jene Fürsten und<br />

Könige wie Aoka oder Kanika, welche zum Buddhismus übertraten<br />

und den Dharma zur sittlichen wie politischen Ordnung ihrer Staaten<br />

erklärten, d.h. diese als einen Sagha organisiert wissen wollten, und<br />

45 H.Oldenberg, Buddha, München 1961, S.314<br />

46 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.128


27<br />

daraufhin die rechtlichen und öffentlichen Institutionen ihrer Länder<br />

nach dem Vorbilde buddhistischer Ethik, allerdings nicht ohne Konflikte<br />

organisierten, das gilt besonders für die Länder des Hinayna;<br />

denn das Konzept der „Hauslosigkeit“ stand ja in einem prinzipiellen<br />

Widerspruch zu jeder weltliche Zwecke verfolgenden politischen<br />

Ordnung, in einem Widerspruch, der nur unter der Bedingung ihrer<br />

Verschmelzung des Staates mit dem Sagha aufhebbar erschien, d.h.<br />

unter der Bedingung einer cäsaro-<strong>pa</strong>pistischen oder hierokratischen<br />

Staatsverfassung. In einem vergleichbaren Kontext erscheint auch die<br />

Entstehung der tibetischen Hierokratie.<br />

Der Eindruck einer Diözesan-Ordnung oder einer dieser vergleichbaren<br />

Ordnung in Tibet verdankt sich der Ordensdisziplin der jeweils<br />

weltlich herrschenden Orden, welche ja mit der Ex<strong>pa</strong>nsion der Orden<br />

und ihrer klösterlichen Stützpunkte (dgon lag) auch das Regiment des<br />

jeweiligen Ordens flächendeckend geltend machte und innerhalb seines<br />

Verbreitungsgebietes auch dessen hierarchische und filiale Gliederung.<br />

So erscheint dank der Gelug<strong>pa</strong>-Suprematie ab 1642 in Tibet die<br />

Staatsform des Landes als die eines Kirchenstaates, was sie zwar nicht<br />

ausdrücklich gewesen ist, aber de facto, denn die Grundsätze dieses<br />

Ordens bestimmten in seinem politischen Hegemonialbereich Recht<br />

und Gesetz des Landes und seine Ordensinteressen die seiner politischen<br />

Verwaltung.<br />

Auch rein äußerlich betrachtet, d.h. von den politischen Institutionen<br />

der Verfassung her gesehen, fällt der Unterschied zwischen einer Hierokratie<br />

und einer Theokratie kaum ins Gewicht; denn dieser macht<br />

sich vor allem im Bereich der theoretischen Legitimation des Herrschers<br />

bemerkbar, die in beiden Alternativen als göttliche oder gottähnliche<br />

Wesen verehrt werden, weshalb man auch von Tibet in der<br />

Zeit zwischen 1642 und 1950 formal von einem „Kirchenstaat“ sprechen<br />

darf. Die Kirche dieses Staates nannte Bleichsteiner in Anlehnung<br />

an die volkstümliche Unterscheidung der älteren und des jüngsten<br />

Ordens („Rotmützen“, „Gelbmützen“) „Gelbe Kirche“.


28<br />

Die buddhistische Missionierung Tibets<br />

Die Geschichte des Buddhismus in Tibet entfaltet sich in vier Perioden.<br />

Auf die Epoche seiner Einführung und des Widerstands gegen<br />

seine Einführung, folgt die Periode der Durchsetzung und Konsolidierung<br />

des Dharma, welche von der Epoche des Kirchenstaates der Gelben<br />

Kirche abgelöst wird. Die erste Periode korrespondiert mit der<br />

Herrschaft der Yarlung (Yar-klus)-Dynastie und schließt ab mit der<br />

Buddhistenverfolgung nach dem Zusammenbruch der Suprematie dieses<br />

Herrscherhauses (7. bis 11.Jh). Die zweite Periode umfaßt den<br />

Zeitraum der Restauration und Reform des Buddhismus in Tibet während<br />

der Yüan-Suzeränität mit einem ersten Ansatz zu einer hierokratischen<br />

Verwaltung des Landes unter dem Primat der Sa-skya-<strong>pa</strong>, der<br />

eine Periode weltlicher Königreiche (12. bis 16.Jh.) folgt mit einer<br />

Trennung von Staat und Kirche, während die vierte Periode mit dem<br />

Zeitraum der geistlichen und politischen Vormacht der Gelug<strong>pa</strong> (dGelugs-<strong>pa</strong>)<br />

in Tibet zusammenfällt, die 1642 anhebt, aber erst seit 1750<br />

bis 1950 unangefochten gilt. Diese Epoche berührt die Gegenwart, in<br />

der der Dalai Lama XIV., das Oberhaupt dieses Ordens und des von<br />

China besetzten einstigen Klosterstaates, im indischen Exil für die<br />

Autonomie des besetzten Landes politisch kämpft und auf die Rückkehr<br />

in seine Heimat wartet, für die er sich eine von den Tibetern<br />

selbst gewählte demokratische Regierung wünscht, in welcher der<br />

Klerus nicht mehr automatisch regiert, sondern seine Vertreter nur<br />

dann an der Regierung beteiligt sein sollen, wenn sie dazu ausdrücklich<br />

von dem Volk über demokratische Verfahren aufgefordert werden.<br />

Damit begänne dann die fünfte Periode, die sich wieder auszeichnet<br />

durch eine Trennung von Staat und Kirche.<br />

Die erste Phase des Buddhismus in Tibet<br />

Der Buddhismus wird in der Geschichte Tibets historisch vielleicht<br />

nicht das erstemal aber dafür deutlicher greifbar im Zusammenhang<br />

zweier vor allem politisch relevanter Heiratsallianzen, die Songtsen<br />

Gampo (Sro-btsan sGam-po, 620-49) mit einer Nichte des T’ang-<br />

Kaisers (China) und einer Tochter des ne<strong>pa</strong>lesischen Königs<br />

Amuvarma eingegangen ist.<br />

Diese Ehen besiegelten das Großmachtprestige des Yarlungreiches.<br />

Wen-ch´eng, die T´ang Prinzessin aus China, und Bhriku, die Toch-


29<br />

ter des ne<strong>pa</strong>lesischen Königs, kamen aus Ländern, in denen der Buddhismus<br />

eine gewichtige, wenn nicht die führende Religion darstellte.<br />

Beide Frauen waren buddhistisch erzogen und wußten mit ihrer Erziehung<br />

auch ihren neuen Gemahl sichtlich zu beeindrucken, allein schon<br />

durch die Kunst des Lesens und Schreibens, die für eine Großmachtsverwaltung<br />

unverzichtbar war.<br />

Die diplomatischen Beziehungen zwischen Tibet und China verstärkten<br />

den kulturellen Einfluß Chinas auf Tibet, das seine Staatskanzlei<br />

nach chinesischem Vorbild umorganiserte und das Regierungssystem<br />

zentralisierte. Zu diesem Zweck gründete Songtsen Gampo eine im<br />

chinesichen Stil ummauerte Stadt im Tal des Kyichu (sKyid-chu), die<br />

er Ra-sa, die „ummauerte Stadt“ nannte. Aus Ra-sa wurde später<br />

Lhasa (Ort der Götter).<br />

Der diplomatische Verkehr und die Heiratsallianzen mit Ne<strong>pa</strong>l und<br />

China öffneten Tibet den Einflüssen des Buddhismus, der vor dem 8.<br />

Jahrhundert aber noch nicht die vorherrschende Religion des Landes<br />

war. Die chinesische Ehe öffnete jedenfalls den Buddhisten aus China<br />

die Lhasaroute zu den Pilgerstätten des Buddhismus, auf der auch<br />

schon zur Zeit Songtsen Gampos berühmte chinesische Heilige ihre<br />

Pilgerfahrt nach Indien unternommen hatten (die buddhistischen Mönche<br />

Huan Dsang (606-647), Shuan-Shao (651) und Shuan Tai (ca<br />

680)). Tibetische Überlieferungen berichten, daß König Songtsen<br />

Gampo selbst schon verschiedene buddhistische Tempel und Klöster<br />

eingerichtet hatte, darunter auch den Ra-mo-che und den Jo-kha, den<br />

man in illo tempore als das Zentrum der Welt begriff.<br />

Die Klöster, die Srinmo fesselten:<br />

Körperteil Kloster Ort/Region heute<br />

Rechtes Armgelenk Kong-po-bu-chu-lha-khang<br />

Linkes Armgelenk lHo-brag-mkho-thing-lha-khang lHo-brag-lha-khang<br />

Rechte Schulter Me-gro-Ka-tshal sKa-tshal<br />

Linke Schulter Khrag- brug Yarlung- Tal Khra-brug<br />

Rechte Hüfte Thob- rgyal Bya (Bye)-ma<br />

Linke Hüfte lHa-rtse rdzong Ru-lag-grang-<strong>pa</strong>-rgyang<br />

Rechter Fuß Mang-yul-byams-sprin<br />

Linker Fuß sPa-gro Bhutan sPa-gro<br />

Rechtes Knie Byang-brag-tum lha-khang<br />

Linkes Knie Mon-bum-thang-lha-khang Mon<br />

Rechte Hand Glong-thang-sgrol-ma Derge (sDe-ge)<br />

Linke Hand sNye-thang-tu-tshangs- gnom- lha- khang Nye-thang<br />

nach: S.Hummel, Mythologisches aus Eurasien im Ge-sar Epos der Tibeter, Ulm 1993-S.76-7<br />

Andere Tempel des 7.Jahrhunderts in Tibet waren Urukatshal (dBuru-ka-tshal),<br />

östlich von Lhasa, und Khadrug (Kha-brug) im Yarlungtal.<br />

Mit diesen Klöstern, deren Gründung in die Zeit Songtsen Gampos<br />

fiel, es sind insgesamt 12, soll der berühmteste der tibetischen Könige


30<br />

die Gegenwehr der Dämonin Srin-mo, die als mystische Verkörperung<br />

Tibets gilt, endgültig gebannt haben, indem er die Klöster bildlich gesprochen<br />

als Heft-Nägel auf den wichtigsten Gliedern und Körperteilen<br />

ihres Leibes (den Lokalschreinen der Bönreligion, der dBon-<strong>pa</strong>)<br />

einrichten ließ, d.h. ihren Leib mit den Klöstern in buddhistische Erde<br />

verwandelte, die sich seitdem also vom Buddhismus befruchten ließ.<br />

Dieses Gleichnis umschreibt den Versuch, ein flächendeckendes Netz<br />

buddhistischer Klöster auch im Dienste des Staates zu installieren, die<br />

nicht nur als geistliche Wirkungszentren, sondern auch als Verwaltungsstandorte<br />

der staatlichen Exekutive dienten. Das Mönchstum erwies<br />

sich in dieser Kooperation als erster institutioneller Vertreter<br />

eines tibetischen Reichsbewußtseins. Für die Mönche fiel die Idee eines<br />

transtribalen Staates mit der eines politisch garantierten Sagha<br />

zusammen und die Neuartigkeit dieses Gedankens in Tibet reflektierte<br />

sich noch in der Anwesenheit fremder, aus Indien wie aus China stammender<br />

Lehrer (buddhistische Missionare).<br />

Der vermehrte Kontakt mit den Leuten aus den verschiedenen Nachbarländern<br />

brachte auch vermehrt buddhistisches Gedankengut nach<br />

Tibet. Buddhistische Mönche, z.B. aus Khotan, mußten das von moslemischen<br />

Turkvölkern besetzte Turkestan verlassen und suchten auch<br />

in Tibet Asyl. Obgleich sie von den Bön-Anhängern des tibetischen<br />

Adels nicht gerade begeistert empfangen wurden, fanden sie aber bei<br />

der chinesischen Gattin des derzeitigen Königs von Tibet, Mes-Agtshoms,<br />

stärkere Unterstützung. Auf ihre Veranlassung hin schenkte er<br />

den Flüchtlingen sogar Häuser und Grundstücke, die sie zu Klöstern<br />

ausbauen konnten. Die Reste des Klosters Kachu (Kwa-chu) sind das<br />

letzte Zeugnis des khotanesischen Sagha auf tibetischem Boden.<br />

Als später Tritsug Detsen (Khri-sro lDe-btsan, 676-704) die Herrschaft<br />

in Tibet übernahm, lud er die berühmten indischen Lehrer antirakita,<br />

Kamalala und den Tantra- Meister Padmasambhava nach<br />

Tibet ein, von denen vor allem der letztere sich als besonders befähigt<br />

erwies, die feindliche Einstellung der Bön-po (dBon-<strong>pa</strong>) gegenüber<br />

dem Buddhismus zu neutralisieren. Die lamaistische Schule der<br />

Nyingma<strong>pa</strong> (ri-ma-<strong>pa</strong>) beruft sich auf diesen großen Tantriker als<br />

ihren eigentlichen Ordensgründer. Peter Kvaerne datiert den auch in<br />

der Institution des Lamas sichtbar werdenden Dualismus eines yogatantrischen-<br />

und eines halb- respektive vollreformierten Lamaismus,<br />

der nach den Vinaya-Grundsätzen praktizierte, und für Tibet bis in die<br />

Gegenwart hinein charakteristisch gewesen ist, in diese Zeit des Wirkens<br />

von antirakita und Padmasambhava zurück. „Während anti-


31<br />

rakita einen Vertreter des herkömmlichen, auf den Vinaya gestützten<br />

Mönchstums und der von den Stras ausgehenden philosophischen<br />

Tradition im Mahyna verkörperte, war Padmasambhava ein tantrischer<br />

Siddha, ein Eingeweihter in magische Riten und Fertigkeiten zur<br />

Unterwerfung dämonischer Kräfte. Diese zwei Meister vertreten zwei<br />

unterschiedliche Methoden buddhistischer Übung, die einen gestützt<br />

auf den Vinaya, auf die Stras und auf die scholastische Philosophie,<br />

die anderen auf die mystische Verarbeitung ekstatischen Erlebens im<br />

Gefolge tantrischer Rituale. Beide Formen sind, sich häufig mehr oder<br />

minder durchdringend, für den Buddhismus in Tibet charakteristisch<br />

geblieben.“ 47<br />

Zwischen 770 und 775 wurde, wenn man von den Gründungen Songtsen<br />

Gampos absieht, das erste tibetische Kloster, Samye (bSam-yas),<br />

zu Deutsch: das Unvorstellbare, von antirakita und Padmasambhava<br />

gegründet und 779 der Buddhismus als Staatsreligion ausgerufen,<br />

was eine Abdrängung der Bön-Priester in das Hinterland des tibetischen<br />

Reiches zur Folge hatte. Überall, wo die Staatsmacht präsent<br />

war, war auch der Buddhismus gegenwärtig, während die Wirksamkeit<br />

der Bön-Schamanen als Vertreter der lokalen Religiosität von<br />

der Macht und Bedeutung der religiös konservativen Lokalherren abhängig<br />

war. So repräsentierte der Gegensatz Buddhismus versus Bön<br />

(dBon) auch den politischen Gegensatz der Yarlung-Epoche: Zentralmacht<br />

und transtribaler Staatsgedanke versus Regionalmacht, die auf<br />

Machterweiterung unter Clanführung setzte, d.h. den Gegensatz von<br />

Nationalbewußtsein und Clanegoismus.<br />

Nach dem Konzil von Samye von 792 bis 794, das den Vorrang der<br />

indischen und der chinesischen Schule des Buddhismus in Tibet entscheiden<br />

sollte, entschied sich Trisong Detsen (Khri-slo lde-bstan)<br />

gegen die chinesische Ch´an-Schule zugunsten einer indischen Form<br />

des Mahayna-Buddhismus (Tantrayna) und befahl die Übersetzung<br />

der kanonischen Schriften des indischen Buddhismus ins Tibetische.<br />

Solange Trisong Detsens Macht unangefochten war, hielten sich die<br />

Bön-po (dBon-<strong>pa</strong>) und der ihnen verbundene Adel zurück, aber als gegen<br />

Ende seiner Regierungszeit auch seine Machtfülle zu schwinden<br />

begann, gewann die Bön-Fraktion in Tibet zunehmend wieder Boden<br />

zurück.<br />

Unter der Regierung Sednalegs (Sad-na legs) wurde der Buddhismus<br />

das erstemal auch ganz explizite zu einem politischen Aktivposten in<br />

47 P.Kvaerne, Aufstieg und Ursprung einer klösterlichen Tradition, in: Bechert, Gombrich, Der Buddhismus,<br />

München 1995, S.301-2


32<br />

Tibet. In seiner Regierungszeit erschienen die buddhistischen Mönche<br />

auch als politische Repräsentanten der Zentralregierung. Größten politischen<br />

Einfluß errang damals der Mönch Dranka Palgyi Yönten<br />

(Bran-ka dPal-gyi yon-tan). Sein Rang stand sogar noch über dem des<br />

„Großen Ministers“. Eine Pfeilerinschrift (rDo-ring), die man in der<br />

Nähe einiger der Heiligtümer fand, die Sednaleg selbst erbauen ließ,<br />

bezeugt dessen buddhistische Gesinnung.<br />

Das Königshaus hatte schon unter Songtsen Gampo und besonders<br />

unter Trisong Detsen erkannt, daß die universale Orientierung und die<br />

bündische Organisation des Buddhismus mit dem transtribalen Staatsgedanken<br />

des Herrscherhauses korrespondierte, und so belehnte es<br />

daher adlige Mönche mit Klöstern und Klosterland sowie mit Klostergrundholden,<br />

und zwar mit der Auflage, ihre Kenntnisse und Klöster<br />

der Staatsverwaltung zur Verfügung zu stellen. Die Klöster waren die<br />

verläßlichsten Bundesgenossen des Königs im Kampf um die Vormacht<br />

im Staate, der ihren Status, ihren Einfluß und ihr Gedeihen garantierte.<br />

Die Dharmarajas (Chos-rgyal) Tibets:<br />

historische Könige Inkarnation von<br />

1 Srong- btsan sgam-po Avalokiteshvara<br />

2 Khri- srong- lde- brtsan Manjushri<br />

3 Ral-<strong>pa</strong>- can Vajra<strong>pa</strong>ni<br />

Noch stärker als Sednaleg, war sein Sohn, Tritsug Detsen Rel<strong>pa</strong>chen<br />

(Khri-gtsug lde-btsan Ral-<strong>pa</strong>-can), der zwischen 817 und 836 regierte,<br />

dem Buddhismus ergeben. Er beschäftigte in der Staatsverwaltung fast<br />

nur noch klerikales Personal und glaubte auf diesem Wege die Stellung<br />

des Herrscherhauses gegenüber dem nur schwer regierbaren, regional<br />

verwurzelten Stammesadel ausbauen zu können.<br />

Chinesische Quellen weisen darauf hin, daß der Herrscher Tibets unter<br />

dem starkem Einfluß des buddhistischen Klerus stand und daß der<br />

Adel gegen diese Bevormundung revoltierte. Der Adel setzte die Hinrichtung<br />

des Mönchsministers und die Verbannung von Rel<strong>pa</strong>chens<br />

älterem Bruder durch. Schließlich ermordeten die Führer der dBasund<br />

Cog-ro Clans auch den Herrscher selbst.<br />

Nach dem Putsch gegen Rel<strong>pa</strong>chen konnte sich auch Triu-dumtsen<br />

Langdarma (Khri-u-dum-btsan gLang-dar-ma), 838- 842, der Bruder<br />

des Ermordeten, nicht mehr lange auf seinem Thron halten. Er galt als<br />

Marionette des neuen Lönchen, Bagyel Tore (dBas rGyal-to-re), eines<br />

Exponenten der Bön-Fraktion. Unter seiner Regierung begann die<br />

Verfolgung der buddhistischen Mönche. Man betrachtete den Bud-


33<br />

dhismus noch immer als fremden Import und glaubte ihn mit der<br />

Ausweisung der Fremden auch wieder los werden zu können. Die<br />

Ausländer mußten das Land verlassen und die tibetischen Mönche<br />

wurden gezwungen, in den Laienstand zurückzutreten. Die Tore buddhistischer<br />

Heiligtümer wurden zugemauert und der Buddhismus allgemein<br />

verfolgt. Der Versuch einer mit Gewalt durchgeführten Bön-<br />

Restauration beherrschte die Szene.<br />

Nach der Ermordung Langdarmas durch den Mönch Palgyi Dorje<br />

(dPal-gyi rdo-rje) versagten sowohl die Bönfraktion als auch die buddhistische<br />

Fraktion der einstigen Vasallen den Nachkommen des Yarlung-Hauses<br />

die Anerkennung der Herrscherwürde und das Mandat<br />

zur Führung der Stammesföderation.<br />

In dieser Zeit verfiel das Tufan-Reich, wie das tibetische Reich unter<br />

der Yarlung-Dynastie von den Chinesen genannt wurde, der Feudalanarchie.<br />

Der Buddhismus verschwand in Zentraltibet fast 150 Jahre<br />

lang von der Bildfläche.<br />

Tsidar (Phyi-dar) oder die „zweite Verkündung der Lehre“<br />

Nach der Ermordung Langdarmas (gLa-dar-ma) brach das erste<br />

echte tibetische Reich unter der Uneinigkeit der einst verbündeten<br />

Clans zusammen, welche sich davor zu einer Föderation und schließlich<br />

zu einem dynastisch geführten Staatsverband zusammengeschlossen<br />

hatten.<br />

Die Nachkommen Ö-sungs (‘Od-srus), jenes Sohnes von Langdarma,<br />

der dem Buddhismus treu geblieben ist, zogen sich nach West-<br />

Tibet zurück und begründeten dort neue Königreiche in mNga-ris,<br />

darunter auch sGu-ge, das einstige Zentrum des Zhang-zhung-Reiches.<br />

Nur in Ladakh konnten sich die Nachkommen des Yarlung-Hauses<br />

sogar bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch behaupten.<br />

In dem Gebiet um Lhasa wurde der Sagha ausgelöscht. Die meisten<br />

Buddhisten dieser Gegend wanderten nach Amdo aus, wohin die<br />

Macht der Regenten von Lhasa nicht mehr reichte. Unter diesen Auswanderern<br />

waren auch Lachen Gong<strong>pa</strong> Rabsal (bLa-chen dGongs-<strong>pa</strong><br />

rab-gsal), 832-915, und sein Schüler Lu-Me (kLu-mes), welche nach<br />

der Buddhistenverfolgung in Ü (dbUs) den Buddhismus in A-mdo in<br />

jener alten Form fortführten, die auf Padmasambhava zurückging. Als<br />

später dann auch die anderen Schulen des Buddhismus in Tibet in Er-


34<br />

scheinung traten, wurden sie Nyingma<strong>pa</strong> (ri-ma-<strong>pa</strong>), d.h. die „Bewahrer<br />

der alten tantrischen Überlieferung“ genannt.<br />

Aber die eigentliche Resurrektion des Buddhismus in Tibet, die sich<br />

im Verlaufe dieser Zeit der Wirren vorbereitete, ging von Guge aus,<br />

dem westtibetischen Königreich, das von den Nachkommen Ö-sungs<br />

gegründet worden ist. Um 1042 kam Ata nach Guge. Er reformierte<br />

den tibetischen Buddhismus, brachte die Urbuddhalehre (di-Buddha)<br />

und das Klacakratantra nach Tibet und trug damit zu einer neuerlichen<br />

Verbreitung des Buddhismus in Tibet bei. Auf seine Reformen<br />

beruft sich der Kadam<strong>pa</strong> (bKa-gdams-<strong>pa</strong>)-Orden. „Ata war in den<br />

Tantras wohlbewandert und erteilte sowohl Rin-chen-bzangs-po als<br />

auch seinem eigenen Schüler Brom-ston (1008-1064) Initiationen. Da<br />

er gleichzeitig an den Ordensregeln festhielt, machte er es möglich,<br />

daß von dieser Zeit an die Tantras innerhalb der Klöster studiert und<br />

geübt werden konnten, und führte damit in Tibet die jahrhundertalte<br />

Tradition tantrischer <strong>Studien</strong> fort, welche die indischen Klosteruniversitäten<br />

Nland, Vikramala und Otantapur ausgezeichnet hatte.<br />

Gleichzeitig räumte er der Verehrung des Avalokitevara einen wesentlichen<br />

Platz ein und hob hervor, wie wichtig die Pflege der herkömmlichen<br />

buddhistischen Tugenden und das Beschreiten des langen<br />

und mühevollen Bodhisattva-Weges seien.“ 48<br />

Um 1076 konnte das Königreich von Guge ohne jede politische Gefahr<br />

in Tabo, nahe seiner Hauptstadt Tholing (mTho-gli), eine große<br />

buddhistische Synode ausrichten, die von den Mönchen aus allen<br />

Landesteilen Tibets besucht wurde. Die tibetische Geschichtsschreibung<br />

nennt die in dieser Zeit neu einsetzende Reanissance des Buddhismus<br />

die „spätere (zweite) Verkündung der Lehre“, Tsidar (phyidar).<br />

Mit dem Wirken von Ata und Rinchen Sangpo (Rin-chen bzang-po),<br />

der noch im Alter von 85 Jahren Atas Schüler wurde, wurden auch<br />

die früher schon gepflegten Kontakte nach Indien, speziell zu den berühmten<br />

Klöstern von Magadha (Birhar) wieder aufgenommen. Mar<strong>pa</strong><br />

von Lho-brag (1012-1098), mit dem Beinamen der „Übersetzer“ reiste<br />

nach Indien, wo er sich initiieren ließ und kostbare religiöse Schriften<br />

kaufte. Die Schulen, die sich auf ihn berufen, werden unter dem<br />

Sammelnamen Kagyü<strong>pa</strong> (bKa-brgyud-<strong>pa</strong>) zusammengefaßt. Sie alle<br />

beziehen sich auf Ti-lo-<strong>pa</strong>, Nro<strong>pa</strong> und Maitri-<strong>pa</strong>. Aber ihr berühmtester<br />

Heiliger ist Milare<strong>pa</strong> (Mi-la-ras-<strong>pa</strong>). Mar<strong>pa</strong> wie Milare<strong>pa</strong> waren<br />

48 P.Kvaerne, Aufstieg und Ursprung einer klösterlichen Tradition, in: Bechert, Gombrich, Der Buddhismus,<br />

München 1995,S.307-8


35<br />

selbst keine ordinierten Mönche, dementsprechend stand es auch um<br />

das Zölibat in den Orden, deren Gründung sie inspirierten. Unter diesen<br />

Richtungen finden sich die Drigung<strong>pa</strong> (Bri-gu-<strong>pa</strong>), die Talung<strong>pa</strong><br />

(sTag-lu-<strong>pa</strong>), die Drug<strong>pa</strong> (Brug-<strong>pa</strong>), die heute in Bhutan vorherrschen,<br />

und die Karma<strong>pa</strong>. Einige dieser Schulen kamen im Verlaufe<br />

der tibetischen Geschichte auch noch zu größerer politischer Bedeutung.<br />

Die geistliche Richtung, welche es unmittelbar nach diesem Zeitalter<br />

der Wirren in Tibet als erste zu einer echten politischen Bedeutung<br />

brachte, war die Schule der Sakya<strong>pa</strong> (Sa skya-<strong>pa</strong>). Ihre Lehre gründete<br />

auf den Unterweisungen des Drogmi Lotsawa (Brog mi lo-tsa-ba).<br />

Das Stammkloster der Sakya<strong>pa</strong> wurde 1073 von Konchog Gyalpo<br />

(Khon dKon-mchog rgyal-po) aus der Lineage der Khön gegründet.<br />

Obwohl diese Lineage zum Brusha (Bru-sha)-Volk gehörte, dessen<br />

Stammland bei Gilgit liegt, das dazu noch der Bön-religion anhing,<br />

vermochte es diese Lineage, von ihrer Verwandtschaft unangefochten,<br />

sich dem Buddhismus zuzuwenden. Dieser verwandtschaftliche Kontext<br />

erklärt die Tatsache, daß Sa-skya Paita Künga Gyatsen (Kundga<br />

rgya-mtshan) (1182- 1251) nicht nur das Brusha in Wort und<br />

Schrift beherrschte, sondern auch die religiösen Praktiken seiner Verwandten<br />

sehr gut kannte und auch für seine Zwecke einzusetzen<br />

wußte. Unter ihren Nachbarn galten die Länder der Brusha-Clans als<br />

Heimat der Hexer und Zauberer. Ihre Kunststücke waren auch noch<br />

Phag<strong>pa</strong> (Phags-<strong>pa</strong>) am Hofe Khubilais nützlich, als es darum ging,<br />

seinen Rivalen des Karma<strong>pa</strong> Ordens, Karma<strong>pa</strong> Bakshi (Karma Paki),<br />

von der Gunst der Förderung durch die Yüan-Dynastie auszuschließen.<br />

Auch dieser Orden erfuhr eine Segmentierung in die Richtungen der<br />

Nor<strong>pa</strong> (Ngor-<strong>pa</strong>), Tatshang<strong>pa</strong> (sTag tsha-<strong>pa</strong>), Jonang<strong>pa</strong> (Jo-na-<strong>pa</strong>)<br />

und Tshal<strong>pa</strong> (Zhwa-lu-<strong>pa</strong>), zu welchem der berühmte Lehrer und Historiker<br />

Büton (Bu-ston Rin-chen-grug), 1290-1364, gehörte.<br />

Seine politische Bedeutung in Tibet hing unmittelbar mit dem Kontakt<br />

des Sa-skya Paita zu dem Mongolen Khan Godan zusammen, der<br />

die Truppen des Großkhans Ögödei im Kukunor- Gebiet befehligte.<br />

Von dem mongolischen Suzerän empfingen die Sakya<strong>pa</strong>-Äbte später<br />

den Titel Ti-shi (Ti-sri), der sie zwar als seine Vasallen, aber vor allem<br />

als Regenten von Tibet auswies. Unter ihrer Ägide konsolidierte<br />

sich die Tsidar (phyi-dar), d.h. die „zweite Verkündung der Lehre“, in<br />

Tibet, d.h. während ihrer Regentschaft konnte sich der Buddhismus in<br />

Tibet endgültig durchsetzen und als Volksreligion Fuß fassen.


36<br />

Die Sakya<strong>pa</strong>-Suprematie endete in Tibet mit der Zweiteilung Tibets,<br />

nachdem zunächst der Tripön (Khri-dpon) oder Myriarch (Zehntausendschaftsführer)<br />

Jangchub Gyaltsen, ein Pagmodru<strong>pa</strong> Mönch aus<br />

dem rLang Clan, sich die Herrschaft über Ü und Tsang aneignen<br />

konnte und Rinpung-<strong>pa</strong> (Rin-spus-<strong>pa</strong> karma-btsan) seinen Erben<br />

wiederum die Provinz Tsang zu entreißen vermochte.<br />

In diese Zeit fällt auch das Leben und Wirken des Reformators Tsongkha<strong>pa</strong><br />

(1347-1419), das die Geschichte Tibets nachhaltig prägen sollte<br />

(bTsong-kha-<strong>pa</strong> bLo-bza grags <strong>pa</strong>). Er nahm die Grundsätze Atśas<br />

wieder auf und reformierte den Lamaismus in Tibet. Vor allem stellte<br />

er die Geltung des Vinaya wieder her. Das Ergebnis war der Gelug<strong>pa</strong><br />

(dGe-lugs-<strong>pa</strong>)-Orden, die Schule der „Tugendhaften“.<br />

Die durch die Usur<strong>pa</strong>tion Rinpung<strong>pa</strong>s (Rin-spus-<strong>pa</strong>) entstandene<br />

Zweiteilung Zentraltibets erklärt auch, warum die ersten Klöster der<br />

Gelug<strong>pa</strong>-Schule alle in der Provinz Ü gegründet worden sind, wo sich<br />

die Pagmodru<strong>pa</strong> Regenten noch behaupten konnten. Rinpung<strong>pa</strong> war<br />

nämlich ein ausgesprochener Förderer der Jonang<strong>pa</strong> und der Karma<strong>pa</strong>.<br />

Ganden (dGa-ldan=das Freudvolle) wurde 1409 (oder 1407) von<br />

Tsongkha<strong>pa</strong>, Drepung (Bras-spus=der Reishaufen) 1416 (oder 1409)<br />

von einem Schüler (Byams-dbyas Chos-rje) und Se-ra (gSe-ra=das<br />

Goldene) 1419 ebenfalls von einem Schüler Tsongkha<strong>pa</strong>s (Byamschen<br />

Chos-rje) gegründet.<br />

Diese drei Hauptklöster stehen alle in der nächsten Umgebung von<br />

Lhasa. Das einzige der frühen Gelug<strong>pa</strong>-Klöster, das in Tsang 1447<br />

von Gedün Drub<strong>pa</strong> gegründet wurde, war das von Tashi Lhünpo<br />

(bKra-shis lhun-po). Zu dieser Zeit war die Macht des Tsang<strong>pa</strong>-Hauses,<br />

das selbst den Karma<strong>pa</strong>-Orden favorisierte, noch regional beschränkt<br />

und der Gelug<strong>pa</strong>-Orden selbst noch ohne starke politische<br />

Förderer und daher auch noch keine politische Partei.<br />

Die Gelug<strong>pa</strong>-Richtung baute auf den Regeln von Ata und der Kadam<strong>pa</strong><br />

(bKa-gdams-<strong>pa</strong>)-Schule auf, die sie später in sich integrierte.<br />

Neben der Wiederaufrichtung der buddhistischen Ordensdisziplin<br />

(hier vor allem die Tugenden der Armut, der Enthaltsamkeit von<br />

Rauschmitteln und des Zölibats) richtete Tsongka<strong>pa</strong> auch die Institution<br />

des Tulku (sPrul-sku) als Repräsentant der Körperschaft des Labrang<br />

ein, eine bestimmte Form der Anwendung der Trikya-Lehre<br />

des Mahyna-Buddhismus, die auf eine Anregung seines ersten Lehrers,<br />

eines Karma<strong>pa</strong>-Mönchs, zurückgeht und zur Sicherstellung seiner<br />

Nachfolge und später der Nachfolge anderer Hierarchen, mit entsprechenden<br />

Vorschriften versehen, etabliert wurde. Als äußerliches


37<br />

Erkennungszeichen wechselte der Orden die Farben seiner Hüte und<br />

Kappen sowie die seiner Gewänder in Gelb, um so auch den Kontrast<br />

zu den älteren Schulen, die Rot tragen, anschaulich zu machen. Der<br />

Volksmund nannte sie später nur noch Shaser (Shva-ser), d.h. Gelbmützen.<br />

Die straffe Organisation des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens selbst geht auf Gedün<br />

Dru<strong>pa</strong> (dGe-dun grub-<strong>pa</strong>), dem Neffen Tsongkha<strong>pa</strong>s, zurück, der als<br />

Abt von Ganden (1391-1475) die Nachfolge Tsongkha<strong>pa</strong>s antrat, und<br />

später als eine Inkarnation Avalokitevaras, des Schutz<strong>pa</strong>trons von Tibet,<br />

erkannt wurde, wie auch Songtsen Gampo vor ihm, und der deshalb<br />

auch den Titel Gyalwa Rinpoche (rGyal-ba Rin-po-che) erhielt.<br />

Seine nächste Reinkarnation war Gedün Gyatso (dGe-dun rGya<br />

mtsho), 1475-1542. Beiden wurde der Titel des Dalai Lama posthum<br />

verliehen.<br />

Der dritte Gyalwa Rinpoche, Sonam Gyatso (bSod-nams ryGa-mtsho),<br />

begegnete der Herausforderung seines Ordens durch die Könige des<br />

Hauses Tsang mit einem Bündnis, das er mit dem Khan der Tümed-<br />

Mongolen einging, um so politisch die Reformbestrebungen des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens<br />

gegenüber der Bevorzugung der Karma<strong>pa</strong> Schule durch<br />

die Tsang<strong>pa</strong> abzusichern. Aus der Lineage Altan Khans stammte auch<br />

seine nächste Inkarnation, der vierte Gyalwa Rinpoche, Yönten Gyatso<br />

(Yon-tan rGya-mtsho), der nach dem dritten Gyalwa Rinpoche<br />

auch den neuen Titel eines Dalai Lama IV. trug (1589-1617), aber auf<br />

der Flucht vor den einfallenden Truppen des Königs von Tsang in<br />

Lhasa mit 25 Jahren starb. Dies veranlaßte die ostmongolische Allianz<br />

der Tümed- und der Ordos-Mongolen in Tibet zu intervenieren. Mit<br />

der Hilfe des Koshoten Khans (Guri Khan) konnte dann später der<br />

Dalai Lama V. sogar in Tibet 1642 die Hierokratie der Gelben Kirche<br />

durchsetzen, die mit einer Unterbrechung, die von 1682 bis 1750 dauerte,<br />

bis 1950 ihre politische Macht in Tibet nicht mehr verloren hatte.<br />

Zweihundert Jahre lang, von 1751 bis 1951 war Tibet ein Kirchenstaat<br />

der Gelben Kirche oder des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens, von dessen Hierarchen<br />

oder noch häufiger, deren Regenten, das Land regiert wurde.


38<br />

Das Kloster, Bau eines Verhältnisses zur Erde: Ort der Einkehr<br />

Das tibetische Wort für Kloster ist Gom<strong>pa</strong> (dGon-<strong>pa</strong>), d.h. "einsamer<br />

Ort" oder "Einsiedelei". Es betont seine Funktion als Schwelle des<br />

Rückzugs aus der Welt und der Einkehr in sich selbst. Klösterliche<br />

Einrichtungen werden auch mit anderen Wörtern bezeichnet, z.B. mit<br />

Chöde (Chog-sde), "religiöser<br />

Ort", der meistens<br />

Tempel-Klöster<br />

innerhalb eines Dorfes<br />

oder einer Stadt bezeichnet.<br />

Als religiöser<br />

Ort erinnert das Kloster<br />

daran, daß in ihm all<br />

das versammelt ist, was<br />

man zu seiner religio<br />

braucht. Der Name Ling<br />

(gLi), "Erdteil", „Landesteil“<br />

oder „Insel“<br />

verweist auf die vier<br />

mythischen Kontinente<br />

des buddhistischen Kosmos<br />

und deutet mit<br />

dieser Konnotation auch<br />

auf die vier größten<br />

Klöster des seit dem<br />

17.Jh. vorherrschenden<br />

Ordens, der bis 1950 in<br />

Tibet regiert hat. 49 Aber<br />

auch andere Klöster<br />

werden so genannt.<br />

Verschiedene Klöster des Kagyü (bKar’-gyud-<strong>pa</strong>)-Ordens werden<br />

Tak-phu (sTag-phu), d.h. "Höhle", genannt, was sie vielleicht ursprünglich<br />

auch einmal waren, bevor die Zahl der Einsiedler wuchs<br />

und jene durch Spenden reich gewordenen Mönche in der Nachbarschaft<br />

größere Klöster bauen konnten. 50 Auch der Eintritt in die Höhle<br />

49 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.255<br />

50 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.256; R.Bleichsteiner, Die Gelbe Kirche, Wien<br />

1930, S.116


39<br />

markiert das Überschreiten der Schwelle zwischen der Augenwelt und<br />

jener Dämmerung, welche erst die Wahrnehmung des inneren Lichts,<br />

der „eigenen Leuchte“ ermöglicht.<br />

Nonnenklöster heißen A-ne dGon-<strong>pa</strong>, Phyu-po oder Jo-mo-gli. In<br />

Lhasa gab es nur ein Nonnenkloster im Südosten der Stadt in der Nähe<br />

der Moschee der Kaschmiri: Bya-khu dGon-<strong>pa</strong>. Das Nonnenkloster<br />

bei Kham<strong>pa</strong>dzong (Kham-<strong>pa</strong>-rDzong) heißt rDza-gli Nya-dgon. 51 Im<br />

Verhältnis zur Zahl der Mönchsklöster ist jene der Nonnenklöster in<br />

Tibet eher gering.<br />

Seit dem 11.Jh. gab es in Tibet auch Bön-Klöster, d.h. Klöster der vorbuddhistischen<br />

Religion Tibets, ein Ereignis, das ebenfalls den Wandel<br />

einer „Religion der kleinen Gruppe“ in eine „Landeskirche“ anzeigt.<br />

Die bedeutendsten Bön-Klöster waren Rwa-lags Yun-dru 52 bei<br />

Ro in West-Tibet und sThob-rgyal gwra-tsha dGon. 53 Das Verhältnis<br />

beider Konfessionen wandelte sich von anfänglicher Feindschaft<br />

zu einer Form der friedlichen Koexistenz, in der die Bön-Religion sich<br />

sehr stark dem lamaistischen System annäherte. Diese Annäherung<br />

ging praktisch soweit, daß Bön-Priester ihre höhere Ausbildung sogar<br />

im Kloster Drepung abschlossen, einem der drei Metropolitanklöster<br />

der Gelug<strong>pa</strong>. 54<br />

Unter funktionalem Gesichtspunkt lassen sich die Klöster Tibets in<br />

zwei Hauptkategorien zusammenfassen, und zwar 1) in die Gemeindeoder<br />

Heimatklöster (gzhis-dgon) und 2) in die überregional bedeutenden<br />

Hauptklöster und Klosteruniversitäten (gdan-sa), die sowohl<br />

Relais-Zentren ihrer Filialen als auch überregionale Bildungsstätten<br />

waren. Die Heimatklöster waren Filialklöster (dgon-lag) von Provinzialhäusern,<br />

die ihrerseits Filialen (dgon-lag) der Haupt- oder Metropolitanklöster<br />

ihrer Orden waren.<br />

Viele dieser Klöster lagen also zunächst an einsam gelegenen Plätzen,<br />

auf Bergspitzen und –hängen, in der Nähe von Höhlen, nicht fern von<br />

Siedlungen oder Städten, die bald mit der Bevölkerungszunahme zu<br />

deren unmittelbaren Nachbarn wurden, oder es entstanden überhaupt<br />

erst um das Zentrum berühmter Einsiedeleien und Klöster herum<br />

Siedlungen, die zu Dörfern oder ganzen Städten sich auswuchsen.<br />

Vom Kloster Ditza (Dri-tshang zhags-<strong>pa</strong>) in der Provinz Schinghai<br />

lebte beispielsweise „die Hälfte seiner Mönche als Einsiedler in ver-<br />

51 Siehe: G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.104<br />

52 Aufschaiter beschreibt dies Kloster unter dem Namen Yundrungling. Siehe: P.Aufschnaiter, in: M.Brauen,<br />

Hrsg., Peter Aufschaiter, sein Leben in Tibet, Berwand 1988, S.154<br />

53 Siehe: Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.127<br />

54 Siehe: Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.127-8


40<br />

streuten Hütten in den umliegenden Bergen… In das Kloster selbst…<br />

(begaben/H.S.) sie sich nur an bestimmten Tagen des Jahres, an denen<br />

eine allgemeine Zusammenkunft… (stattfand/H.S.) und die heiligen<br />

Schriften nach den rituellen Vorschriften gelesen werden.“ 55<br />

Andere, oft sehr alte Klöster beerbten vorbuddhistische Lokalschreine<br />

oder sie wurden mit Kalkül an Verkehrsknotenpunkten, Pilgerstraßen<br />

oder Karawanenwegen angelegt. 56<br />

Bereits diese Unterschiede in der Lage, der Größe und der Funktion<br />

deuten noch die zu verschiedenen Zeiten vorwaltenden unterschiedlichen<br />

Konzepte an, welche die Klostergründungen jeweils leiteten oder<br />

verweisen auf die unterschiedliche politische Bedeutung der Orden<br />

der entsprechenden Klöster zum Zeitpunkt ihrer Gründung, die man<br />

unter den folgenden Stichworten zusammenfassen kann: Überwindung<br />

der Bön-Konkurrenz durch Übernahme der Lokalschreine, architektonisch<br />

auf der Erde auf- und dargestellte Welt (buddhistische Kosmologie),<br />

Stützpunkt der Königsmacht, Ausdehnung der eigenen Einflußsphäre<br />

(Konkurrenzkampf der Orden), Wirtschaftlich günstiger oder<br />

strategischer Standort und administrative Filiale der Staatsregierung.<br />

Lage<br />

Tibets Klöster lagen meistens strategisch günstig und boten einen<br />

malerischen Anblick. Häufig war die Blickrichtung nach Osten offen,<br />

damit man vom Kloster aus die ersten Sonnenstrahlen begrüßen konnte.<br />

57 Die Gebäude folgten bevorzugt dem Verlauf der Berggrate oder<br />

den Graten der Hügel, auf denen sie gebaut waren. Vor dem Eingang<br />

des Klosters sah man auch gerne einen See, selbst wenn er einige Kilometer<br />

entfernt lag. 58<br />

„Kumbum (sKu-bum) ist am Schnittpunkt einiger Täler gebaut, die<br />

von verschiedenen Seiten das Gebirge zerschneiden. An diesem<br />

55 A.David-Neel, Land der Is, Wien 1952, S.88<br />

56 “Die gelben Mönche siedelten sich vorzugsweise in der Nähe der großen west-östlichen Verkehrsstraßen,<br />

namentlich bei Lhari und C’ab-mdo, ferner auch in Darge (…) dGon-c’en an, und das erwähnte Kloster Lithang<br />

war damals jedenfalls auf dem Wege nach Ta-tsien-lu der am weitesten östlich vorgeschobene Posten der<br />

reformierten Lehre.“ G.Schulemann, Die Geschichte der Dalai Lamas, Heidelberg 1911, S.126<br />

57 Siehe: Antonio Giorgi (OESA), Alphabetum Tibetanum, I, Übers.u. Hrsg. P.Lindegger, Rikon 2001, S.421;<br />

Tafel beschreibt die Lage von Kumbum: „Wie bei den meisten tibetischen Klöstern ist auch in Gumbum die<br />

Regel befolgt worden, daß der gegen Osten gerichtete Talhang von Tempelgebäuden und Heiligtümern bedeckt<br />

wird. An den gegen Westen nach Nordwesten abdachenden Talseiten befinden sich dagegen Einzelhöfe, Wohnungen,<br />

die Lamapriestern und reichen Buddhainkarnationen gehören.“ A.Tafel, Meine Tibetreise, I, Stuttgart,<br />

Berlin, Leipzig 1914, S.212<br />

58 "Am steilen Hang des Berges war das größte Kloster von Shang, Ganden Chöchog, zu sehen, eine Anlage von<br />

etwa 30 Gebäuden, in der zur Zeit etwa 150 Gelug<strong>pa</strong>-Mönche lebten... Von einem Lama aus Chum gegründet,<br />

wurde es durch einen Schüler Tsongkha<strong>pa</strong>s vergrößert. Dieses bedeutende Kloster beherbergte Mönche der<br />

beiden Schulen Shakya<strong>pa</strong> und Gelug<strong>pa</strong>."P.Aufschnaiter, in: M.Brauen, Hrsg., Peter Aufschaiter, sein Leben in<br />

Tibet, Berwand 1988, S.135-6


41<br />

Schittpunkt befinden sich mehrere hohe Vorberge und auf ihnen verstreut<br />

liegen die etwa dreitausend Gebäude der Klosterstadt Kumbum.<br />

Dazwischen verlaufen Straßen, die recht belebt sein können… Die<br />

Gebäude sind ganz uneinheitlich, von verschiedener Größe und Form.<br />

Das nimmt nicht weiter Wunder, denn in einer solchen Klosterstadt<br />

gibt es viele halbselbständige Klöster, die ganz verschiedene Stifter<br />

haben und daher in ihrer Größe und Pracht stark voneinander abweichen.“<br />

59<br />

Die Türen der Versammlungshalle und des Tempels (Lha-kha,<br />

Tsogs-chen) der Klöster schauten ebenfalls nach Osten. Wenn dies aus<br />

landschaftlichen Gründen nicht möglich war, versuchte man diese<br />

Eingänge an einer südöstlichen oder einer südlichen Blickrichtung<br />

auszurichten.<br />

Klöster wurden<br />

nicht gerne neben<br />

dem Lauf von Flüssen<br />

gebaut, denn es<br />

hieß, daß der Fluß<br />

die Tugenden des<br />

Ortes mit seinen<br />

Wassern forttrage. 60<br />

Aufschnaiter machte<br />

die Beobachtung:<br />

"Es gab kaum eine<br />

wasserreiche Stelle<br />

an Hängen oder in<br />

Seitentälern, wo<br />

nicht ein Kloster<br />

oder eine Einsiedelei<br />

lag." 61 Wasserfälle in Klosternähe galten als gutes Omen. In ihre<br />

Richtung ließ man daher auch gerne die Eingänge schauen, wenn<br />

diese nicht allzu stark von der östlichen Orientierung abwich. 62<br />

Wenn ein Kloster gegen Norden durch einen Berghang geschützt ist<br />

und nach Süden sich einem fließenden Wasser hin öffnet, heißt der<br />

Platz seiner Lage: Drachenplatz.<br />

59 Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freibugr, Basel, Wien 2000, S.241<br />

60 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.257<br />

61 P.Aufschnaiter, in: M.Brauen, Hrsg., Peter Aufschaiter, sein Leben in Tibet, Berwand 1988, S.127<br />

62 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.257; R.Bleichsteiner, Die Gelbe Kirche, Wien<br />

1930, S.118


42<br />

Der Platz, auf dem ein Kloster stand, wurde vorher rituell gereinigt,<br />

die genii loci besänftigt und dem Klosterwohl verpflichtet sowie der<br />

Schutzgottheit geweiht, unter derem Schutz das Kloster stand. Bei der<br />

Grundsteinlegung wurden im Verlaufe verschiedener Rituale Reliquien<br />

und andere Schutzzauber eingemauert oder vergraben. 63<br />

Das Baumaterial waren Felsteine oder sonnengetrocknete Ziegel. Holz<br />

war knapp in Tibet und kam deshalb nur s<strong>pa</strong>rsam zum Einsatz. Die<br />

Dächer waren flach, nur die Klöster im chinesischen Stil hatten auch<br />

Satteldächer. 64<br />

Zum Sonnenaufgang schauend, aus der Erde in den Himmel aufragend<br />

und dem Sturm trotzend oder in sie hineinkriechend, in Nachbarschaft<br />

zum Wasser, aufgestellt zu jenem frommen Werk, das erst fügt „und<br />

sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in<br />

denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren<br />

und Verfall- dem Menschen die Gestalt seines Geschickes gewinnen.“<br />

65 So nimmt das Kloster in der Maßlosigkeit der Elemente:<br />

Luft, Feuer, Wasser, Erde und dem Raum, ähnlich wie der Tempel<br />

oder der Stu<strong>pa</strong> (mch’od-rten), sein Maß auf der Erde, um sein Verhältnis<br />

zur Erde als Ort der Einkehr (dGon-<strong>pa</strong>) zu wahren.<br />

In Tibet integrierte das Kloster als Körperschaft zwei weitere Körperschaften<br />

kirchlichen Rechts, das Kolleg (Grva-tsha) 66 und das Wohnviertel<br />

(Kha-sthan). Die Wohngemeinden gruppierten sich um den<br />

Kolleg-Tempel, die Gesamtanlage um den Haupttempel des Klosters<br />

(Tsogs-chen) und demonstrieren so, daß der Mönch in seinem Kloster<br />

auf der Erde wohnt und unter dem Himmel, und zwar in jener Gemeinschaft,<br />

welche ihr Leben Buddha versprochen hat, d.h. wenn er<br />

studiert und die Riten absolviert, wohnt er in diesem als Kloster aufgestellten<br />

Geviert (Erde, Himmel, Buddha, Sagha) in das er sein Leben<br />

auf Buddhha hin, und zwar nach dem Vinaya (’dul-ba) ordnet.<br />

In den Klöstern außerhalb des Himalajagebietes stehen die Unterkünfte<br />

oder Wohnhäuser der Mönche in einem Karree um den Tempel<br />

des Klosters, der in den Tempelklöstern auf einem fensterlosen Souterrain<br />

steht, das auch als Lager genutzt wird, während die oberen<br />

Stockwerke über Treppen zu erreichen sind oder über Stämme, in welche<br />

Stufen eingeschlagen sind. 67<br />

63 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.259<br />

64 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.261<br />

65 M.Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: ipse, Holzwege, Frankfurt 1980, S.27<br />

66 Siehe: D.MacDonald, The Land of the Lama,London 1929, S.68-71<br />

67 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.261


43<br />

Meistens führen Reihen von Gebetsfahnen, Tschörten (mCh'od-rten) 68<br />

oder Mendongs (=Manimauern) den Reisenden oder Pilger zum Portal<br />

des Klosters, um auch ihn zum Ort zur Einkehr zu führen, der ihn aus<br />

seiner Welt auf den edlen Weg der Befreiung vom Leiden zu führen<br />

vermag.<br />

Das stellt sich mit Aufschnaiter auch beim Phawa Gön<strong>pa</strong> (Phag-ba<br />

dGon-<strong>pa</strong>) nicht anders dar, einem der bedeutenden Klöster im Kyirong<br />

(sKyid-rong)-Gebiet: "Das wichtigste Kloster, das Phawa Gön<strong>pa</strong>,<br />

das etwas abseits vom Dorf lag, war der einzige wichtige Bau Tibets<br />

im ne<strong>pa</strong>lesischen "Pagodenstil" (...) Dieses Gelug<strong>pa</strong>kloster war berühmt<br />

wegen seines "Jobo", einer Buddhastatue (Buddha Wati<br />

Sangpo), die manchmal sprechen sollte... Über dem Eingangstor des<br />

Klosters war folgende Inschrift angebracht: "Wer einmal durch dieses<br />

Tor tritt, wird von allen, in tausend Zeitaltern angesammelten Sünden<br />

frei sein." Die Zellen der Mönche lagen rings um den Hauptempel, vor<br />

dem ein Doring (Obelisk) ohne Inschrift stand. An der Außenwand<br />

waren neuere Wandbildbilder angebracht, welche zum Großteil die<br />

Stadt Lhasa, sowie die Klöster Ganden, Samye, Tashi Lhünpo und den<br />

Wallfahrtsort Tsari in Südtibet darstellten." 69<br />

Tucci’s Beschreibung einer typische Anlage unterstreicht das Bild:<br />

„Die Klosteranlangen liegen rings um das Kapitelgebäude (ts’ogs<br />

c’en), die große für die Mönchsversammlungen und die wenigstens<br />

einmal täglich gemeinsam verrichteten Kulthandlungen bestimmte<br />

Halle. Das Kapitel ist somit Mittelpunkt des Klosterganzen, und zwar<br />

nicht so sehr in materieller, als vor allem in geistiger Hinsicht: dank<br />

den in den Räumen vollzogenen Riten verdichtet sich an dieser Stätte<br />

die wirksame Gegenwart des dritten der Drei Kleinodien, der Gemeinschaft.<br />

Der Rest des überaus ausgedehnten Gebäudekomplexes wird<br />

von den Kollegs oder Lehranstalten (grva ts’a) eingenommen, die<br />

der Ausbildung der Mönche dienen und in denen sich das Alltagsleben<br />

abspielt… Zu nennen sind noch die Herbergen oder Hospize (k’a<br />

ts’an) für jene Mönche, die sich aus allen Teilen Tibets in den Klöstern<br />

zu gelegentlichem Besuch oder zu <strong>Studien</strong>zwecken einfinden.<br />

Diese Herbergen erhalten gewöhnlich ihren Namen vom Herkunftsort<br />

ihrer zeitweiligen Bewohner: wir finden ein dBus k’a ts’an für die<br />

Besucher aus Zentraltibet (dBus), eine Herberge für jene aus Kham<br />

(sie heißt im Kloster Se ra: sPom ra k’a ts’an), mNa’ris k’a ts’an<br />

für die Gäste aus Westtibet usw.<br />

68 tibetische Form des Stu<strong>pa</strong><br />

69 P.Aufschnaiter, in: M.Brauen, Hrsg., Peter Aufschaiter, sein Leben in Tibet, Berwand 1988, S.49


44<br />

Jedes dieser drei Gebäudegruppen- Kapitel, Kollegien, Herbergen- ist<br />

im Besitze eines Sondervermögens und stellt so eine wirtschaftliche<br />

Einheit dar. Dieser Gemeinbesitz heißt spyi.“ 70<br />

Neben den durch Erlösungstreben, rituelle Erfordernisse (z.B. Eignung<br />

für die Einsiedelei oder Zurückgezogenheit) und durch geomantische<br />

Zeichen (auffallende Landschaftsmerkmale eingeschlossen) bedingten<br />

Gründen der Ortswahl lassen sich andere, weltliche Gründe<br />

der Ortswahl nicht verhehlen. Die häufig verkehrsgünstige Lage der<br />

Klöster an den Knotenpunkten wichtiger Pilger- oder Handelsstraßen,<br />

ebenso wie die nicht selten strategisch günstige Lage jener Klöster,<br />

die Funktionen der Bezirks- oder Provinzregierung übernehmen, verweisen<br />

auf die wirtschaftlichen und politischen Ambitionen dieser<br />

Klöster. „Lhasa and Shigatze (die Orte der größten Gelug<strong>pa</strong>-Klöster/H.S.)<br />

are the chief centres of trade in Tibet; Cham-do, Jye-kun-do,<br />

Der-ge (auch diese Orte mit größeren Klöstern/H.S.) and Tachienlu<br />

(Ta-tsen-do) are important centres in eastern Tibet.“ 71 Jeder Ort auf<br />

der Strecke Lhasa Tachienlu (Dra-rtse-mdo): Gyamda (rGya-mda),<br />

Chamdo (Chab-mdo), Kanze (dKar-dzes), oder ab Chamdo alternativ:<br />

Bathang (’Ba’-thang), Lithang (Li-thang), ist um mindestens ein<br />

größeres Kloster gewachsen. 72 Filchner ist dieser Gesichtspunkt in<br />

Amdo aufgefallen. „Ein Blick auf die Karte zeigt, daß es die Lamas<br />

gut verstanden haben, ihre Klöster an der Peripherie des Amdogebietes,<br />

gleichsam als Zollstationen an den Hauptwegen anzulegen. So haben<br />

wir im Osten Labrang, im Norden, dicht südlich von Quetä, mehrere<br />

kleinere Klöster, im Westen Radja Gom<strong>pa</strong> und im Süden Shin-se<br />

und mehrere Klöster zwischen Schin-se und dem Hoang-ho.“ 73<br />

Rockhill bestätigt Filchners Hinweis auf die weltlichen Gesichtspunkte<br />

der klösterlichen Ortswahl, allerdings mit einem anderen wirtschaftlichen<br />

Schwerpunkt. “It must be borne in mind that outside of<br />

the border there are no lamaseries; they are all within the agricultural<br />

regions where supplies are easily procured.” 74 Rockhill hob ab auf die<br />

Nähe zum Benefizialland.<br />

In Ost-Tibet waren die Klöster nicht nur gutherrliche Zentren sondern<br />

auch Sitze von Fürstäbten oder politischen Autoritäten. Jedes Hauptkloster<br />

Osttibets war ähnlich wie die Residenzen seiner Könige auch<br />

Herrschaft über diverse Nomadenstämme. Das bLa-brang phygs-<strong>pa</strong><br />

70 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.154<br />

71 Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.112<br />

72 Siehe: Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.120-121<br />

73 W.Filchner, Das Kloster Kumbum in Tibet, Berlin 1906, S.7<br />

74 W.W.Rockhill, The Land of the Lamas, London 1891, S.82


45<br />

brgyud und das Kir-ti ba-Khra brgyud bestanden aus je 8 Stämmen,<br />

das Reb-gong phyogs-<strong>pa</strong> btsu gnyis sogar aus 12 Stämmen, während<br />

das sKu-bum tsho-<strong>pa</strong> drug nur 6 Stämme umfaßte. Rep-gongs Stammesverband<br />

konnte sich durchaus messen mit dem des weltlichen<br />

Sog-po rGyal-po, d.h. mit dem Sog-po mda’-btsu gtsig, der sich aus<br />

11 Stämmen zusammensetzte, während der weltliche sTong-dpon von<br />

Co-ne Herr über 48 Stämme war.<br />

Angesichts dieser<br />

beeindruckenden<br />

Hinweise auf die<br />

eher profanen Absichten<br />

der Ortswahl<br />

sollte hier aber der<br />

ursprüngliche Gesichtspunkt,<br />

der den<br />

Bau der Klosteranlagen<br />

nicht nur in der<br />

Periode der ersten<br />

Missionierung bestimmt<br />

hat, nicht un-<br />

Das Kloster Samye (nach: H.Harrer, Meine Tibet Bilder, Seebruck<br />

1953<br />

erwähnt bleiben,<br />

nämlich die architektonische Reproduktion der buddhistischen Kosmologie,<br />

welche die ganze Klosteranlage zu einem geistlichen Anschauungsunterricht<br />

macht, zu einer Gedächtnisstütze für all das, was<br />

den Mönch veranlaßt hat, sich hinter diesen Mauern zurückzuziehen.<br />

Das Kloster als plastisches, in den Raum gebautes Kosmogramm. Dafür<br />

gibt das älteste tibetische Kloster, das Kloster Samye (bSam-yas),<br />

ein schönes Beispiel, dessen Ordnungsschema bis heute unübersehbar<br />

das Mandala geblieben ist.<br />

Der Entwurf der Anlage des Klosters Samye geht zurück auf antarakita,<br />

der Samye (bSam-yas) 749 n.Chr. im Auftrage des tibetischen<br />

Königs Trisong Detsen (Khri Sro lDe-brtsan) nach dem Vorbild des<br />

Klosters Otantapuri (Magadha, Indien), einer Stiftung des Königs Go<strong>pa</strong>la,<br />

nachbauen ließ. Otantapuri war das bauliche Abbild des buddhistischen<br />

Kosmos in idealtypischer Gestalt und also wurde auch Samye<br />

zu einem Architektur (dreidimensional) gewordenen kosmologischen<br />

Mandala.<br />

Im Zentrum der Anlage wurde der Haupttempel erbaut, der die Weltmitte,<br />

den Weltberg Meru vertrat. Um diesen Zentralbau ringten sich,<br />

verteilt auf die vier Weltecken zwölf kleinere Tempel, welche sinn-


46<br />

bildlich die vier Kontinente mit ihren jeweils drei Satellitenkontinenten<br />

repräsentierten: Uttara-Kuru (tib. sgra mi san) im Norden, Videha<br />

(tib. Lus ’<strong>pa</strong>gs) im Osten, Jambudv<strong>pa</strong> (tib. Jambu gli) im Süden<br />

und Godhanya (tib. ba gla spyod) im Westen.<br />

Auf der Nord-Süd-<br />

Achse zwischen dem<br />

Haupttempel und dem<br />

Arya<strong>pa</strong>lo wurde der<br />

Sonnentempel errichtet,<br />

der Mondtempel auf<br />

derselben Achse, aber<br />

zwischen Haupttempel<br />

und dem Nordtor. Die<br />

große Klostermauer mit<br />

108 Stu<strong>pa</strong>s grenzte als<br />

Kreis um das Zentralgebäude<br />

das Kloster von<br />

der Außenwelt ab. Diese<br />

Mauer stellt jenen<br />

Eisenwall (Cakravla)<br />

dar, der als die Grenze des Kosmos gilt.<br />

Vier große Stu<strong>pa</strong>s auf einem imaginären Kreis, der wahrscheinlich<br />

den konzentrischen Ring der sieben Goldenen Gebirge (Yugandara,<br />

Isadara, Karavka, Sudarsana, Asvakarna, Vinyaka und Nemidhara)<br />

andeutet, zwischen Zentrum und Klostermauer markieren jeweils<br />

die Weitergliederung<br />

der Weltecken durch<br />

ihre Position im Nordosten,<br />

Nordwesten,<br />

Südwesten und Südosten<br />

und verweisen<br />

mit ihren Farben auf<br />

die charakteristischen<br />

Farben der Weltecken:<br />

auf der Nordostachse<br />

und auf dem imaginären<br />

Mittelring steht<br />

zwischen dem Nord- und dem Osttor der Grüne Stu<strong>pa</strong>; auf der Nordwestachse<br />

und auf diesem gedachten Kreise zwischen West- und<br />

Nordtor steht der Schwarze Stu<strong>pa</strong>, auf der Südwestachse zwischen


47<br />

Westtor und Arya<strong>pa</strong>lo auf diesem mittleren Kreis steht der Rote<br />

Stu<strong>pa</strong>, während der Weiße Stu<strong>pa</strong> auf der Südostachse und auf dem<br />

erwähnten Kreise zwischen Arya<strong>pa</strong>lo und dem Osttor steht. Der Kreisgrundriß<br />

des Klosters gliederte den Raum sowohl konzentrisch (Mittelpunkt,<br />

Binnenring, Außenring) als auch durch zwei zu einem Kreuz<br />

verbunden Achsen der Orientierung, welche den Kreis in vier Viertel<br />

respektive acht Achtel aufgliedern und nach dieser konzentrisch-axialen<br />

Symmetrie das Muster des kosmischen Madalas reproduzierten.<br />

„Der beste Blick auf die Klosteranlage bietet sich vom südlich gelegenen<br />

Berg Häpori, auf dem Padmasambhava vor der Grundsteinlegung<br />

die Beschwörung der örtlichen Dämonen vollzogen haben soll.“ 75<br />

Größe der Klöster<br />

"Manche Klöster sind so klein, daß sie kaum ein Dutzend Mönche beherbergen,<br />

andere erscheinen als wirkliche, von Tausenden von Menschen<br />

bewohnte Städte. Bei diesen tut man sich dann auch schwerer,<br />

sie als Orte der Einkehr zu erkennen. Man darf nicht vergessen, daß in<br />

Tibet und der Mongolei durchschnittlich der vierte Teil der männlichen<br />

Bevölkerung den geistlichen Beruf ausübt." 76 Dieser Kontrast<br />

zwischen den kleineren Heimatklöstern und den größeren Provinzund<br />

Metropolitanhäusern oder Ordenshauptsitzen umschreibt nur die<br />

Extreme im Gewebe des Netzwerkes der Filialen, mit dem die Orden<br />

den Raum, das Territorium abstecken und kontrollieren. Auf sie verteilen<br />

sich ihre Mitglieder nicht zuletzt auch zu diesem Zweck.<br />

Der von Bleichsteiner genannte Anteil der Mönche erweist sich als<br />

eine sprechende demographische Proportion, die sowohl in religiöser<br />

wie politischer Hinsicht von Bedetung ist. Der Mitgliederhunger der<br />

Klöster läßt sich nicht allein religiös erklären, ebenso wenig wie deren<br />

Landhunger.<br />

Die bedeutenderen Klöster in Tibet wiesen ganz beträchtliche Inskriptionszahlen<br />

auf. Ihre Belegschaften erreichten Zahlen zwischen 3000<br />

und 10.000 eingeschriebener Mönche. Die größeren Klöster waren tatsächlich<br />

Kleinstädte mit regelrechtem Straßennetz und Unterkünften,<br />

die nicht selten weniger als 3 Stockwerke zählten, welche Innenhöfe<br />

oder Plätze einrahmten, in deren Mitte Schreine oder Tempel standen.<br />

77 Thubten Dschigme Norbu, der Taktser Rinpoche (sTag-tsher<br />

75 K.-H. Everding, Tibet, Köln 1993, S.243<br />

76 R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.116<br />

77 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.260


48<br />

Rin-po-che), bewohnte im Samlo Khamtsen des Dratsangs Drepung<br />

Gomang sogar ein fünfstöckiges Haus, das Haus Tschü<strong>pa</strong> Og. 78<br />

Das Hauptgebäude eines Klosters, Kollegs oder Quartiers war die<br />

Versammlungshalle, die zugleich auch Tempel war. Kleinere Versammlungshallen<br />

dienten als Schulraum, die zur nächst untergeordneten<br />

Körperschaft des Klosters gehörten, dem Kolleg oder dem Wohnquartier<br />

(siehe unten). 79 Es hing also ab von den Ausmaßen und der<br />

Zahl der Parzellen, welche die Wohnqaurtiere annahmen, die sich um<br />

das Heiligtum ansiedelten, ob sie sich ohne Umstand noch von ihrem<br />

Weichbild her als ein aufgestelltes Geviert für die Reise des edlen<br />

Weges erkennen ließen.<br />

Nach MacDonald lebten um 1915 rund um Lhasa 20.000 Mönche,<br />

über 16.000 allein in Drepung (8000), Sera (5000) und Ganden<br />

(3300), In Tashi-Lhünpo, dem Kloster des Panchen Lama waren 4000<br />

bis 5000 Mönche 80 eingeschrieben, in bLa-brang bKra-shis-sKyil<br />

5000 und in sKu-bum 4000. Im äußersten Nordosten von A-mdo waren<br />

in den Klöstern sTag-dGon-<strong>pa</strong>, Te-thung dGon-chen und rTa-rje<br />

dGon jeweils 1000 Mönche eingeschrieben, in Chörten Thang<br />

(mChod-rten Thang) noch 800. In Khanlo zählten Co-ne dGon-chen<br />

mit 3800 Mönchen und dMar-nyung byams-<strong>pa</strong> gling mit 900 Mönchen<br />

zu den größeren Klöstern. Das erste Kloster in Tibet, bSam-yas,<br />

ist mit seinen 150 bis 200 Mönchen ein relativ kleines Kloster geblieben,<br />

von der Belegschaft her nicht größer als rNam-rgyal Chos-sde,<br />

das Kloster des Dalai Lama, das ebenfalls 150 Mönche beherbergte. 81<br />

Die großen Hauptklöster waren stets auch und zugleich die größten<br />

Gemeinden oder Städte des Landes oder diesen wenigstens assoziiert.<br />

Keine Siedlung ohne Kloster vermochte auch nur annähernd vergleichbare<br />

Einwohnerzahlen aufzuweisen wie solche mit Kloster. Lhasas<br />

Einwohnerzahl schwankte zwischen 35.000 und 40.000. 82 Die<br />

Hälfte davon waren Mönche. Die Einwohnerzahl von Shigatze (gZhikhar-rtse)<br />

belief sich zwischen 13.000 und 20.000 Seelen. Hier stellten<br />

die Mönche dementsprechend ein Viertel oder ein Fünftel. Chabmdo’s<br />

Einwohnerzahl wurde zwischen 9000 und 12000 geschätzt.<br />

Auch hier stellte das monastische Element mit 2000 Mönchen die<br />

größte Proportion, nämlich zwischen einem Fünftel und einem Sechstel<br />

der Bevölkerung. 83 Zu einer der Entdeckungen Aufschnaiters, die<br />

78 Siehe: Thubten Dschigme Norbnu, Tibet, verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.187-8<br />

79 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.260<br />

80 Siehe:W.M.McGovern, Als Kuli nach Lhasa, Berlin 1924, S.147<br />

81 Siehe: D.MacDonald, The Land of the Lama, London 1929, S.68-73<br />

82 Siehe: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.139<br />

83 Siehe: W.D.Shaka<strong>pa</strong>, Tibet,.a Political History, New York 1984, p.6-7


49<br />

er auf seinen zahlreichen Exkursionen in Tibet machen konnte, gehört<br />

auch die Feststellung: "Jede größere tibetische Siedlung wies mindestens<br />

ein Kloster oder zumindest einen Tempel auf." 84<br />

Zu dem urbanen Entwurf der Klösterstädte gab es in Tibet keine weltliche<br />

Alternative wie z.B. in Euro<strong>pa</strong> seit dem ausgehenden 13.Jh., wo<br />

eine weltliche Vielfalt sozialer Rollen und Qualifikationen konzentriert<br />

auf profane Städte, die Klöster immer wieder in tiefe geistige<br />

Krisen stürzte.<br />

Diese demographische Eigentümlichkeit urbaner Konzentration um<br />

die Klöster brachte es daher auch mit sich, daß alle wichtigen Ressourcen<br />

des Landes sich dort konzentrierten, wo die größeren Klöster<br />

standen, ja daß sie auch unter der Kontrolle dieser Klöster standen<br />

(dazu unten mehr). So blieben in Tibet bis 1950, im Gegensatz zu Euro<strong>pa</strong>,<br />

wo die Klöster auch einmal Schaltstellen des geistigen, wirtschaftlichen<br />

und politischen Lebens waren, die Klöster neben ihrer<br />

geistlichen Bedeutung gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche<br />

Zentren des Landes. Die Stellung der Klöster in ihrem geographischen<br />

und sozialen Milieu wiederholte im kleineren Maßstab das, was das<br />

Zentrum Lhasa für die lamaistische Ökumene im Großen ausmachte.<br />

"Tibet verstand sich als >Kirchenstaat< aller buddhistischen Völker<br />

zwischen Astrachan, Irkutsk, Peking und Darjeeling (rDo-rje-gling),<br />

deren Pilgerstraßen alle im zentralen Lhasa endeten." 85<br />

In idealisierender Schematisierung wiederholt sich auf der Ebene der<br />

Ökumene der „Gelben Kirche“ die Mandalastruktur des Klosters Samye<br />

(siehe oben), oder der Lamaismus als eine auf Buddha orientierte<br />

Maßnahme der Einrichtung seines Reiches (seiner Welt) in der Maßlosigkeit<br />

der Elemente und des Raumes um sein Zentrum Lhasa, in<br />

dem jedes Kloster seinerseits ein Mikrokosmos oder verkleinertes<br />

Modell dieses Geviertes darstellt, eine Schwelle für die Gläubigen in<br />

eine andere als ihre alltägliche Welt.<br />

„Jedem Mikrokosmos, jeder bewohnten Region eignet etwas, was man<br />

als ein Zentrum bezeichnen könnte: eine im eigentliche Sinne geheiligte<br />

Örtlichkeit. Eben innerhalb dieses Zentrums ereignet sich die<br />

Sichtbarwerdung des „Heiligen“ in umfassender Art: etwa in der Form<br />

elementarer Erscheinung von Sakralem... Man darf jedoch diese<br />

„Zentrums“-Symbolik nicht mit den vielfältigen (...) geometrischen<br />

Differenzierungen als artgleich ansehen wollen: es kann für jeden dieser<br />

Mikrokosmen eine Mehrzahl von Zentren geben. Wie wir unver-<br />

84 P.Aufschnaiter, in: M.Brauen, Hrsg., Peter Aufschaiter, sein Leben in Tibet, Berwand 1988, S.56<br />

85 P.Kessler, Die historischen Königreiche Ling (...) und Derge (...), EAT 40.1, Rikon 1983, S.21


50<br />

züglich wahrnehmen werden, besitzen alle Zivilisationen des Ostens-<br />

China, Indien, Mesopotamien und andere- die Kenntnis einer schier<br />

unbegrenzten Zahl von Zentren. Noch zutreffender wäre die Formulierung:<br />

Jedes dieser Zentren wurde als ein „Weltzentrum“ betrachtet<br />

und sogar ausdrücklich als ein solches benannt. Da es sich um einen<br />

geheiligten Raum handelt, den die Sichtbarwerdung von irgendetwas<br />

Sakralem prägt, oder aber um einen in ritueller Weise konstruierten<br />

Raum- nie jedoch um einen weltlichen, homogenen, geometrischen-,<br />

bereitet das mehrfache Vorhandensein von „Zentren der Erde“ dem<br />

Denken gar keine Schwierigkeiten.“ 86<br />

So zeigt der hohe Mönchsanteil in Tibet nicht nur, daß die Orden auf<br />

jene Mitgliederzahlen zurückgreifen konnten, die für die Durchsetzung<br />

ihrer religiösen und politischen Ziele erforderlich waren, sondern<br />

auch, daß es nur wenige Familien in Tibet gab, die nicht irgendwie mit<br />

dem monastischen System verbunden waren, nicht irgendwie von<br />

diesem Projekt des Sagha der „Gelben Kirche“ ergriffen wurden.<br />

86 Mircea Eliade, Ewige Bilder und Sinnbilder, Olten, Freiburg 1958, S.47


II<br />

51<br />

Das Klosterwesen in politischer Perspektive<br />

Das demographische Bild<br />

Demographische Proportionen einzelner Bevölkerungsgruppen, differenziert<br />

nach Stand, Status und Beruf, nach Zugriff auf Land und Bildung,<br />

nach Einkommen, nach Rechten und Pflichten, welche Status<br />

und Stand zuschreiben, reflektieren deren sozialen Rang wie deren<br />

Die Mann/Mönch und Frau/Nonne Proportion in der AR-Tibet 1959<br />

Nonnen<br />

2,11<br />

Frauen<br />

100<br />

Mönche<br />

25,72<br />

Männer<br />

0 20 40 60 80 100<br />

100<br />

Der klerikale Bevölkerungsanteil der AR-Tibet 1959 (chin. Quellen)<br />

Tibeter Frauen Männer Nonnen Mönche<br />

1,2 Mio 616.000 583.200 13.000 150.000<br />

100% 51,4% 48,6 1,083% 12,500% 100% = 1,2 Mio<br />

25,720% 100% = 583200<br />

2,110% 100% = 616000<br />

nach Han Suyin, Chinas Sonne über Lhasa, München 1980<br />

politischen Einfluß, deren Macht wie deren Anteil an den sozialen<br />

Chancen. Das trifft auch auf die demographischen Angaben über Tibet<br />

zu.<br />

Die Verteilung des Mönchstums auf die Bevölkerung Tibets reflektiert<br />

die soziale wie die politische Bedeutung des Mönchstums in der tibetischen<br />

Gesellschaft ebenso wie deren religiöse Durchdringung. Wir<br />

beschränken uns hier auf die Mönche, weil der Anteil der Nonnen sowohl<br />

an der weiblichen als auch an der Gesamtbevölkerung eher gering<br />

war. „For every nun there are thirty or fourty monks.“ 87 Wenngleich<br />

Sarat Chandra Das ein Verhältnis von Nonne und Mönch mit<br />

87 Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.164


500000<br />

Tibet 1915<br />

Bevölkerung<br />

100<br />

Hörige<br />

60<br />

Nonnen<br />

1,5<br />

Mönche<br />

Adel<br />

19,5<br />

16,6<br />

0 20 40 60 80 100<br />

Nach:D.MacDonald, The Land of the Lama, London 1929<br />

UND SARAT CHANDRA DAS, MONASTERIES IN TIBET, JOURN.ASIATIC SOC. OF BENGAL,1905<br />

52<br />

1:13 angibt, das dem von Han Su Yin veröffentlichten von 1:12 eher<br />

entspricht als der Proportion von 1:40, unterscheidet sich die Größe<br />

der 2% Nonnen, gemessen am weiblichen Bevölkerungsanteil signifikant<br />

von der Größe der 16% bis 25% der Mönche, gemessen an dem<br />

männlichen Bevölkerungsteil. Nach Filchner lebte der siebte Teil (d.h.<br />

etwas über 14%) der tibetischen Bevölkerung vor 1950 als Mönch. 88<br />

Die Hauptstatusgruppen in Tibet 1915<br />

Bevölkerung<br />

3900000<br />

Hörige<br />

2431538<br />

Nonnen<br />

58462<br />

Mönche<br />

Adel<br />

760000<br />

650000<br />

0<br />

1000000<br />

1500000<br />

2000000<br />

2500000<br />

3000000<br />

3500000<br />

4000000<br />

Nach:D.MacDonald, The Land of the Lama, London 1929<br />

und Sarat Chandra Das, Monasteries in Tibet, Journ.Asiatic Soc. of Bengal,1905<br />

Für Sarat Chandra Das gehörte ein Drittel der männlichen<br />

Bevölkerung zum Klerus. 89 Das wären dann ein Sechstel der Gesamt-<br />

88 Siehe: W.Filchner, Das Kloster Kumbum in Tibet, Berlin 1906, S.2 Fußn.<br />

89 Sarat Chandra Das, Monasteries in Tibet, Journ.of Asiatic Society of Bengal, New Series I, 1905, p.106


53<br />

bevölkerung. 90 MacDonald zufolge stellte das Mönchstum aber nur<br />

den sechsten Teil der tibetischen Männer.<br />

Das wären aber immer noch über 16% von etwas mehr als der Hälfte<br />

der Bevölkerung. 91 Bleichsteiner schätzte 1937 den Anteil der Mönche<br />

an der männlichen Bevölkerung Tibets (wie auch der Mongolei) auf<br />

etwa 25%. 92 Derartige Werte über das Mann-Mönch-Verhältnis wurden<br />

erst wieder 1980 publiziert, und zwar von chinesischer Seite, 93 deren<br />

Angaben sich auf ein Gebiet von Tibet beziehen, das von der Besatzungsmacht<br />

verkleinert worden ist, auf weniger als zwei Drittel des<br />

einstigen „Outer Tibet“, zu der heute sog. „Autonomen Region Tibet“.<br />

Diese neuerdings von chinesischer Seite publizierten Proportionen des<br />

klerikalen Bevölkerungsanteils liegen im Rahmen der Wahrscheinlichkeit<br />

älterer Schätzungen, z.B.<br />

Tibet 1882<br />

n<br />

Bevölkerung, alle 5-6 Mio<br />

Bevölkerung, Männer 2,3-2,6 Mio<br />

Mönche, alle 760.000<br />

Mönche, Gelug<strong>pa</strong> 491.242<br />

Klöster, alle 2500<br />

Klöster, Gelug<strong>pa</strong> 1026<br />

Nach: Sarat Chandra Das, Monasteries in<br />

Tibet, Journ.of Asiatic Society of Bengal,<br />

New Series I, 1905, p.106<br />

Tibet 1882<br />

Mönchsquoten %<br />

Bevölkerung, alle/ Mönch 19,5 1:5<br />

Bevölkerung, Männer/ Mönch 30,4 1:3<br />

der Angaben von Sarat Chandra<br />

Das aus dem Jahre 1905. Nach den<br />

Schätzungen von Sarat Chandra<br />

Das lag der Anteil der Mönche an<br />

der Gesamtbevöllkerung Tibets<br />

(ohne die damals von China besetzten<br />

Gebiete) bei 19,5% (siehe<br />

Graphik oben). Bei einem männlichen<br />

Bevölkerungsanteil von<br />

knapp unter 50% (zwischen 48%<br />

und 49%) läge das Mann-Mönch-<br />

Verhältnis im Kontext der Zahlen<br />

von MacDonald und Sarat Chandra Das sogar deutlich über 25%. 94<br />

Shaka<strong>pa</strong> legte eine Bevölkerungsgröße des ethnischen Tibet von 6<br />

Millionen Menschen zugrunde. Davon sind 48% Nomaden und 32%<br />

Bauern und Händler. Mönche und Nonnen zusammen stellten seinen<br />

Schätzungen zufolge 20% der Bevölkerung, demnach wurde ein<br />

Fünftel der Bevölkerung vom monastischen System absorbiert. 95<br />

Nach dem Einschreibungsregister der Mönche, auf das sich Sarat<br />

Chandra Das bezieht, hat sich die Zahl der Mönche in Tibet zwischen<br />

90<br />

“Ungefähr jeder sechste Tibeter tritt in ein Kloster ein.“ Thubten Jigme Norbu u. C.M.Turnbull,<br />

Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.241<br />

91 Siehe: D.MacDonald, The Land of the Lama, London 1929, S.94<br />

92 Siehe: R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.116; „On the whole, it would not be wide of the truth<br />

to estimate one-fourth of the male population of Tibet as accreditable to the monkish section of the people.”<br />

G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.121<br />

93 Siehe: Han Suyin, Chinas Sonne über Lhasa, München 1980<br />

94 Siehe auch: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.139-140<br />

95 Siehe: W.D.Shaka<strong>pa</strong>, Tibet a Political History, New York 1984, p.6


54<br />

1694 und 1733 (also in 39 Jahren) etwas mehr als verdreifacht und<br />

zwischen 1694 und 1882 (also in 188 Jahren) knapp verachtfacht.<br />

Zwischen 1730 und 1882 stieg der Anteil des Klerus um 42%, während<br />

in diesem Zeitraum die Zahl der Bevölkerung um 13,6% stieg.<br />

Die Bevölkerungszahl Tibets hat mit dieser Zuwachsrate nicht Schritt<br />

halten können. 96 Diese überproportionale Zunahme des klerikalen Anteils<br />

der Bevölkerung reflektiert eine Zunahme der Bedeutung und des<br />

politischen Einflusses, den der Klerus in diesem Zeitraum in der tibetischen<br />

Gesellschaft hat gewinnen können.<br />

Mönche und Nonnen zusammen ließen um 1915 den klerikalen Anteil<br />

der Bevölkerung auf 21% ansteigen, der Laienadel kam zu diesem<br />

Zeitpunkt nur auf einen Anteil von 16,6%. Allerdings differenzierte<br />

sich die klerikale Gesellschaft <strong>pa</strong>rallel zur Gesamtgesellschaft in eine<br />

gebildete Ober- und eine ungebildete Unterschicht, die aber im Dienste<br />

ihrer Ordensoberen nach außen deren Interessen vertraten, weshalb<br />

es gerechtfertigt erscheint, den Klerus unter politischem Gesichtspunkt<br />

als eine Statusgruppe zusammenzufassen.<br />

Klöster und Mönche in Tibet 1882 (Mönche in Tausend)<br />

Mönche<br />

491,242<br />

760<br />

alle Orden<br />

Gelug<strong>pa</strong><br />

2500<br />

Klöster<br />

1026<br />

0 500 1000 1500 2000 2500<br />

Sarat Chandra Das, Monasteries in Tibet, Journ.Asiatic Soc. of Bengal,1905,1, S.106-116<br />

Das monastische System teilte sich mit dem Laienadel und mit dem<br />

kleinen Anteil der Regierungsbeamten (2,4%) die Kontrolle über die<br />

Mehrheit der hörigen Bevölkerung (60%) Tibets. Diese drei sozialen<br />

Gruppen, im strengen Sinne Stände: der Klostergrundherr, der Laiengrundherr<br />

und die Regierung, konkurrierten innenpolitisch um den<br />

maßgeblichen Einfluß auf die politische Willensbildung des Landes.<br />

96 Giorgi schreibt: “Die Zahl der Untertanen belief sich gesamthaft im Jahre 1730 auf 3.300.000, die der<br />

Soldaten auf 690.000 Mann.” Antonio Giorgi (OESA), Alphabetum Tibetanum I, Übers.u.Hrsg. P.Lindegger,<br />

Rikon 2001, S.432


55<br />

Innerhalb des monastischen Systems konnte der Gelug<strong>pa</strong>-Orden seine<br />

politische Vormacht, die er seit dem Dalai Lama V. erworben hatte,<br />

behaupten.<br />

1882 vereinigt der Gelug<strong>pa</strong>-Orden nach den Angaben von Sarat<br />

Chandra Das 1,8 mal so viele Mönche auf sich wie alle anderen Orden<br />

zusammen, während die Zahl der Klöster des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens<br />

41% aller Klöster im Lande ausmacht. Die anderen drei der größeren<br />

Orden unterhalten jeder für sich etwas weniger als 20%. Die politische<br />

Führungsrolle des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens spiegelt sich also nicht nur wieder<br />

in den Mitgliedszahlen der Orden, sondern auch in der Anzahl seiner<br />

über das Land verteilten Ordensstützpunkte.<br />

Die Präsens des Mönchstums im Lande war auch rein äußerlich nicht<br />

zu übersehen. 1915 standen nach den Angaben von MacDonald<br />

130.000 Städten, Dörfern und Weichbildern Tibets, wie bereits gesagt,<br />

2500 oder 2711 Klöster gegenüber, das entspricht einem Kloster-<br />

Dorf-Verhältnis von 1 zu 48.<br />

Klöster pro Dorf und Einwohner in Tibet 1915<br />

Kloster/Einwohn.<br />

1439<br />

Kloster/Dorf<br />

48<br />

Klöster<br />

Städte/Dörfer<br />

2711<br />

130000<br />

0 20000 40000 60000 80000 100000 120000 140000<br />

D.MacDonald, The Land of the Lama, London 1929, S.115<br />

Über die Zahl der Klöster in dem Zeitraum zwischen 1882 und 1915<br />

liegen leicht variierende Schätzungen vor. Nach der Veröffentlichung<br />

von Sarat Chandra Das aus dem Jahre 1905 hat es 1882 in Tibet 2500<br />

Klöster gegeben, 1026 davon wurden von dem Gelug<strong>pa</strong>-Orden geführt,<br />

auf die drei anderen großen Orden (rNing-ma-<strong>pa</strong>, Sa-skya-<strong>pa</strong>,<br />

bKa-brgyud-<strong>pa</strong>) fielen im Durchschnitt, also auf jeden einzelnen 491.<br />

Waddell 97 schätzte wie Grenard 98 die Zahl der Klöster in Tibet um<br />

1906 auf über 3000. Ein Grund für die Differenz dieser Schätzungen<br />

wird das Bezugsgebiet gewesen sein, auf das sich die genannten Auto-<br />

97 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.265<br />

98 Siehe: F,Grenard, Tibet, Delhi 1974, p.333


56<br />

ren jeweils bezogen haben, zum einen auf das ethnische Tibet, zum<br />

anderen auf die verschiedenen Abgrenzungen von „Inner-Tibet“ und<br />

„Outer-Tibet“, deren Grenzverlauf sowohl vor als auch nach dem<br />

Vertrag von Simla strittig geblieben ist.<br />

Diesen mehr oder minder zutreffenden Schätzungen, die sich auf ganz<br />

Tibet beziehen, lassen sich Beobachtungen einzelner Reisender an die<br />

Seite stellen, die sich speziell auf deren Reisegebiete beziehen.<br />

800000<br />

700000<br />

600000<br />

500000<br />

400000<br />

300000<br />

200000<br />

100000<br />

0<br />

97528<br />

Registrierte Mönche in Tibet von 1694- 1882<br />

319270<br />

1694 1733 1882<br />

760000<br />

nach M.C. Goldstein, A History of Modern Tibet, Berkely,Los Angeles, London 1989, 21<br />

Sarat Chandra Das, Monasteries in Tibet, Journ.Asiatic Soc. of Bengal,1905<br />

Futterer, Filchner und Rockhill ermittelten die Bevölkerungszahlen<br />

von Amdo aus den Angaben über die dort in den Klöstern registrierten<br />

Mönche, indem sie diese Zahl mit jenem Faktor multiplizierten, dessen<br />

Proportion das Mönchstum in der Bevölkerung darstellen sollte<br />

(siehe die folgende Tabelle).<br />

Die Anzahl der Mönche in Amdo zu Beginn des 20. Jahrhunderts:<br />

Zahl der Mönche<br />

Bevölkerungszahl<br />

30.000 90.000 99<br />

25.000- 30.000 50.000 100<br />

25.000 140.000* 101<br />

75.000 männlich*<br />

65.000 weiblich <br />

Rockhill beschreibt das Selektionsverfahren so: It is safe to reckon<br />

that one male out of every three becomes a lama.” 102 Filchner übernimmt<br />

Rockhills Ermittlungsverfahren, das er allerdings auf dessen<br />

99 K. Futterer, Durch Asien, Berlin 1901-5, S.262<br />

100 W.W. Rockhill, The Land of the Lamas, London 1891, S.82<br />

101 W. Filchner, Das Kloster Kumbum in Tibet, Berlin 1906, S.5<br />

W. Filchner, Das Kloster Kumbum in Tibet, Berlin 1906, S.5<br />

102 W.W.Rockhill, The Land of the Lamas, London 1891, S.82


57<br />

Mindestschätzung der Mönchzahl von 25.000 Mönchen bezieht und<br />

so eine Bevölkerungszahl für Amdo von 75.000 männlichen Einwohnern<br />

und 140.000 Einwohnern beiderlei Geschlechts ermittelt, 103 im<br />

Unterschied zu Futterer, der sich auf Rockhills Höchstzahl von 30.000<br />

Mönchen bezieht und deshalb eine Bevölkerungszahl von 90.000<br />

schätzt, tatsächlich aber auf einen Wert von 170.000 kommen müßte,<br />

da seine Zahl nach diesem Verfahren nur den männlichen Bevölkerungsteil<br />

ausweisen dürfte. 104 Überraschend ist in diesem Zusammenhang<br />

Rockhills eigenes Schätzergebnis von 50.000. 105 Nach seinem<br />

Schätzverfahren müßte er auf einen Anteil der männlichen Bevölkerung<br />

von entweder 75.000 oder 90.000 kommen und damit entweder<br />

auch auf Filchners oder auf Futterers Gesamtzahl. Da beide Werte der<br />

letzten Zählung des Ambans von Hsi-ning, der 1725 eine Kopfzahl<br />

von 50.020 nach Peking gemeldet hatte, so massiv überschritten, zog<br />

er es vor, sich dieser halbamtlichen Angabe anzuschließen. 106<br />

Doch die Angaben der Ambane, denen die Steuerforderungen der<br />

Zentralregierung zugrundegelegt wurden, waren keineswegs zuverlässig.<br />

Die Provinzvertreter der chinesischen Regierung hatten einerseits<br />

wegen der Steuerüberweisungen nach Peking ein großes Interesse, die<br />

Bevölkerungszahlen so klein wie möglich zu halten.<br />

Die größeren Klöster Amdos:<br />

Belegschaftsgrößen nach:<br />

einige Klöster Amdos Filchner Potanin Rockhill Potanina Przewalski Wellby Huc<br />

Labrabg Tashikyil 3000 2000 5000<br />

Quetä (Kuei-té)* 1600<br />

Sachang (Shashang) 1500<br />

Kumbum 4000 3000 4000 2000 4000 4000<br />

Jahr 1906 1890 1885 1897 1845<br />

*Gus-mdo oder Khri-kha-mkhar<br />

Andererseits deckt sich die Zahl der Steuerpflichtigen grundsätzlich<br />

nicht mit der Einwohnerzahl, von der sie ja nur ein kleinerer Teil ist.<br />

Man darf jedem steuerzahlenden Familienhaupt zwischen drei bis fünf<br />

Personen an die Seite stellen, die von ihm versorgt werden, so daß<br />

man dann auch von jener Angabe ausgehend auf eine Zahl von<br />

150.000 bis 250.000 Einwohnern käme.<br />

103 Siehe: W.Filchner, Das Kloster Kumbum in Tibet, Berlin 1906, S.5-6<br />

104 Siehe: K. Futterer, Durch Asien, Berlin 1901-5, S.262<br />

105 Siehe: W.W. Rockhill, The Land of the Lamas, London 1891, S.82<br />

106 David Neel zitiert eine amtliche Schätzung, welche für Schinghai 181.475 Tibeter ausweist, eine Zahl, deren<br />

Schätzung sie allerdings als zu niedrig geschätzt glaubt. Siehe: A.David-Neel, Land der Is, Wien 1952, S.90


58<br />

Darüberhinaus gilt es zu bedenken, daß nicht jeder von China reklamierten<br />

Suzeränität über osttibetische Teilgebiete faktische Anerkennung<br />

zuteil wurde, was speziell die Verweigerung der Steuerpflicht<br />

seitens der tibetischen Lokalfürsten und Stammeshäuptlinge unterstrich,<br />

weshalb diese Gebiete auch nicht zu jenem Gebiet zählten, in<br />

dem der Amban von Hsi-ning seine demographischen Erhebungen unangefochten<br />

durchführen konnte.<br />

Selbst wenn man sich der Angaben des Ambans auch trotz dieser<br />

Vorbehalte anschließt, muß man die von Rockhill zu niedrig geschätzten<br />

5000 mGo-log 107 und die ebenfalls von Rockhill mit 5000<br />

Köpfen gezählten K’amdo-Stämme jener Zahl hinzurechnen, die<br />

Rockhill ausdrücklich aus seiner Schätzung herausgenommen hat, so<br />

daß auch diese viel zu vorsichtige Schätzung schließlich zu einer Zahl<br />

von 60.000 Einwohnern für Amdo führt, die man um den fiskalisch<br />

nicht gezählten Bevölkerungsteil ergänzen muß. 108<br />

Klöster aus Nordost Amdo (in der Nähe der Seidenstraße)<br />

Namtethung Drag<br />

Gön<br />

chen<br />

rNam ta’i thung<br />

Brag dGon<br />

Datong Tal<br />

250 Sakya<strong>pa</strong>;<br />

30<br />

Gelug<strong>pa</strong><br />

Name Ort Belegschaft Orden<br />

Chörten Thang Tashi mChod rten Thang 95km westl. v. Tiantang 800 Mö 1274-1360 Sakaya<strong>pa</strong><br />

Dargyeling bkra shis Dar rgyas<br />

gling<br />

1360-ca 1500 Karma<strong>pa</strong><br />

Seit dem 16.Jh. Gelug<strong>pa</strong><br />

Yarlung Thurchen Yar lung Thur chen 15km westl.v.Tianzhu 500 Mö Kagyü→1727 Gelug<strong>pa</strong><br />

Gon<strong>pa</strong><br />

dGon<br />

Tawen Gon<strong>pa</strong> Ta’ ban dGon 50km nwestl.v.Anyuan 500 Mö 1244-1360 Sakya<strong>pa</strong>→ab<br />

1360 Kagyü<strong>pa</strong><br />

Taglung Gon<strong>pa</strong> sTag lung dGon 40km nöstl.v.Tianzhu 1000 Mö Karma Kagyü→Gelug<strong>pa</strong><br />

Tethung Dorje Ta’i thung rDo rje 50km westl.v.Tianzhu<br />

*1441, Gelug<strong>pa</strong><br />

Changgi Lhakhang ’chang gi lHa khang<br />

Tethung Gönchen Ta’i thung dGon<br />

1000 Mö *1619, Sakya<strong>pa</strong>→ Kagyü<strong>pa</strong><br />

1246 Sakya<strong>pa</strong>/später zus.<br />

mit Gelug<strong>pa</strong><br />

Taje Gön (Mati Si) rTa rjes dGon 38km südl.v.Zhangye 1000 Mö Filiale von rGolong<br />

Gon<strong>pa</strong>; 1958 zerstört<br />

Nach: A.Gruschke, Amdo, II, The Gansu and Sichuan Parts of Amdo, Bankok 2001, p.21-5<br />

Im Gegensatz zu MacDonald, der den Anteil der Mönche an der<br />

männlichen Bevölkerung Tibets auf mehr als 16% schätzte, rechnen<br />

Filchner, Futterer und Rockhill mit einem monastischen Prozentanteil<br />

von 33% an der männlichen Bevölkerung Amdos und verweisen, zur<br />

Bekräftigung ihrer Überlegungen auf die relativ hohen Belegzahlen<br />

107 Siehe: W.W. Rockhill, The Land of the Lamas, London 1891, S.189; Ekvall nennt allein von dem Golok-<br />

Teilstamm der Serta eine Zahl von 6000 Zelten mit einem Bewohnerdurchschnitt von 4 Personen, zählt also<br />

allein bei diesem Teilstamm bereits 24.000 Personen. Siehe: R.B.Ekvall, Fields in the Hoof, New York, Toronto,<br />

London 1968, S.29<br />

108 Hermanns gibt 1949 eine Einwohnerzahl der Tibeter Amdos in der Höhe von 750.000 an. Dazu kommen<br />

noch 18.000 Mongolen, 15.000 Tu-jen (West-Türken) und 22.000 Mohamedaner. Siehe: M.Hermanns, Die<br />

Nomaden von Tibet, Wien 1949, S.29-30


59<br />

der Klöster Amdos (siehe Tabelle oben S.57, die man noch ergänzen<br />

könnte um Klöster wie Co-ne dGon-<strong>pa</strong> (3800 Mönche) oder um die<br />

3000 Mönche von Reb-gong).<br />

Rockhill beschreibt die Beleggrößen der Klöster von Amdo: “The<br />

largest lamasery is Labrang, four days south of Kuei-té, 109 with about<br />

5000 Lamas, Kumbum, which, prior to the Mohammedan rebellion,<br />

had 7000 lamas, has now only 3000. There are twenty-two other lamaseries<br />

in Amdo, with from 200 to 1000 lamas each.” 110<br />

In Bathang (Ba-thang) kamen vor der chinesischen Besetzung des<br />

Gebietes im Jahre 1718 auf 33 Dörfer mit 6920 Familien 2110 Mönche,<br />

d.h. auf jede Familie 3,3 Mönche. 111<br />

Seit dem Beginn des großartigen Projektes “Ethnohistorischer Atlas<br />

Tibet” von Peter Kessler stehen wenigstens für die bis jetzt bearbeiteten<br />

Gebiete Tibets, für Ling, Derge, Tehor und Mili, bessere Informationen<br />

für derartige demographische Schätzungen zur Verfügung.<br />

Kesslers Listen der Klöster von Ling und Derge ohne die Bön- und die<br />

nicht zuweisbaren Klöster sowie ohne jene, für die keine Zahlenangaben<br />

zu ermitteln waren, weist für das genannte Gebiet 41 Klöster aus<br />

mit 5762 Mönchen und Tulkus 112 (siehe folgende Tabelle).<br />

Einwohner Tulkus + Mönche % der Einw. % der Männer<br />

1) Derge+ Ling 151.000 5762 3,8 7,6<br />

2) Derge+ Ling 101.000 5762 5,7 11,4<br />

Einwohnerzahl von Derge, 1908: 100.000-150.000 113 , Einwohnerzahl von Ling, 1935:<br />

1000 114<br />

Die durchschnittliche Belegschaft der Klöster von Ling und Derge<br />

liegt bei 140 Mönchen pro Kloster. Das Mönchstum dieser Region repräsentiert<br />

3,8% respektive 5,7% der Gesamtbevölkerung und 7,6%<br />

respektive 11,4% des männlichen Bevölkerungsteils von Ling und<br />

Derge.<br />

Die Listen der Klöster von Tehor ohne die Bön- und die nicht zuweisbaren<br />

Klöster sowie ohne jene, für die keine Zahlenangaben zu ermit-<br />

109 tib. Gus-mdo oder Khri-kha-mkhar<br />

110 W.W.Rockhill, The Land of the Lamas, London 1891, S.82<br />

111 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.142<br />

112 Siehe: P.Kessler, Die historischen Königreiche Ling und Drege, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem<br />

Ethnohistorischen Atlas Tibets, EAT40.1, Rikon 1983, S.115ff<br />

113<br />

P.Kessler, Die historischen Königreiche Ling und Drege, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem<br />

Ethnohistorischen Atlas Tibets, EAT40.1, Rikon 1983, S.28<br />

114<br />

P.Kessler, Die historischen Königreiche Ling und Drege, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem<br />

Ethnohistorischen Atlas Tibets, EAT40.1, Rikon 1983, S.29


60<br />

teln waren, weist für das genannte Gebiet 14 Klöster aus mit 2685<br />

Mönchen und Tulkus 115 (siehe folgende Tabelle).<br />

Einwohner Tulkus + Mönche % der Einw. % der Männer<br />

1) Tehor 50.000 2685 5,37 10,7%<br />

Einwohnerzahl von Tehor um 1900: 50.000 116 oder 9-10.000 Familien 117<br />

Durchschnittlich 191 Mönche kommen auf ein Kloster in Tehor. Das<br />

Mönchstum von Tehor repräsentiert 5,4% der Gesamtbevölkerung und<br />

10,7% des männlichen Bevölkerungsteils dieser historischen Landschaft.<br />

Einwohner Tulkus + Mönche % der Einw. % der Männer<br />

1) Mili 22.000 833 3,7 7,6<br />

2) Mili 22.000 1343 6,7 12,2<br />

Einwohnerzahl von Mili um 1900: 22.000 118<br />

Die Klosterlisten von Mili ohne die Bön- und die nicht zuweisbaren<br />

Klöster sowie ohne jene mit fehlenden Zahlenangaben, weist für das<br />

genannte Gebiet 9 Klöster aus mit 833 respektive 1343 Mönchen und<br />

Tulkus 119 (siehe Tabelle oben).<br />

In Mili kommen im Durchschnitt auf ein Kloster entweder 92 (Mindestbelegschaft)<br />

oder 149 (Höchstbelegschaft) Mönche. Das Mönchs-<br />

115 Siehe: P.Kessler, Die historische Landschaft Tehor, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem Ethnohistorischen<br />

Atlas Tibets, EAT41.1, Rikon 1984, S.177ff<br />

116 P.Kessler, Die historische Landschaft Tehor, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem Ethnohistorischen Atlas<br />

Tibets, EAT41.1, Rikon 1984, S.24<br />

117 P.Kessler, Die historische Landschaft Tehor, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem Ethnohistorischen Atlas<br />

Tibets, EAT41.1, Rikon 1984, S.24<br />

118 P.Kessler, Das historische Königreich Mili, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem Ethnohistorischen Atlas<br />

Tibets, EAT47.1, Rikon 1982, S.13<br />

119 Siehe: P.Kessler, Das historische Königreich Mili, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem Ethnohistorischen<br />

Atlas Tibets, EAT47.1, Rikon 1982, S.43ff


61<br />

tum von Mili repräsentiert 3,7% respektive 6,7% der Gesamtbevölkerung<br />

und 7,6% respektive 12,2% des männlichen Bevölkerungsteils<br />

dieses Königreiches.<br />

Die demographischen Verhältnisse, die man den ersten drei Teilausgaben<br />

des Ethnohistorischen Atlas’ von Kessler entnehmen kann, liegen<br />

alle deutlich unter den Schätzungen der älteren Literatur, die zwischen<br />

1880 und 1930 über ganz Tibet veröffentlicht wurde, weisen<br />

aber trotzdem noch recht hohe Proportionen für den klerikalen Bevölkerungsanteil<br />

aus, wenn man diese Zahlen mit denen aus anderen buddhistischen<br />

Ländern vergleicht. Hier wollen wir nur kurz mit einem<br />

Schema auf sie verweisen (siehe oben).<br />

Regional wie landesweit weisen die demographischen Proportionen<br />

auffallend hohe Anteile der monastisch gebunden Bevölkerung sowohl<br />

im Hinblick auf den Landbesitz (dazu unten mehr) als auch hinsichtlich<br />

der klösterlichen Präsenz aus, von der Verteilung der Bevölkerungsanteile<br />

auf die monastischen Institutionen ganz zu schweigen.


62<br />

Die politische Stellung des monastischen Systems<br />

Nach der Aufhebung des letzten Laienkönigtums in Zentral-Tibet<br />

(1750) wurde das Land wieder (wie seit 1642-1717 schon einmal 120 )<br />

von dem höchsten Würdenträger des dGe-lugs-<strong>pa</strong>-Ordens regiert, dem<br />

Dalai-Lama oder dessen Regenten. Dieser Orden hatte damit das besondere<br />

Interesse, die de facto Verfassung eines „Kirchenstaates“ in<br />

Tibet aufrechtzuerhalten, und leitete dementsprechend sein politisches<br />

Programm nicht nur von den Regeln des Vinaya ab. Er definierte das<br />

Ziel der Politik des Landes als Verwirklichung des Dharma, was die<br />

Förderung und den Schutz des Lamaismus wie der von ihm vertretenen<br />

Religion (Buddhismus) zum primären Politikum machte.<br />

Klostertypologie für die Mongolei<br />

Anlagen im Umfang von<br />

Kleinstädten Weichbildern,Werften Einsiedeleien<br />

ständig zeitweise<br />

bLa-bra +<br />

kaiserliche Klöster + +<br />

Banner- o. Bezirksklöster + + +<br />

Heimatklöster/ Klausen + +<br />

Klostertypologie für Tibet<br />

Anlagen im Umfang von<br />

Kleinstädten Weichbildern, Werften Einsiedeleien<br />

ständig zeitweise<br />

bLa-bra +<br />

Regierungsklöster + +<br />

Ordenshauptklöster + +<br />

Ordensfilialklöster + +<br />

Heimatklöster/ Klausen + +<br />

Wenngleich auch die Regierung des Landes und die verschiedenen<br />

Richtungen des Lamaismus, also seine verschiedenen Orden, in diesem<br />

Punkte übereinstimmten, waren die religiösen Parteien (Orden)<br />

sich allerdings uneins in der Definition dessen, wen der Staat zu fördern<br />

und zu schützen hatte, schloß diese Überseinstimmung also nicht<br />

aus, daß sich die interessierten Parteien (lamaistische Orden, Regie-<br />

120 Die erste monastische Regentschaft in Tibet (1207-1358) lag in der Hand des Sa-sky-<strong>pa</strong>-Ordens, dem sie von<br />

Kublai Khan verliehen wurde..


63<br />

rung) untereinander befehdeten. 121 Ja die Konkurrenz bestand nicht<br />

nur zwischen den Klöstern der verschiedenen Orden, sondern auch<br />

zwischen Klöstern innerhalb desselben Ordens und innerhalb der Klöster<br />

zwischen den Kollegien (Grva-tsha) und Wohngemeinden<br />

(Kha-mtshan). 122<br />

Das Mönchstum verkörpert im Buddhismus die vorbildliche Lebensweise<br />

des von ihm (der Religion) ausgewiesenen Heilsweges, repräsentiert<br />

daher in der buddhistischen Gesellschaft den höchsten religiösen<br />

Status. Waddell unterstreicht die Bedeutung des Mönchs (im<br />

Volksmund des Lamas) in Tibet mit einem tibetischen Sprichwort:<br />

„Without the Lama in front, God is not (approachable).“ 123 In einem<br />

Staat wie dem tibetischen vor 1950, dessen ideales Ziel die Verwirklichung<br />

des Dharma auf Erden war, verkörpert das Mönchstum daher<br />

auch den höchsten sozialen Status. Das wirtschaftliche und soziale<br />

System der Gesellschaft dieses Staates genauso wie seine Regierung<br />

sollten nach der Auffassung der Mönche daher auch ihre höchste Verwirklichung<br />

darin erkennen, das Gedeihen des monastischen Systems<br />

zu garantieren und zu fördern, weil nach der Auffassung der Mönche<br />

nur die führenden und gelehrten Mönche (eigentlich nur die echten<br />

Lamas) die sittliche und geistige Reife ebenso wie die praktische Eignung<br />

besäßen, jene Entscheidungen zu treffen, welche allein dem<br />

allgemeinen Wohl gerecht würden. Ihre Argumentation läßt sich mit<br />

jener vergleichen, die Platon in seiner Schrift Politeia vortrug, in welcher<br />

der Weisheit das Herrschaftsrecht zugesprochen wurde.<br />

Von dieser Auffassung leitete das Mönchstum in Tibet auch das Recht<br />

ab, das Handeln der Regierung nach seinen Maximen zu bewerten und<br />

sich in die Angelegenheiten der Regierung einzumischen, nicht nur<br />

dann, wenn es die Interessen der Religion, und d.h. speziell die Interessen<br />

der Klöster und ihrer Körperschaften, gefährdet sah.<br />

Das politische Interesse des Mönchtums in Tibet vermochte, eben weil<br />

es als politisches ein <strong>pa</strong>rtikuläres Interesse war, den buddhistischen<br />

Klerus nicht zu einen, ihn nicht zu einer homogenen politischen Partei<br />

zu formen, seine institutionelle Organisation und heilsmethodische<br />

Differenzierung in die verschiedenen Orden sorgte vielmehr dafür,<br />

daß er sich korreltiv zur Differenzierung der Orden und klösterlichen<br />

Körperschaften sowie den regionalen oder überregionalen Ambitionen<br />

121 "It is not surprising to find that endless feuds between great monasteries and religious orders nearly always<br />

had economic and political reasons. With a few exceptions, they do not involve any doctrinal divergence; they<br />

were not religious wars, but struggles for ascendency between ecclesiatical overlords, or even quarrels between<br />

land owners." R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.146<br />

122 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.30-31<br />

123 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, S.169


64<br />

der Klöster in widerstreitende politische Interessengruppen s<strong>pa</strong>ltete,<br />

die sich gegenseitig nicht nur geistliche, sondern eben deshalb auch<br />

politische Konkurrenz waren.<br />

In der Zeit ab 1750 vermochten die drei großen dGe-lugs-<strong>pa</strong>-Klöster,<br />

die sog. „Säulen des Staates“, Ganden (dGa-ldan) 124 , Sera (Se-ra oder<br />

gSe-ra) 125 und Drepung (’Bras-spus) 126 , und die sog. Königsklöster<br />

(gling-bzhi), deren Inkarnationen zeitweise den Regenten des Dalai<br />

Lama stellten, den politischen Einfluß des Mönchtums in Tibet zu<br />

hegemonisieren und natürlich auch noch Tashi Lünpo (bKra-shis<br />

Lhun-po) 127 , das Kloster des Panchen Lama, das Kloster von Shigatze<br />

(gZi-kha-rtse).<br />

Die drei dGe-lugs-<strong>pa</strong>-Klöster, Sera, Drepung und Ganden, werden<br />

häufig zusammen genannt als Densa sum (gdan-sa gsum= die „Drei<br />

Residenzen (Sitze)“) oder Sendregasum (se-’bras-dga gsum für die<br />

erste Silbe der Namen: also Se, Dre, Ga und das Wort für drei gsum).<br />

Sera und Drepung liegen im Lhasatal, Sera etwa drei Meilen nördlich<br />

und Drepung fünfeinhalb Meilen nordwestlich von Lhasa, während<br />

Ganden sich außerhalb dieses Tales, ungefähr 20 Meilen östlich von<br />

Lhasa befindet.<br />

124 gegründet 1407 oder 1409 von Tsongka<strong>pa</strong><br />

125 gegründet 1419 von Jamchen Chöje Shakya Yeshe<br />

126 gegründet 1409 oder 1416 von Jamyang Chöje Tashi Palden<br />

127 gegründet 1447 von Gedün Drub<strong>pa</strong>


65<br />

Alle vier Klöster (gDan-sa gsum und bKra-shis Lhun-po) haben sich<br />

zu Klosterstädten ausgewachsen, deren ständige Belegschaft sich nach<br />

zwei Klassen gliederte, in die Gruppe der Literati oder Studierenden,<br />

tibetisch Petschaba (dpe-cha-ba), und in die Gruppe der nicht Studierenden,<br />

weniger Gebildeten (sGrogs-med), die nur ihre Gebetsbücher<br />

und obligatorischen Gesänge zu lesen verstanden, aber dafür quantitativ<br />

die Mehrheit stellten. 128<br />

1951 war Drepung das größte der drei Klöster mit einer offiziell ausgewiesenen<br />

Belegschaft von 7.700 Mönchen 129 und einer tatsächlichen<br />

Belegschaft von rund 10.000 Mönchen. In Sera waren 5.500<br />

Mönche 130 offiziell eingeschrieben<br />

und in Ganden<br />

3300 131 , während<br />

tatsächlich in jener Zeit<br />

7000 Mönche in Sera<br />

und 5000 Mönche in<br />

Ganden lebten.<br />

Die Größe der in Lhasa<br />

stationierten Truppen<br />

schwankte demgegenüber<br />

zwischen 1000 und<br />

1500 Mann. 132<br />

Dobdo’s, sog. Polizeioder<br />

Kriegermönche<br />

(tib. rdab-rdob) stellten<br />

zwischen 10% bis 15%<br />

der Belegschaft aller<br />

drei Klöster. Das macht<br />

bei 22.000 Mönchen, die<br />

allein im Raume Lhasas lebten, eine Mannstärke dieser monastischen<br />

Miliz zwischen 2200 und 3300. Dieser Mönchstyp war schon rein äußerlich<br />

an der Form seiner Kutten und der Art der Haarschur, von den<br />

anderen Mönchen zu unterscheiden. Sie schlossen sich zu athletischen<br />

Vereinen (gling-ka) zusammen und trugen regelmäßige sportliche<br />

Wettkämpfe aus. Sie übten sich in ritterlichen Wettkämpfen, die sie<br />

128 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.24<br />

129 Siehe: Sarat Chandra Das, The Monasteries of Tibet, Journal of the Asiatic Society of bengal, 1905, p.115<br />

130 Siehe: Sarat Chandra Das, The Monasteries of Tibet, Journal of the Asiatic Society of bengal, 1905, p.113<br />

131 Siehe: Sarat Chandra Das, The Monasteries of Tibet, Journal of the Asiatic Society of bengal, 1905, p.109<br />

132 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.189, E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras,<br />

Benares, London 1909, p.285 und M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los<br />

Angeles, London 1991, p.25


66<br />

auch ritualisierten, und wurden von den Klöstern zudem als Leibgarden<br />

beschäftigt. 133<br />

Im Jahr 1951, so hörten wir von Stein und Goldstein, lebten rund um<br />

Lhasa rund 20.000 Mönche, darunter 2 bis 3 Tausend mehr oder minder<br />

kampfbereite und kampfwillige Dobdos, 134 die von den „Drei Residenzen“<br />

auch immer wieder als Druckmittel gegen die Regierung<br />

eingesetzt wurden, deren eigene Zivilarmee in der Zeit um 1910 kaum<br />

etwas gegen diese monastische Truppe auszurichten vermochte. 135<br />

Das änderte sich erst mit der Modernisierung der Bewaffnung der Zivilarmee.<br />

Ganz Tibet war überzogen von Netzwerken untereinander filial verbundener<br />

Klöster (dgon lag, le lag), die jeweils konzentrisch ausgerichtet<br />

waren auf die Mutter- oder Metropolitanklöster der einzelnen<br />

buddhistischen Mönchsorden. 136 Selbst die Klöster der sog. Kirchenstaaten<br />

von Khams waren Filialen von Densa sum. „The monasteries<br />

of Chab-mdo were branches of Se-ra and the monasteries of ’Bragyab<br />

were branches of ’Bras-spus. Accordingly, the living Buddhas<br />

had to study at their central monastery; their titels were conferred by<br />

the Tibetan government.” 137<br />

Die größeren Kloster- Universitäten des Gelug<strong>pa</strong>- Ordens 138 :<br />

Kloster Dratshang Gründer Jahr Orden Größe<br />

Drepung*<br />

Loselling, Gomang Jamyang Cöje 1416 Gelug<strong>pa</strong> 8000<br />

Deyang, Ngag<strong>pa</strong><br />

Sera* Sera Je, Sera Me, Ngag<strong>pa</strong> Jamchen Chöje 1419 Gelug<strong>pa</strong> 5500<br />

Ganden* Shar- tse, Tshang- tse Tsongka<strong>pa</strong> 1409 Gelug<strong>pa</strong> 3300<br />

Tashi Lhünpo<br />

Shar- tse, Toi-Samling, Gedün Drub 1447 Gelug<strong>pa</strong> 4000<br />

Kyilkhang, Ngag<strong>pa</strong><br />

Kumbum Jam<strong>pa</strong> Ling Män<strong>pa</strong>, Gyüto, Ngag<strong>pa</strong> Bogdo- Gegen 1560 Gelug<strong>pa</strong> 5000<br />

Labrang Tashi Khyil Mägyü, Gyüto, Kyeedor,<br />

Thösenling, Män<strong>pa</strong><br />

Jamyang Zhä<strong>pa</strong> 1709 Gelug<strong>pa</strong> 5000<br />

*auch Shungon (gZhun-dgon= Staatsklöster) genannt<br />

Co-ne dgon-chen in Amdo kontrollierte 44 Filialklöster (dgon-lag, lelag)<br />

in 17 Bezirken, welche aber der politischen Hoheit des Co-ne<br />

dbon-po unterstanden. 139<br />

Das Kloster Pashö Ganden Samdrubling (dPag-shod dGa-ldan bSam-<br />

’grub gling), seinerseits ein Filialkloster (dgon-lag) von Kundeling<br />

133 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.25<br />

134 Siehe: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.139<br />

135 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.25<br />

136 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.26<br />

137 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.139<br />

138<br />

Koeppen gibt unter Verweis auf die Memeoires concern. les Chinois XIV, 219, deutlich größere<br />

Belegschaftszahlen an. Für Sera: 16.000 Mönche, für Ganden 8000, für Tashi Lhünpo 4000, für Chiamdo 2000,<br />

für Kumbum 4000, für das Kloster von Urga 10.000, für Tschortschi 2000, für Altan Ssümä 2000, für Koko<br />

Khotun 20.000 usw. Siehe: C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.381<br />

139 Siehe: J.F.Rock, Life among the Lamas of Choni, Nat.Geograph. Magazin, 54, 1928


67<br />

kontrollierte 34 Filialklöster (le-lag) mit Belegschaften zwischen 13<br />

und 300 Mönchen und Nonnen (Siehe folgende Liste).<br />

Filialklöster (le-lag) von dPa(g)-shod dGa’-ldan bsam-’grub gling (nach J.G.Karsten)<br />

Klöster/ Einsiedeleien<br />

L/M/N*<br />

1 dBang-ke dgon 60 M<br />

2 dBang-dgon 60M<br />

3 Bong-chen dgon 20M<br />

4 Brag-mgo ri-khrod<br />

5 'Brug-gdong ri-khrod<br />

6 Bya-phud mDo-sngags dar-rgyas gling<br />

7 lCags-zam dgon 20 M<br />

8 mDo-dgon bShad-sgrub gling 300 M<br />

9 rDo-grong-shug gsum<br />

10 Dung-ri ri-khrod<br />

11 sGrol-ma lha-khang 60 M<br />

12 sGrub-khang gling-ga at Me-tog ra-ba<br />

13 mKha'-lding ri-khrod<br />

14 mKhar-steng dgon of dPa'-shod 15 M; 10 N<br />

15 Kha-sar ri-khrod<br />

16 rKo-bkog dgon 10 M<br />

17 La-kha dgon dGa'-ldan ri-bo chos-'phel 40 M<br />

18 lHo-chen dgon 20 M<br />

19 sMyong-dgon 40 M<br />

20 rNga-g.yab gling 20 M<br />

21 rNgu-rung ri-khrod<br />

22 'O-chu dgon<br />

23 sPang-leb dgon 20 M<br />

24 Ri-bo-che lCags-zam<br />

25 Ri-'bur dgon 100 M<br />

26 Sab-bkra dgon 40 M<br />

27 Sa-dkar dgon 30 M<br />

28 Shug-steng dgon 100 M<br />

29 bSil-ldan ri-khrod<br />

30 Sing-steng 1 L; 12 N<br />

31 rTa-tshag lHun-'grub bde-chen gling 20 M<br />

32 Wa-rta dgon 50 M<br />

33 Yag-dgon 50 M<br />

34 Yul-steng dgon 90 M<br />

*L=Lama, M=Mönch, N=Nonne<br />

Auch die größeren Klöster Amdos konkurrierten wie alle anderen<br />

größeren Klöster Tibets untereinander mit ihren Filialnetzen um die<br />

Ausdehnung ihrer Einflußsphären im religiösen wie im politischen<br />

Raum. Dem Kloster Labrang (bLa-brang bKra-shis Khyil) schreiben<br />

veschiedene Quellen 140 zwischen 94 und 108 Filialköster zu, mit deren<br />

Einrichtung der Erzabt von Labrang seine politischen Interessen über<br />

weite Entfernungen hinweg in den verschiedensten Gemarkungen Ost-<br />

Tibets durchzusetzen versuchte.<br />

140 Siehe: C.Makley, Embodying the Sacred: Gender and Monastic Revitalization in China’s Tibet, Dissertation,<br />

Michigan, 1999, p.134


68<br />

Dieses System der Ordensorganisation in einem Netzwerk von Filialklöstern,<br />

die unter der Aufsicht von Provinzial- oder Metropolitanhäusern<br />

standen, läßt sich in etwa mit dem Kirchenregiment katholischer<br />

Diözesen vergleichen, zumal ja auch die Äbte der Metropolitan- und<br />

Provinzialhäuser die gleichen Supervisionsaufgaben erfüllten wie die<br />

Bischöfe in ihren Diözesen. Alle Klöster des Netzwerkes überwiesen<br />

Güter und Dienste an die Provinzial- und Metropolitanhäuser. Norbu<br />

schreibt: „Auch das ärmste Labrang muß einen Teil seines Besitzes an<br />

die Zentrale in Kumbum abtreten, und Tagtser Labrang steuert natürlich<br />

sehr viel bei. Von der Zentralstelle werden dann die eingegangenen<br />

Nahrungsmittel und das Geld wieder verteilt, so daß jeder zu seinem<br />

Recht kommt.“ 141 Kumbum seinerseits war wiederum mit Drepung<br />

affiliert.<br />

Während des 18. und 19. Jhts hatte sich das Netzwerk der Gelug<strong>pa</strong> 142<br />

zu dem größten der klösterlichen Netzwerke in Tibet herausgebildet<br />

und damit zu einem effizienten System nicht nur der religiösen, sondern<br />

auch der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle des Landes,<br />

das seit 1750 recht häufig auch von Regenten im Namen des Dalai<br />

Lama regiert wurde, die aus den sog. Königsklöstern (gling-bzhi) Demoling<br />

(Tshe-smon-gling), Tenggyeling (bsTan-rgyas-gling), Tsomoling<br />

(mTsho-mo-gling und Kundeling (Kun-bde-gling) der dGe-lugs<strong>pa</strong><br />

stammten, welche der Dalai Lama V. zu diesem Zweck ins Leben<br />

gerufen hatte, oder ausnahmsweise und für kurze Zeit auch von den<br />

Panchen- und Dalai Lamas jener Periode.<br />

Königsklöster Lage um Lhasa Titel des Regenten:<br />

Tsomoling NW Tschökyi Gyelpo 143<br />

Tenggyeling Nähe Mapori 144<br />

Demoling S<br />

Kundeling W<br />

Die Belegschaft dieser Klöster schätzte Sandberg 1906 auf durchschnittlich<br />

250 Mönche, was für alle vier Königsklöster eine Zahl von<br />

1000 Mönchen ergibt. 145 Auch sie zählten zum Netzwerk von Densa<br />

sum. Tsomoling war mit Sera Me affiliert und Tenggyeling mit Drepung.<br />

Im Verhältnis zu den Mitgliedszahlen von Densa sum waren<br />

diese sog. Königsklöster eher klein, aber deswegen nicht ohne Einfluß.<br />

Auch diese Klöster fungierten als Relais-Zentren von Netzwer-<br />

141 Thubten Jigme Norbu u. C.M.Turbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.242-3<br />

142 dGe-lugs-<strong>pa</strong><br />

143 C’os-kyi rGyal-po<br />

144 dMar-po Ri<br />

145 Siehe: G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.109


69<br />

ken im großen Filialsystem. Die 6 bis 8 Bezirke des Gebietes dPagshod,<br />

„an estate of the incarnate lama of Kun-bde-gli monastery of<br />

Lhasa 146 im Westen von Chab-mdo und Brag-yab wurden z.B. von<br />

diesem Kloster verwaltet.<br />

Zwischen den Filial-Klöstern herrschte ein reger Austausch, Mönche<br />

147 und Klosteroffizielle der verschiedenen über- und untergeordneten<br />

Klöster, Klostergüter und monastische Dienste verkehrten oder<br />

zirkulierten entlang dieses Netzwerkes durch das ganze Land. „Many<br />

Lings, like our abbeys with their appendant priories, have smaller<br />

monasteries attached to them and which <strong>pa</strong>y to them a proportion of<br />

revenue. These branche houses may be either in the same district or in<br />

some distant locality.” 148 Die Rückgriffsmöglichkeiten der Metropolitanklöster<br />

auf die Ressourcen ihrer Filialklöster (dgon-lag, le-lag)<br />

stärkte deren politische wie geistliche Position und die Bindung der<br />

Filialklöster und ihrer Belegschaften an die provinzialen oder metropolitanen<br />

Mutterhäuser ließ deren Anspruch gerechtfertigt erscheinen,<br />

als Repräsentanten der Mönche im ganzen Lande aufzutreten.<br />

In ihrer Stellung als regionale Grundherrn (Klostergrundherrn 149 ) mit<br />

einer von dem filialen Status im Netzwerk 150 abhängigen, über die nähere<br />

Region hinaus wirksamen Bedeutung, traten die Klöster sich aber<br />

auch gegenseitig als Konkurrenten gegenüber, als Konkurrenten um<br />

wirtschaftliche Ressourcen (Ackerland und Viehweiden) und um den<br />

politischen Einfluß auf die Regierung des Landes, und erschienen in<br />

diesem Kontext nicht nur als untereinander konkurrierende Fraktionen,<br />

sondern auch als politische Machtgruppen, die in der Lage waren,<br />

Entscheidungen der Regierung entweder zu torpedieren oder in ihrer<br />

Wirkung abzulenken, wenn nicht sogar ganz zu vereiteln.<br />

Seit der Verfassungsänderung von 1750 (die einem Kabinett aus 4 Ministern<br />

die Exekutivgewalt übertrug, welche vom Dalai Lama als hierokratischem<br />

Herrscher (real oder nominell) und zeitweise von den<br />

kaiserlichen Ambanen als Vertretern der Suzeränmacht kontrolliert<br />

wurde) drohten vor allem von diesem Kreis monastischer Interessengruppen<br />

der Institution des Dalai Lama die größten innenpolitischen<br />

146 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.139<br />

147 An den Austausch der Mönche kleinerer, regionaler Klöster mit den Metropolitanklöstern erinnerte auch<br />

Geshe Rabten in seiner Lebensbeschreibung: "Um im Kloster Dargyä als Mönch zu leben, mußte man<br />

mindestens drei Jahre studiert und seinen Geist in einer der drei Kloster-Universitäten bei Lhasa im Buddhismus<br />

geschult haben." B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.12<br />

148 G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.102<br />

149 Tib. sags-<strong>pa</strong><br />

150 Der Rang eines Klosters hing ab von der Heiligkeit seiner Tulkus, von dem Alter seiner Einrichtung, von dem<br />

Umfang seines Prestiges, von den ihm eigenen Rechten, Titeln und Privilegien sowie seiner wirtschaftlichen<br />

Kraft. Die Belegschafttsgrößen waren dafür weniger ausschlaggebend, erwiesen sich aber häufig als Variablen<br />

dieser vorgenannten Kriterien.


70<br />

Gefahren, da dieser Kreis ja bereits und immer schon über jene Mittel<br />

politischer Interessendurchsetzung verfügte, die sich ein gerade jung<br />

ins Amt getretener Dalai Lama erst mühsam verschaffen mußte.


71<br />

Der institutionelle Aufbau der großen Klöster<br />

Nicht nur die großen Provinzial- und Metropolitanklöster setzten sich<br />

aus drei verschiedenen und relativ autonomen Institutionen oder Körperschaften<br />

zusammen, aus dem Kloster selbst, aus seinen Dratsangs<br />

oder Kollegien (tib. Grwa-tsha), denen ein Abt vorstand (vorsteht),<br />

und aus den Koinobien oder Wohnvierteln, den Khamtsen (tib. Khamtshan),<br />

151 sondern auch alle die Klöster, welche Mönchsuniversitäten<br />

unterhielten.<br />

Klöster, die neben gDan-sa gsum und bKra-shis Lhun-po <strong>Studien</strong>kollegien<br />

mit den ihnen assoziierten Wohngemeinden unterhielten, waren<br />

unter anderen Urga (Mongolei), dPal-skhor Chos-sde (Gyantse),<br />

bKra-shis sGo-mang (Amdo), rNyam-ring am Yas-ru gTsang-po,<br />

Chab-mdo Chos-sde (Ost-Tibet), Rwa-sgreng (Zentral-Tibet), bLabrang<br />

bKra-shis Kyil oder sKu-bum (Amdo). 152 Mönchsuniversitäten<br />

unterhielten in Amdo z.B. auch Co-ne dGon-chen, sTag-tshang Lhamo,<br />

gZhi-khang dGon-<strong>pa</strong>, gYer-ba und Marn-byung byams-<strong>pa</strong> gling.<br />

Obwohl das Kloster als Zusammenfassung aller Dratsangs eine eigene<br />

Körperschaft war, gab es für sie selbst kein Gremium, das sie personell<br />

oder als Amt verkörperte wie die Abtstelle der Kollegien und<br />

Wohnviertel. Deshalb hielten die Äbte des Dratsangs oder des Kollegs,<br />

die also zusammen mit ihren Ko-Äbten der anderen Kollegien<br />

dieses Gremium bildeten, auch innerhalb des Klosters den höchsten<br />

Status.<br />

Struktur des Einzelklosters in Tibet:<br />

Gom<strong>pa</strong> ← Kloster<br />

tratsang tratsang ← Colleges<br />

khangtshan khangtshan khangtshan<br />

khangtshan<br />

khangtshan<br />

khangtshan<br />

←<br />

Wohnwiertel<br />

mi-tshan Ap<strong>pa</strong>rtment shagtsang* ← Wohnungen<br />

*aristokratische Mönchshaushalte (shag) mit Dienern und eigenen Revenuen<br />

Reproduktion a) durch Adoption eigener Verwandter, b) fremder Jungen<br />

Die räumliche Verteilung der Kollegien im Kloster Kumbum skizzierte<br />

Thubten Dschigme Norbu kurz so: „Jeder Tratsang war in ei-<br />

151 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.189; P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle<br />

1959, p.122 und M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991,<br />

p.29<br />

152 Siehe: G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p. 102-103


72<br />

nem Gebäudekomplex untergebracht und hatte seinen eigenen Dukhang,<br />

die große Aula, in der sich alle Angehörigen des Tratsangs<br />

versammelten.“ 153<br />

Diesen Kollegien waren ihrerseits die Khamtsen (tib. kha-mtshan),<br />

d.h. die Wohnbezirke, Häuser oder Unterkünfte 154 der Mönche zugeordnet,<br />

in welchen nur die in die einzelnen Kollegien eingeschriebenen<br />

Mitglieder lebten. Auch diese Residenzeinheiten, die sich nach<br />

der Herkunftsregion der Mönche gliederten, wurden selbständig verwaltet<br />

und verfügten über eigenständige Mittel.<br />

Kloster (dGon-<strong>pa</strong>) Grwa-tsha Kha-mtshan<br />

Se-ra (gSe-ra) Byes 3<br />

sNgags-<strong>pa</strong> 1<br />

sMad 9<br />

3 13<br />

’Bras-spus bLo-gsal-gli 23<br />

sGo-ma 16<br />

bDe-yas* ½*<br />

sNgags-<strong>pa</strong>* ½*<br />

rGyas-<strong>pa</strong>+ 0<br />

Shag-skor+ 0<br />

’dul-ba+ 0<br />

7 40<br />

dGa-ldan Byan-rtse Kein Literatur-<br />

Shar-tse<br />

fund<br />

2<br />

bKra-shis Lhun-po Thoi Sam-gli 17<br />

Shar-tse 12<br />

Kyil-kha 10<br />

3 39<br />

* teilen sich ein unbenanntes; + ohne Kha-mtshan<br />

Ein Mönch gehörte also einem Kloster nur durch die Inskription in einem<br />

seiner Kollegien an, war also Mitglied eines Kollegs und eines<br />

seiner Residenzeinheiten. Wer auch immer als Mönch in das Kloster<br />

eintrat, konnte dies nur, wenn er sich in der Residenz (Khamtsen) seiner<br />

Herkunftsregion und in dem Kolleg (Dratsang), zu dem dieses<br />

Khamtsen gehörte, einschrieb. Erst danach wurde dann die feierliche<br />

Aufnahme vollzogen. Diese landsmannschaftliche Belegung der<br />

Khamtsen ist seinerzeit u.a. neben Waddell auch MacDonald aufgefallen.<br />

155 So spiegelte ein größeres Kolleg auch häufig die regionale wie<br />

ethnische Differenzierung der Bevölkerung des ganzen Landes wider,<br />

153 Thubten Dschigme Norbu, Tibet, verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.124-5<br />

154 Khamtsens differenzierten sich z.Teil weiter nach kleineren Unterkünften, den mitsens (tib. mi-mtshan), die<br />

wiederum sich unterscheiden lassen nach der Differenzierung der größeren Herkunftsregion in deren kleinere<br />

geographische Einheiten.<br />

155 Siehe: D.MacDonald, The Land of the Lama, London 1929, S.97


Das Kloster Se-ra (nach A.David-Neel, Hexer und Heilige, Leipzig 1931, S.112)<br />

73<br />

während sich deren Residenzen durch die regionalbedingte ethnische<br />

wie sprachliche (Dialekt) Homogenität ihrer Mitbewohner auswiesen,<br />

d.h. im Idealfall reflektierte das Kolleg den Bevölkerungsquerschnitt<br />

seines Landes und das Khamtsen den seiner Provinz oder seiner Landschaft,<br />

was aber realiter seltener vorkam, da in bestimmten Kollegien<br />

die Vertreter bestimmter Regionen durchaus überwogen. Ja in<br />

Labrang Tashi-khyil galt diese Zuschreibungsregel der Wohnquartiere<br />

nicht. „While in the three great lamaseries of Tibet the monks are<br />

grouped according to their native places, those of Labrang are classified<br />

entirely according to academic division.“ 156<br />

Als Kawaguchi nach Lhasa kam, und sich im Kloster Sera einschreiben<br />

wollte, schrieb er sich im Pituk Khamtsen ein, in dem die Bewohner<br />

des Chang-tang, die Mongolen und Manchu-Mönche sich einzuschreiben<br />

hatten. Obwohl er als Chinese getarnt das Land bereiste und<br />

demenstsprechend sich in Pate-Khamtsen hätte einschreiben müssen,<br />

zog er, um nicht als Ja<strong>pa</strong>ner enttarnt zu werden, die andere Wohngemeinde<br />

vor. 157<br />

Die Kollegien wie die Wohnquartiere stellten innerhalb des Klosterareals<br />

eigene räumliche Einheiten dar, die deshalb auch das räumliche<br />

Zentrum der rituellen, geistlichen, sozialen und politischen Aktivitäten<br />

der Mitglieder eines Kollegs waren.<br />

156 J.F.Rock, The Amnye Machen and Adjacent Regions, Rom 1936, p.35<br />

157 Siehe: E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.289


74<br />

Kloster, Dratsang und Khamtsen führten als eigene Körperschaften<br />

auch ihre eigenen Namen, pflegten über Generationen ihre körperschaftliche<br />

Identität, verfügten über eigenen körperschaftlichen Besitz<br />

und eigene Mittel, die diesen Körperschaften exklusiv zugute kamen<br />

und funktionierten als selbständige dauerhafte Organisationen, in denen<br />

nur die Mönche kamen und gingen, während ihre Rechte, Privilegien<br />

und der Land- wie der Güterbesitz mit der Institution fortbestanden.<br />

Die Loyalität und die Solidarität der Mönche orientierte sich an der<br />

Struktur der klösterlichen Organisation. Sie war auf der Khamtsen-<br />

Ebene am stärksten, erschien auch noch sehr stark auf der Ebene des<br />

Kloster Drepung (nach H.Richardson, Ceremonies of the Lhasa Year, London 1993, p.101)<br />

Dratsangs, während sie schon schwächer wurde im Kontext des Klosters,<br />

was z.B. die Rebellion des Dratsang Sera Che (Grwa-tsha Sera<br />

Byes) 1947 gegen die Regierung sehr gut demonstrierte, bei der das<br />

Kolleg Sera Me (Grwa-tsha Se-ra sMad) nämlich die Partei der Regierung<br />

ergriff und sich gegen das Bruderkolleg des eigenen Klosters<br />

stellte, dem es die Unterstützung gegen die Regierung verweigerte. 158<br />

Ähnlich verweigerte 1921 das Dratsang Drepung Gomang (Grwatsha<br />

sGo-ma) seinem Bruderkolleg Drepung Loseling (Grwa-tsha<br />

bLo-gsal-gli) die Unterstützung während dessen Konflikt mit dem<br />

Dalai Lama. 159<br />

158 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.29-30<br />

159 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.30


75<br />

Dieser Konflikt 160 aus den zwanziger Jahren illustriert recht gut die<br />

konkurrierenden Institutionen und ihre Vertreter sowie die politischen<br />

Schachzüge, mit denen jene ihre Machtbasis auszubauen oder auszudehnen<br />

bestrebt waren.<br />

Etwa zur gleichen Zeit als die Administration des Panchen Rinpoche<br />

sich weigerte, die von Lhasa verordnete Steuererhöhung anzuerkennen,<br />

weigerte sich auch der Dratsang Loseling (Grwa-tsha bLo-gsal<br />

gLi) vom Kloster Drepung (‘Bras-spus) in den Jahren 1911-12, kurz<br />

vor der Rückkehr des Dalai Lama XIII. aus dem indischen Exil, Kriegermönche,<br />

dabdob (rDab-rdob), für den tibetisch-chinesischen<br />

Grenzkrieg abzustellen. Auch die Leiter der einflußreichsten Kamtsens<br />

(Kha-msthan) dieses Colleges, der Tsatschag (Tsha-phyag),<br />

Kloster Ganden (nach A.David-Neel, Arjo<strong>pa</strong>, Leipzig 1930, S.241)<br />

Phutschag (Phu-phyag) und Kongtschag (Ko-phyag), machten aus<br />

ihrer prochinesischen Haltung keinen Hehl. So nimmt es auch nicht<br />

Wunder, daß der Manchu-Amban, als er in Lhasa um sein Leben<br />

fürchten mußte, in eben diesem Kloster und in diesem College (bLogsal<br />

gLi) Asyl fand.<br />

Während der Abwesenheit des Dalai Lama in Indien und kurz nach<br />

seiner Rückkehr aus Indien fühlte sich die monastische Fraktion der<br />

Feudalherren in Tibet noch so stark, daß sie glaubte, sich den Forderungen<br />

der Zentralregierung unbeschadet widersetzen zu können.<br />

160 Siehe: Ch.Bell, Portrit of a Dalai Lama, London (1946) 1987, S.347, 368-373


76<br />

Doch der Dalai Lama hatte der Führung jenes Klosters diese Demonstration<br />

seiner damaligen politische Schwäche nicht vergessen.<br />

Als 1920 Drepung Loseling dem Pächter Adala das Khantsin (Kha-<br />

‘dzin= Pachtgut), das er von dem Kolleg gegen Pachtzins erwarb,<br />

fristlos kündigte und nach seiner Weigerung es zu verlassen, da er<br />

seine Pacht schon entrichtet hatte, Adala von dem Khantsin mit Gewalt<br />

vertreiben ließ, beschwerte sich dieser beim Drönyerchenmo<br />

(mGron-gnyer Chen-mo), der ihm zu einer Eingabe an die Regierung<br />

riet. Daraufhin wurden die drei Khamtsen-Leiter im Range eines Abtes,<br />

der Tsatschag, Phutschag und Kongtschag, vorgeladen und nach<br />

Prüfung des Falles verhaftet. Der Tsatschag und der Phutschag wurden<br />

enteignet und in die Verbannung geschickt, während der Kongtschag<br />

1921 wieder freigelassen wurde, weil er zwischen 1910 und<br />

1913 noch nicht im Amt war, was die Reaktion der Regierung auf diesen<br />

Vorfall unmittelbar mit dem Verhalten der Khamtsen-Leiter in jenen<br />

Jahren (1911-12) in Beziehung setzt. Die Bestrafung der beiden<br />

anderen Khamtsen-Vorstände fiel also deshalb so hoch aus, weil bei<br />

ihnen ihre fortgesetzte Renitenz gegenüber den Anordnungen der Regierung<br />

zu ahnden war, während der Kongtschag mit einer Verwarnung<br />

davonkam, da es sich bei ihm um seine erste Verfehlung gegenüber<br />

der Zentralregierung handelte.<br />

Mönchsrevolten z.Zt. des Dalai Lama XIII und kurz nach<br />

seinem Tode<br />

Jahr Kloster Arten des Widerstands<br />

1899 Tengyeling Aufstand<br />

1911-12 Drepung-Loseling Konspiration<br />

1921 Drepung-Loseling Aufstand<br />

1946-7 Sera-Che Aufstand<br />

1947 Reting Aufstand<br />

Nach der Freilassung<br />

des Kongtschag formierten<br />

sich 1921 alle<br />

Mönche der 24 Khamtsen<br />

(Kha-mtshan) von<br />

Loseling (bLo-gsal<br />

gLi) unter der Anführung<br />

von Ancanali und<br />

Ngogar zu einem Demonstrationszug<br />

nach Norbulinka (Nor-bu gLi-kha), wo sie lautstark<br />

und von rüpelhaftem Benehmen unterstrichen die Wiedereinsetzung<br />

der beiden exilierten Khamtsen-Häupter forderten. Nachdem sich ihr<br />

Unmut randalierend entladen hatte, zogen sie nach wenigen Tagen<br />

wieder unverrichteter Dinge aus Norbulinka ab. Während dieser Belagerung<br />

von Norbulinka standen der Dalai Lama und die kleine Schar<br />

seiner Bediensteten und Minister durchaus unter Lebensgefahr und<br />

selbst die 500 Mann Leibwache des Dalai Lama, die man aus Lhasa<br />

hätte herbeirufen können, hätte gegen diese Übermacht aufgebrachter<br />

Mönche nichts auszurichten vermocht, weshalb man es auch vermie-


77<br />

den hatte, sie herbei zu ordern, sondern es vorzog, sich so unsichtbar<br />

wie möglich zu machen und abzuwarten, bis der Zorn der Demonstranten<br />

verraucht war. Außerdem hätte ein Blutbad unter den Mönchen<br />

nur die Ausdehnung der Revolte von Loseling auf die anderen<br />

Colleges und Klöster verursacht und zu einer Eskalation der Krise<br />

beigetragen und nicht zu ihrer Überwindung.<br />

Als die aufgebrachten Mönche endlich wieder abgezogen waren, ließ<br />

Tsarong Shabpe (Tsha-ro Zhabs-<strong>pa</strong>d) auf Befehl des Dalai Lama einige<br />

Tausend Mann des Heeres in Lhasa zusammenziehen und zwischen<br />

Norbulinka und Drepung Posten beziehen. Nachdem sich die<br />

Bedingungen nun so verändert hatten, daß der Dalai Lama seinen Befehlen<br />

den nötigen Nachdruck verleihen konnte, verlangte er von Drepung<br />

die Überstellung der Anstifter jener monastischen Unmutsdemonstration.<br />

Als man ihm die Herausgabe verweigerte, bezogen die<br />

Truppen der Zivilarmee, die unter Tsarongs Oberbefehl stand, unmittelbar<br />

vor Drepung Stellung. Das veranlaßte das Kolleg Loseling, das<br />

allein schon 5000 Mann stark war, die anderen Kollegien von Drepung<br />

und die Mönche von Sera und Ganden allerdings vergeblich<br />

dazu aufzufordern, sich auf ihre Seite zu stellen und mit ihren eigenen<br />

Milizen gegen die Truppen der Zivilarmee zu kämpfen.<br />

Kloster Tashi Lhunpo, nach: C.Bell, Tibet einst und jetzt, Leipzig 1925, S.112<br />

Nachdem ein hinreichend großes Truppenkontingent Drepung umstellt<br />

hatte und die Aussichtslosigkeit eines Widerstandes von Drepung-Loseling<br />

offensichtlich war, ging die Armee zum Angriff über, welche<br />

zu diesem Zwecke auch wieder Kommandeure (Shankawa (Shan-khaba)<br />

und Tshögo (mTsho-sgo)) einsetzte, die kurz zuvor wegen gewisser<br />

Eigenmächtigkeiten abgesetzt worden waren. Unter dem Druck


78<br />

militärischer Übermacht gab Loseling schließlich 11 Rädelsführer<br />

heraus, während alle anderen, die sich ihrer Verhaftung durch Flucht<br />

zu entziehen suchten, im Zuge von Fahndungsmaßnahmen aufgegriffen<br />

und verhaftet wurden. Insgesamt wurden 60 Mönche von Loseling<br />

inhaftiert und in Lhasa zeitweilig an den Pranger gestellt. Alle Äbte<br />

von Drepung wurden abgesetzt und das Ernennungsrecht der Dratsang-<br />

und Kamtsen-Äbte ging auf den Dalai Lama über, während sich<br />

der Wahl zum Amt des Abtes nur noch Mönche aus Zentraltibet stellen<br />

durften, da die Initiatoren der Revolte allesamt aus Khams kamen,<br />

das zu jener Zeit schon zu großen Teilen unter chinesischer Jurisdiktion<br />

stand.<br />

Das erste Mal in der Geschichte Tibets mußten zivile Regierungstruppen<br />

gegen renitente Mönche eingesetzt werden, um sie zum Gehorsam<br />

gegenüber ihrer Regierung zu zwingen, einer Regierung, die zudem<br />

von ihrem höchsten geistlichen Würdenträger angeführt wurde.<br />

Das erste Mal in der Geschichte Tibets erteilte ein Dalai Lama den<br />

drei Residenzen Sera, Drepung und Ganden mit seinen zivilen Truppen<br />

eine politische Lektion, mit der er diesen Institutionen vorführte,<br />

daß sie nicht mehr über die Macht verfügten, ihn selbst und seine<br />

Amtsführung einzuschüchtern.<br />

Aber obwohl sich später das Verhältnis der „Drei Sitze“ zum Dalai<br />

Lama wieder normalisierte, erinnerte dieses Ereignis jene Klöster<br />

daran, sich in Zukunft jeder Erstarkung der Zivilarmee und der Zivilverwaltung<br />

zu widersetzen, d.h. allen Maßnahmen einer Erstarkung<br />

der Regierungsverwaltung, weil deren Autonomie die Einflußnahme<br />

ihrer eigenen Interessenvertreter auf die Regierung schmälerte. Diese<br />

Demütigung der drei Residenzen verstärkte die feindliche Einstellung<br />

des Klerus gegenüber jeder Modernisierung des tibetischen Staates<br />

mit säkularisierender Tendenz. 161<br />

161 Siehe: H.<strong>Südkamp</strong>, Breviarium der tibetischen Geschichte, Rikon 1998, S.168-170


79<br />

Das Beispiel der Klöster Drepung (’Bras-spus) und Sera (Se-ra)<br />

Drepung war auch 1951 noch das größte Kloster Tibets. 162 Ursprünglich<br />

vereinte es sieben Kollegien: Gye<strong>pa</strong> (rGyas-<strong>pa</strong>), Shagor (Shag<br />

skor), Dülwa (’dul-ba), Loseling (bLo-gsal gLi), Gomang (sGoma),<br />

Deyang (bDe-ya) und Nga<strong>pa</strong> (sNgags-<strong>pa</strong>). 163 Anfang des 20.<br />

Jahrhunderts waren aber nur noch in vier der sieben Kollegien Mönche<br />

eingeschrieben, nämlich in Loseling, Gomang, Deyang und Nga<strong>pa</strong>.<br />

Trotzdem übten die Äbte aller 7 Kollegien ihr Amt aus und vertraten<br />

die Interessen ihrer Kollegien, die ja nicht nur ihre Belegschaften<br />

betrafen, sondern auch den Grund- und Gutsbesitz, die Privilegien und<br />

Rechte der körperschaftlich verfaßten Kollegien. 164<br />

Jene Äbte, die aus den erwähnten Gründen weniger mit ihrem Kollegbetrieb<br />

in Drepung befaßt waren, mußten sich trotzdem immer noch<br />

um die Angelegenheiten ihrer Filialklöster kümmern, über die sie eine<br />

gewisse Aufsichtspflicht hatten, waren also stärker mit klösterlichen<br />

Allianzstrategien und Allianzpflichten beschäftigt.<br />

In Loseling lebten 1951 zwischen 4500 und 5000 Mönche, in Gomang<br />

zwischen 3500 und 4000. 165<br />

Von den vier mit Mönchen belegten Kollegien hatten nur zwei, nämlich<br />

Loseling und Gomang eigene Khamtsens (Kha-tshan), Loseling<br />

24 und Gomang 17, Deyang und Nga<strong>pa</strong> unterhielten kein eigenes<br />

Khamtsen. Deren Mönche waren also in einem gemeinsamen Wohnviertel<br />

untergebracht.<br />

In den Khamtsen führten die Mönche entweder ihren eigenen Haushalt<br />

oder sie teilten sich eine Unterkunft mit anderen. So bewohnte<br />

Thubten Dschigme Norbu, der Taktser Rinpoche, als er im Dratsang<br />

Gomang studierte, im Samlo Khangtsen das Haus Tschü<strong>pa</strong> Og. 166<br />

Eine besondere Haushaltsform war der Shagtsang (Shag-tsha). So<br />

hießen Haushalte (shag= Haus), die von aristokratischen Familien eingerichtet<br />

wurden oder von Familien der Vertreter monastischer Verwaltung<br />

und Hierarchie. Sie waren ausgestattet mit eigenem Besitz<br />

und die größeren außerdem mit dienenden Mönchen. 167 Ihre Inhaber<br />

162 1741 belief sich allerdings die Belegschaft von Drepung nach den Angaben des Kapuziner<strong>pa</strong>ters Cassiano<br />

Beligatti auf 1400 Mönche. Siehe: G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, S.109<br />

163 Sarat Chandra Das nennt die folgenden Dratsang-Namen: Tashi Gomang, Lozang-ling, Thoisam- ling, Nag<strong>pa</strong><br />

Namgyal-ling, Ku chyog-ling, Choikhor-ling und De-yan. Siehe: Sarat Chandra Das, The Monasteries of Tibet,<br />

Journal of the Asiatic Society of bengal, 1905, p.115<br />

164 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.30-31<br />

165 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.30<br />

166 Siehe: Thubten Dschigme Norbu, Tibet,verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.187<br />

167 Siehe: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140


80<br />

wurden im Falle fehlenden Nachwuchses aus den genannten Familien<br />

ergänzt durch die Adoption Verwandter oder Fremder, denen man die<br />

Führung des Haushaltes übertrug und die damit verbundenen monastischen<br />

Aufgaben.<br />

Die Bedeutung und der Einfluß dieser Häuser, d.h. der Inhaber und<br />

der Familien, die sie repäsentierten, hing daher auch weniger von der<br />

Zahl ihrer Belegschaften ab, sondern vielmehr von dem Status der<br />

Familien, die sie unterhielten.<br />

Beispiel: Drepung<br />

Drepung<br />

←gom<strong>pa</strong><br />

Loseling Gomang Deyang Ngag<strong>pa</strong> Gya<strong>pa</strong> Shagwa Düwa ←tratsang<br />

1 23 1 16 1 unben. Einheit verwaist seit Ende d. 19.Jh.´s ←khangtshan<br />

Gonggo Phugang Tsha ←khangtshan<br />

Ap<strong>pa</strong>rtment shagtsang mi-tshan ←mitshen<br />

65- 70% der Mönche aus Kham<br />

Aus solchen und ähnlichen Gründen verteilten sich Macht und Einfluß<br />

der 24 Khamtsen des Dratsang Loseling auf ganze drei Khamtsen, auf<br />

Gonggo (Ko-po), Tsha (Tsha-phyag) und Phugang (Phu-kha), die in<br />

Beispiel Se-ra (nach Sarat Chandra Das und E. Kawaguchi):<br />

Sera ← Kloster<br />

Dratsang Sera Je Dratsang Sera Me Dratsang Sera Ngag<strong>pa</strong> ← Kollegium<br />

Pate- Pituk- Hamdong- 1 9 1 unbenanntes K.<br />

Khang-tshan Khangtshan<br />

Khangtshan khangtshan khangtshan ← Wohnwiertel<br />

mi-tshan Ap<strong>pa</strong>rtment shagtsang* ← Wohnungen<br />

*aristokratische Mönchshaushalte (shag) mit Dienern und eigenen Revenuen<br />

Reproduktion a) durch Adoption eigener Verwandter, b) fremder Jungen<br />

der Mehrzahl von Mönchen aus der südosttibetischen Provinz Khams<br />

bewohnt wurden, wenngleich Gonggo neben den Kham-<strong>pa</strong> aus Shotalhosum<br />

(sho rta lho gsum) auch Mönche aus Kongpo (Ko-po) und<br />

Ü (dBus, Region Lhasa) beherbergte. 65% bis 70% der Belegschaften<br />

von Loseling waren Kham-<strong>pa</strong> und alle zusammen genommen kamen


81<br />

aus Gebieten, die unter chinesischer Kontrolle standen oder von China<br />

beansprucht wurden. Welche politischen Konsequenzen eine derartige<br />

Differenzierung der Wohngemeinden nach der Herkunftsregion haben<br />

konnten und welche Konsequenzen aus der Konzentration der Repräsentanz<br />

des Klosters auf drei Khamtsen-Äbte, wurde in dem oben<br />

schon geschilderten Konflikt ihrer Äbte mit der Regierung des Dalai<br />

Lama ersichtlich.<br />

Der institutionelle Aufbau der Klöster Sera, Ganden, Tashi-Lhünpo<br />

oder Kumbum folgt der hier oben am Beispiel von Drepung beschriebenen<br />

Struktur, weshalb hier zur Bestätigung der Aussage die folgenden<br />

Schemata von Sera und Tashi Lhünpo genügen mögen.<br />

Was aber der bisherigen Beschreibung der Klosterorganisation noch<br />

nicht zu entnehmen war, waren die Hinweise auf die soziale Schichtung<br />

innerhalb der monastischen Belegschaft, die man nicht von der<br />

Ämterdifferenzierung innerhalb des Klosters her ableiten kann.<br />

Die körperschaftliche Struktur von Tashi Lhünpo (zum Vergleich)<br />

Tashi Lhünpo<br />

Grva- tshang Thoi- Samling Shar-tse Kyil-khang Ngag<strong>pa</strong><br />

KHANG- TSHANG<br />

1 Gya Thon- <strong>pa</strong> Khogye 1 unbenannt<br />

2 Tiso Gyal tse-tse Tangmo<br />

3 Hamdong Shiné Rog tsho<br />

4 Chawa Lhogsa Lakha<br />

5 Tanag Latoi (Ladakh) Dodan<br />

6 Tang moche Chang-<strong>pa</strong> Piling<br />

7 Tinke Potog- <strong>pa</strong> Khalka<br />

8 Chunce Nenyin Dar<strong>pa</strong><br />

9 Lhum ba-tso Tom- khaling Lhundub- tse<br />

10 Ser- ling Deyang-<strong>pa</strong> Tsa-u <strong>pa</strong>ra<br />

11 Je-<strong>pa</strong> (She-<strong>pa</strong>) Samto<br />

12 Chang-<strong>pa</strong> Nenyinag Shara<br />

13 Leg- thug<br />

14 Norbu-ganden<br />

15 Sre-<strong>pa</strong><br />

16 Pa-so<br />

17 Dong-tse<br />

(Nach Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.189)<br />

Stein stellte fest: "Social classes are maintained inside the monasteries."<br />

168 Kawaguchi, der sich seiner Zeit im Khamtsen Pituk des Dratsangs<br />

Sera Dsche eingeschrieben hatte, machte dort die Beobachtung,<br />

daß die Unterkünfte innerhalb der Wohngemeinden oder Khamtsen<br />

168 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140


82<br />

hinsichtlich ihres Komforts nach vier Klassen zu unterscheiden waren.<br />

„A priest must reside there some ten years before he is allowed to live<br />

in a room of the fourth class; after three years more he may have removed<br />

to a study room of the third class. But it must be remembered<br />

that everything depends on money. When he receives the degree of a<br />

doctor, he is given a second class room. The rooms of the first class<br />

are used only by incarnate lamas, who come to study.” 169<br />

Der Genuß des Komforts der Räume erschien als ein Recht, daß man<br />

entweder durch Fleiß oder durch Erreichen der <strong>Studien</strong>grade erwerben<br />

konnte oder aber durch Vermögen oder soziale Stellung zugeschrieben<br />

wurde.<br />

Darüber hinaus glaubte Kawaguchi<br />

die Mönche auf<br />

drei Schichten verteilen zu<br />

können, die er kurz: Ober-<br />

Mittel- und Unterschicht<br />

nannte. „The priests, though<br />

diverse in studies, may be<br />

classified into three large<br />

divisions, higher, middle,<br />

and lower. By the middle<br />

class of priests, I mean<br />

those who spend about<br />

seven yen a month for their<br />

keep. They do not <strong>pa</strong>y for<br />

their dwellings, which are<br />

provided by their temple,<br />

though some Khamtsans,<br />

which are in debt, take rents<br />

from their priests for their<br />

studying-rooms.” 170 Einige<br />

Khamtsen des Klosters Tashi Lhunpo (nach Sven<br />

Hedin, Transhimalaja 1, Leipzig 1922, S.248)<br />

Vertreter der Mittelschicht<br />

“have some landed property,<br />

and some of them breed<br />

yaks, horses, sheep and<br />

goats in the provinces, 171 though it would be rare for one of the middle-class<br />

to have more than some fifty yaks and ten horses.” 172 Mit-<br />

169 E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.323<br />

170 E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.324<br />

171 Er meint jene Land- und Herdenanteile, deren Einkünfte für den Unterhalt des Familienmitglieds reserviert<br />

wird, das Mönch ist.


83<br />

telschichten-Mönche engagierten sich auch im Handel, was im kleineren<br />

Rahmen auch die Unterschichten-Mönche tun mußten, die ihr<br />

Einkommen aber vor allem durch den Verkauf von Dienstleistungen<br />

aufzubessern suchten. 173 Handel trieben aber auch die Oberschichten-<br />

Mönche, selbst wenn ihre Einkommenslage das nicht erforderte.<br />

„Some rich priests have as many as from five hundred to four thousand<br />

yaks and from one to six hundred horses. They have from one to<br />

six hundred lots of land, each lot being as large as will take two yaks<br />

to cultivate in a day.” 174 Mönche der Oberschicht genossen alle Annehmlichkeiten<br />

und wurden häufig auch mit Verwaltungs- und Kämmereraufgaben<br />

betraut. 175 Sie bauten sich häufig sogar ihre eigenen<br />

Häuser und hatten eigene Tempel. Dagegen versagten Kawaguchi die<br />

Worte, wenn er das Los der Unterschichten-Mönche beschreiben<br />

sollte. „The lower class of priests, on the contrary, live pitifully. No<br />

words can half describe their poor condition… The poorest priest has<br />

in his room a sheep’s fur, a wooden bowl, a rosary and a dirty cushion,<br />

which makes a bed at night. In a corner are found a stove, an<br />

earthen <strong>pa</strong>n, and a pot or jar, which all belongs to his room. A bag<br />

hanging in one corner containes the baked flour which supports his<br />

life; but it is very rarely full. The most precious items of their property<br />

are the text books of the catechism.” 176<br />

Diese Beobachtung entspricht auch jener Beschreibung von Sven Hedin:<br />

„Wir traten dann auch in die kleinen dunklen Verschläge hinein,<br />

wo kaum mehr Raum war als in meinem Zelt. An der einen Längswand<br />

hat das Bett seinen Platz; eine rot bezogene Matratze, ein Kopfkissen<br />

und eine Filzdecke. Im übrigen besteht die Einrichtung aus einigen<br />

Kisten mit Büchern, Kleidungsstücken und religiösen Gegenständen.<br />

Heilige Schriften liegen aufgeschlagen. Ein <strong>pa</strong>ar Beutel enthalten<br />

Tsamba und Salz. Ein kleiner Altar mit einigen Götterstatuen,<br />

Opfergefäßen und brennenden Butterlampen- das ist alles. Hier ist es<br />

dunkel, kühl, feucht und muffig, nichts weniger als gemütlich, eher<br />

wie im Gefängnis. Aber hier verlebt der seine Tage, der sein Leben<br />

der Kirche geweiht hat und höher steht als andere Menschen. Mönche<br />

niederen Grades wohnen zu zweien oder dreien in einer Zelle, Gelongs<br />

haben eine Zelle für sich.“ 177<br />

172 E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.325<br />

173 Siehe: E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.325<br />

174 E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.325<br />

175 E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.326<br />

176 E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.326-7<br />

177 S.Hedin, Transhimalaja, I, Leipzig 1922, S.322-3


84<br />

Kleinere Filialklöster<br />

Die kleineren und kleinsten Klöster, darunter die sog. Heimatklöster<br />

(gzhi-dgon), stellten quantitativ die Mehrzahl der tibetischen Klöster.<br />

Sie repräsentierten die Orden bis in die abgelegensten Winkel des<br />

Landes.<br />

Auszug der von Sven Hedin besuchten Kleinklöster zwischen Ladakh und Tashi-Lhünpo:<br />

Kloster Mutterkloster Belegsch. Einkünfte<br />

Mönche Nonnen<br />

Selipuk Tashi-Lhünpo 13 61 Yaks, 1012 Schafe, Spenden<br />

Döltshu Gom<strong>pa</strong> Sera 7 600 Tenga vom Mutterkl.<br />

Tirtapuri Tashi-Lhünpo 21 Spenden, Handel<br />

Kjung-lung Tashi-Lhünpo 8 Spenden, Handel<br />

Daba Gom<strong>pa</strong> Sera 15 Spenden, Handel<br />

Mangnang Gom<strong>pa</strong> Drepung 12 Spenden, Handel<br />

Sershik Gom<strong>pa</strong> Devashung 20 Hirten v. Nagtsang,Largäp,Sershik<br />

Tradum Gom<strong>pa</strong> Tashi Lhünpo 5 Yak-,Schafzucht, Handel<br />

Serolung Gom<strong>pa</strong> Tashi-Lhünpo 30 Spenden, Handel<br />

Tugu Gom<strong>pa</strong> Shibeling (Purang) 13 eigene Herden, Handel<br />

Junggo Gom<strong>pa</strong> Sakya-Gom<strong>pa</strong> 10 1 Spenden, Handel<br />

Gossul Gom<strong>pa</strong> Shibeling (Purang) 7 1 Spenden, Handel<br />

Tshiu Gom<strong>pa</strong> Tashi-Lhünpo 15 500 Z, 100 Sch, 15 Yaks<br />

Pundi Gom<strong>pa</strong> Tashi-Lhünpo 8 Spenden, Handel<br />

Tshergip Gom<strong>pa</strong> Tashi-Lhünpo 1 Spenden<br />

Tugdän Gom<strong>pa</strong> Tashi Lhünpo 30 Spenden, Handel<br />

Ganden Tshöding Tashi Lhünpo 16 Spenden<br />

Tashi Gembe Tashi Lhünpo 100 Spenden, Handel, Abgaben<br />

Pinsoling Tashi-Lhünpo 200 Spenden, Handel<br />

Lung Ganden Gom<strong>pa</strong> Tashi Lhünpo 21 Landwirtschaft, Subvention v.M-Kl.<br />

Lehlung Gom<strong>pa</strong> Tashi Lhünpo 26 Landwirtschaft, Handel<br />

Linga Gom<strong>pa</strong> Sakya Gom<strong>pa</strong> 30 Landwirtschaft, Handel<br />

Samde-puk Gom<strong>pa</strong> Sakya Gom<strong>pa</strong> 4 Spenden, Subventionen<br />

Siehe: Sven Hedin, Transhimalaja, 1, Leipzig 1922, S.264-395, ipse, Transhimalaja II, Leipzig 1922, S.17-362, ipse Transhimalaja III, Leipzig<br />

1922, S.31-314<br />

Tenzin Choedrak, der Leibarzt des Dalai Lama XIV, wies im Zusammenhang<br />

mit dem Kloster seines Noviziats, dem Kloster Choede<br />

(Chos-sDe), auf dessen Filialnetz hin: “Mit dem Hauptkloster war ein<br />

umfassendes Netz von kleinen Klöstern verbunden, die über die Region<br />

verstreut waren.” 178 Dieses Netz aus Filialklöstern (dgon-lag, lelag)<br />

wurde auch von den Reisenden des ausgehenden 19. Jhts und<br />

beginnenden 20.Jhts beobachtet. “Most large monasteries have<br />

branches throughout Tibet where the local candidates first enroll.” 179<br />

178 Tenzin Choedrak, Im Dienst des Dalai Lama, Frankfurt 1999, S.44<br />

179 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, S.122


85<br />

Eine dieser Filial-Linien verlief beispielsweise von Drepung (10.000<br />

Mönche) nach Kumbum (4000) und von dort nach Shartso Ritrö (20<br />

Mönche) mit den beiden Labrangs: Taktser Labrang und Marang Labrang.<br />

Die Belegschaften des Haupthauses und seiner eben genannten<br />

Mutterklöster und ihre Filialen im Reisegebiet Sven Hedins (n=41)<br />

Devashung<br />

Shibeling<br />

Drepung Sera (Lhasa) Sakya (Purang) Tashi-Lhünpo<br />

Mangnang G Tashi gang G Särshik G Linga G Gossul G Tshuding G<br />

Gar-jarsa Totling (Töling) Samde puk Tugu G Tugdän G<br />

Daba Junggo G Tashi Gembe<br />

Rabgyeling<br />

Pinsoling<br />

Gunda tammo<br />

Lung Ganden G<br />

Lehlung G<br />

Döle G<br />

Targyeling G<br />

Tradum G<br />

Liktse G<br />

Sero lung G<br />

Tschiu G<br />

Pundi G<br />

Tschärgip G<br />

Njandi G<br />

Diri-pu G<br />

Gar-gunsa G<br />

Lundugs Tschüding<br />

Mendong G<br />

Lunkar G<br />

Selipuk G<br />

Tsumtul-pu G<br />

Döltschu G<br />

Tirtapuri<br />

Kjung-lung G<br />

Dongbo G<br />

Sumur G<br />

Filialen einer Linie beliefen sich auf 14.020 Mönche (+4020). Eine<br />

weitere Filliallinie desselben Hauptklosters Drepung verlief über<br />

Labrang Tashi Kyil (4000 Mönche) nach Detsa Ritrö (400 Mönche).<br />

Über diese Linie summierte sich die Belegschaft auf 14.400 Mönche<br />

(+4400). 180 Allein über diese beiden Filliationslinien wurden dem<br />

Kloster Drepung mit seinen 10.000 Mönchen weitere 8420 Mönche<br />

affiliert. Ähnlich wie sich die monastische Gefolgschaft entlang dieser<br />

Linie addiert, summiert sie sich im Falle Labrangs mit seinen 108 Filialen<br />

um 107 weitere Filiallinien.<br />

Auch das Kloster Kumbum fungierte in seiner Region als ein vergleichbares<br />

geistliches Zentrum. „Nicht jedes Kloster in Tibet“, so<br />

versichert uns Tafel, „hat aber einen Kambo (mKhan-po). Der Kambo<br />

180 Siehe: Thubten Dschigme Norbu, Tibet, verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960


86<br />

entspricht deshalb noch mehr dem Bischof unserer katholischen Kirche.<br />

Er hat stets ein ganzes Gebiet unter sich und beherrscht mehrere<br />

Klöster. Der Kambo von Gumbum ist zugleich Herr über 21 Amdo-<br />

Klöster,“ 181 die ihrerseits über Kumbum mit einem Metropolitankloster<br />

von Lhasa affiliert waren. Chone Gom<strong>pa</strong> (Co-ne dGon-<strong>pa</strong>),<br />

dem Hauptkloster des Fürstentums Chone (Co-ne), unterstehen 44 Filialklöster.<br />

Häufig wurden die Kandidaten der Zweigklöster zur Weiterbildung in<br />

die Hauptklöster geschickt und kehrten danach mit ihrem Profeß oder<br />

einem <strong>Studien</strong>grad in die Filialen zurück. 182 Diese Mönche der Heimatklöster<br />

(gzhi-dgon) gingen als Tragyün (grwa-rgyun) zur Fortbildung<br />

in die Hauptklöster, machten entweder dort Karriere oder<br />

kehrten als Lehrer von dort zurück. Das ausgedehnte klösterliche<br />

Netzwerk erlaubte es, die Zahl der Hauptklöster im Lande relativ<br />

niedrig zu halten. Das bestätigt auch Carascos Beobachtung: "The<br />

number of independent monasteries is relatively small. A large and<br />

important region like Kailas does not have a single central monastery,<br />

but only branches of the main monasteries of Central Tibet." 183 Die<br />

Liste der Klöster, die Sven Hedin im Südwesten des Landes aufgesucht<br />

hatte (N=41), gibt auch die Mutterklöster an, soweit Hedin sie in<br />

Erfahrung bringen konnte (für 34 Klöster), und bestätigt Carascos Eindruck<br />

(siehe Liste oben). 184<br />

Das Kloster Gar-jarsa in Hedins Liste mit 8 Mönchen war eine Filiale<br />

Auszug aus dem Filialnetz der von Hedin besuchten Klöster<br />

Sera<br />

Sakya<br />

Daba Tashi gang Linga Gom<strong>pa</strong> Junggo Gom<strong>pa</strong><br />

Gar-jarsa<br />

Samde-puk<br />

von Taschi-gang mit 50 Mönchen, das wie das Kloster Daba mit 15<br />

Mönchen eine Filiale des Klosters Sera mit 7700 Mönchen war. Das<br />

Kloster Samde-puk in Hedins Liste mit 4 Mönchen war eine Filiale<br />

von Linga Gom<strong>pa</strong> mit 30 Mönchen, das wie das Kloster Junggo<br />

181 A.Tafel, Meine Tibetreise, I, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.235<br />

182 „After graduation, the dGe-slong return to their local monasteries, but the majority of the inmates of the<br />

branch monasteries are not fully ordained." P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, S.122; Zur<br />

Ausbildungshoheit der Sakya<strong>pa</strong>klöster von Derge schreibt P.Kessler: "Im Falle der Sakya<strong>pa</strong> mußten indes alle<br />

<strong>Studien</strong> in Sakya selbst abgeschlossen werden; die Prüfungen fanden ausschließlich im Mutterkloster statt."<br />

P.Kessler, Die historischen Königreiche Ling (...) und Derge (...), EAT 40.1, Rikon 1983, S.30<br />

183 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, S.122<br />

184 Siehe S.Hedin, Transhimalaja I, Leipzig 1922, S.364-395; ipse, Transhimalaja II, Leipzig 1922, S.17-362;<br />

ipse, Transhimalaja III, Leipzig 1922, S.31-314


87<br />

Gom<strong>pa</strong> eine Filiale des Klosters Sakya mit 500 Mönchen war (siehe<br />

Abbildung oben). Über die beiden Klöster von Hor-Gantse (Hor dGartse),<br />

also über Tsen Gomba und Lhaba Gomba, mit insgesamt 4000<br />

Mönchen erfahren wir von Tafel: „Der Ort Hor Gantse liegt 3460m<br />

hoch. Den Oberäbten der zwei Klöster unterstehen auch alle anderen<br />

Lamasereien des Hor-ba-Bezirks, im ganzen etwa fünfzig kleinere und<br />

größere Klöster.“ 185<br />

Daß sich diese Netzwerke tatsächlich über den gesamten Wirkungsbereich<br />

der lamaistischen Orden hin austrecken, wurde oben schon am<br />

Beispiel der Klöster Chab-mdo und ’Brag-yab gezeigt, die beide in<br />

Ost-Tibet liegen, und am Beispiel der Klöster von Kumbum und Labrang<br />

Tashi Kyil oder der Affiliation von Ri-bo bDe-chen mit Drepung.<br />

Sandberg erinnerte in diesem Kontext an das Kloster Thöling<br />

(mTho-gling). „Thus T’ö-ling on the River Sutlej, the oldest establishment<br />

in Ngari Khorsum, has 25 minor appendences.“ 186 Den gleichen<br />

Tatbestand zeigen auch die Klosterlisten des „Ethnohistorischen Atlas<br />

Tibet“ von Peter Kessler.<br />

Klöster von Tehor ohne die Bön- und die nicht zuweisbaren Klöster sowie ohne<br />

jene für die es keine Zahlenangaben gibt (nach P. Kessler, EAT,41.1, S.177ff)<br />

Orden Kloster Tulkus Mönche<br />

Ning-ma-<strong>pa</strong> 180<br />

1 Ling tshan Katho Gön 105<br />

2 Gulung Gön 75<br />

Kag-yü-<strong>pa</strong> 100<br />

3 Lona Göm<strong>pa</strong> 50<br />

4 Rirag Göm<strong>pa</strong> 50<br />

Sa-kya-<strong>pa</strong> 675<br />

5 Nyara Göm<strong>pa</strong> 500<br />

6 Dotho Göm<strong>pa</strong> 75<br />

7 Zaleh Göm<strong>pa</strong> 50<br />

8 Jola Göm<strong>pa</strong> 50<br />

Ge-lug-<strong>pa</strong> 1730<br />

9 Gönsar Göm<strong>pa</strong> 300<br />

10 Jarjo oder Gesa Göm<strong>pa</strong> 30<br />

11 Dagchog Göm<strong>pa</strong> 100<br />

12 Samdrup Göm<strong>pa</strong> 700<br />

13 Dargyé Göm<strong>pa</strong> 500<br />

14 Lingru Göm<strong>pa</strong> 100<br />

In Tehor (siehe Liste oben) waren die vier großen Hauptorden des tibetischen<br />

Buddhismus vertreten, die rNying-ma-<strong>pa</strong> mit zwei Klöstern<br />

2685<br />

185 A.Tafel, Meine Tibetreise, II, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.180<br />

186 G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.102


88<br />

(14%), die bKa-rgyud-<strong>pa</strong> mit zwei Klöstern (14%), die Sa-skya-<strong>pa</strong> mit<br />

vier (28%) und die dGe-lugs-<strong>pa</strong> mit 6 Klöstern (42%).<br />

Im Lande Tehor wirkten 2685 Mönche, 64% davon gehörten dem Gelug<strong>pa</strong>-Orden<br />

an, dessen höchster Würdenträger das sog. „Outer Tibet“<br />

regiert hatte, die anderen 36% verteilten sich auf die drei anderen Orden.<br />

187<br />

Im einstigen Königreich Mili war nur der Gelug<strong>pa</strong>-Orden mit 9 Klöstern<br />

vertreten, welche zwischen 833 und 1343 Mönche beherbergten.<br />

Hier war das kleinste Kloster, das Kloster Mei-Pu, sogar noch kleiner<br />

als das kleinste Kloster, das Sven Hedin in Südwest-Tibet besucht hat.<br />

In Mei-Pu wirkten nur drei Mönche. Außer der Belegschaft des Residenzklosters<br />

von Mili, das zwischen 450 und 700 Mönche beherbergte,<br />

glichen die Belegschaften der Klöster von Mili denen der<br />

Kleinklöster von Südwest-Tibet, wie sie Sven Hedin ausgewiesen<br />

hatte. Da aber Südost-Tibet stärker besiedelt war als Südwest-Tibet,<br />

lagen die Mönch-Mann-Proportionen in Mili im Minimum deutlich<br />

unter 10% und im Maximum knapp über 10%.<br />

Klöster von Mili ohne die Bön- und die nicht zuweisbaren Klöster sowie ohne jene für die<br />

es keine Zahlenangaben gibt (nach P. Kessler, EAT,41.1, S.43ff)<br />

Orden Kloster Tulkus Mönche Mönche<br />

Ning-ma-<strong>pa</strong> -- -- --<br />

Kag-yü-<strong>pa</strong> -- -- --<br />

Sa-kya-<strong>pa</strong> -- -- --<br />

Ge-lug-<strong>pa</strong> Min Max<br />

833 1343<br />

1 Mili Residenzkloster 450 700<br />

2 Kulu (Keong) 200 300<br />

3 Wachin 100 250<br />

4 Garu 20 20<br />

5 Gagö 20 30<br />

6 Bora ca 30 30<br />

7 Mei-Pu 3 3<br />

8 Ning Lang 5 5<br />

9 Tai-fang 5 5<br />

Das Filialnetz der Klöster korrespondierte mit den verschiedenen<br />

weltlichen Funktionen der Klöster in Tibet, mit den politischen und<br />

wirtschaftlichen (Transfer der Güter und Dienste wie der Informationen)<br />

ebenso wie mit den religiösen, d.h. in diesem Falle mit der<br />

Durchsetzung landeseinheitlicher Ordensregeln, Lehrsysteme und<br />

Glaubensgrundsätze, deren Erfüllung man sich auch auf dem Wege<br />

187 Siehe: P.Kessler, Die historische Landschaft Tehor, in: ipse: Laufende Arbeiten zu einem Ethnohistorischen<br />

Atlas Tibets, EAT41.1, Rikon 1984, S.177ff


89<br />

der Ämterbesetzung versicherte. 188 "High administrative positions in<br />

branch monasteries are filled with graduates from the central monasteries,<br />

named for short periods. The Living Buddhas of branch monasteries<br />

must also go to the central monastery for study." 189<br />

Das Bild der Filialverknüpfung der Klöster setzte sich im Wirkungsbereich<br />

außerhalb Tibets fort, es griff über in damals russisches Hoheitsgebiet<br />

und in den Herrschaftsbereich der Mandschu-Dynastie.<br />

Zu den Burjäten ist der Buddhismus beispielsweise relativ spät gekommen<br />

und die lamaistische Mission begegnete bei diesem Volk<br />

auch sehr früh dem Widerstand der russischen Regierung, unter deren<br />

Autorität die Burjäten standen. Die Zahl des burjätischen Klerus war<br />

deshalb 1853, als Pander China und seine Randgebiete bereiste, sehr<br />

klein (siehe folgende Tabelle).<br />

Englische Missionare, die in diesem Teil Sibiriens das Christentum zu<br />

verbreiten suchten, nannten Belegschaftszahlen für drei burjätische<br />

Klöster, welche in Summe schon die Zahlen Panders übertrafen. Im<br />

Kloster am Gänse-See lebten 250 Mönche, in Tsongol Gom<strong>pa</strong> 200<br />

und in Aga-Gom<strong>pa</strong> 40 Mönche. 190 Dieselbe Quelle weist daraufhin,<br />

daß in der kurzen Zeit zwischen 1822 und 1829 in den Gebieten der<br />

Khori- und Ona-Clans 26 Lamasereien entstanden 191 , und daß 1911<br />

einunddreißig burjätische Lamasereien ihren eigenen Druckereibetrieb<br />

unterhielten. 192<br />

Burjäten 1853 Lamaistischer Klerus<br />

Khenpo- Lama 1<br />

Shiretus (Äbte) 34 34 Gemeinden (Sanghas)<br />

ordinierte Gelongs 216<br />

Bandyi (Banden) 34<br />

285<br />

Nach: E.Pander, Geschichte des Lamaismus, in: Verh.Berl.Ges.f.Anthropol., Ethnol., u.Urgesch. Jhg<br />

1889, Berlin 1889, S.204<br />

188 Zur Provinz Kham wäre anzumerken, daß sie bis 1949 aus einer Reihe relativ autonomer Kleinstaaten bestand,<br />

die entweder regiert wurden von säkularen "Erbmonarchen", sog. Kleinkönigen, oder von hohen Laienbeamten,<br />

sog. Pönpos oder De<strong>pa</strong>s, oder von Erzhierarchen, Mönchen und Königen in Personalunion, inkarnierten<br />

Rinpoches oder Tulkus, Herrschern von fünf Klosterstaaten, unter denen die bedeutensten Chamdo, Drayab und<br />

Riwoche waren, die anderen hießen Muli und Derge. Der Priesterstaat von Muli in der gleichnamigen Region<br />

wurde z.B. seit Bestehen von einem Mönch aus der Familie des regierenden Clans regiert.<br />

Unter diesen Kleinstaaten waren auch semiautonome Nomadenherrschaften, die zusammen mit den anderen<br />

Hoheitsbereichen in der Nachbarschaft immer wieder in wechselnden Allianzen untereinander vorzufinden waren<br />

oder unter dem Protektorat von Lhasa oder Peking standen. Nach der Identifizierung des politischen Gefüges<br />

von Kham durch Eric Teichmann im Jahre 1922 unterstellten sich 26 der Kleinstaaten dieser Provinz dem Protektorat<br />

Pekings und 6 dem Protektorat von Lhasa (Siehe: E,Teichmann, Travels of a Consular Officer in Eastern<br />

Tibet, Cambridge 1922). Die kleinen Klosterstaaten von Kham lassen sich hinsichtlich ihrer politischen Organisation<br />

bis zu einem gewissen Grade mit dem großen Hierarchiat von Lhasa vergleichen.<br />

189 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, S.122<br />

190 Siehe: C.R.Bowden, Shamans, Lamas and Evangelics, London, Boston, Melbourn1985, S.222, 227 u.234<br />

191 Siehe: C.R.Bowden, Shamans, Lamas and Evangelics, London, Boston, Melbourn1985, S.233<br />

192 Siehe: C.R.Bowden, Shamans, Lamas and Evangelics, London, Boston, Melbourn1985, S.231


90<br />

Die angelsächsischen Missionare vermochten nichts dagegen zu unternehmen,<br />

wie sehr sie sich auch anstrengten, daß die Saat der 150<br />

lamaistischen Mönche, welche 1720 zu den Burjäten kamen, darunter<br />

50 Tibeter und 100 Mongolen, aufging, wenngleich sie ihre „Konkurrenten“<br />

in das denkbar schlechteste Licht zu rücken bestrebt waren.<br />

Pander verdanken wir auch die folgenden Angaben über die lamaistischen<br />

Klöster in und um Peking (siehe Tabelle unten).<br />

Dem Großlama von Peking Chiang chia Hutuktu (lCa- skya Hothog-<br />

thu) unterstanden 29 Klöster mit Mönchen aus Zentral-Tibet, der<br />

Mongolei, der Mandschurei und aus Hsi-ning (tib. Zi-ling) in Amdo.<br />

Von den drei Klöstern, für die Pander eine Belegschaftsgröße angibt,<br />

beherbergt das Kloster in Peking, das Kloster Yung ’ho-kung 1000<br />

Mönche und die anderen beiden 50 und 10 Mönche. Im kleineren leben<br />

chinesische Mönche im größeren dieser beiden tibetische.<br />

Tempelklösterbelegschaften Pekinger Klöster nach E.Pander 193<br />

Tempel in Peking und Umgebung Ethnos Anzahl Name<br />

4 Mongolen 1000-1500<br />

1 (mit 4 Dratsangs) Mongolen 1000 Yung 'ho-kung<br />

13 Man-tzu 300-400<br />

4 Ta-tzu, Man-tzu 150<br />

5 Mandschu 150-500<br />

1 Tibeter 50<br />

1 Chiesen 10<br />

29 2660-3610<br />

Ta-tzu= Mongelen; Man-tzu= Chinesen aus Hsining (Kansu); Fan-tzu= Tibeter, Man-chu= Mandschu<br />

Die Mehrzahl der Belegschaft von Yung ’ho-kung sind Mongolen. Für<br />

die anderen Klöster nennt Pander die Belegschaftszahlen auf Klostergruppen<br />

verteilt, weshalb sich für diese Klöster in und um Peking nur<br />

Durchschnittswerte ermitteln lassen. Im Falle der angegebenen Minimalbelegung<br />

kamen auf eines dieser Klöster im Durchschnitt 92 Mönche,<br />

im Falle der Maximalbelegung 124, die Extremwerte im Maximum<br />

von 1:1000 und im Minimum von 1: 10 wurden bereits erwähnt.<br />

Auch die Größenordnungen und Zahlen, die von den lamaistischen<br />

Klöstern in China in Erfahrung zu bringen waren, weichen im Grunde<br />

nicht von den Proportionen ab, die in Tibet ermittelt wurden.<br />

193 E.Pander, Geschichte des Lamaismus, in: Verh.Berl.Ges.f.Anthropol., Ethnol., u.Urgesch. Jhg 1889, Berlin<br />

1889, S.204


91<br />

Das Kloster als Grundherr 194<br />

Die Feudalgesellschaft Tibets läßt sich grob nach zwei Hauptschichten<br />

oder Ständen gliedern, nämlich nach dem Adelsstand (mi- bdag) und<br />

dem Stand der Hörigen (mi-ser). 195<br />

Die beiden Hauptschichten, der Adel und die Hörigen, erscheinen ihrerseits<br />

wiederum in Funktions-, Erwerbs- oder Statusabstufungen.<br />

Das folgende Schema gibt eine vorläufige Übersicht.<br />

Traditionelle tibetische Stände und Schichten<br />

Stände Strata Substrata<br />

Beamtenadel<br />

mi-bdag (Herren)<br />

Laienadel<br />

Klosteradel<br />

mi-ser (Hörige)<br />

Gutspächter<br />

Pachtheuerlinge<br />

Arbeitsheuerlinge<br />

Migranten<br />

z.B. Tagelöhner<br />

Die Adelsherrschaft im Hoheitsgebiet des Dalai Lama entsprach dem<br />

Lehenssystem, das wirtschaftlich auf einer agrarwirtschaftlichen Basis<br />

beruhte und dessen Distributionsströme zu großen Teilen naturalwirtschaftlich<br />

organisiert waren.<br />

Während der Zeit der unangefochtenen Dalai Lama- Herrschaft galt<br />

der Dalai Lama als Oberlehnsherr und als „Großer Landeigentümer“<br />

(bdag-po chen-po) in Tibet. Der Kloster (snags-<strong>pa</strong>)- und der Laien-<br />

Adel (sger-<strong>pa</strong>) agierten als seine freien Vasallen, deren Hörige (miser),<br />

das ihnen einst anvertraute und mittlerweile erblich gewordene<br />

Lehen (beneficium, feudum) bewirtschafteten. In dieses System war<br />

auch hier wie in Euro<strong>pa</strong> ein System von Amts- und Dienstlehen integriert,<br />

welches mit dem Benefizial- Lehen (chos gzhis-ka) oder Feudum<br />

(sger-gzhis-ka) verknüpft wurde und auf diesem Wege eine<br />

Durchdringung der Gesellschaft mit den Repräsentanten des Staates<br />

gewährleistete, die entweder dem Laien- oder dem Mönchsadel angehörten.<br />

194 Siehe: H.<strong>Südkamp</strong>, Verwandtschaftssystem und Feudalgesellschaft in Tibet, Rikon 1996, S.25-31<br />

195 Siehe P.Carrasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, S.79


92<br />

Das Schema der persönlichen Bindung des Adels an den Dalai Lama<br />

durch persönliche Belehnung wiederholte sich im Verhältnis des Hörigen<br />

(mancipium) zu seinem Grundherrn (tib. bdag-po) als schollengebundenes<br />

Personalverhältnis (glebae adscriptus), das den Gutshörigen<br />

als Erbpächter an den Grundbesitz band und diese Gebundenheit mit<br />

der Hofstelle, die er bewirtschaftete an seine Kinder <strong>pa</strong>trilinear weiter<br />

vererbte. Der Guts- oder Hofhörige lebte nach Hofrecht, mußte Abgaben<br />

leisten, war zu festgelegten Frondiensten verpflichtet und mußte<br />

auch persönliche Dienste am Fronhof selbst oder vertreten durch seine<br />

Kinder oder Gesinde übernehmen. Wurde das Feudum, zu dem er als<br />

Höriger gehörte, nach dem hoheitlichen Recht des Oberlehnsherrn,<br />

des Dalai Lama, einem anderen Grundherrn oder Adligen übertragen,<br />

dann wechselte auch die Bindung des Hörigen, der damit auch zum<br />

Hörigen seines neuen Herrn wurde, da seine Hörigkeit an das Land,<br />

d.h. guts- oder hofgebunden war.<br />

Hintersassenschichtung im traditionellen Tibet:<br />

tre-ba du-jung tandö<strong>pa</strong> du jung näkab<strong>pa</strong> mi-bog<br />

Hofhörige Pachtheuerlinge Landarbeiterheuerlinge Migranten<br />

Familienform plin. stem family Kleinfamilie Kleinfamilie Kleinfamilie<br />

Eheform vorw.polyandrisch vorw. monogam vorw. monogam vorw. monogam<br />

Lehensart Land, Hof Parzelle, Kotten Parzelle, Kotten unbelehnt<br />

Lehensdauer Dauerlehen Zeitlehen Zeitlehen ---<br />

Dauer d. Linie tandö<strong>pa</strong>/Lebenszeit näkab<strong>pa</strong>/einige Jahre<br />

Lehensgeber Zentralregierung Laienadel Laienadel<br />

Lehensherr rdzong-<strong>pa</strong> sger-<strong>pa</strong> sger-<strong>pa</strong> Herr:<br />

Laienadel Klosteradel Klosteradel rdzong-<strong>pa</strong><br />

sger-<strong>pa</strong> snags-<strong>pa</strong> snags-<strong>pa</strong> sger-<strong>pa</strong><br />

Klosteradel Hofhörige Hofhörige snags-<strong>pa</strong><br />

snags-<strong>pa</strong> tre-ba tre-ba<br />

Lehensnehmer agnatische Linie individuelle Fami- individuelle Familie ---<br />

Lehensträger des Hofhörigen lie des Pachtheuer- des Landarbeiterheu-<br />

lings<br />

erlings<br />

Steuer-<br />

Abgabeart<br />

lagdön+ kangdro<br />

nach Hofstelle<br />

Herrenzuschr. <strong>pa</strong>ralle Filiation <strong>pa</strong>ralle Filiation --<br />

Hörigkeitsform hofhörig, persönlich<br />

grund- und perso-<br />

grund- und perso-nalhö-<br />

frei<br />

nalhörig<br />

rig<br />

Herrenfall nein ja ja ---<br />

kangdro pro Kopf kangdro pro Kopf bhog- ma + Niederlassungsgebühr<br />

regierungshörig,<br />

grundhörig<br />

Nicht anders stand es auch mit der Hörigkeit der Hirten, die dementsprechend<br />

weidegebunden war. So waren beispielsweise “die Nomadenfamilien<br />

in Lagyab lhojang... (zwar/H.S.) die Besitzer ihrer Herden,<br />

verwalteten und verfügten über sie wie sie wollten. Aber sie<br />

durften das Lehen nicht verlassen, um mit ihrem Vieh zum Besitz eines<br />

anderen Grundherrn zu ziehen, auch wenn dieser sie willkommen<br />

geheißen hätte. Sie waren erblicherweise an Pala (Lagyab lhojang)


93<br />

und ihren eigenen Grundherrn gebunden.“ 196 Der Lehensherr des Chos<br />

gzhis Lagyap lhojang war bis 1959 der Panchen Lama, dessen Grundhörige<br />

alle Namadenfamilien dieses Gutes waren.<br />

“Lagyab lhojang war stets in Tausende genau bezeichneter Weiden<br />

verschiedener Größen, häufig klein und mit Abgrenzungen versehen,<br />

unterteilt, die in einem Registerbuch verzeichnet waren. Obwohl diese<br />

Weideflächen nicht eingezäunt waren, kannten alle Nomaden die<br />

Grenzen, die die Beamten des Panchen Lama festsetzten. Die Familien<br />

erhielten Weideflächen proportional zu der Anzahl ihrer Tiere zugeteilt,<br />

einschließlich zahlreicher Weiden, die sich zur Nutzung während<br />

verschiedener Jahreszeiten eigneten. Einzelne Nomadenfamilien<br />

durften nur die Weideflächen benutzen, die ihnen von den Beamten<br />

des Panchen Lama zugewiesen wurden, auch wenn sie mit Trockenheit<br />

oder mit unzeitgemäßem Schneefall zu kämpfen hatten.“ 197 Während<br />

die hörigen Hirten ihre Weiden von den Lehnsherren zugewiesen<br />

erhielten, stand unter den freien Nomadenstämmen Ost-Tibets dieses<br />

Privileg dem Stammeshäuptling zu. Die Hörigkeit der Hirten von Pala<br />

machte sich vor allem an ihrer Steuerpflicht bemerkbar. “Die Steuern<br />

wurden anhand der Anzahl der mar-ke 198 errechnet, die einer Familie<br />

zugewiesen waren. Die vom Panchen Lama erhobene Steuer bestand<br />

aus Butter, gefolgt von einer bunten Mischung anderer Produkte, wie<br />

z.B. Lammfellen, Ziegenleder, Salz, Backpulver, Geld, Wolle, Vieh<br />

(Yaks und Schafe), gewebten Wolltaschen, Stoffen, Filzsattelpolster<br />

und Lederriemen.“ 199 Der Maßeinheit entsprechend konnte also jeder<br />

von der Zahl der einer Familie zugeteilten mar-ke auf die Größe ihrer<br />

Herden schließen.<br />

Osttibetische Klöster waren nicht nur Grundherren von bäuerlichen<br />

Hintersassen, sondern auch politische Autoritäten für die ihnen assoziierten<br />

aber nicht hörigen Nomadenstämme, welche dieser An-Lehnung<br />

wegen Lha-sde genannt wurden. Kloster und Stämme waren<br />

nicht nur religiös und wirtschaftlich verbunden, sondern vor allem politisch.<br />

Die politische Autorität der Erzäbte ging sogar so weit, daß sie<br />

das Recht ausübten, die Häuptlinge ihrer Lha-sde zu ernennen, die sie<br />

meistens aus den Reihen ihrer eigenen Mönche auswählten.<br />

Auch die religiösen Bindungen, der Stämme zu ihren Heimatklöstern,<br />

welche nicht unter der politischen Autorität eines Klosters standen,<br />

196 M.C.Goldstein, C.M.Beall, Die Nomaden Westtibets, Nürnberg 1992, S.54<br />

197 M.C.Goldstein, C.M.Beall, Die Nomaden Westtibets, Nürnberg 1992, S.69<br />

198 Das Weidemaß marke erfaßt die Ka<strong>pa</strong>zität einer Weide entweder 13 Yaks oder 78 Schafe oder 91 Ziegen zu<br />

ernähren, und zwar gleich welchen Flächenmaßes.<br />

199 M.C.Goldstein, C.M.Beall, Die Nomaden Westtibets, Nürnberg 1992, S.70


94<br />

führten zu politischen Allianzen, die für die Klöster von wirtschaftlichem<br />

wie von politischem Vorteil waren; denn sie erweiterten deren<br />

Einflußsphären. Von Vorteil aber auch für die Stämme; denn jene<br />

konnten deren Erzäbte als politische Vermittler in intertribalen Stammesstreitigkeiten<br />

anrufen und dank solcher Vermittlung größere Kriege<br />

vermeiden.<br />

Die Hörigen Zentral-Tibets ließen sich nach der Form ihrer Bindung<br />

unterscheiden in: Hofhörige (tre- ba, wörtlich: Steuerzahler), Pachtheuerlinge<br />

(dü- jung tandö<strong>pa</strong>, wörtlich: kleiner Rauch am Ort), Landarbeiterheuerlinge<br />

(dü- jung näkab<strong>pa</strong>, wörtlich: kleiner Rauch umherziehend)<br />

und Migranten oder Gelegenheitsarbeiter (mi-bog, wörtlich:<br />

Leih- Mensch).<br />

Diese Hörigenschicht (mi- ser), welche den größten Anteil der Bevölkerung<br />

des traditionellen Tibet gestellt hatte, verteilte sich nach den<br />

alternativen Formen des tibetischen Adels, und damit auch nach den<br />

alternativen Formen des Grundbesitzes, auf die drei Lehensformen:<br />

beneficium (chos gzhis), feudum (sger gzhis) und dominium oder Domäne<br />

(gzhung gzhis).<br />

Alternativen des Lehen- Hörigkeits Verhältnisses im alten Tibet<br />

Regierung zu Lhasa<br />

bde ba gzhung<br />

District Gouverneur Grundherr Klosterherr<br />

rDzong dpon sger <strong>pa</strong> snags <strong>pa</strong><br />

Staats-Steuern- Zahler Erbuntertanen des Laienadels Hörige des Mönchsadels<br />

gzhung rgyug khral <strong>pa</strong> sger ba´i mi ser chos gzhi´i mi ser<br />

Domäne (dominium) feudum beneficium<br />

In diesem System der sozialen Schichtung fand sich auch das System<br />

der Landesregierung eingewoben, und zwar in Korrespondenz mit der<br />

Differenzierung der einzelnen Hauptstrata. So verwiesen alle Titel des<br />

Amts- oder Dienstadels auf die Funktionen oder die Ämter, welche<br />

ihre Träger jeweils in der Kommune erfüllten oder innehielten. Jedes<br />

Dorf bildete nicht nur eine Ansammlung von Höfen oder Häuslerstellen,<br />

nicht nur einen Bestandteil einer Gutsdomäne (gzhis-ka), sondern<br />

auch eine politische Einheit, nicht anders die Güter, Klöster und Domänen,<br />

die ihrerseits unter der Aufsicht einer Bezirksverwaltung und<br />

unter militärischer Kontrolle standen, die sich von oben nach unten<br />

über die Gouverneure der Provinzen, die Bezirksregenten und Distriktsbeamten,<br />

die einzelnen Feudalherrn und ihre Gutskämmerer,<br />

Aufseher, Dorfschulzen oder Siedlungsältesten fortsetzten, um auf<br />

diesem Wege der Amtsdifferenzierung und Aufteilung der Dienste,


95<br />

den Willen der Zentralregierung nach unten hin durchzusetzen und<br />

den Gehorsam der Untertanen des Landesherren und seiner Vasallen<br />

zu überwachen.<br />

Über diese vertikale Verknüpfung verkehrte aber nicht nur die Regierung<br />

mit dem von ihr regierten Volk, sondern strömten auch die wirtschaftlichen<br />

Güter und Dienste in Form von Revenuen, Abgaben und<br />

Steuern zur Herrschafts- und Staatsspitze.<br />

Politische Ordnung der traditionellen tibetischen Gesellschaft:<br />

Zentralregierung<br />

Provinzgouverneur<br />

Distriktsbeamte<br />

Feudalherr (Klerus)<br />

Feudalherr (Adel)<br />

Gutsverwalter<br />

(Mönch auf 4 Jahre gewählt)<br />

Gutsverwalter<br />

(Laie auf Lebzeit gewählt)<br />

Dorfverwaltung Aufseher Aufseher<br />

(selbst ernannt) <strong>pa</strong>trilinear <strong>pa</strong>trilinear<br />

Unterschicht (mi-ser) Unterschicht (mi-ser) Unterschicht (mi-ser)<br />

nach H. Rauber- Schweizer, Der Schmied und sein Handwerk im traditionellen Tibet, Rikon 1976, S.33<br />

Vom Begriff der Steuer Tre (Khral) nahm das Tibetische die Statusbezeichnung<br />

der Hofhörigen. Als Steuern oder Abgaben Tre waren zu<br />

leisten:kangdro, d.i. Fronarbeit, und Lagdön, d.s. Abgaben in Naturalien<br />

oder Geld. Die Fronarbeit differenzierte sich in Hand (u- lag)-,<br />

Transport (khämä)- und Reiterdienste (tau), die man entweder selbst<br />

ableisten mußte oder deren Ableistung man stellvertretend für sich<br />

mieten oder finanzieren konnte. 200<br />

Differenzierung der Steuern- und Abgabenarten sowie der Leistungspflichten in Tibet:<br />

Steueren= tre<br />

Fronarbeit= u-lag, tau, khäma<br />

Kopfgeld= bhog-ma<br />

bezogen auf genutztem Land<br />

Steuern (khral/tre)<br />

Fronarbeiter (kangdro) Naturalien- und Geldabgaben (Lagdön)<br />

unabhängig von Landnutzung<br />

Kopfgeld (bhog-ma)<br />

Niederlassungsgeld<br />

mi-bog<br />

Handdienste(u-lag) Reittierdienste (tau) Gütertransportierdienste (khäma)<br />

tre-<strong>pa</strong> stellt du-jung und mi-bog<br />

als Begleitpersonal (tre-rog)<br />

tre-<strong>pa</strong> stellt Reit- und Tragtiere<br />

200 Siehe: H.Rauber- Schweizer, Der Schmied und sein Handwerk im traditionellen Tibet, Rikon 1976, S.51 ff


96<br />

Die Migranten und Gelegenheitsarbeiter (mi-bog) mußten dagegen regelmäßig<br />

ein Kopfgeld (bhog-ma) zahlen und überall dort, wo sie sich<br />

zu gewerblichen oder Arbeitszwecken niederließen, eine Niederlassungsgebür<br />

entrichten.<br />

Mit diesen Steuern und Abgaben bestritt der tibetische Staat seinen<br />

eigenen Haushalt, die Unterhaltung seiner Ministerien, Liegenschaften,<br />

seines mobilen und immobilen Besitzes, seiner Würdenträger,<br />

Beamten und Diener.<br />

Als Naturaliensteuer wurde eingezogen an Agrarprodukten: Butter,<br />

Käse, Hammel, Häute, Lederschnüre, Wolle, Vieh, Getreide, an gewerblichen<br />

Gütern: Kleider Salz, Gold, Schießpulver, Munition, Papier,<br />

Eisen, Kisten, Zelte, Weihrauch, Brennmaterial, Bambus, Balken,<br />

Farbe usw. Dazu kammen noch die Geldabgaben.<br />

Auch die Würdenträger und Staatsbeamten, die sich von wenigen<br />

Ausnahmen abgesehen nur aus dem Adel rekrutieren, bildeten eine eigene<br />

Statushierarchie, die sich nach 7 Rängen gliederte und innerhalb<br />

dieser Ränge z.T. noch weiter differenzierte. In dieser Hierarchie fanden<br />

sich sowohl geistliche als auch weltliche Würdenträger und Beamte.<br />

Die höchsten Ämter hatten ihren Sitz in Lhasa und Shigatse.<br />

Beamte des 5. Ranges und der folgenden Ränge erfüllten ihre Aufgaben<br />

in den Provinz- und Distrikthauptstädten, in den Staatsdomänen,<br />

an den Steuergütersammelstellen oder an den strategisch wichtigen<br />

Punkten der Landesverteidigung.<br />

„Die Zweiteilung Tibets in einen weltlichen und einen geistlichen Bereich<br />

zeigt sich auch in der administrativen Organisation der Regierung.<br />

Sie wird von Geistlichen und adligen Laien gebildet, wobei jedes<br />

>Lager< seine eigenen Interessen vertritt. Voraussetzung zur Bekleidung<br />

eines Amtes ist die Absolvierung einer Schule für Regierungsdienste<br />

in Lhasa mit Abschlußprüfung, wobei Mönche und Adlige<br />

getrennte Ausbildung genießen. Auch Mönche, die eine Beamtenlaufbahn<br />

wählen, stammen aus Adelsfamilien. Nur diesen oder höchst<br />

selten erfolgreichen Vertretern der Unterschicht ist es möglich, für die<br />

notwendigen Ausbildungskosten aufzukommen... Die Beamtenschule<br />

geht auf chinesisches Vorbild zurück; auch in China wurden Prüfungen<br />

zur Auslese der Beamtenschaft durchgeführt.“ 201<br />

Das monastische System ist als klösterlicher Grundherr in bevorzugter<br />

Stellung in das soziale Gefüge der Feudalgesellschaft integriert und<br />

stellt außerdem den Regenten des Landes, was den Klosteradel innerhalb<br />

seines Standes zusätzlich politisch bevorzugt. Ein Regent klö-<br />

201 H.Rauber- Schweizer, Der Schmied und sein Handwerk im traditionellen Tibet, Rikon 1976, S.17


97<br />

sterlicher Herkunft wird die Basis seiner Macht niemals zugunsten einer<br />

Allianz mit dem Laienadel schmälern, der für die Wahrung seiner<br />

Interessen sowohl auf den klösterlichen Statuskonkurrenten als auch<br />

auf den monastischen Regenten verzichten kann. Und um diese Option<br />

des Laienadels abzuwehren, gewährte die Regierung nur den Klöstern<br />

das Bewaffnungsprivileg und damit die Teilhabe an der Exekutivgewalt<br />

in der Form von Milizen, welche von den Klöstern auch<br />

häufig zur Durchsetzung ihrer Interessen eingesetzt wurden.<br />

Seit der Dalai Lama V. mit der Hilfe Gušri Khans 1642 zum Herrscher<br />

über Tibet geworden ist und jene bis 1950 gültige Verfassung,<br />

chösi nyitrel (= Religion und Politik vereint), in Tibet eingerichtet<br />

hatte, war die politische Vormacht des tibetischen Laienadels (ab<br />

1750) weitgehend gebrochen. Der letzte große säkulare Machthaber<br />

tibetischer Provenienz in Tibet, Pholanes Sohn (1747-50), wurde in<br />

diesem Jahr von den chinesischen Ambans ermordet. Der Dalai Lama<br />

gilt seit jener Zeit als Lehnsherr oder Inhaber der Potestas über ganz<br />

Tibet. 202 Das Mönchstum gibt seitdem in Tibet den Ton an.<br />

75% des wirtschaftlich nutzbaren Landes vonTibet sind Präbende, d.h<br />

kirchliches Beneficium oder Precarium. Das Sozialsystem im Hoheitsgebiet<br />

des Dalai Lama wird zwar durch den tibetischen Begriff<br />

gzhung-sger-chos-gsum (gzhung=Regierung, sger=Laienadel, chos=<br />

Klerus, gsum=drei) als dreifältige Feudalgesellschaft ausgewiesen,<br />

202 Als Generallandbesitzer trägt er den Titel: "Großer Landeigentümer": bDag- po chen- po.


98<br />

aber die Dominanz des Klosteradels als führender politischer Kraft ist<br />

unübersehbar.<br />

Sofern man jüngeren chinesischen Quellen über Tibet trauen darf,<br />

gingen 25% des landwirtschaftlich nutzbaren Landes auf die Gutsdomänen,<br />

37% auf die Klosterdomänen und 38% auf die Staatsdomänen,<br />

d.h. 75% des nutzbaren Landes stand unter klerikaler Kontrolle.<br />

Diese Angaben decken sich weitgehend mit den Proportionen, die<br />

Carrasco nach der tibetischen Einkommensbilanz von 1917 erechnet<br />

hat: „Es scheint ganz so, daß von den drei Institutionen, welche das<br />

Land halten, die >Kirche< den größten Anteil des Landes kontrolliert,<br />

etwa 42%, dicht gefolgt von der Regierung, die 37% kontrolliert,<br />

während der Laienadel nur über 21% des Landes verfügt.“ 203 Da aber<br />

die Regierung in der Hand des führenden buddhistischen Ordens des<br />

Landes lag, wird man ihre Position nicht aus der Interessenbilanz des<br />

Klerus herauslösen können, wenngleich die klerikalen Interessen der<br />

Regierung und die klerikalen Interessen der großen Klöster selten<br />

kongruent waren. Im Verhältnis zum Laienadel stimmten sie aber stets<br />

dann überein, wenn jener, was selten genug vorkam, Anstrengungen<br />

zur politischen Autonomie unternahm.<br />

Von diesem im Besitz der drei Grundherren befindlichen Land wurde<br />

zwischen einem Viertel und der Hälfte ver<strong>pa</strong>chtet. Die Pachterträge<br />

mußten nicht nur die Subsistenz (Selbstversorgung) der Hörigen<br />

decken, sondern außerdem die Steuern für den Grundherrn und die<br />

Abgaben für die Ausrichtung der Hand- und Transportdienste hergeben<br />

sowie die Arbeit auf fremden Grundstücken (meist der Grundherrn<br />

oder ihrer Stellvertreter) bezahlen, wenn man diese Dienste<br />

nicht selber physisch leisten wollte oder konnte.<br />

Zwischen dem Adel und den Unterschichten konnte sich quasi eine<br />

mittlere Schicht der Gutspächter etablieren, die ihrerseits Heuerlinge<br />

oder Häusler unter Vertrag nahm, aber im Hinblick auf den Eigentümer<br />

ihres Pachtlandes (Laienadel oder Klostergrundherr) wiederum<br />

gezwungen war, Partei zu ergreifen. So korrespondierten also Hörigkeit<br />

und Abhängigkeit mit der Verteilung des Grundbesitzes.<br />

Die Vorherrschaft der klösterlichen Grundherrn und damit verbunden<br />

die tibetische Form der Hierokratie erklärte Max Weber mit der Disziplin<br />

und der bündischen Organisation des monastischen Systems:<br />

„Auf dem Boden der grundherrlichen Naturalwirtschaft ist die Behauptung<br />

der Autonomie des kirchlichen Herrschaftsap<strong>pa</strong>rates ausschließlich<br />

auf der Grundlage des klösterlichen Gemeinschaftslebens<br />

203 P. Carrasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, S.86


99<br />

möglich, der Organisierung also des auf grundherrlicher Basis ruhenden,<br />

dabei aber ganz oder fast >kommunistisch< lebenden Mönchtums<br />

als der Schutztruppe der Hierokratie.“ 204 Diese von Max Weber etwas<br />

übertrieben als gemeinwirtschaftlich verfaßte Schutztruppe der Hierokratie<br />

karikierte Klasse des Mönchstum entsprach der von allen Beobachtern<br />

des tibetischen Klosterwesens herausgestellten Mehrheit der<br />

ungebildeten Mönche, und innerhalb dieser Gruppe ganz speziell jener<br />

der monastischen Milizen, die den militärischen wie polizeilichen<br />

Einsatz täglich exerzierten. Da diese aber als Dienstklasse der Klöster<br />

auch deren Hoheit unterstanden, besaßen diese ein Privileg, das eigentlich<br />

dem Staat exklusiv gehörte, nämlich das Gewaltmonopol, das<br />

üblicherweise der Verfügungsgewalt der Regierung untersteht. In Tibet<br />

schwächte dieses Recht der Selbstbewaffnung der Klöster die politische<br />

Macht auch der monastisch geführten Regierung ganz entschieden<br />

und sicherte den Klöstern ihre Anteile an der Macht, die<br />

jeder monastische Regent nicht nur mit ihnen teilen, sondern gegen<br />

die er sich zuerst einmal durchsetzen mußte.<br />

Im Vergleich mit dem Laienadel verfügte also der Klosteradel über<br />

mehr und effektivere Mittel, seine Interessen gegenüber den Hörigen<br />

durchzusetzen.<br />

204 M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S.705


100<br />

III<br />

Das Kloster als wirtschaftliche Organisation<br />

Ohne organisierte Arbeitsteilung läßt sich kein Kloster betreiben. Das<br />

gilt ganz besonders für die Betätigungsfelder unter- und außerhalb des<br />

geistlichen Studiums.<br />

Die Funktionen klösterlicher Arbeitsteilung im Status der sGrogs-med:<br />

Küchendienst:<br />

Kochen<br />

Besorgen der Lebensmitel, Zutaten und der anderen Mittel<br />

Küchenaufsicht<br />

Teeausschank und Essensausgabe in den Versammlungen<br />

Küsterdienst:<br />

Tempelpflege<br />

Pflege der Altaropfer<br />

Reinigung<br />

Entgegennahme der Opfer von den Pilgern oder Frommen<br />

Tempelwächter<br />

Buchführung über die erhaltenen Güter und Geldbeträge<br />

Verkauf religiöser Güter (Amulette, gesegnete Pillen, etc.)<br />

Ritualdienst:<br />

Versorgung der Haupt-Liturgen mit den erforderlichen Mitteln<br />

Ritualvorbereitung (Kauf der nötigen Opfer, Herstellen der Ritualkuchen, etc.)<br />

Teilnahme am und Assistenz beim Ritual<br />

Arbeitsdienst und Aushilfe:<br />

innerhalb des Klosters (bei Lamas, Lehrern, begüterten Mönchen und Verwaltern)<br />

außerhalb des Klosters (in Restaurants, auf Gehöften oder bei Geschäften)<br />

Arbeit als Handwerker, Künstler, Musiker oder Fachkraft:<br />

Als Maler (thangkas, statues, wall murals, etc.) (lha bris <strong>pa</strong>)<br />

Als Bildhauer (lha bzo ba)<br />

Als Sänger oder Instrumentalist (rol dbyangs <strong>pa</strong>)<br />

Als Drucker<br />

Als Architekt oder Bauaufsicht<br />

Wirtschaftliche Tätigkeiten:<br />

Handel (am Ort und mit Haushaltungen oder Händlern außerhalb)<br />

Kreditvergabe (Geldverleih mit Zinsaufschlag)<br />

Bewachung der als Bürgschaft hinterlegten Wertgegenstände<br />

Führen des Gläubiger-Schuldner-Registers<br />

Buchführung<br />

Bewirtschaftung der Landgüter wohlhabender Lamas oder administrativer Einheiten des Klosters<br />

als Verwalter oder Aufseher.<br />

Damit die Mönche im Kloster einem organisierten Tagesablauf nachgehen<br />

konnten, in dessen zeitlicher Gliederung sie ihre Dienste,<br />

Pflichten und Übungen zu absolvieren hatten, damit sie teilnehmen<br />

konnten an Unterrichtsstunden oder Zeit fanden, zu meditieren oder


101<br />

um sich auszuruhen, mußten andere die dafür benötigten Gebäude,<br />

Güter oder Kultobjekte entweder herstellen oder instandhalten, respektive<br />

reinigen, mußten wieder andere sicher stellen, daß von den<br />

Gütern die Abgaben eintrafen oder jene Waren, die im Handel zu Geld<br />

gemacht werden konnten, mit dem dann wiederum die Auslagen zu<br />

bestreiten waren oder in Kreditgeschäften Zinsen erwirtschaftet werden<br />

konnten.<br />

Kurz: die klösterliche Organisation stellte ein System funktionaler Arbeitsteilung<br />

dar, die Integration produktiver, d.h. handwerklicher und<br />

landwirtschaftlicher, weiter betriebswirtschaftlicher, d.h. handels- und<br />

geldgeschäftlicher und schließlich administrativer Funktionen, welche<br />

den Einsatz der Immobilien, Güter und Dienste, die Bereitstellung der<br />

erforderlichen Verfahren und Kräfte mit den entsprechenden Qualifikationen<br />

steuerten und die Abläufe für die geistliche Ausbildung und<br />

die obligatorischen rituellen Dienste. Das Kloster integrierte neben<br />

seinen Funktionen als Ritual- und Lehranstalt, die Funktionen einer<br />

Dispositionszentrale landwirtschaftlicher, gewerblicher und administrativer<br />

Aufgaben, die von entsprechenden Ämtern oder Spezialisten<br />

wahrgenommen wurden, die ihrerseits an den Titeln zu erkennen waren,<br />

die man ihren Repräsentanten verliehen hatte.<br />

Ein an das Wirtschaftssystem der Laiengesellschaft ange<strong>pa</strong>ßtes System<br />

funktionaler Arbeitsteilung ermöglichte dem Kloster erst jenen<br />

Austausch von Diensten und Gütern, welcher ihm das erforderliche<br />

Einkommen verschaffte und garantierte, auf dessen Grundlage es ihm<br />

schließlich möglich war, Mönche freizustellen zum Gebet, zu rituellen<br />

Handlungen, zum geistlichen Studium und zur geistlichen Vervollkommnung.<br />

Die Einkünfte der Klöster<br />

Das Einkommen tibetischer Klöster setzte sich zusammen aus den<br />

Einkünften herrschaftlichen Landbesitzes, aus Pachterträgen und Abgaben,<br />

aus Handels- und Kreditgeschäften, aus ihrer Austattung mit<br />

Kapital- oder Geldfonds seitens wohlhabender Gönner oder Schirmherren<br />

205 , aus Zuschüssen der Regierung und aus den Schenkungen<br />

Gläubiger 206 , übertragen als Landbesitz, Güter oder Geld. 207<br />

205 R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.116<br />

206 E.Pander, Geschichte des Lamaismus, in: Verh.Berl.Ges.f.Anthropol., Ethnol., u.Urgesch. Jhg 1889, Berlin<br />

1889, S.204<br />

207 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.34;<br />

siehe auch: W.Filchner, Kumbum, Zürich 1954, S.122


102<br />

„The annual revenues collected by the two tresureres of the lamasery<br />

consist in:<br />

1) rent-grain on buildings and land belonging to the lamasery;<br />

2) interest accrued to the reserve fund of the lamasery or profit derived<br />

from the tea trade and oil belonging to the lamasery;<br />

3) other sundry and miscellaneous income, and donations made by<br />

the people.<br />

The expenditures can also be devided into three items:<br />

1) food and beverages for the lamas of the lamasery;<br />

2) items consumed during religious services, such as incense, butter<br />

lamps, etc.;<br />

3) other sundry and miscellaneous expenditures incurred in business<br />

dealings with the outside world.” 208<br />

Alle 10 Jahre war einer der Nomadenstämme, die unter der Hoheit<br />

von Labrang standen, verpflichtet, das Kloster mit allem, was zum<br />

Lebensunterhalt gehört, zu versorgen, und alle Stämme wetteiferten<br />

darum, diese Verpflichtung am besten zu erfüllen. Neben den Lebensmitteln<br />

brachten sie auch Geld, Fleisch und Öl oder Butter zum<br />

Kloster. 209<br />

Über das Kloster Tashi-Lhunpo erfahren wir von Sven Hedin: „Die<br />

Abgaben der Pilger sind eine der Haupteinnahmequellen Tashi-lunpos.<br />

Aber das Kloster besitzt auch bedeutende Landgüter und Herden,<br />

und gewisse Mönche, die die wirtschaftlichen Angelegenheiten besorgen<br />

und den Ertrag verwalten, treiben sowohl mit der Umgegend wie<br />

mit Ne<strong>pa</strong>l Handel. Der Ertrag von ganz Tsang fällt an Tashi-lunpo,<br />

das infolgedessen ziemlich reich ist.“ 210<br />

Der Grundbesitz anderer Klöster ist dagegen über ganz Tibet verteilt.<br />

Von diesen Gütern fließen ihnen in regelmäßigen Intervallen beträchtliche<br />

Revenuen zu. Das Königskloster (gling-bzhi) Kundeling<br />

(Kun-bde-gling) bezog seinen produit net aus 43 Landgütern, die verteilt<br />

waren auf 13 Distrikte der Provinzen Zentral- und Ost-Tibets.<br />

Das Kloster versicherte sich seiner Revenuen generell auf zwei Wegen,<br />

einmal durch die Übertragung der Nutznießung (bog-ma) bestimmter<br />

Güter an einzelne Familien, den bog-bdag, die deren Felder<br />

von leibeigenen Häuslern bestellen ließen, welche anstelle ihres Lohnes<br />

ein Stück Land (t’so-rten) zugewiesen bekamen, mit dem sie ihren<br />

eigenen Unterhalt bestreiten konnten.<br />

208 J.F.Rock, The Amnye Machen and Adjacent Regions, Rom 1956, p.38<br />

209 Siehe: J.F.Rock, The Amnye Machen and Adjacent Regions, Rom 1956, p.39<br />

210 S.Hedin, Transhimalaja, I, Leipzig 1922, S.322


103<br />

Der Gutspächter (bod-bdag) verpflichtete sich, dem Kloster den vereinbarten<br />

Anteil der Ernte abzuliefern und die auf den Gütern liegenden<br />

Steuern an das Finanzamt der Regierung zu entrichten.<br />

Verteilung des Grundbesitzes vom Kloster Kundeling (Kun-bde gling) (nach J.G.Karsten)<br />

CHU-SHUR 1 TSHAL-bDE in sTod-lung 13<br />

Bye-lung lho-<strong>pa</strong> 1 1 dPa'-bo in Bang 1 25<br />

lHa-yul 2 2 Zhi-ba originally belonged to mTshur-phu 2 26<br />

gNyan-<strong>pa</strong> 3 3 'On-grong 3 27<br />

Tsher-thang-<strong>pa</strong> 4 4 lHa-<strong>pa</strong> (sgang?) 4 28<br />

KHAMS lCang-gsar in Gram 5 29<br />

dPa'-shod village 1 5<br />

LHA-SA 2<br />

bDe-skyid gling-kha 1 6<br />

Kun-bde gling gling-kha 2 7<br />

sKye-yag gling-kha 3 8<br />

lTag-sgo khang-gsar pho-brang (Residenz des rTa-tshag VIII) 4 9<br />

Ngo-gzhis, Gut eines Thung (-si), namens Tshe-brtan dbang-grags 5 10<br />

'Or-stod-<strong>pa</strong> 6 11<br />

Tsha-gur/Tshag-gur/Tshag-sgur/Tshags-sgur 7 12<br />

LHO-RONG 3<br />

Yangs-<strong>pa</strong>-can 1 13<br />

NAG-CHU 4<br />

Kun-bde gling mi-ser shog: 20 households im Besitz des rTa-tshag Hutuktu 1 14<br />

sNE'U 5 Nicht lokalisierbar: 13<br />

Tshag-(s)gur 1 15 Ba-glang nub 1 30<br />

'ON 6 Ba-glang shar 2 31<br />

sKyer-po (gong) 1 16 Bya-yul 3 32<br />

sKyer-po ('og) 2 17 lCang-'khod 4 33<br />

'PHAN-PO 7 bDe-chen 5 34<br />

Glud-'gong sgang oder Klu-gong sgang 1 18 rGyal(-gsab) sgang 6 35<br />

RI-BO-CHE 8 rGyar-stod 7 36<br />

Shar-ri rdzong in dPa'-shod 1 19 Gye 8 37<br />

SA-DGA' 9 lHa-ru 9 38<br />

Grazing land in Phan-phyi lho 1 20 lKog-grong 10 39<br />

gSANG rDZONG 10 ? bKra-shis ljongs 11 40<br />

Tshang-khul in Yul-rong 1 21 sKyar-po 12 41<br />

sTAG-rTSE 11 sMon-'gro 13 42<br />

sMon-grong (-ba) 1 22 Sa-mtshams 14 43<br />

U-rgyan 2 23<br />

sTOD-LUNG 12<br />

lCang-sto 1 24<br />

43 Güter in 13 Distrikten Tibets<br />

Der kom<strong>pa</strong>rative Vorteil des Vertrages, den das Kloster in der Regel<br />

nur mit adligen Familien abschloß, lag für beide Seiten in dem zu realisierenden<br />

Gewinn. 211 Auf dem anderen Wege versicherte sich das<br />

Kloster der Revenuen seines Grundbesitzes, in dem der spyi-<strong>pa</strong> die<br />

211 Siehe: G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei,<br />

Stuttgart, Berlin, Köln Mainz 1970, S.177


Schafschur in Tugu-Gom<strong>pa</strong>, 1907, aus S.Hedin, Transhimalaja II, Leipzig 1922, S.128<br />

104<br />

Erntearbeiten der Hintersassen, die jene für ihr Kloster ableisten<br />

mußten, von einem Stellvertreter (sku-tshab) beaufsichtigen ließ, der<br />

die Ablieferung der Erträge an das Kloster organisierte und überwachte.<br />

212<br />

Das Kloster Drepung war um 1950 Herrschaft von 185 Gütern (chos<br />

gzhi-ka), 20.000 Häuslern, 16.000 Hirten und 300 Weiden. Zur Zeit<br />

des Dalai Lama V. (um 1650) wurden die damals eingeschriebenen<br />

4200 Mönche und das Kloster von der Pacht und den Abgaben seiner<br />

553 Häuslerfamilien versorgt, die in jener Zeit über 37.922 ke Getreide<br />

an das Kloster ablieferten. 213 Geht man von einer durchschnittlichen<br />

Größe der Familien von 5 Köpfen aus, dann beschränkte sich<br />

1650 die Zahl der Häusler auf rund 2800, das sind 14% des Häusleranteils<br />

der Drepung 1950 mit seinen Abgaben versorgte. 214<br />

Dagegen nimmt sich die Hintersassenschaft des Klosters Chöde<br />

(Chos-sDe) nach dem Bericht von Tenzin Choedrak (bsTan-’dzin<br />

Chos-’brag) vergleichsweise bescheiden aus. „In den dreißger Jahren<br />

war Chöde von einem Dutzend Familien abhängig, Mi-ser, relativ reichen<br />

Bürgern, und etwa 40 anderen, Düchung (…), eher armen Familien.<br />

Erstere teilten sich den anbaufähigen Boden, letzteren vertraute<br />

der Abt die geringeren Arbeiten an.“ 215<br />

212 Siehe: G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei,<br />

Stuttgart, Berlin, Köln Mainz 1970, S.177<br />

213 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.34<br />

214 Selbst wenn man eine Durchschnittsfamilienkopfzahl von 10 zugrunde legt, hätte die Häuslerzahl von 1650<br />

knapp 28% jener von 1950 ausgemacht.<br />

215 Tenzin Choedrak, Im Dienst des Dalai Lama, Frankfurt 1999, S.45


105<br />

Um 1950 Drepung war Eigentümer von 185 gzhi-kas (chos- gzhi- ka) und 300 Weiden.<br />

war Lehnsherr über 20.000 Häusler<br />

über 16.000 Hirten<br />

Um 1650 Drepung z.Zt. des 5. Dalai Lama<br />

zählte 4.200 Mönche<br />

war Herr über 553 Häuslerfamilien<br />

verfügte über 37.922 ke Getreide (und dementsprechendem Land)<br />

nach: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, Berkely, Los Angeles, London 1989, 34<br />

In anderen Provinzen halten die Klöster wiederum nur knapp ein<br />

Viertel des anbaufähigen Landes. Um 1910 bewirtschafteten die 1097<br />

Treba von Kha-gsar und Ma-zur 2128 Morgen Land, während auf<br />

die 26 Klöster dieser Region 676 Morgen Land entfiel. „Lamaseries<br />

thus held about 24 per cent of the land in those districts,“ 216 das macht<br />

2804 Morgen bewirtschaftbares Land.<br />

Klöster, speziell kleinere Filialklöster, die keine eigenen Untertanen<br />

hatten, traten immerhin noch als Pachtherren auf, wenn die Zahl der<br />

gespendeten Schafe ihres Klosters so groß war, daß die Herde ohne<br />

angestellte Hirten nicht mehr zu bewirtschaften war. „In Pala gab es<br />

beispielsweise ein kleines Kloster namens Tongling, in dem ungefähr<br />

dreißig Mönche lebten. Diese ver<strong>pa</strong>chteten die 1600 weiblichen<br />

Schafe und Ziegen, die sie über Jahre hinweg als Geschenke erhalten<br />

hatten, an die Nomaden. Das Kloster benutzte ein übliches Pachtsystem,<br />

das >keine Geburt, kein Tod< genannt wird. Das bedeutete, daß<br />

derjenige, der die 1600 Tiere in Pacht nahm, dafür jährlich ein bestimmte<br />

Menge Butter (etwa ein Kilogramm pro Tier) und Wolle an<br />

das Kloster abzuführen hatte, ungeachtet der Geburts- oder Sterblichkeitsrate<br />

dieser Tiere. Nahm die Herde zu, profitierte der Pächter, da<br />

er immer nur für die ursprünglichen 1600 Tiere zu zahlen hatte. Nahm<br />

die Herde jedoch ab, machte der Pächter einen Verlust, da er nach wie<br />

vor die Pacht für 1600 Tiere zu bezahlen hatte.“ 217<br />

Bereits in Ladakh reduzierten sich die Proportionen monastischer Verfügungsgewalt<br />

über Land und Leute. Cunningham hat Ladakhs Einwohnerzahl<br />

vor dem Dogra-Krieg auf 172.800 geschätzt, die auf<br />

24.000 Haushalte verteilt waren. Von diesen Haushalten waren 4000<br />

Klosterpächter, 18.000 Pächter der Krone, 1000 Pächter des Königs<br />

als Privatperson und weitere 1000 Pächter von Mitgliedern der königlichen<br />

Familie. 20% aller Haushalte waren Klosterpächter, während<br />

die 2210 Morgen Klosterland 12,5% des verfügbaren Ackerlandes<br />

ausmachten. 12.000 Einwohner Ladakhs waren damals Mönche, das<br />

216 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.149<br />

217 M.C.Goldstein, C.M.Beall, Die Nomaden Westtibets, Nürberg 1991, S.184


106<br />

waren 6,9% der Gesamtbevölkerung oder 13,8% des männlichen Bevölkerungsteiles.<br />

218<br />

Auch in der Mongolei war das Kloster Grundherr. „Der Dschebtsun<br />

Dam<strong>pa</strong> Chtuktu hatte 20.000 Familien zu Untertanen." 219 Diese<br />

Grundholden waren je nach dem Gebiet, in dem das Kloster stand,<br />

entweder vorwiegend Bauern oder Hirten. Die Art der Abgaben bäuerlicher<br />

Klosterpächter von Kumbum beschreibt Filchner: „Die Pächter<br />

leisten jährlich Abgaben an Getreide, Viehfutter, Butter, Käse,<br />

Wolle, Dung; sie leisten auch Frondienste und übernehmen die Gepäckbeförderung<br />

reisender Lamas.“ 220 An der Butter beispielsweise<br />

hatten die Klöster nicht nur ein Interesse als Nahrungsmittel, sondern<br />

auch als Rohstoff liturgischer Gegenstände und Mittel (Lampenöl).<br />

Butter, gepreßt zu Ballen, gehörte neben den Kornsäcken und Teeziegeln<br />

auch zu den Zahlungsmitteln der Hörigen nicht nur untereinander,<br />

sondern auch zu den Zahlungsmitteln, mit denen sie bevorzugt<br />

ihre Steuern und Abgaben entrichteten.<br />

„Außer Grund und Boden besitzen die Klöster meistens beträchtliche<br />

Viehbestände, Yak, Dso, Schafe, Ziegen, die von Hirten (abrog <strong>pa</strong>)<br />

gehütet werden. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang die<br />

kirchliche Butterproduktion. Butter (mar) dient einerseits zu Ernährungszwecken,<br />

andererseits findet sie ausgedehnte Verwendung in der<br />

Liturgie (Lampen, mar me, c’os me). In der sog. „Butterernte“-Zeit (e<br />

sdud <strong>pa</strong>) macht ein Beauftragter des spyi <strong>pa</strong> die Runde auf den Klostergütern,<br />

um die Butter einzusammeln und die Stückzahl der im<br />

Laufe des Jahres neugeborenen Tiere festzustellen. Dabei ist es im allgemeinen<br />

üblich, dem Agenten des spyi <strong>pa</strong> für jeden Dso oder Yak<br />

fünf Maß (k’al) Butter einzuhändigen.“ 221 Bei den Schaf- und Ziegenherden<br />

mußten für jedes lebende Tier drei Maß und für jedes tote ein<br />

Maß Butter ausgezahlt werden.<br />

„Eine weitere Einnahmequelle der Klöster ist der Handel (ts’o),<br />

hauptsächlich Kauf und Verkauf von Waren aus China und Indien,<br />

abgesehen von Tauschgeschäften mit den Hirten (abrog <strong>pa</strong>). Letzteres<br />

System führt den Namen „Kaufe im Sommer, verkaufe im Winter<br />

218 Siehe: P.Carasaco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.160, p.171, p.175; Grimshaw konnte dieses<br />

System der Pachtabhängigkeit der Bauern vom Kloster in Ladakh noch in den 70ger Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

beobachten. Siehe: A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.20<br />

219 R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.117<br />

220 W.Filchner, Kumbum, Zürich 1954, S.122<br />

221 Siehe: G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei,<br />

Stuttgart, Berlin, Köln Mainz 1970, S.177-8 Aufschnaiter beschreibt die Buttersteuer, die an das Kloster Tashi<br />

Lhünpo abzuliefern war, wie folgt: "Die Steuerleistung an den Labrang (Tashi Lhünpo) betrug zwei Nyaga (240<br />

Gramm) Butter pro Yak, dazu Wolle, Käse und in Ziegenmägen abgefülltes Blut. Ein Nyaga Butter hatte hier<br />

(östlich von Thang<strong>pa</strong>) drei Sang in Dechen zehn Sang Wert." P.Aufschnaiter, in: M.Brauen, Hrsg., Peter<br />

Aufschaiter, sein Leben in Tibet, Berwand 1988, S.140


107<br />

(oder Herbst)“; angesichts des dringenden sommerlichen Bedarfs der<br />

Hirten an Gerste, Weizen und anderen Erzeugnissen schießen ihnen<br />

die spyi <strong>pa</strong> inzwischen vereinbarungsgemäß alles Nötige vor. Wenn<br />

dann im Herbst oder Winter die abrog <strong>pa</strong> von ihrenBergen heruntersteigen,<br />

um auf den Märkten Handel zu treiben, müssen sie zunächst<br />

den Gegenwert der im Sommer bevorschußten Vorräte in Butter, Wolle,<br />

Fellen usw. dem spyi <strong>pa</strong> zurückerstatten. Dies bewirkt, daß in den<br />

größeren Städten, vor allem in Lhasa, die Warenlager der spyi <strong>pa</strong> (spyi<br />

k’an) reicher beliefert sind als die übrigen Läden.“ 222<br />

Die Magazine der Klöster füllten sich aber nicht nur mit den Erlösen<br />

aus den Leihgeschäften mit den Hirten, sondern auch dank der eigenen<br />

Handelsexpeditionen, wie Bleichsteiner zu berichten weiß: „Die<br />

großen Klöster schicken ganze Abteilungen von Mönchen unter Führung<br />

eines höheren Geistlichen auf monatelange Streifzüge durch das<br />

Land, von wo sie mit Hunderten von beladenen Lasttieren zurückkehren."<br />

223 Klöster waren auch engagiert im Borax-, Salz- oder Wollhandel.<br />

„The occu<strong>pa</strong>nts of monastic land must provide without charge<br />

sheep, cattle, and ponies to carry borax , salt, or wool through the territory,<br />

if the monastery authorities trade as they often do in such merchandize.“<br />

224 Bell verwies ganz allgemein auf die Handelsaktivitäten<br />

der Klöster: “Large monasteries trade widely, and are able to do so<br />

because each has its administrative de<strong>pa</strong>rtment.” 225<br />

Auch im Kreditgeschäft sind die Klosterkämmerer engagiert. 226 Das<br />

Leihgeschäft tibetischer Klöster erinnert Bleichsteiner an die Gebräuche<br />

altbabylonischer Heiligtümer. 227 Beim Kredit an Privatleute wird<br />

der Zins nach der Regel „aus vier mach fünf“ berechnet, d.h. der Zins<br />

kostet ein Viertel des ausgeliehenen Betrages. Ähnlich hoch lag der<br />

Zins der klösterlichen Kreditgeber in der Mongolei. "Das Rentamt des<br />

genannten Chutuktu 228 nahm für Darlehen 10-30% im Jahr." 229 Die<br />

Handelsexkursionen der Mönche von Amdo konnten nach Filchners<br />

Angaben ihren Einsatz verdrei- bis verfünffachen. „Für Waren von<br />

1000 Taels (etwa 3000 Mark) bringt der Lama solche im Werte von<br />

3000 bis 5000 Taels zurück.“ 230<br />

222 Siehe: G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei,<br />

Stuttgart, Berlin, Köln Mainz 1970, S.178<br />

223 R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.117<br />

224 G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.100<br />

225 Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.125; siehe auch: A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille,<br />

Freiburg, Basel, Wien 1994, S.23-4<br />

226 Siehe: F.Grenard,Tibet, Delhi 1974, p.335<br />

227 R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.117<br />

228 gemeint ist der Jetsun Dam<strong>pa</strong> Hutuktu<br />

229 R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.117<br />

230 W.Filchner, Das Kloster Kumbum in Tibet, Berlin 1906, S.11


108<br />

Der Unterhalt der Mönche der drei Metropolitanklöster in der Umgebung<br />

von Lhasa (dDan-sa gsum) wurde aber nicht von den Pachterträgen<br />

und den Abgabe- wie Krediteinkünften bestritten, d.h. also nicht<br />

von den selbst erwirtschafteten Einkünften des Klosters, sondern im<br />

Ausnahmefall von den Zinserträgen der gestifteten Fonds oder von<br />

den Spenden. „Let it then be understood that in general the dwellers<br />

on a monastery are not clothed and fed from monastic funds but have<br />

to support themselves by their own earnings or from any other private<br />

source.” 231<br />

„Jedes Kloster repräsentiert eine in sich abgeschlossenen Wirtschaftseinheit<br />

(dgon gžu). Alle durch Erbschaft oder wie immer in seinen<br />

Besitz übergegangenen Güter gehören voll und ganz der in ihm wohnenden<br />

Mönchsgemeinschaft, auch Schenkungen, die zugunsten des<br />

Gesamtvermögens eingezogen werden, abgesehen von Sondergaben<br />

an die einzelnen Mönche aus Anlaß besonderer ritueller Leistungen<br />

(sku agyed). Von den Großklöstern hängen kleinere Tochterklöster der<br />

gleiche Sekte ab (dgon lag), die fast stets über Eigenvermögen verfügen,<br />

das ihren Bestand ermöglicht. Ihre Insassen sind verpflichtet eine<br />

gewisse Ausbildungszeit im Mutterkloster zu verbringen.“ 232<br />

Die Beziehungen der Metropolitan- und Provinzialhäuser zu ihren Filialen<br />

und Subfilialen lassen sich nicht allein auf die hier von Tucci<br />

erwähnten Ausbildungsbeihilfen reduzieren. Wie wir bereits oben von<br />

Thubten Dschigme Norbu gehört haben, tauschen sie auch Güter,<br />

Geld und Dienste aus, d.h. sie ergänzen sich auch wirtschaftlich.<br />

Endlich kontrollierten die Klöster Handel und Wirtschaft ihres Einflußbereichs<br />

durch die Ausgabe eigener Geldnoten (Anrechtsscheine<br />

auf Teeballen, die als Zahlungsmittel akzeptiert wurden) und nahmen<br />

so Einfluß über die Kontrolle der umlaufenden Geldmenge und deren<br />

Umlaufgeschwindigkeit auf den Warenumschlag und den Preis der<br />

Waren.<br />

„Die Macht einiger Klöster Osttibets war so groß, daß sie in der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts eigene Währungen in Umlauf brachten. So<br />

druckten beispielsweise Lithang, Dartsemdo, Labrang oder Dargye<br />

mittels Holzdruckstöcken ihr eigenes Papiergeld. Die Scheine wurden<br />

anfangs an diejenigen Mönche abgegeben, welche die religiöse Disputation<br />

leiteten. Sie berechtigten zum Bezug von Teeziegeln höchster<br />

Qualität aus den Lagern des Klosters. Da Teeziegel in ganz Tibet auch<br />

als Zahlungsmittel dienten, fiel es den Mönchen leicht, mit ihren Be-<br />

231 G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.100<br />

232 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.179


109<br />

zugsscheinen andere Güter zu erwerben. Mit der Zeit bezahlten Klöster<br />

auch Außenstehende mit solchen produktbezogenen Papiernoten,<br />

so daß sie sich zur Lokalwährung entwickelten.“ 233<br />

233 Ch.Baumer, Th.Weber, Osttibet, Graz 2000, S.77


110<br />

Der Unterhalt oder die Einkünfte der Mönche<br />

Die Mönche, die sich weniger intensiv dem religiösen Leben widmeten<br />

und kaum studierten, erhielten zu ihrem Unterhalt nur einen geringen<br />

Betrag an Getreide und auch der Zuschuß eifriger Schüler war für<br />

deren Lebensunterhalt kaum ausreichend, 234 weshalb die Mönche das<br />

Einkommen für ihren Lebensunterhalt zusätzlich aus anderen Quellen<br />

zu ergänzen suchten. „The princi<strong>pa</strong>l means of his being able to subsist,<br />

if the man be an ordinary member of the fraternity, is the produce<br />

which his family at home transmit him from a field which they set<br />

a<strong>pa</strong>rt and call lama-i-zhing >the lama’s field


111<br />

che Tee, Kuchen oder Tsam<strong>pa</strong>, Stärkungen, die entweder von Privatpersonen<br />

gespendet wurden oder finanziert wurden aus den Revenuen<br />

oder dem Zinsgewinn des Klosters, das speziell zu solchen Anlässen<br />

Kredite vergab, mit deren Zinsen dann die Mahlzeiten während des<br />

Konvents oder Ritualdienstes finanziert wurden. „Jeder Mönch“ (im<br />

Kloster Tashi-Lhunpo/H.S.) „erhält täglich drei Schalen Tsamba und<br />

nimmt seine Mahlzeiten in seiner Zelle ein, wohin ihm auch dreimal<br />

am Tage Tee gebracht wird. Doch wird ihm auch während des Gottesdienstes<br />

Tee gereicht, in den Tempelsälen, in den Versammlungssälen<br />

und auf dem großen Hofe.“ 242<br />

„It may be said that one year’s provision supplied by the lamasery for<br />

each lama is sufficient for ten month. This provision consists in the<br />

main in the providing of tea, morning and evening, by the lamasery<br />

itself or by each of the colleges throughout the year for the lamas. It<br />

provides further two bushels of barley annually for each lama, distributes<br />

wheaten cakes several times a year.” 243<br />

Zusätzlich zu den Mahlzeiten während des Konvents und des Ritualdienstes<br />

erhielten alle Mönche auch noch einen Abschlag von allen<br />

monetären Schenkungen der Gönner und Schirmherren einschließlich<br />

der Fonds, mit welchen dieser Personenkreis das Kloster ausgestattet<br />

hatte, den Gye (’Gyed).<br />

Ein Mönch, der an allen, regelmäßig abgehaltenen Zusammenkünften<br />

und Diensten seines Klosters teilnahm, sah sich, wenn er bescheiden<br />

und bedürfnislos war, durchaus in der Lage, seinen Lebensunterhalt<br />

mit den dabei verteilten Zuwendungen zu bestreiten. 244<br />

Die Mönche, die am Schulbetrieb nicht teilnahmen und auch nicht an<br />

allen rituellen Versammlungen teilnehmen konnten, mußten sich entweder<br />

als Diener, Gehilfen oder Sekretäre bei inkarnierten Lamas, bei<br />

wohlhabenden Mönchen oder bei den Shagtsang-Familien verdingen<br />

oder anderen Beschäftigungen nachgehen. „If he be a full gelong who<br />

has been ordained at Tashilhünpo or Lhasa, he can earn considerable<br />

sums by attending at persons houses for marriages or in cases of sickness,<br />

and for the casting of horoscopes at birth and on other occasions.“<br />

245 Hedin bestätigt Sandbergs Hinweis auf die Einkommensergänzungen<br />

der Mönche. “Eine andere Einkommensquelle ist der Verkauf<br />

von Amuletten, Talismanen und Reliquien, Götterbildern aus<br />

242 S.Hedin, Transhimalaja, I, Leipzig 1922, S.323<br />

243 J.F.Rock, The Amnye Machen and Adjacent Regions, Rom 1956, p.38-9<br />

244 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.35<br />

245 G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.100-101; siehe auch: Thubten Jigme Norbu u. C.M.<br />

Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.53 u.68


112<br />

Metall und Terrakotta, religiösen Malereien (Tankas), Räucherspänen<br />

und dergleichen. Auch für kleine unbedeutende, beinahe wertlose<br />

Tongötter oder Papierstreifen mit symbolischen Figuren, die die Pilger<br />

als Talismane um den Hals tragen, werden die Priester recht gut bezahlt,<br />

wenn der Tashi-Lama diese Dinge gebührlicherweise gesegnet<br />

hat.“ 246<br />

Ein Teil der Mönche lebte von den Zuwendungen der Laien, für die<br />

sie aus verschiedenen Anlässen Rituale durchführten, ein anderer Teil<br />

von ihnen war beschäftigt mit Handwerk und Handel, aber auch mit<br />

landwirtschaftlicher Arbeit. Sie zogen die Pacht und die Abgaben ein,<br />

sammelten Kollekten, arbeiteten als Schneider, Schnitzer, Bildhauer,<br />

Drucker, Maler oder Baumeister, oder sie beschäftigen sich mit Astrologie.<br />

Bleichsteiner faßt die Nebenwerwerbsmöglichkeiten der Mönche<br />

zusammen: "Anfertigen von Kultbildern, Ausführung von Zeremonien<br />

für die Bevölkerung, Wahrsagerei, Astrologie, Verkauf von<br />

Amuletten, bieten gute Verdienstmöglichkeit." 247 Huc ergänzt: „Wieder<br />

andere sind Schneider, Färber, Schuster, Hutmacher und dergleichen<br />

mehr.“ 248 Zu diesen Einkommensoptionen gehörten auch persönliche<br />

Kreditgeschäfte. „Individual gelongs are frequently moneylenders<br />

to both householders and their brother monks, charging large<br />

interest.“ 249 Den Anteil der Mönche, die Handel trieben, bezifferte Sarat<br />

Chandra Das mit einem Fünftel der Belegschaft. 250<br />

Die Einkommensquellen der Mönche lassen sich grob nach drei Kategorien<br />

unterscheiden: 1) nach den regelmäßigen Zuwendungen des<br />

Klosters, 2) nach zusätzlichen Einkommen, die keinem Mönch verwehrt<br />

sind, wie der Bettelgang, der Verkauf selbstgefertigter handwerklicher<br />

Erzeugnisse oder die von Laien bezahlten Ritualdienste<br />

und 3) nach Einkommen, die familiäres Vermögen und Zugriffsrechte<br />

darauf voraussetzen, wie die Erlöse aus den Erträgen des sog. „Lamafeldes“,<br />

wie die Erlöse aus erblichem Landbesitz oder anderen erblichen<br />

Einkommen. Die dritte Einkommenskategorie stand also nur<br />

Söhnen von Gutspächtern oder Adligen zur Verfügung und eröffnete<br />

jenen auch die Chance, weniger begüterte Mönche anzustellen, für<br />

sich zu arbeiten und damit Zeit für andere Zwecke zu erkaufen. Huc<br />

246 S.Hedin, Transhimalaja, I, Leipzig 1922, S.322<br />

247 R.Bleichsteiner, Die gelbe Kirche, Wien 1937, S.117; Grenard ergänzt die Erwerbsquellen: „he sells little<br />

statues, praying wheels, books, lucky tinkets, rosaries, indulgence in pills, prayers, formulars, charms and<br />

amulets against all possible and impossible misfortunes, remedies, incantations ans horoscopes.“ F.Grenard,<br />

Tibet, Delhi 1974, p.334<br />

248 E.R.Huc, Reise durch die Mongolei nach Tibet und China, 1844-1846, Frankfurt 1986, S.191; Siehe auch:<br />

A.Tafel, Meine Tibetreise, I, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.212<br />

249 G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.100<br />

250 Sarat Chandra Das, The Monasterie of Tibet, Journal of the Asiatic Society of Bengal, 1905, p.106


113<br />

verweist auf die vom Erwerb des Lebensunterhalts abhängige Stratifikation<br />

der Mönche nach ihrem Einkommen: „Man findet bei ihnen<br />

vielmehr alle Abstufungen zwischen Bettelarmut und großem Reichtum.<br />

In Kumbum haben wir gesehen, daß arme, in Lumpen gehüllte<br />

Lamas an den Türen ihrer wohlhabenden Kollegen um ein wenig Gerstenmehl<br />

bettelten.“ 251<br />

Diese Einkommensdifferenzen der Mönche leisteten jener von Huc,<br />

Kawaguchi (siehe unten) und von Max Weber als plutokratisch beschriebener<br />

Gliederung der Klöster Vorschub. „Es ist selbstverständlich,<br />

aber anscheinend in den Lamaklöstern besonders stark ausgebildet,<br />

daß der Tatsache nach eine stark plutokratische Gliederung der<br />

Lama's besteht: die mittellosen Mönche arbeiten für die besitzenden<br />

und bedienen sie, im übrigen pflegen sie Korbflechterei und ähnliche<br />

Gewerbe, sammeln Pferdemist zur Düngung 252 und treiben Handel.“<br />

253<br />

Diese Einschätzung wird von Stein ausdrücklich bestätigt: "Private<br />

property is allowed there and can be increased by private trade or private<br />

fees for the performance of rites. Rich monks own property and<br />

have poor monks for servants," 254 was jener von Stein selbst beobachteten<br />

Reproduktion der sozialen Stratifikation der Gesamtgesellschaft<br />

entspricht. D.h. die Statusrangfolge der Mönche im Kloster spiegelt in<br />

dieser Perspektive jene soziale Standesgliederung der tibetischen Gesellschaft<br />

und weniger eine Statusfolge der individuellen intellektuellen<br />

Begabung der Klosterbelegschaft oder eine Rangordnung der Erleuchtung<br />

oder Weisheit (Meritokratie).<br />

Andererseits fördert das niedrige Grundeinkommen, das allen Klosterinsassen<br />

zusteht, über die Suche nach weiteren Einkommensquellen<br />

die Ausbildung vorhandener Begabungen zu Qualifikationen, deren<br />

Werke oder Güter im Kloster wie außerhalb nachgefragt werden.<br />

Und mit der Beschäftigung von Handwerkern, Malern, Bildhauern u.ä.<br />

Qualifikationen im Rahmen von Instandhaltungs- oder Ausbaumaßnahmen,<br />

die in den Klöstern ja regelmäßig anfallen, sicherten die Klöster<br />

den Novizen oder Mönchen, die sich auf diesen Gebieten qualifiziert<br />

hatten, nicht nur eine relativ sichere Einkommensquelle, sondern<br />

hielten auch das System der Arbeitsteilung aufrecht, indem sie auch<br />

die Ausbildung dieser eher profanen Qualifikationen organisierten.<br />

251 E.R.Huc, Reise durch die Mongolei nach Tibet und China, 1844-1846, Frankfurt 1986, S.188<br />

252 „Die Exkremente von Tieren- Pferden, Yaks und Schafen- dienten als Brennstoff und als Dünger; die<br />

Novizen mußten sie sammeln und auf bestelltem Land ausbreiten.“ Tenzin Choedrak, Im Dienst des Dalai Lama,<br />

Frankfurt 1999, S.49<br />

253 M.Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, B2,Tübingen 1966, S.314<br />

254 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140


114<br />

Das Bild über die Einkünfte oder den Unterhalt der Mönche, das wir<br />

nach den Schilderungen der hier zitierten Beobachter skizziert haben,<br />

wird auch von einer neueren Untersuchung, die sich speziell mit diesem<br />

Thema beschäftigt hat, bestätigt.<br />

Das im 16.Jh. von Kun-dga’grags-<strong>pa</strong> gegründete Filialkloster sKyilung<br />

(’Bri-gung-<strong>pa</strong>) im Dorf sKyi-lung (Ladakh), 15 km westlich von<br />

Leh, beherbergte 1980, als Goldstein und Tsarong dort ihre Untersuchungen<br />

anstellten, 255 34 Mönche.<br />

Der Orden wies dem Kloster von seinem Landbesitz Ackerflächen zu,<br />

die auf die Mönche als deren phog zhing aufgeteilt wurden. Da die<br />

Mönche selbst keinen Landbau betrieben, ver<strong>pa</strong>chteten sie das ihnen<br />

zum Nießbrauch übergebene Land entweder an Verwandte oder an<br />

andere Pächter aus den umliegenden Dörfern. Die Pachterlöse aus ihren<br />

Ackerflächen variierten für jeden einzelnen Mönch zwischen 300<br />

und 800 Rupien jährlich. 256<br />

Eine weiteres Einkommen bezogen die Mönche von Kyilung aus ihren<br />

rituellen Diensten in den Dörfern und bäuerlichen Einzelhaushalten.<br />

Dafür erhielten sie Nahrungsmittel und Geld. Für ein halbstündiges<br />

Dorfritual, das shang genannt wird, erhielten sie 10 Rupien. In Kyilung<br />

verdienten die Mönche im Durchschnitt 500 Rupien allein mit<br />

ihren rituellen Diensten. 257<br />

Die dritte Einkommensquelle der Kyilung-Mönche waren Spenden<br />

und Erbschaften an das Kloster, die allesamt zu gleichen Teilen auf<br />

die 34 Mönche aufgeteilt wurden. In den Jahren zwischen 1970 und<br />

1980 erhielt jeder Mönch aus dieser Quelle zwischen 500 und 1000<br />

Rupien jährlich. 258<br />

Das Einkommen der Mönche von Kyilung variierte also einmal mit<br />

den Erträgen ihrer phog zhing, zum anderen mit dem Fleiß, den sie für<br />

das Abhalten der Dorfrituale aufbrachten und zum dritten mit der<br />

Spenden- und Vererbungsbereitschaft der Laien, in der Mehrzahl der<br />

Laien aus der Umgebung des Klosters.<br />

Überschlägt man die Angaben Goldsteins und Tsarongs über die<br />

durchschnittlichen Einkommen der Mönche von Kyilung, dann<br />

schwankten diese zwischen 1300 und 2300 Rupien pro Jahr. Wenn<br />

255 Siehe: M.C.Goldstein/ P.Tsarong, Tibetan Buddhist Monasticism, Social, Psycological and Cultural Implications,<br />

The Tibet Journal, 10/1, 1985<br />

256 M.C.Goldstein/ P.Tsarong, Tibetan Buddhist Monasticism, Social, Psycological and Cultural Implications,<br />

The Tibet Journal, 10/1, 1985, p. 22<br />

257 M.C.Goldstein/ P.Tsarong, Tibetan Buddhist Monasticism, Social, Psycological and Cultural Implications,<br />

The Tibet Journal, 10/1, 1985, p. 22-3<br />

258 M.C.Goldstein/ P.Tsarong, Tibetan Buddhist Monasticism, Social, Psycological and Cultural Implications,<br />

The Tibet Journal, 10/1, 1985, p. 23


115<br />

man bedenkt, daß man in Kyilung mit einem Einkommen von 1000<br />

Rupien im Jahr gut versorgt war, dann zeigen diese Angaben im Unterschied<br />

zu den Angaben der älteren Beobachter nicht nur, daß auch<br />

die Mönche des Klosters Kyilung wirtschaftlich recht gut gestellt waren,<br />

sondern auch, daß jeder einzelne von ihnen die Chance hatte, seinen<br />

Wohlstand zu mehren, ja potentiell sogar Kapital anzusammeln,<br />

und zwar je nachdem, wie er mit dem Einkommensüberschuß, der<br />

jeweils für einen Mönch zwischen 300 und 1300 Rupien im Jahr lag,<br />

umging.<br />

Im Unterschied zu den Laien setzten aber die Mönche von Kyilung<br />

ihre Einkommensüberschüsse nicht zur persönlichen Bereicherung<br />

ein, sondern unterstützten damit bedürftige Angehörige oder sie finanzierten<br />

Klosterrituale, Klosterfeste oder klösterliche Anschaffungen<br />

(Wandbilder, Tangkas etc.), ein Verhalten, das in den älteren Berichten<br />

ebenfalls nicht zur Sprache kam.


116<br />

IV<br />

Soziale Statusordnung im monastischen System<br />

Die Verwaltungshierarchie des Klosters<br />

Würden, Ämter und Gremien repräsentieren und vertreten das Kloster<br />

und seine Körperschaften nach außen wie nach innen durch Handlungsvollmachten<br />

und Kompetenzen, welchen ihnen zugeschrieben<br />

werden und im Idealfall von<br />

jedem voll ordinierten Mönch<br />

erworben werden können,<br />

wenn er über die dafür erforderliche<br />

Qualifikation verfügt.<br />

Khanpo Sharon, Abt von Kumbum, aufgenommen 1925<br />

von J.F.Rock, aus:M.Aris, Lamas, Princes, and Brigands,<br />

New York 1992, p.123<br />

<strong>Studien</strong>fleiß, Frömmigkeit<br />

und Tugend heißen die Wege,<br />

über welche man Ämter und<br />

Titel oder den Zugang zu<br />

Gremien durch eigene Anstrengung<br />

erreichen kann, die<br />

Gnadenwahl der Inkarnation<br />

ließe sich buddhologisch<br />

ebenfalls als Ergebnis individuellen<br />

Strebens, und zwar als<br />

eine bestimmte Stufe seiner<br />

Vervollkommnung, begreifen<br />

(Meritokratie), kann aber in<br />

einer soziologischen Perspektive<br />

trotzdem nicht jener Option zugeschlagen werden, die sich ihre<br />

Qualifikation auf dem Wege der Ausbildung und Disziplinierung des<br />

Verhaltens erarbeiten muß, weshalb sie hier auch als eine zweite und<br />

für das tibetische Klosterwesen sehr bedeutsame Option angesehen<br />

werden muß, zumal sie außerhalb der Kompetenz des Wünschens und<br />

Wollens der meisten Personen liegt, die nicht als Tulku erkannt wurden.<br />

Würden, Ämter und die Mitgliedschaft in körperschaftlichen Gremien<br />

sind in tibetischen Klöstern also auf zwei Wegen erreichbar, einmal


117<br />

auf dem Weg der regulären klösterlichen Karriere und in dem anderen<br />

Falle auf dem Wege der Inkarnation oder Fortsetzung einer Tulku-Linie.<br />

Der Abt (mKhan-po)<br />

Der höchste Würdenträger eines Kollegs ist der Khenpo (mKhan-po),<br />

der Abt. „Jeder Abt ist gleichzeitig der politische und geistliche Regent<br />

seines Klosters.“ 259 Seine Amtszeit in den Metropolitanklöstern<br />

dauert in der Regel 6 Jahre und kann auf weitere 6 Jahre verlängert<br />

werden. Äbte der großen dGe-lugs-<strong>pa</strong>-Klöster werden vom Dalai Lama<br />

oder dem amtierenden Regenten ernannt, die aus der Vorschlagsliste<br />

des Dratsangs (Kollegs), die etwa sieben Kandidaten benennt,<br />

von denen jeder für sich ein hochrangiger Mönch ist, dann einen auswählen.<br />

Jeder dieser vorgschlagenen Kandidaten hat den höchsten<br />

akademischen Grad erworben, den man in einem Kolleg erwerben<br />

kann, den Grad des Geshe Lharam<strong>pa</strong> (dGe-bshes Lha-rams-<strong>pa</strong>). 260<br />

Die Uchö (dBu-chos)<br />

Im Rang unter dem Abt wirken der<br />

Liturg oder Zermonienmeister, der<br />

Umdze (dbU-mdzad), die Disziplinare<br />

oder die Mönchspolizei, die Gekö<br />

(dGe-bskos), und der <strong>Studien</strong>prefekt,<br />

der Lama Shunglen<strong>pa</strong> (bLa-ma gZhu<br />

len-<strong>pa</strong>), als Uchö (dbU-chos) d.h. als<br />

„religiöse Häupter“.<br />

Die Kämmerer (Phyag-sbug)<br />

Eine bedeutende Stellung in der Klosterhierarchie<br />

nehmen auch die Kämmerer<br />

der Kollegien (Dratsang) und<br />

Umdze des Klosters Yongning, Kham, aufgenommen Wohnquartiere (Khamtsen) ein, die<br />

1928 von J.F.Rock, aus M.Aris, Lams, Princes, and<br />

Brigands, New York 1992, p.88<br />

Tshabu (Phyag-sbug), Für das Dratsang<br />

Loseling waren 1951 acht Kämmerer<br />

tätig, der Klostergutsverwalter, der Phungtsö (sBug-mdzod), die<br />

259 Thubten Jigme Nordbu u. C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg , Basel, Wien 2000, S.107; Norbu<br />

erläutert später auf S.241, daß er hier von einem „halbselbständigen Kloster“ spricht, d.h. das Amt des Abtes in<br />

dem Kontext klosterinterner Körperschaften wie den Labrang oder den Dratsang begreift.<br />

260 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.31


118<br />

Kämmerer des Phugang Khamtsen, der Phuje (Phu-phyag), des Gongo<br />

Khamtsen, der Gongje (Ko-phyag), des Tsha Khamtsen, der Tshaje<br />

(Tsha-phyag), der Labrang-Kämmerer, der Labrang Chantsö (bLabra<br />

phyag-mdzod) und weitere vier Gutsverwalter oder Phungtsö, die<br />

für die Liegenschaften außerhalb des umliegenden Klosterlandes<br />

zuständig waren.<br />

Ausschnitt aus der Drepung- Hierarchie:<br />

Khenpo (7 Jahresturnus )<br />

uchö→ Umdze Gekö Lama Shunglenba<br />

(relig. Häupter) (Liturg) (Provost) (<strong>Studien</strong>präfekt)<br />

tshigen→ Phugang Gegen Gongo Gegen Tsha Gegen<br />

(Präses d. Viertel)<br />

tshabu→ Phungtsö Labrang Chantsö Phuje Gongje Tshaje<br />

(Kämmerer) (Kämmerer v.Ph.) (Kämmerer v. G.) (Kämmerer v. Tsh)<br />

Phungtsö= Klostergutsverwalter; Labrang Chantsö= Labrang Kämmerer;<br />

Diese Kämmerer verwalteten die Immobilien, Güter, Einkünfte, das<br />

Kapital und die Kredite des Kollegs, des Labrang oder des Khamtsen<br />

selbständig und unabhängig und waren nur der Körperschaft rechen-<br />

Klosterverwalter 1912 aufgenommen v. A.David-Neel, aus N.N., Tibet, Heiliger Raum, Frankfurt 1990, S.69<br />

schaftspflichtig, die sie angestellt hatte. Die Kooperation der Kämmerer<br />

war allerdings immer dann gefragt, wenn die Kollegien des Klosters<br />

kooperierten oder gemeinsame Interessen durchzusetzen hatten.<br />

Dann mußten sie konfererieren und vortragen, was ihre jeweilige Körperschaft<br />

zum Gelingen des Unternehmens beitragen könnte. Der Ein-


119<br />

fluß der Shagtsang-Residenz machte sich speziell in solchen Konferenzen<br />

deutlich bemerkbar und unterstrich einmal mehr den Status<br />

seiner Residenten. 261<br />

Die Teilnehmerzahl der Kolleg-Versammlungen variierte je nach dem<br />

Grund, der sie erforderlich machte, von einigen wenigen Würdenträgern<br />

bis zur Vollversammlung der gesamten Kollegbelegschaft. Die<br />

meisten Treffen fanden unter Gremien stand, die sich zusammensetzten<br />

aus dem amtierenden Abt, den Ex-Äbten, den Uchö (dbU-chos)<br />

und den jeweils erforderlichen Kämmerern der beteiligten Körperschaften,<br />

d.h., meistens einzelner Khamtsen. Bei wichtigen Verhandlungen<br />

wurden die Khamtsen-Kämmerer von den Amtsträgern und<br />

Vertretern ihrer Khamtsen, den Tshigen (Spyi-rgan) und Gegen (dGergan)<br />

ausdrücklich instruiert, die Interessen des Khamtsen im Kolleg<br />

nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Khamtsen-Würdenträger operierten<br />

in ihrer Körperschaft ganz ähnlich wie die Würdenträger des<br />

Kollegs in ihrer.<br />

261 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.32


120<br />

Das Kloster als übergeordnete Körperschaft<br />

Nicht nur die Khamtsen und Dratsang verfügen über eigene Liegenschaften,<br />

Güter, Privilegien und Rechte, sondern auch das Kloster, das<br />

sie alle inetgriert.<br />

Tshogchen Shenggo (Tsogs-chen Zhal-ngo)<br />

Alle Vertreter der untergeordneten Körperschaften, egal welchen<br />

Rang sie bekleiden, müssen sich der Disziplin unterwerfen, welche die<br />

Tshogcen Shenggo (Tsogs-chen Zhal-ngo), die Disziplinabeamten des<br />

Tshogcen (Tsogs-chen), des Großen Gebetshauses, überwachen. Ihr<br />

Wort, ist im Kloster das Gesetz. Das betrifft vor allem die moralische<br />

und rituelle Disziplin. Auf diesen Würdenträger trifft der Grundsatz<br />

zu: abbas est regula, der in Euro<strong>pa</strong>s Klöstern bis zum 9.Jh. herrschte.<br />

Diese Beamten werden für ein Jahr im Rotationsverfahren, und zwar<br />

abwechselnd aus jedem Kolleg des Klosters gewählt. Ihre Vollmachten<br />

gehen soweit, daß sie sogar den Abt eines Kollegs zurechtweisen<br />

oder mit Strafgeldern belegen können, während sie selbst immun sind,<br />

solange ihre Amtszeit dauert. Erst nach ihrer Amstzeit werden sie wieder<br />

angreifbar und das Wissen darum zügelt jene so, daß sie ihre<br />

Macht während der Amtszeit nicht mißbrauchen.<br />

Der Shengo (Zhal-ngo) ist auch der Leiter der Klosterpolizei, der einer<br />

Gruppe Geyögs (dGe-gyog) in der Funktion von Polizisten vorsteht,<br />

die er ihrerseits aus der Gruppe der Dabdob (lDab-ldop) rekrutiert.<br />

Die Tshiso (Spyi-gso)<br />

Die wirtschaftlichen Belange des Kloster liegen in der Hand der<br />

Tshiso (Spyi-gso), die jeweils zu zweit arbeiten. In Drepung wird einer<br />

vom Kolleg Loseling und der andere vom Kolleg Gomang gestellt.<br />

Ihre Amtszeit dauert 10 Jahre. Sie verwalten die Klöstereinkünfte, die<br />

Abgaben ihrer Leibeigenen und das Klosterguthaben.<br />

Phodrang De<strong>pa</strong> (Pho bra sDe-<strong>pa</strong>)<br />

Repräsentant der Regierung ist im Kloster der Phodrang De<strong>pa</strong> (Pho<br />

bra sDe-<strong>pa</strong>), dem die Aufsicht über Erfüllung der klösterlichen<br />

Pflichten der Regierung gegenüber obliegt, der kontrolliert, ob das<br />

Kloster z.B. die Pacht für die Regierungsgüter zahlt, die das Kloster


121<br />

beansprucht. Dieses Amt ist in Drepung ein Privileg des Kollegs Gomang,<br />

während das Kolleg Loseling den Tempel von Lhasa verwaltet,<br />

der die heiligste Stautue Tibets beherbergt und das Grab von Tsongkha<strong>pa</strong>,<br />

den Tsuglakhang (gTsug lag kha). Beide Positionen sind Prärogativen<br />

von Shagtsang-Familien, die sich auch durch ihre Kleidung<br />

als Mönchsbeamte von jenen Mönchen abheben, die Roben tragen.<br />

Lachi (bLa-spyi)<br />

Der Lachi ist die Klostervertretung, die sich aus dem Abt, den Ex-<br />

Äbten als Kollegen, aus dem Photrang De<strong>pa</strong>, den beiden Tshogchen<br />

Shenggo, den beiden Tschiso und dem obersten Liturgen, dem Umdze<br />

(dbU-mdzad) des klösterlichen Haupttempels, des Tshogcen (Tsogschen)<br />

zusammensetzt. Dieses Gremium versammelt die Verwaltungsspitze<br />

und den Regierungsvertreter im Kloster, seine Mitglieder sind<br />

die höchsten geistlichen Würdenträger, die im Rahmen ihrer Kompetenzen<br />

die jeweils letzten Entscheidungen treffen. Er ist der Ausschuß,<br />

in dem die wichtigsten Beschlüsse für das Kloster und für dessen Politk<br />

gefaßt werden. Mit den Fragen, welche die Disziplin, die Klosterverwaltung<br />

oder die klösterlichen Investitionen respektive Ausgaben<br />

betreffen, beschäftig sich dieses Gremium nicht, was schon mit seiner<br />

Besetzung zum Ausdruck kommt.<br />

Norbu beschreibt dieses Gremium so: "An der Spitze der Organisation<br />

steht der Latschi, ein akademischer Rat der sich aus den Oberhäuptern<br />

der verschiedenen Colleges der Universität, einem Schatzmeister und<br />

einem oder zwei weiteren Beamten zusammensetzt. Ihre Büros befinden<br />

sich meistens in der Nähe der Versammlungshalle inmitten der<br />

Klosterstadt. In seiner Art ist der Latschi auch ein koordinierendes<br />

Komitee, das eine gewisse Einheitlichkeit der akademischen Anforderungen<br />

gewährleistet, denn jedes Colleg hat große Freiheiten bei der<br />

Zusammensetzung seines <strong>Studien</strong>plans.“ 262<br />

Richi (Ri-spyi)<br />

Ein weiterer all-klösterlicher Ausschuß ist der Richi, den die amtierenden<br />

Äbte besetzen und die Lehrer, bei den man den Tshenyi<br />

(mTshan nyid) absolvieren kann. Dieser Ausschuß besitzt sein eigenes<br />

Amtsgebäude. Er koordiniert die Lehrpläne, Prüfungen und alles, was<br />

mit dem Bildungswesen zusammenhängt.<br />

262 Thubten Jigme Norbu u. C.M.Turbull, Geheimnisvolles tibet, Freiburg, Basel,Wien 2000, S.245


122<br />

Der Labrang (bLa-bra)<br />

Labrang (bLa-bra): das Wort bedeutet "Residenz des Lamas". So<br />

wird jene klösterliche Körperschaft genannt, deren Oberhaupt ein<br />

Tulku (sPrul-sku) ist (siehe das Kapitel: Tulku).<br />

Der Labrang ist der Eigentumer des gesamten weltlichen wie geistlichen<br />

Besitzes aller Tulkuvorgänger und allen Besitzes, den der gegenwärtige<br />

Tulku wie auch die künftigen Tulkus einwerben werden.<br />

Die Tulkuschaft, d.h. die über größere Zeiträume gewährleistete Präsenz<br />

des mit dem Labrang verbundenen Tulku, garantiert der Körperschaft<br />

ihre Identität über die Generationen hinweg. Stirbt eine Inkarnation<br />

erbt der nachfolgende Tulku den gesamten Besitz.<br />

Verwaltungshierarchie der Tulku-Körperschaft<br />

Tulku<br />

Lehrer des Tulku<br />

Tschag-dse+ 4 Diener<br />

Nyer<strong>pa</strong> + 2 Diener<br />

GV-Landbau GutsVerw.-Vieh GV-Handel GV-Bauwesen GutsVerw.-Post Vorstände wirtschaftlicher,<br />

politischer,<br />

religiöser<br />

Ämter<br />

nach: U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bezeichnungen, Rikon 1977<br />

Der Reichtum, die geistliche wie die politische Bedeutung eines Labrangs<br />

korrespondieren mit dem Status der Inkarnation und der Geschichte<br />

ihrer Institution. Tulkus, die es zum Regenten von Tibet gebracht<br />

hatten, brachten auch ihrem Labrang beträchtlichen Reichtum,<br />

während Tulkus, die ausschließlich geistliche Qualitäten aufzuweisen<br />

hatten, von den Spenden Gläubiger abhängig blieben und den Fonds,<br />

mit denen ihre Schutzherren sie ausgestattet hatten. Trotz ihrer Unterschiede<br />

im Reichtum an weltlichen und geistlichen Gütern waren und<br />

sind alle Labrangs ihrer Struktur nach gleich.<br />

Thubten Dschigme Norbu, der Taktser Rinpoche, schreibt über Tagtser<br />

Labrang: „Kluge Verwalter hatten im Laufe von Jahrhunderten<br />

den Besitz, der von einem Rinpotsche auf den anderen überging, gemehrt.<br />

Zu den Einkünften aus den Gütern und Ländereien des Labrangs<br />

waren Schenkungen reicher Fürsten und Kaufherren aus der<br />

näheren und weiteren Umgebung gekommen. Die Felder und Güter<br />

waren an Bauern ver<strong>pa</strong>chtet, die jährlich einen bestimmten Teil ihres<br />

Ertrages an den Labrang abzuliefern hatten, der daraus die Steuern an


123<br />

den Residenten der chinesischen Regierung in Siling entrichtete. Tagtser<br />

Labrang besaß riesige Vorratshäuser, in denen die Abgaben der<br />

vielen Pächter untergebracht wurden.“ 263<br />

Der einflußreichste Offizielle des Labrangs ist der „Labrang chagtsö“<br />

(bLa-bra phyag-mdzod), der Labrang Kämmerer, der sich um alle<br />

wirtschaftlichen Belange des Labrangs kümmert. Dieser Kämmerer<br />

trifft häufig alle wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen im<br />

Namen des Tulkus, dem er dient. Da er häufig auch ein einflußreicher<br />

Berater des Tulku ist, erweist er sich außerdem auch als ein „Korridor<br />

der Macht“, d.h. als eine Schnittstelle der Kommunikation des Tulkus<br />

mit der Außenwelt, welche den Zugang Außenstehender (seien es<br />

Mönche oder Laien) zum Tulku kontrolliert oder steuert. Sobald ein<br />

Tulku zum Regenten Tibets wird, gewinnt auch sein Kämmerer einen<br />

bedeutenden politischen Einfluß mit nicht selten historischer Tragweite.<br />

Der wirtschaftliche Wohlstand eines Labrang galt als die Grundlage<br />

aller politischen Ambitionen seines Tulku. Ja bestimmte Positionen<br />

standen nur den wirtschaftlich florierenden Labrangs offen. "Die Position<br />

des Tschogchen Tulku hatte ihren Preis und war mit beträchtlichem<br />

finanziellen Aufwand verbunden." 264<br />

263 Thubten Dschigme Norbu, Tibet, verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.86-7<br />

264 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.54


124<br />

Die geistliche Statusordnung tibetischer Klöster<br />

Der Mönch, der Klosterinsasse und das Ordensmitglied<br />

Mönch aus Ne<strong>pa</strong>l mit seinen lithurgischen Geräten, aus: M.<br />

Brauen, Hrsg, Peter Aufschnaiter, sein Leben in Tibet, Berwang<br />

1988, S.186; Siehe Anhang 3<br />

Mönch (gr. einzig, allein, = einzig allein), heißt das<br />

Mitglied eines geistlichen Ordens. Unter einem Orden versteht man<br />

allgemein einen Verein, der unter Wahrung bestimmter Regeln oder<br />

Ordnungen einen bestimmten<br />

Zweck verfolgt.<br />

Als geistlicher Orden verfolgt<br />

er einen geistlichen<br />

Zweck und gibt sich die<br />

seinem Zwecke entsprechenden<br />

Regeln (Ordensregeln).<br />

Der Zweck geistlicher<br />

Orden ist religiösen<br />

Wesens, im Grunde die<br />

Verwirklichung der Lehre<br />

der entsprechenden Religion,<br />

und zwar nach einer<br />

für den Orden charakteristischen<br />

Weise und die<br />

Übung der dazu erforderlichen<br />

persönlichen Selbstvervollkommnung.<br />

Das<br />

Ziel des Ordens läßt sich<br />

weiter unterscheiden nach<br />

zwei Wegen: 1) nach dem<br />

kontemplativen Weg<br />

(Meditation und Ritualdienst, geistliche Vervollkommnung, Übungen<br />

mystischer Erfahrung) oder 2) nach dem Weg aktiver Zweckerfüllung<br />

(in christlichen Orden: Armen- und Krankenpflege, Unterricht,<br />

Lehre und Mission; die letzten drei Ziele auch in buddhistischen Orden).<br />

Der Zugang zum Orden setzt die Zustimmung der Beitretenden zu<br />

seinen Regeln und Zielen voraus, die feierlich durch Gelübde (sDom<strong>pa</strong>)<br />

besiegelt wird, und jene der Gemeinschaft, in welche Aufnahme


125<br />

begehrt wird. Die Selbstverpflichtung durch das abgelegte Gelübde ist<br />

für geistliche Orden das ausschlaggebende Mitgliedschaftskriterium.<br />

Die Mitgliedschaftschaftsvoraussetzung im lamaistischen Orden und<br />

d.h. auch im tibetischen Kloster, führt über die Gelübde des Laienanhängers<br />

(Skr. Upsaka, tib. Genye (dGe-bsen)), in der Mongolei<br />

Bande), des Postulanten (Skr. Pravrajita, tib. Rabdschung (Rab-chu/<br />

Rab-byung=Entsagender) oder tib. Dra<strong>pa</strong> (Grva-<strong>pa</strong>)) und des Novizen<br />

(Skr. rmaa, tib. Getshul (dGe-tshul)), ohne die man nicht die Ordination<br />

des Mönchs (Skr. Bhiku, tib. Gelong (dGe-slo)) erwerben<br />

kann, der schließlich gelobt, alle 253 Regeln und Vorschriften des<br />

Prtimoka einzuhalten. Danach sind der Novize oder die Novinzin<br />

vollordinierter Mönch (dGe-slo-<strong>pa</strong>) oder vollordinierte Nonne (dGeslo-ma).<br />

Äußerliches Kennzeichen der Ordensmitgliedschaft ist die Tracht<br />

(Ordenstracht), an deren äußerlichen Unterschieden wiederum bis zu<br />

einem gewissen Grade auch der unterschiedliche Status ihrer Träger<br />

innerhalb des Ordens abgelesen werden kann.<br />

Der Ort der Verwirklichung der Regeln und der Zweckerfüllung des<br />

geistlichen Ordens ist das Kloster (lat. Claustrum tib. dGon-<strong>pa</strong>).<br />

Seine Insassen, ganz gleich welches der erforderlichen Gelübde sie<br />

bereits abgelegt haben, heißen Mönch (dGe-slo-<strong>pa</strong>) und Nonne<br />

(dGe-slo-ma) oder sie tragen die Titel der vorbereitenden Gelübde.<br />

Monastische Status- und Amtshierarchie<br />

Khenpo (Abt)<br />

Gekö Lama Shunglen<strong>pa</strong> Tshigen<br />

Geshe<br />

(Promovierter Religionslehrer)<br />

Gelong (ordinierter Möch) 20-25 Jahre<br />

Getsul (Novize) 15 Jahre<br />

Rab-dschung, Dra-<strong>pa</strong> (Postulant) 12 Jahre<br />

Genyen, Bande (Lamaschüleraspiranten) 8 Jahre<br />

Genyen<br />

(Laien, welche die 5 Gebote achten)<br />

Das Mönchstum wird also definiert durch gelübdeverbürgte Ordensund<br />

Klosterzugehörigkeit, das Gebot des Zölibats (lat. caelebs= ehelos<br />

gr. Ehelosigkeit) hängt dagegen ab von den Ordensregeln,<br />

die es fordern oder zu fordern unterlassen. In Tibet gibt es sowohl<br />

zölibatäre Orden als auch Orden ohne Zölibat. Der älteste buddhistische<br />

Orden Tibets, die ri-ma-<strong>pa</strong>, ist z.B. ein Orden, für den das<br />

Zölibat nicht zu den Verpflichtungen gehört. Seine nichtzölibatären<br />

Mitglieder tragen daher auch nicht den Titel dGe-slo, dessen Träger


126<br />

ja versprochen hat, alle Prtimoka-Regeln einzuhalten, sondern gelten<br />

als Ten Genye (rTan dGe-bsen). Einer der berühmtesten Ten Genye<br />

war Domtön (’Brom-ston), ein Schüler Atas, 265 der Gründer des<br />

Klosters Reting (Rva-sgre), der die Ordensregeln des Kadam<strong>pa</strong><br />

(bKa‘-gdams-<strong>pa</strong>) Ordens niederlegte.<br />

Der Kern der Klostergemeinschaft ist aber in der Regel das Kapitel<br />

der Mönche (respektive der Nonnen), dem man die Gruppe der Postulanten<br />

und Novizen<br />

zurechnen muß, da<br />

diese den Status des<br />

vollordinierten Mönchs<br />

ernsthaft anstreben, was<br />

ja ihre bereits abgelegten<br />

Gelübde bezeugen,<br />

die sie deutlich von den<br />

Laienanhängern, den<br />

Genyen, als monastische<br />

Personen abheben.<br />

Alle anderen Titel,<br />

Funktionen oder Ämter,<br />

die man im Kloster<br />

außerdem erwerben<br />

kann, seien es solche<br />

der Gelehrsamkeit oder<br />

tantrischer Vervollkommnung,<br />

oder seien<br />

es solche der Verwaltung,<br />

der handwerklichen<br />

oder künstlerischen<br />

Spezialisierung,<br />

Gelug<strong>pa</strong>-Mönch, aus: C.Bell, Tibet einst und jetzt, Leipzig<br />

1925, S.65<br />

sie alle setzen einen<br />

dieser vier Titel (Rabdschung, Dra<strong>pa</strong>, Getshul, Gelong) oder einen<br />

dieser vier monastischen Positionen voraus, ohne welche die Träger<br />

der genannten anderen Titel oder die Vertreter dieser zusätzlichen Positionen<br />

nicht zu den Mitgliedern der Ordens- und d.h. auch der Klostergemeinschaft<br />

zählen.<br />

Der Begriff Mönch faßt im Kontext des tibetischen Klosterwesens<br />

also die Kategorien Rabdschung oder Dra<strong>pa</strong>, Getshul und Gelong zu-<br />

265 Siehe:U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bezeichnungen in der Hierarchie des tibetischen Klerus, Rikon<br />

1977, S.25-6


127<br />

sammen. Nur, wer die Gelübde, die mit einem dieser Titel verbunden<br />

sind, abgelegt hat, gehört zum monastischen System, heißt dementsprechend<br />

Mönch.<br />

Obgleich es der Zweck und das Streben des Mönchstums gebieten,<br />

von allen weltlichen Unterschieden, sowohl der ethnischen als auch<br />

sozialen Herkunft, abzusehen, und alle jene, die sich auf diesen Weg<br />

begeben haben, wenn überhaupt, dann nur noch nach dem Stand ihrer<br />

geistlichen Entwicklung oder Entfernung vom geistlichen Ziele zu unterscheiden,<br />

stellt die Sozialstruktur der Gesellschaft, aus der ihre Mitglieder<br />

stammen, bevor sie in den Orden eintreten, für jeden Orden<br />

eine Herausforderung dar, besonders aber für einen Orden, der in der<br />

weltlichen Gesellschaft einen festen sozialen wie politischen Status<br />

besetzt hält, wie das speziell in Tibet der Fall ist. Hier kann die Statushierarchie<br />

des Ordens, der als Rechtsperson Grundherr ist und deshalb<br />

auch seinen leitenden Repräsentanten mit dieser Position ausstatten<br />

muß, gar nicht anders als die Standesdifferenzierung seiner Gesellschaft<br />

innerhalb seiner eigenen Mauern wiederholen. 266<br />

Ein derartig politisch involvierter Orden muß seine Mitglieder nach<br />

den Gesichtspunkten der verschiedenen Funktionen, die er in der Gesellschaft<br />

ausübt, auswählen, nach den Gesichtspunkten seiner geistlichen<br />

Aufgaben, seines weltlichen Status und seiner politischen Rolle.<br />

Dem muß also auch die Strategie monastischer Rekrutierung Rechnung<br />

tragen. Diesen Bezugsrahmen reflektieren auch die Titel, die<br />

man in der tibetischen Klosterhierarchie erwerben kann, wie oben bereits<br />

zu sehen war.<br />

Geht man von den Tätigkeiten aus, die ein Mönch in Tibet ausüben<br />

konnte, dann war ein Mönch „according to circumstances, a perish<br />

priest, a fortune teller, a wizard, a doctor, an apothecery, a <strong>pa</strong>inter, a<br />

sculptor, a printer, a writer, a reader, a trader or a beggar.“ 267 In dieser<br />

Vielseitigkeit seiner Betätigungsfelder steht der tibetische Mönch<br />

ganz einzigartig dar. Sie zeigt das Erscheinungsbild der funktionalen<br />

Artbeitsteilung, welche das Kloster als religiöse, soziale und politische<br />

Organisation auszeichnet. Nachdem die Laiengesellschaft es versäumt<br />

hat, ein säkulares Schul- und Bildungssystem aufzubauen, zeigt sie<br />

aber auch, daß die Qualifikationen, die wir hier mit Grenard aufgezählt<br />

haben, in Tibet nur im Kloster anzutreffen und zu erwerben waren,<br />

was einmal mehr den Status des Klosters als geistiger Mitte des<br />

tibetischen Volkes unterstreicht, und zwar sowohl in der sakralen als<br />

266 Siehe: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140<br />

267 F.Grenard, Tibet, Delhi 1974, p.334


128<br />

auch in der profanen Perspektive; denn auch alle hier erwähnten profanen<br />

Qualifikationen (Apotheker, Arzt, Maler, Bildhauer, Kalligraph,<br />

Drucker, Wissenschaftler) waren in der Regel nur im Kloster zu erwerben<br />

(Die Ausnahmen, wenn der Sohn den Beruf des Vaters ohne<br />

Einschaltung des Klosters erbt, bestätigen auch hier die Regel).


129<br />

Die Rekrutierung der Möche und ihre sozialen Hintergründe<br />

Die überwiegende Mehrheit der Mönche Tibets vor 1950, Goldstein<br />

spricht von 95% 268 , wurde von ihren Eltern den Klöstern übergeben<br />

als jene noch Jungen im Alter zwischen 7 oder 10 Jahren waren, 269<br />

d.h. in einem Alter, indem sie selbst noch für das Noviziat zu jung waren.<br />

Die meisten der Jungen wurden dazu gar nicht gefragt, wenngleich<br />

man mit ihrer Übergabe für sie eine lebenslängliche Verpflichtung<br />

einging. 270 Nur wenige Eltern besprachen ihre Entscheidung mit<br />

dem betreffenden Kind, die Kinder waren es gewohnt, zu gehorchen,<br />

und so folgten sie der Aufforderung ihrer Eltern. 271 Andererseits, so<br />

versichert Jones-Tung, waren sich viele der Jungen bewußt, daß sich<br />

mit dieser Entscheidung sowohl ihre Versorgung als auch ihr Status<br />

verbesserte. „The children were usually quite willing to go into monastic<br />

communities, since they know they would have better food and<br />

clothing than they had at home- and it was a prestigious honor to be a<br />

religious in a country dominated by religion.“ 272<br />

Gründe für das Verhalten der Eltern gab es sowohl politische als auch<br />

religiöse und natürlich auch soziale.<br />

Einige Eltern glaubten auf diese Weise einer religiösen Verpflichtung<br />

zu genügen und erachteten es für sich als eine Ehre und als ein Privileg,<br />

daß ein Sprößling von ihnen die monastische Laufbahn einschlug.<br />

Manchmal war es auch ein Schwur, Eid oder feierliches Versprechen,<br />

daß Eltern oder einen Elternteil dazu brachte, einen Sohn Mönch werden<br />

zu lassen. Anlaß solcher Versprechen konnten sein die Rettung<br />

aus Gefahr oder Not oder eine schwere Krankheit des Kindes.<br />

Ärmere Familien sahen sich gezwungen, wenn auch unter Anerkennung<br />

eines tradierten und wohl anerkannten Brauchs, sich jener Esser<br />

zu entledigen, die sie nicht mehr selbst zu ernähren imstande waren.<br />

Sie konnten so wenigstens das Leben ihrer überzähligen Nachkommen<br />

sichern. Norberg-Hodge beobachtete in Ladakh, „wenn eine Familie<br />

sich nicht in der Lage sieht, ihre vielen Münder zu stopfen, werden ein<br />

<strong>pa</strong>ar der Söhne- in der Regel die jüngeren- Mönche. Im Kloster werden<br />

sie von der Gemeinde im Austausch gegen gottesdienstliche Auf-<br />

268 Siehe: M.C.Goldstein, A Study of lDab-ldob, in: Central Asiatic Journal, 1(2), 1964, p.125<br />

269 Siehe: Antonio Giorgi (OESA), Alphabetum Tibetanum, I, Übers.u.Hrsg. P.Lindegger, Rikon 2001, S.257;<br />

Filchner gibt das Eintrittsalter mit 8 Jahren an, siehe: W.Filchner, Kumbum, Zürich 1954, S.112, und Hermanns<br />

sogar mit 5 Jahren, siehe: M.Hermanns, Die Familie der Amdo-Tibeter, freiburg, München 1959, S.234<br />

270 Siehe: P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.120<br />

271 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.21-22<br />

272 R. Jones-Tung, A Portrait of Lost Tibet, Ithaca 1980, p.107


130<br />

gaben versorgt.“ 273 Auch die steuerliche Entlastung mochte ein Motiv<br />

sein, ein Kind ins Kloster zu schicken. „If a family sent a boy into a<br />

monastery to be a monk or a girl to be a nun, they would receive a tax<br />

forgiveness.” 274<br />

Und manche wollten zumindest<br />

einigen ihrer Kinder die<br />

Härten eines Lebens bäuerlicher<br />

oder <strong>pa</strong>storaler Hintersassen<br />

ers<strong>pa</strong>ren, das ihnen selbst<br />

sauer aufgestoßen war. „While<br />

I was still small, my mother<br />

wanted me to become lama,<br />

>because no work, plenty to<br />

eat, and without sin


131<br />

Die Gründe der Oberschicht oder jener autonomer Clans von bäuerlichen<br />

oder Hirtenstämmen, ihre Kinder ins Kloster zu geben, unterschieden<br />

sich von denen der Unterschicht ganz beträchtlich, wie wir<br />

dem Hinweis von Fürholzer entnehmen: „Wohlhabende Familien haben<br />

das größte Interesse, den Einfluß, welchen sie im Laufe der Generationen<br />

in einer Klostergemeinde erwarben, sich zu erhalten. Sie betrachten<br />

ein Haus, in welchem Söhne ihres Stammes wirkten und das<br />

mit dem Gelde des ganzen Klan aufgebaut und ausgestaltet wurde, als<br />

Familienbesitz 279 , der allerdings niemals in Laienhände zurückfallen<br />

kann. Fehlt daher in einer Generation ein Sohn, den man der geistigen<br />

Obhut des Onkels anvertrauen könnte, so tritt ein Vetter oder sonst<br />

nächster Verwandter an dessen Stelle.<br />

Der Rangunterschied macht auch vor Klostermauern nicht halt; schon<br />

bei Beginn einer Klosterlaufbahn ist er fühlbar und folgt dem Mönch<br />

durch sein ganzes Leben.<br />

Nur ganz besonders begabten und tüchtigen Sprossen einfacher Familien<br />

gelingt es, sich über den Rang eines niederen Tra<strong>pa</strong> hinaus zu erheben<br />

und selbst Gründer einer religionsphilosophischen Schule zu<br />

werden. Die meisten Mitglieder der Mönchsgemeinschaft kommen nie<br />

über die niederen Weihen hinaus; auf ihren Schultern liegen alle<br />

schweren und unangenehmen Arbeiten des Konvents.<br />

Ganz anders ist der Werdegang von Söhnen aus gutem Hause. Der<br />

Sproß eines alten Klan weiß schon von Jugend auf, daß er es innerhalb<br />

des Klosters zu Ansehen und Macht bringen wird. Trotzdem muß er<br />

sich der Disziplin völlig unterwerfen. Sein Lehrer und Meister sieht<br />

streng darauf, daß er genau wie jeder andere die harte Schule durchläuft.<br />

In den langen Jahren des Noviziats lernt der Knabe lesen und<br />

schreiben und übt sich im Auswendiglernen der Glaubenssätze und<br />

heiligen Schriften. Eine strenge Prüfung schließt die Lehrzeit ab. Mit<br />

ihrem Bestehen erhält er die niederen Weihen. Begabte Getsuls (...)<br />

werden zur Vervollkommnung ihrer Bildung in ein anderes Kloster<br />

oder für einige Jahre nach Lhasa oder Tashilumpo geschickt.“ 280<br />

Obwohl es buddhistische Regel war, daß die Entscheidung, als Mönch<br />

in das Kloster einzutreten, freiwillig sein sollte und die Kinder vom<br />

klösterlichen Gegenüber auch gefragt wurden, ob sie denn Mönch<br />

werden wollten, galt dies in Tibet aus den bereits erwähnten Gründen<br />

vor 1950 nur pro forma. In Tibet lag das vor allem daran, daß die<br />

Vertrags<strong>pa</strong>rtner (Haushalte, Sippen und Klöster) Körperschaften wa-<br />

279 Prärogative der Familie,Lineage oder des Clans<br />

280 E.Fürholzer, Arro! Arro! So sah ich Tibet, Berlin 1942, S.279-281


132<br />

ren, auf der Laienseite anfänglich verwandtschaftsrechtliche und auf<br />

der Klosterseite kirchen- wie standesrechtliche.<br />

Ausreißer wurden daher auch nicht aus dem Kloster entlassen, sondern,<br />

zuhause angekommen, meistens von den Vätern mit einer Tracht<br />

Prügel bestraft und zum Kloster zurück gebracht. Ältere Mönche, die<br />

dergleichen erzählten, sahen darin durchaus keine Mißhandlung oder<br />

Ungerechtigkeit, sondern stellten es, verlegen lächelnd, als Beispiel<br />

ihrer jugendlichen Unerfahrenheit<br />

hin; denn es war Brauch, daß jeder<br />

mithalf, die Pflichten der Familie<br />

oder des Haushaltseinheit zu<br />

erfüllen, und zwar nach den Weisungen<br />

des Familienoberhaupts.<br />

Wenn auch die Gründe der Unterschicht,<br />

ihre Kinder ins Kloster zu<br />

geben, andere waren als jene der<br />

Oberschicht, beide Statusgruppen<br />

verbanden mit dieser Entscheidung<br />

handfeste Interessen, die es<br />

ihnen geboten, die Ausreißer oder<br />

Unwilligen zu nötigen, sich der<br />

familiären Entscheidung zu fügen.<br />

Beim Textstudium, F.Maraini, aus J.J.Schätz,<br />

Heiliger Himalaya, München 1952, S.41<br />

Tatsächlich war die Zahl der Kinder,<br />

die sich auf diese Weise ihrer<br />

Pflicht entziehen wollten, eher gering,<br />

denn die Sitte schrieb vor, daß jeder für seine Verwandtschaft<br />

haftete, dafür zu bürgen hatte, daß Verpflichtungen, welche die Familie<br />

(verwandtschaftsrechtlich oder standesrechtlich definiert)<br />

eingegangen war, auch von ihren Mitgliedern eingehalten wurden.<br />

Hatte man einen Jungen dem Kloster übergeben, dann sollte er auch<br />

sein ganzes Leben lang im Kloster bleiben. Da es aber die buddhistische<br />

Regeln nun einmal vorsahen, daß man sein Gelübde zurückgeben<br />

und daraufhin das Kloster verlassen konnte, mußten, zumal man dies<br />

im traditionellen Tibet weitgehend vermeiden wollte, entsprechende<br />

Sanktionen wirksam sein, welche die Wahrscheinlichkeit einer Begünstigung<br />

dieser Option sehr stark minimierten. Dies wird besonders<br />

im Kontrast zum exiltibetischen Mönchswesen deutlich, für das die<br />

tradtionellen Sanktionen nicht mehr in gleichem Maße greifen können.<br />

Heute hört man schon viel öfter von der Wahrnehmung dieser<br />

Option, nämlich der Rückgabe des Gelübdes.


133<br />

Der zu befürchtende Statusverlust und die erheblichen Einkommensverluste,<br />

aber auch der beträchtliche Arbeitsaufwand für den Lebensunterhalt<br />

dürften die meisten Mönche in der Zeit vor 1950 davon abgehalten<br />

haben, ihr Gelübde zu kündigen und das Kloster zu verlassen.<br />

Der Status des Mönchs hatte in Tibet (und hat ihn unter Tibetern auch<br />

heute noch) ein recht hohes Ansehen, während man einen laisierten<br />

Ex-Mönch zumindest vor 1950 noch als Abweichler einstufte, als jemanden,<br />

der seine verwandtschaftlichen oder Standespflichten nicht<br />

zu erfüllen bereit oder in der Lage war, d.h. als jemanden, der sich aus<br />

dem System der Solidarität, das für die traditionelle tibetische Gesellschaft<br />

typisch war, herausgestellt hatte.<br />

Dieser besondere Status der Mönche kommt auch ganz deutlich in der<br />

rechtlichen Sonderstellung des monastischen Systems innerhalb des<br />

Rechtssystem des traditionellen Tibet zum Ausdruck. Klerus und Klöster<br />

waren mit eigener Gerichtsbarkeit und eigenem Strafrecht ausgestattet,<br />

nur die schweren Delikte wie Mord und Landesverrat mußte an<br />

die hohe staatliche Gerichtsbarkeit überwiesen werden. 281<br />

Das monastische Sonderrecht reflektiert außerdem die exponierte politische<br />

Stellung der Klöster im traditionellen Tibet, das ja seit seit<br />

1750 wie zu verschiedenen Zeiten auch früher schon (1207-1358 und<br />

1642-1717) ein monastisch regierter Staat war.<br />

Die politische und die rechtliche Stellung der Klöster in Tibet vor<br />

1950 garantierten also den hohen sozialen Status des Mönchs im traditionellen<br />

Tibet und vermochten ihm Privilegien dort zu reservieren,<br />

wo andere Gesellschaftssysteme Pflichten abverlangten. Das galt sowohl<br />

für die Vertreter der Ober- als auch der Unterschicht.<br />

Die Rückgabe des Gelübdes und der Austritt aus dem Kloster brachten<br />

neben der Einbuße sozialer Achtung schließlich verschiedene wirtschaftliche<br />

Nachteile mit sich; denn ein Kind verlor mit dem Eintritt<br />

ins Kloster zuhause jedes Recht seines einstigen familiären Status, den<br />

erbrechtlichen eingeschlossen; denn es war ja aus der einen Körperschaft<br />

als Mitglied ausgeschieden, um Mitglied einer anderen Körperschaft<br />

zu werden. Das galt für Arme wie Reiche, für Gemeine wie für<br />

Adlige. Ein Ex-Mönch sah sich also gezwungen, für seinen Lebensunterhalt<br />

selbst zu sorgen, sich irgendein Einkommen zu verschaffen,<br />

denn er konnte nicht mehr auf die Solidarität seiner früheren Körperschaft<br />

vor seiner Mönchszeit setzen, da er dieser ja mit seinem Austritt<br />

Schande bereitet hatte, zumal unter diesen Bedingungen sein Austritt<br />

281 Siehe: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.143-6


134<br />

in der Perspektive der Körperschaften einen Vertragsbruch darstellte.<br />

Außerdem fiel der Laisierte wieder zurück auf seinen einstigen<br />

Sozialstatus. Als Hintersasse hatte er wieder Frondienste zu leisten<br />

und Abgaben; dem Adligen blieben die Senioritätsrechte und damit<br />

verbundene Privilegien, die er vor dem Klostereintritt besaß, verwehrt.<br />

Auf beiden Statusebenen galt der Exmönch als „schhwarzes Schaf“.<br />

So mußte er sich danach wieder um sein Einkommen sorgen, aber unter<br />

schlechteren Bedingungen als vorher.<br />

Dieser Sachverhalt wirkte daher weitgehend als größeres Hindernis,<br />

wenn sich ein Mönch mit dieser Option der Rückgabe seiner Gelübde<br />

beschäftigte.<br />

Im Kloster hingegen wurden alle, ob hoher oder niederer Herkunft mit<br />

allem, was sie für ihren Lebensunterhalt brauchten, versorgt, ohne daß<br />

sie dafür allzu sehr arbeiten mußten.<br />

Darüber hinaus gab es in den Klöstern auch keine starken Einschränkungen,<br />

was das Verhalten der Einzelnen betraf und man forderte von<br />

den Jungen auch keine extremen Anstrengungen an Fleiß und Disziplin<br />

282 , selbst Analphabeten wurden geduldet und entsprechend ihrer<br />

Fähigkeiten in die Klosterorganisation integriert. Aus der Gruppe der<br />

ärmeren und weniger gebildeten Tra<strong>pa</strong>s (Grwa-<strong>pa</strong>) konnten sich viele<br />

als Diener der Mönche aus wohlhabenderen Familien verdingen, was<br />

die gesellschaftliche Statusdifferenzierung auch innerhalb der Klostermauern<br />

nur stabilisierte. 283<br />

Anstatt also die Eignung der Bewerber nach den Gesichtspunkten asketischen<br />

monastischen Lebens, das dem Gebet, dem Studium der<br />

heiligen Schriften und Weistümer sowie der Meditation gewidmet<br />

wurde, zu selektieren, verstießen tibetische Klöster nur solche Mönche,<br />

denen man einen Mord nachweisen konnte oder den Beischlaf<br />

mit Frauen (im Falle der Orden, die zum Zölibat verpflichteten).<br />

Bestandene Examina waren für den Verbleib im Kloster nicht ausschlaggebend.<br />

Diese mußten nur dann, und zwar in tolerablen Zeitperioden,<br />

absolviert werden, nachdem man den Weg des Studiums und<br />

der geistigen Vervollkommnung eingeschlagen hatte, oder wenn man<br />

innerhalb der Klosterhierarchie einen höheren Status anstrebte. Aber<br />

auch im Kontext des ernsthaften Studiums gab es so etwas wie das<br />

Nichtbestehen einer Prüfung nicht, weil keine zeitlichen Fristen festgesetzt<br />

wurden, innerhalb derer das <strong>Studien</strong>pensum zu bewältigen<br />

282 Siehe: Thubten Jigme Norbu u. C-M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.280<br />

283 Siehe: Thubten Jigme Norbu u. C-M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.247


135<br />

war. 284 Im Gegenteil, es gab für alle höheren Examina jährliche Teilnahmebeschränkungen<br />

und dementsprechend Wartelisten, die es auch<br />

den Fleißigen verwehrten, ihre Prüfung genau dann zu absolvieren,<br />

wenn sie in die Lage kamen, ihren Lehrstoff zu beherrschen.<br />

Diese Lebensbedingungen, besonders im Vergleich mit der sozialen<br />

Lage der Unterschichten, ließen das Klosterleben in Tibet durchaus<br />

attraktiv erscheinen und machten es den Mönchen relativ leicht, nicht<br />

nur im Kloster zu bleiben, sondern auch Mönch. Für Laieneadlige<br />

boten sich im monastischen System Kompensationen für den Zugang<br />

zu Privilegien, welche außerhalb mit dem Erb- und Senoritätsrecht<br />

verbunden waren.<br />

Die Vertreter der Oberschicht unterwarfen sich der Familienraison<br />

und vertraten deren wirtschaftliche und politischen Interessen im monastischen<br />

System, was in einem „Kirchenstaat“ speziell für den Laienadel<br />

von existenzieller Bedeutung war, besonders wenn man mit<br />

Tucci feststellt, „daß die gesamte politische und kulturelle Geschichte<br />

Tibets in den Klöstern und durch die Klöster bestimmt und geformt<br />

wurde.“ 285<br />

284 Siehe: U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bezeichnungen in der Hierarchie des tibetischen Klerus, Rikon<br />

1977, S.70<br />

285 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.127


136<br />

Vom Postulanten zum Novizen 286<br />

Wenn ein Genyen (dGe-bsen) oder Dra<strong>pa</strong> (Grva-<strong>pa</strong>), respektive<br />

Rabdschung (Rab-chu), die tibetischen Namen für den Postulanten,<br />

das Noviziat antreten, d.h. Novize oder Getsul (dGe-ts’ul) werden<br />

wollten, mußte sein Mönchstutor (dGe-rgan) den Tshigen (spyi-rgan),<br />

das ist das Khamtsenoberhaupt seines Khamtsen (Kha-mtshan), um<br />

die Zustimmung ersuchen, seinen Schüler in diesem Khamtsen unterbringen<br />

zu dürfen. Bei dieser Gelegenheit überreichte er dem Tshigen<br />

einen Ritualschal (lha-rdsas)<br />

und 10 Rupien. Danach erst<br />

konnten sich Tutor und Postulant<br />

zum Abt (mKhan-po) jenes<br />

Kollegs begeben, zu dem<br />

das betreffende Khamtsen gehörte,<br />

um dessen Zustimmung<br />

zur Einschreibung des Schülers<br />

in seinem Kolleg einzuholen.<br />

Nachdem auch ihm ein Ritualschal<br />

und eine Silberrupie<br />

übergeben worden waren,<br />

wurde gefragt, ob der Schüler<br />

das Noviziat freiwillig antrete,<br />

ob er Höriger oder Soldat sei,<br />

ob es Einwände gegen seinen<br />

Eintritt in das Kloster gäbe, ob<br />

Küchendienst. Photograph und Aufnahmedatum unbekannt<br />

er gesund sei, aus gutem Hause<br />

stamme, wo die Eltern wohnen,<br />

usw. Nach erfolgreichem Verhör wurde der Schüler schließlich in<br />

das Kollegregister eingetragen und mit einer gelben oder roten Robe<br />

neu eingekleidet.<br />

Danach begaben sich Tutor und Schüler zum Hauptdisziplinar des<br />

Klosters, dem Disziplinar der großen Gebetshalle, zum Tshogchen<br />

Shenggo (Tsogs-chen Zhal-ngo), der, nachdem er einen Ritualschal<br />

und eine Rupie erhalten hatte, die Namen von Tutor und Schüler, sowie<br />

ihres Kollegs und ihres Khamtsen (Wohngemeinde) in das Klosterregister<br />

aufnahm, und beide, Tutor und Schüler unter seine Disziplinaraufsicht<br />

stellte.<br />

286 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, S.177-182


Rabdschungs, aus: R.Gaillarde, C.Delacam<strong>pa</strong>gne, Ladakh, Zürich, Freiburg 1980, Nr.9<br />

137<br />

Nach dieser dreifachen Prozedur (Aufnahme im Khamtsen, im Kolleg<br />

und im Kloster) galt der Schüler als eingeschriebener Postulant oder<br />

Dra<strong>pa</strong>. Nach seinem Einstand erhielt er die Mönchsrobe und folgende<br />

Utensilien: sTod-'gag 287 , bsham-thabs 288 , gzan 289 , zhva-ser 290 , sgrolugs,<br />

eine Tasse, eine Schale und einen Rosenkranz.<br />

Bis zu seiner formellen Einführung als Novize (pravrajyvrata), durch<br />

die der Postulant erst zum Novizen (dGe-ts’ul) wurde, war dem Postulanten<br />

die Teilnahme an den liturgischen Diensten des Kloster verwehrt.<br />

Die obligatorischen Aufnahmeformalitäten für den Eintritt in<br />

das Kloster wurden abgeschlossen durch die feierliche Aufnahmezeremonie,<br />

welche in der Regel durchgeführt wurde unter der Aufsicht<br />

des amtierenden Klosterabtes. Der Postulant ersuchte noch einmal feierlich<br />

um Aufnahme und überreichte aus diesem Anlaß dem Abt einen<br />

Ritualschal und eine größere Geldsumme. Während dieser Feier erhielt<br />

der Postulant seinen religiösen Namen, unter dem er künftig angeredet<br />

wurde, und er wurde außerdem ermahnt, die 36 Vorschriften<br />

und Regeln zu achten, die den Getshul-Status auszeichneten, sowie<br />

gegebenenfalls den leitenden Großlama, der ihm die Gelübde abgenommen<br />

hatte, als Tulku zu erkennen.<br />

287 Weste<br />

288 langes Untergewand<br />

289 Toga, Obergewand<br />

290 gelbe Mütze


138<br />

Danach wurde der Postulant von seinem rituellen "Brautführer" (bagrags),<br />

denn der Postulant heiratete ja die Klostergemeinschaft, zu einem<br />

für ihn reservierten Sitz geführt und von seinem "Brautführer" in<br />

die Regeln mönchischen Verhaltens (sGris) eingeführt.<br />

Von nun an genoß der Novize die meisten der monastischen Privilegien<br />

und nach einer Periode, die rig-ch'u heißt, wurde ihm eine eigene<br />

Kammer oder Zelle zugewiesen, obwohl er noch in der Ausbildung<br />

stand.<br />

Ab diesem Zeitpunkt wurde er wie alle tibetischen Mönche, ganz<br />

gleich ob Novize oder voll ordinierter Mönch, als solcher angesprochen,<br />

von den Laien aus Höflichkeit auch als Lama (bLa-ma).<br />

Mit diesem Status begann dann auch die monastische Grundausbildung<br />

(siehe unten), das Studium von Ritual und Lehre, teils auch die<br />

Ausbildung in Malerei und anderen nützlichen Fertigkeiten. Der geistliche<br />

Lehrer des angehenden Mönchen galt als dessen Wurzel-Lama<br />

(rTsa-wai bLa-ma), und weil dessen Wirken so prägend für den jungen<br />

Menschen gewesen war, wurde jener von seinem Schüler sein Leben<br />

lang hoch geehrt.<br />

In den größeren Klöstern wurden Novizen und Mönche zusammen mit<br />

Schülern aus allen Landesteilen, die zur Ausbildung hierher kamen, in<br />

den Klosterkollegien oder Ordensfakultäten (Grva-tsha) unterrichtet.<br />

Nach der Grundausbildung, die mit dem Gelong-Gelübde abschloß,<br />

begann die eigentliche akademische Ausbildung, mit derem Abschluß<br />

der Geshe-Titel erworben wurde.<br />

Jeder Mönch gehörte zu einem Kolleg (Grva-tsha) und seine Stellung<br />

in diesem Kolleg hing zunächst ab von seinem <strong>Studien</strong>fleiß und<br />

seinem <strong>Studien</strong>ergebnis, d.h. von den Graden (Ragyamba, Kaju, Doram<strong>pa</strong>,<br />

Lharam<strong>pa</strong>, Tsogram<strong>pa</strong>), die er während seines Studiums erworben<br />

hatte. Der weitere Ausbildungsgang variierte mit dem Orden,<br />

in dem das Noviziat absolviert und die Ordination erworben wurde.


139<br />

Die tibetischen Orden<br />

Es hat sich eingebürgert, den tibetischen Buddhismus von den anderen<br />

Strömungen des Buddhismus mit dem Begriff des Lamaismus zu unterschieden.<br />

Diese Begriffsprägung geht auf das tibetische Wort für<br />

„Erhabener, Höherer, Guru“ zurück, auf das Wort: Lama (bLa-ma),<br />

das tatsächlich eine Institution bezeichnet, die speziell für den tibetischen<br />

Buddhismus charakteristisch ist, die Institution des Guru oder<br />

Lama als mäeutischem Meister seines oder seiner Schüler (siehe dazu<br />

unten). Der Lamaismus ist aber nicht nur in Tibet die herrschende<br />

Form des Buddhismus, sondern auch in Teilen Sibiriens, in der Mongolei,<br />

in Ladakh, Ne<strong>pa</strong>l, Bhutan und Sikkhim, und es gibt ihn vereinzelt<br />

auch in den Grenzgebieten des nordwestlichen China. Bis zum<br />

Ende der Ch’ing-Dynastie (1911) hat es sogar in und um Peking 2000<br />

lamaistische Mönche in 28 lamaistischen Klöstern gegeben.<br />

Man sagt dem Lamaismus nach, daß er die Form des Buddhismus sei,<br />

welche die historische Gestalt des Mahyna-Buddhismus, wie sie<br />

einst in Nordindien entwickelt wurde, aber heute im Raum von Ganges<br />

und Indus längst ausgestorben ist, am genauesten bewahrt habe.<br />

Zwar suggeriert der Begriff die Vorstellung von einer homogenen<br />

Lehre und ihrer Kirche, aber der Lamaismus stellt innerhalb seiner<br />

Einflußsphäre keineswegs eine einheitliche Form des Buddhismus dar,<br />

sondern erscheint in der Gestalt verschiedener Orden, Schulen oder<br />

Richtungen (von einigen Autoren auch Sekten genannt), die sich jeweils<br />

auf berühmte Lehrer als ihre Gründer berufen, deren Wirken<br />

wiederum reformatorische Absichten gegenüber den schon bestehenden<br />

Richtungen verfolgten. Die erste Reform des Buddhismus in Tibet<br />

leitete Ata ein, aus welcher der Orden der Kadam<strong>pa</strong> (bKa-gdams<strong>pa</strong>=<br />

die an die Gebote Gebundenen) hervorgegangen ist, der seinerseits<br />

im 15. Jh. wieder durch einen Reformatoren, nämlich Tso-Kha<strong>pa</strong>,<br />

dem Gründer der Gelug<strong>pa</strong> (dGe-lugs-<strong>pa</strong>= die Tugendhaften)-<br />

Schule, verändert worden ist. Dieser Orden ist seit dem 17. Jh. in Tibet<br />

der größte und angesehenste Orden des Lamaismus. Vor diesem<br />

Orden etablierte sich die Semi-Reformbewegung der Kagyü<strong>pa</strong> (bKa<br />

rgyud-<strong>pa</strong>=die den weitergegebenen Regeln folgen), die Mar<strong>pa</strong>, ein<br />

Lama, der nicht als Mönch ordiniert war, im 11. Jahrhundert ins Leben<br />

gerufen hatte, etwa zeitgleich mit der Gründung des Sakya<strong>pa</strong> (Saskya-<strong>pa</strong>=Leute<br />

der fahlen Erde)-Ordens, der auch im 11.Jh. entstanden<br />

ist. Der Sakya<strong>pa</strong>-Orden brachte dann noch die beiden Zweigrichtun-


140<br />

gen der Jo-nang-<strong>pa</strong> und der Nor-<strong>pa</strong> hervor. Im Rahmen dieser Orden,<br />

vor allem im Kontext der Kagyü<strong>pa</strong> Richtung, haben sich weitere kleinere<br />

Orden oder Kongregationen herausdifferenziert, die das facettenreiche<br />

Bild des tibetischen Guru-, Mendikanten- und Mönchswesens<br />

ausschmücken. Unter dem Sammelbegriff Kagyü<strong>pa</strong> finden sich solche<br />

Orden wie die Karma<strong>pa</strong>, die heute den führenden Orden der Kagyü<strong>pa</strong>-Richtung<br />

darstellen, die Tshal<strong>pa</strong> (Shva-lu-<strong>pa</strong>), Phagmodru<strong>pa</strong><br />

(Phag-mo-grub-<strong>pa</strong>), Drigung<strong>pa</strong> (Bri-gu-<strong>pa</strong>), Talung<strong>pa</strong> (sTag-lu<strong>pa</strong>)<br />

und Drug<strong>pa</strong> (Brug-<strong>pa</strong>), die letzteren drei als Untergruppen der<br />

Phagmodru<strong>pa</strong>. Aber allen diesen Reformbewegungen voran ging das<br />

Wirken der von Padmasambhava, dem Lopön Padma Yungnä (sLobdpon<br />

Pad-ma-byu-gnas=der aus dem Lotos geborene Lehrer), gegründeten<br />

Schule der Nyingma<strong>pa</strong> (ri-ma-<strong>pa</strong>= die Anhänger der<br />

Alten Lehre), die den ältesten lamaistischen Orden Tibets<br />

repräsentiert.<br />

heiligen Tulkus<br />

4. Unterschiede in der Auswahl bevorzugter<br />

Schutzgottheiten<br />

Unterscheidungsmerkmale der lamaistischen Orden Tibets:<br />

1. Metaphysische Unterschiede z.B. Alternative Selektion des di-Buddha<br />

2. Unterschiede in Praxis und Methode Alternative Selektion der:<br />

regelmäßigen Rituale<br />

Asanas der Meditation<br />

der Meditationsmethoden<br />

der Mantras<br />

3. Unterschiede der Übertragungslinien und ihrer Alternative Übertragungslinien der Lehren und der Heiligen,<br />

die sie weitergaben<br />

Bevorzugung bestimmter Schutzgottheiten<br />

Da sich alle Orden, die sich nach den Nyingma<strong>pa</strong> in Tibet etabliert haben,<br />

als Reformbewegungen gegenüber den Nyingma<strong>pa</strong> und gegenüber<br />

den ihnen jeweils vorangegangenen Reformrichtungen verstanden<br />

haben, wird man neben der grundsätzlich gemeinsamen Basis, auf<br />

deren Grundlage die Reformbewegungen sich als konstruktive Kritik<br />

zu bewähren versuchten, die Merkmale ihrer Unterscheidung in den<br />

von ihnen jeweils eingebrachten Reformgrundsätzen zu suchen haben.<br />

Das können 1) metaphysische Vorstellungen sein, 2) Variationen in<br />

der Praxis des Dharma (rTa-ba, Darana, Tantra) und in der Klosterdisziplin<br />

(Vinaya), 3) die Bevorzugung einer bestimmten Linie von<br />

Gurus oder Heiligen (Lha-rgyud), welche für sie die richtige Übertragung<br />

der Lehre garantieren, oder 4) die Auswahl besonderer Schutzgötter<br />

und zornvoller Gottheiten, deren Verehrung sie vorziehen.<br />

So stellt z.B. die Gelug<strong>pa</strong> (=die Tugenhaften)-Richtung ihren Gründer<br />

Tso-kha-<strong>pa</strong> über Padmasambhava, den ersten Begründer des Lamaismus<br />

in Tibet und über Ata, den ersten Reformer des tibetischen


141<br />

Buddhismus, nach dessen Vorstellungen Domtön (Brom-ston) den Kadam<strong>pa</strong>-Orden<br />

gegründet hatte.<br />

Von den Nyingma<strong>pa</strong>, Kadam<strong>pa</strong>, Kagyü<strong>pa</strong> und Sakya<strong>pa</strong> unterscheiden<br />

sich die Gelug<strong>pa</strong> also im Hinblick auf das Kriterium der Überlieferungslinie<br />

und Heraustellung entsprechender Gurus (=Lama) oder<br />

Heiliger (3. Kriterium der Tabelle oben) durch eben diese Herausstellung<br />

von Tsongkha<strong>pa</strong> und die Institution der Tulkus des Dalai- und<br />

des Panchen Lama. So findet man auch die Statue Tsongkha<strong>pa</strong>s in den<br />

Gebetshallen der Gelug<strong>pa</strong>klöster neben dem Standbild des Avalokitevara<br />

und dem eines Buddha unter den Zentralfiguren des Hauptaltars.<br />

In den Aussagen der Weisheitslehren, womit ein Unterschied<br />

im Sinne des ersten der oben genannten vier Merkmale sichtbar wird,<br />

heben sich die Gelug<strong>pa</strong> von den Nyingma<strong>pa</strong> und Kadam<strong>pa</strong> durch die<br />

Herausstellung des Vadjradhara (rDo-rje cha) als dem Ur- oder di-<br />

Buddha (mChog-yi-da-poi Sa-gyas) ab, dem sie die höchste Verehrung<br />

neben den fünf Dyni-Buddhas (Rig-nga) zollen. Diese Orientierung<br />

ihrer Lehre und ihrer Auswirkung auf die Praxis bringen sie mit<br />

dem künftigen Buddha Maitreya in Beziehung, welcher speziell die<br />

Lehrer des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens in Gestalt eines Bodhisattva inspiriert haben<br />

soll. Als Schutzgottheit (Yi-dam) verehrt dieser Orden besonders<br />

Yamantaka, den Überwinder des Totengottes, und zur Einführung in<br />

die höheren Pfade (magga) ziehen sie das Guhyasamja- und das Klachakratantra,<br />

d.h. das sog. Neue Tantra, vor. Unterricht und Lehrstoff<br />

wurden gleichfalls reformiert, die Schulung in Dogmatik, Logik<br />

und Rhetorik obligatorisch (siehe das Kapitel über die Ge-she-Ausbildung).<br />

Das Lehrsystem bezieht sich auf Ngrjuna und das Prajpramit-System,<br />

d.h. auf den mTsan- nyid, die sog. 5 Hauptgruppen des<br />

alten indischen Klosterlehrstoffes (z.B. von Nland).<br />

Als äußerliches Unterscheidungsmerkmal führte Tsongka<strong>pa</strong> schließlich<br />

das gelbe Gewand und die gelbe Mütze, Shaser (shva-ser ), ein,<br />

weil damals bei den anderen Richtungen das weinrote Gewand und<br />

die rote Kopfbedeckung, Shamar (shva-dmar) vorherrschend waren.<br />

Die gelbe Farbe ist bis heute das äußerliche Unterscheidungsmerkmal<br />

des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens geblieben.<br />

Tsongkha<strong>pa</strong> leitete seine Lehre über Atia und dessen Lehrern in direkter<br />

Linie von den Hauptvertretern des Mahyna-Buddhismus ab<br />

und bemühte sich um die Wiederherstellung der ursprünglich strengeren<br />

Ordensregeln (Dülwa (lDul-ba), Vinaya), die sich unter anderem<br />

auszeichnete durch: 1) Einfache Kleidung, 2) Nahrungserwerb durch


Unterscheidungsmerkmale lamaistischer Orden:<br />

Jh. Orden Addi-<br />

Buddha<br />

Yidams Tantra/Yoga inspirativerPatron<br />

Meditations-<br />

Methode<br />

8. Ningma<strong>pa</strong> Samantabhadra<br />

Gur-gön Ati- Yoga Maha ut<strong>pa</strong>nna<br />

Dsog-chen<br />

11. Saskya<strong>pa</strong> Vairocana Vajrakila, Hevajra- T. Manjushri mGon-po-gur<br />

Hayagriva Gsar-ning<br />

Lam-bras<br />

Zab-mo-bla<br />

11. Kagyü<strong>pa</strong> Vajradhara<br />

Mahamudra<br />

U-mahi-lam<br />

Drigung<strong>pa</strong><br />

Svabhavikas Vajrasattva<br />

Ostasien Mahavairocana<br />

Apchi Chökyi<br />

Gronma<br />

Yamantaka,<br />

Samvara,<br />

Guhya-Kala<br />

Chakrasamvara<br />

(Demtschog)<br />

mGon-po barnag<br />

sum-kar-bsudssum<br />

Chakrasamvara-<br />

Tantra<br />

Kalacakra- T.<br />

Vajravahari T.<br />

Hevajra- T.<br />

6 Yogas d. Naro<strong>pa</strong><br />

11. Kadam<strong>pa</strong> Vajrasattva<br />

15. Gelug<strong>pa</strong> Vajradhara<br />

Guhjasamaya-<br />

Tantra<br />

Guhjasamaja-<br />

Tantra<br />

Kalacakra T.<br />

Neues Tantra<br />

Stifter/ Linie<br />

Padmasambhava<br />

Konchog<br />

Gyaltsen<br />

Tilo<strong>pa</strong><br />

Mar<strong>pa</strong><br />

Naro<strong>pa</strong><br />

Milare<strong>pa</strong><br />

Manjushri Lam-rim Atisha<br />

Domtön<br />

Maitreya Lam rim Tsong ka<strong>pa</strong><br />

Gedün Dupba<br />

Panchen Lamas<br />

Dalai Lamas<br />

Bodhidharma<br />

142<br />

Almosengang, 3) strenge Klausur während der Vassavasa, 4) Disziplinierung<br />

der Meditation, 5) Wiedereinführung des Zölibats usw.<br />

Die Realisierung der Dülwa (lDul-ba)-Reform Tsongkha<strong>pa</strong>s, welche<br />

für die geistliche Disziplin der Gelug<strong>pa</strong> bis heute verbindlich ist, erweist<br />

sich als eines der deutlichsten praktischen Unterscheidungsmerkmale<br />

(2. Kriterium der Tabelle oben) des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens von<br />

den anderen tibetischen Orden, die teils das Zölibat nicht praktizieren,<br />

teils die Einnahme von Rauschmitteln und andere Verhaltensabweichungen<br />

im Kontext bestimmter Übungen erlauben. Darüber hinaus<br />

reformierte er auch die Liturgie und kanonisierte die regulären Rituale,<br />

die bis heute ihre Bedeutung im klösterlichen Alltag nicht verloren<br />

haben und auch von den anderen Richtungen schrittweise übernommen<br />

worden sind.<br />

Der Name Kagyü<strong>pa</strong> (bKa-rgyud-<strong>pa</strong>= die den weitergegebenen Regeln<br />

folgen), der von manchen auch als „Anhänger der geflüsterten<br />

Lehre“ übersetzt wird, faßt eine Reihe von Orden zusammen, welche<br />

die Weitergabe der Lehre nach dem Vorbild der tibetischen Verwandtschaftslineages<br />

(rgyud= Lineage) als eine Art geistiges Vater-Sohn-<br />

Verhältnis institutionalisiert haben. Dazu gehören: Karma<strong>pa</strong>, Tshal<strong>pa</strong>,<br />

Phagmodru<strong>pa</strong> (oder Dwags-po), Drigung<strong>pa</strong> und Drug<strong>pa</strong>.


143<br />

Ihre Guru-Tshela-Linie führen die Kagyü<strong>pa</strong> auf die 84 altindischen<br />

Mahsiddhas, vor allem auf Ti-lo-<strong>pa</strong> und dessen Schüler Nro<strong>pa</strong> zurück.<br />

Mar<strong>pa</strong> galt als Nro<strong>pa</strong>s bedeutendster tibetischer Schüler, der<br />

die „Sechs Yogas des Nro<strong>pa</strong>“ nach Tibet brachte: 1) Physische Hitze,<br />

Skr. Candali Tib. Tumo (gtum-mo), 2) Illusionskörper, Skr. Mykya,<br />

Tib. Gyülü (sgyu-lus), 3) Traum, Skr. Svapna, Tib. Milam (rmilam),<br />

4) Klares Licht, Skr. Prabhasvara, Tib. Ösal (od-gsal), 5) Zwischenzustände,<br />

Skr. Antarabhva, Tib. Bardo (bar-do), 6) Bewußtseinsübertragung,<br />

Skr. Samkrantih, Tib. Powa (pho-ba).<br />

Aber als ihren größten Heiligen verehren sie Milare<strong>pa</strong> (Mi-la-ras-<strong>pa</strong>).<br />

Auch Milare<strong>pa</strong> war wie Mar<strong>pa</strong> kein ordinierter Mönch. Milare<strong>pa</strong> steht<br />

allgemein in Tibet in dem Rufe eines erfolgreichen Siegers über die<br />

Dämonen und der noch vereinzelt praktizierenden Bönzauberer. In jedem<br />

größeren Kagyü<strong>pa</strong>-Kloster befindet sich ein Bild von Milare<strong>pa</strong>,<br />

das ihn als Yogi indischer Tradition zeigt, umgeben von vielen kleineren<br />

Szenen aus der Geschichte seines Lebens. Milare<strong>pa</strong> verkörpert<br />

den Typus des „weisen Narren“, der auch bei den Nyingma<strong>pa</strong> (z.B.<br />

Patrul Rinpoche) eine nicht unwesentliche Rolle spielt.<br />

In der Frühphase der Ordensgründung pflegten die Mönche des Kagyü<strong>pa</strong><br />

Ordens wie die Nyingma<strong>pa</strong> ihre Meditation grundsätzlich nicht<br />

im Kloster, sondern einsam in der rauhen Natur der tibetischen Einöden<br />

oder in abgelegenen Höhlen, in denen sie sich zu diesem Zwecke<br />

zurückzogen. Deshalb steht für ihre Klöster manchmal auch der Name<br />

Takphu (sTag-phu), d.h. Höhle, anstelle dGon-<strong>pa</strong>. Dabei übten sie<br />

eine für ihren Orden exklusive Form der Meditation und tantrischen<br />

Praxis (siehe Tabelle unten).<br />

Im Laufe der späteren Ordensgeschichte hat man die Präferenz für die<br />

Einsiedelei sukzessive zurückgenommen zugunsten der Option alternativer<br />

Meditationsmethoden, die man auch in den Räumen des Klosters<br />

üben konnte. Die Auseinandersetzung mit den Kadam<strong>pa</strong> und<br />

später Gelug<strong>pa</strong> brachte sie schließlich auch dazu, deren Konzept<br />

größerer Klosterorganisationen in der Funktion geistlicher, wirtschaftlicher<br />

und politischer Zentren der Region zu übernehmen. Die<br />

politische Führung Tibets vermochteten nach der Sakya<strong>pa</strong>-Ägide nur<br />

für kurze Zeit einige Vertreter des Phagmodru<strong>pa</strong>-Ordens, und zwar<br />

mit der Unterstützung ihrer adligen Verwandtschaft zu übernehmen.<br />

Die Kagyü<strong>pa</strong>-Richtung betrachtet denselben Dyni-Buddha als ihren<br />

di-buddha wie der Gelug<strong>pa</strong>-Orden (Vajradhara), beruft sich aber<br />

hinsichtlich dieser Entscheidung nicht auf eine Inspiration durch Maitreya.<br />

Sie üben sich in der Logik, Rhetorik und Dogmatik, bei der sie


144<br />

sich an der Schulrichtung der Brüder Asaga und Vasubandha orientieren.<br />

Auch ihre Seminare folgen den sog. Fünf Wissensgebieten.<br />

Der Sa-skya-<strong>pa</strong>-Orden (Sa-skya=fahle Erde), eine Prärogative der<br />

Khön-Lineage, aus der auch der Ordensgründer Künga Gyaltsen<br />

stammte, rühmt den Bodhisattva Majushr als seinen inspirativen<br />

Ordens<strong>pa</strong>tron. Über den Rückbezug auf indische Weise leitet er seine<br />

eigene Überlieferungslinie von ihm in direkter Folge ab.<br />

In der Lehre bezieht sich der Orden hauptsächlich auf das Hevajra-<br />

Tantra und die Lamdres (Lam-’bras), d.h. die >Schriften des Weges<br />

ohne Furcht


145<br />

Die Nyingma<strong>pa</strong> praktizierten die Lehre anfänglich nach dem Vorbild<br />

der indischen Mahasiddhas als Yogis, d.h. sie begaben sich dazu in<br />

einsam gelegene Refugien, aus denen sich später zum Teil auch kleinere<br />

Klöster herausbildeten. Samye (bSam-yas), das Wurzelkloster<br />

auch der Nyingma<strong>pa</strong> in Zentraltibet, diente zunächst als Anlaufpunkt<br />

dieser weit verstreut lebenden Ordensgemeinschaft, welche ihren Weg<br />

zur Vollkommenheit über die Methode des Atiyoga geht. Später wurden<br />

dann Mindroling (sMin-grol-gli) und Dorjetra (rDo-rje brag) die<br />

geistigen Zentren dieses Ordens. Die Nyingma<strong>pa</strong> haben auch die meisten<br />

Elemente des Bön, der vorbuddhistischen Religion Tibets, bewahrt,<br />

so pflegen sie genauso wie die Bön-Religion auch neun Fahrzeuge<br />

der Lehre.<br />

Auch in der Methode der Übertragung<br />

seiner Lehren pflegt<br />

dieser Orden eine nur ihm eigene<br />

Methode, nämlich das<br />

Verstecken wichtiger Schriften<br />

als Terma (gTer-ma) d.h.<br />

Schätze der Lehre, die in späteren<br />

Zeiten von den Tertön<br />

(gTer-ston), den sog. Schatzentdeckern,<br />

wiedergefunden werden,<br />

deren Erfolg durch entsprechende<br />

Inspirationen, die<br />

sie von den Dakinis empfangen,<br />

geleitet wird. Die bekannteste<br />

Schrift aus diesem Schatz ist<br />

das Bardo Thödol (Bar-do<br />

Nyingma<strong>pa</strong>-Mendikant, aufgenommen 1929 von J.F.Rock, aus<br />

M.Aris, Lamas, Princes and Brigands, New York 1992, p.112<br />

Thos-grol), das Tibetische Totenbuch,<br />

von dem es allerdings<br />

auch Versionen in den anderen<br />

Traditionen gibt. Aus der Gruppe der Dhyni-Buddhas verehren die<br />

Nyingma<strong>pa</strong> als ihren di-Buddha den Bodhisattva Samantabhadra<br />

(chin. Phu-hsien, Erscheinung des Dhyni-Buddha Vairocana). In der<br />

Auslegung des Dharma folgen die Nyingma<strong>pa</strong> der Schule des Asaga<br />

und Vasubandhu. In der Regel tragen die Mönche dieser Schule auch<br />

ein rotes Gewand mit roter Kappe, während die Vertreter bestimmter<br />

Sonderrichtungen unter ihnen auch bei gegebenen Anlässen, wie die<br />

Vertreter der anderen Orden auch, schwarze Kappen unterschiedlichster<br />

Form als Kopfbedeckung tragen.


146<br />

Weitere ordensspezifische Unterschiede lassen sich festmachen an den<br />

bei der Meditation in den jeweiligen Orden bevorzugten sanas, an<br />

den verschiedenen Namen für die Meditationsübungen (Lam-rim,<br />

Lam-’bras, Mahmudr, Mah ut<strong>pa</strong>nna) und der mit ihnen verbundenen<br />

Mantras.<br />

Die wechselseitige Referenz in Metaphysik und Praxis zwischen den<br />

halbreformierten und den reformierten Orden des Lamaismus gibt das<br />

Schema oben, das Waddell entworfen hat, wieder. Mit seiner Hilfe<br />

kann man sich wenigstens grob die Überschneidungen und äußerlichen<br />

Differenzierungen in Metaphysik und Methoden der Übung sowie<br />

Praxis, welche die alternativen Hauptschulen des reformierten Lamaismus<br />

auszeichnen, vergegenwärtigen.


147<br />

Gebildete und ungebildete Mönche: dPe-cha-ba und sGrogs-med<br />

Teil einer Klosterbibliothek, Ch.Bell, Tibet einst und jetzt, Leipzig 1925, S.177<br />

Wie in den vier großen Gelug<strong>pa</strong>-Klöstern (Densa sum und Tashi<br />

Lhunpo) läßt sich auch die Belegschaft der Mönche anderer großer<br />

Klöster (z.B. von Kumbum, Labrang Tashi Kyil, etc.) und anderer Orden<br />

(z.B. Sakya<strong>pa</strong>, Karma<strong>pa</strong>) nach zwei Statusgruppen unterscheiden,<br />

deren Zuschreibung der Besitz oder das Fehlen einer gewissen Gelehrsamkeit<br />

ausmacht, d.h. also nach der Gruppe der Literati oder der Studierenden,<br />

tibetisch Petschawa (dPe-cha-ba), 291 und nach der Gruppe<br />

der nicht studierten Mönche (sGrogs-med), die, wenn überhaupt, nur<br />

ihre Gebetsbücher und obligatorischen Gesänge oder einfache Schriften<br />

zu lesen verstehen. 292<br />

Nach Grimshaws Dafürhalten ergab sich diese Differenz allein schon<br />

aus dem traditionellen Selektionsverfahren, nach dem das monastische<br />

System seine Mitglieder in Tibet rekrutierte, aus einem Selektionsverfahren,<br />

bei dem die geistliche Eignung der Kandidaten zunächst gar<br />

keine Rolle spielte. „Die meisten Mönche waren dem Kloster von ihren<br />

Eltern als kleine Jungen übergeben worden. Ihre formelle Auf-<br />

291 Mit Rücksicht auf tib. dPe-cha (sprich: Petscha)= tibetisches Buch aus Blockdruckseiten mit religiösem<br />

Inhalt.<br />

292 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.24;<br />

Thubten Dschigme Norbu verweist ebenfalls auf diese Differenz: „Ich kam im Kloster fast nur mit Mönchen<br />

zusammen, die sich dem Studium und der Kontemplation geweiht hatten. Auch meine ganze Erziehung war auf<br />

dieses Ziel gerichtet. Es war also nicht verwunderlich, daß ich mit den vielen anderen Mönchen, die nicht der<br />

Gelehrsamkeit lebten, nur wenig Berührung hatte… Da sie in der Regel keine Klassen besuchten, verrichteten<br />

sie die niederen Arbeiten und halfen zum Beispiel auch in der Küche.“ Thubten Dschigme Norbu, Tibet,<br />

verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.366-7


148<br />

nahme vollzog sich in zwei Stufen: erst das Noviziat (Beachtung der 5<br />

buddhistischen Vorschriften…), und mehrere Jahre danach die volle<br />

Ordination (Beobachtung 5 weiterer Vorschriften…). Viele Jungen<br />

wurden im alten Schrifttum unterrichtet und im mönchischen Leben<br />

unterwiesen, ohne daß sie notwendigerweise die geringste natürliche<br />

Neigung zu beidem hatten.“ 293<br />

Der Verzicht auf eine geistliche Eingangsprüfung beim Eintritt ins<br />

Kloster korreliert allerdings gut mit den spezifischen Funktionen, welche<br />

das monastische System in Tibet zu erfüllen hatte. In seiner Funktion<br />

als Regent oder als Grundherr konnte es sich das Kloster gar nicht<br />

mehr leisten, die Selektion seiner Mitglieder ausschließlich hinsichtlich<br />

ihrer geistlichen Qualitäten vorzunehmen. Als das Kloster gesellschaftliche<br />

Funktionen übernahm, mußte es auch die Arbeitsteilung<br />

der Gesellschaft in seinem Orden reproduzieren, aber damit zugleich<br />

auch die anderen als die genuin mönchischen Tugenden und Qualifikationen<br />

im Verhältnis zu jenen entsprechend abwerten, was sich wiederum<br />

gut vereinbaren ließ mit der sozialen Standesordnung der Gesellschaft,<br />

aus welcher die Postulanten stammten. So vermochte das<br />

Kloster allen Ständen Karrieren anzubieten, die ihrem gesellschaftlichen<br />

Stand entsprachen, aber es bot andererseits auch den Begabten<br />

aus jedem sozialen Stande Aufstiegschancen, welche die extramonastische<br />

Gesellschaft nur den Mitgliedern des höchsten Standes vorbehielt.<br />

Nach Ivan Vandor lag und liegt die Wahl der Optionen zum<br />

Studium oder zur Übernahme anderer klösterlichen Tätigkeiten beim<br />

Novizen. „Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren entscheidet sich der Novize,<br />

ob er seine <strong>Studien</strong> fortsetzen und beispielsweise ein Lehrer<br />

(Geshe) werden will oder ob er es vorzieht, sich auf andere Tätigkeitsgebiete<br />

zu beschränken, z.B. die Versorgung des Klosters mit Lebensmitteln,<br />

Verwaltungsaufgaben, die Herstellung von dekorativen<br />

oder rituellen Gegenständen, das Spielen von Musikinstrumenten oder<br />

die zahlreichen sonstigen praktischen Arbeiten, die für das tägliche<br />

Leben unerläßlich sind.<br />

Auf diese Weise entstehen zwei deutlich zu trennende Gruppen von<br />

Mönchen, nämlich die der gebildeten Mönche und jene, in der alle<br />

Mönche ohne eine solche Ausbildung zusammengefaßt sind (und die<br />

in den Klöstern von Gyütö und Gyüme als Kyerim<strong>pa</strong> 294 bezeichnet<br />

werden).“ 295<br />

293 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.58<br />

294 sKye-rim-<strong>pa</strong><br />

295 Ivan Vandor, Die Musik des tibetischen Buddhismus, Wilhelmshaven, Locarno, Amsterdam 1978, S.30


149<br />

In dieser auffallenden Zweiteilung der Klostergesellschaft in die<br />

Gruppe der Gebildeten (dPe-cha-ba) und in jene der weniger Gebildeten<br />

(sKye-rim-<strong>pa</strong> oder sGrogs-med) sah auch Tucci eine Differenzierung<br />

oder Selektion der Begabung innerhalb des Klosters: „Das<br />

tibetische Mönchswesen beruht auf zahlenmäßig beträchtlichen geistlichen<br />

Gemeinden (grva-<strong>pa</strong>). Aber nicht jedes Mitglied derselben ist<br />

imstande den vorgeschriebenen <strong>Studien</strong>gang bis zu Ende durchzuhalten.“<br />

296 Andere Beobachter, welche die Hinweise auf die plutokratische<br />

Struktur der Mönchshierarchie herausstellten, darunter auch<br />

R.A.Stein, erkannten in ihr vor allem eine Wiederholung der Selektion<br />

sozialer Chancen, welche die Feudalgesellschaft generell auszeichnete.<br />

Wer ärmere Mönche anstellen kann, gewinnt nicht nur Zeit, sondern<br />

auch Vorteile ihnen gegenüber im Zugriff auf die möglichen<br />

Statusverbesserungen. Die Chancenungleichheit äußert sich darin, daß<br />

einige eben für andere arbeiten müssen, um überhaupt am Studium<br />

teilnehmen zu können. „Arme Studenten können sich Geld für ihr<br />

Essen verdienen, indem sie den Bessergestellten allerhand Dienste leisten,<br />

denn jeder Student hat bestimmte Pflichten zu erfüllen, die oft<br />

sehr niedrig sind… Ein Student, der fürs Examen arbeitet, wird mit<br />

Sicherheit versuchen, einen anderen zu finden, der sein Zimmer für<br />

ihn aufräumt und andere unangenehme Aufgaben erledigt.“ 297<br />

Die wenigen Beispiele gelehrter Mönche niederer sozialer Herkunft<br />

konnten für jene, welche in dieser Zweiteilung eine soziale Ursache<br />

sahen, keine repräsentative Geltung beanspruchen und gestatteten es<br />

ihnen daher auch nicht, von einer für das Kloster typischen Begabtenselektion<br />

(Eupsyokratie) der Gelehrsamkeit zu sprechen. 298<br />

Auch die tibetischen Weißheitsgeschichten, die sowohl im Volk als<br />

auch den Schülern von ihren Lehrern im Unterricht mit den entsprechenden<br />

didaktischen Absichten erzählt wurden, bestätigen, daß sich<br />

die Tibeter selbst dieser Tatsache gewahr waren, daß es in den Klöstern<br />

viele Mönche oder Novizen gab, die weder lesen noch schreiben<br />

konnten, 299 aber diesen Mangel durch andere Fertigkeiten auszugleichen<br />

wußten. Schließlich waren auch diese Dienste, welche weniger<br />

Gelehrsamkeit voraussetzten, für das Klosterleben ebenso notwendig<br />

wie die Ergebnisse des Gelehrtenfleißes.<br />

296 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.157<br />

297 Thubten Jiogme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.247<br />

298 Siehe z.B.: E.Kawaguchi, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.324-7<br />

299 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995; hier z.B. die Geschichte: „Bewußtseinsübertragung“,<br />

ibid, S.160-164


150<br />

Carasco schreibt: „Many of them never advance beyond the grade of<br />

dge-tshul and devote themselves to all kinds of occu<strong>pa</strong>tions.“ 300<br />

McGovern wies bereits daraufhin: “Besonders in Provinzklöstern<br />

kommen viele Mönche nie höher als zu diesem Grad (Getshul/H.S.),<br />

der übrigens zur Teilnahme an den meisten Zeremonien berechtigt.“ 301<br />

Nimmt man die Differenzierung der höheren und niederen Gelübde<br />

Anteil der Gelong und Geshe in drei Klöstern:<br />

Körperschaften Mönche Gelong Geshe % Quelle<br />

Labrang Tashi-kyil (1925) 3000 300 10 J.F.Rock<br />

Tashi Lhünpo (1907) 3800 1200 - 31,5 S.Hedin<br />

Sera-Me (1910) 2800 800 - 29 M.Goldstein<br />

als Maßstab, denn das Gelong-Gelübde war ja die Voraussetzung für<br />

die Weiterbildung zum Geshe, dann wird McGoverns wie Carascos<br />

Beobachtung auch von Hedin für Tashi Lhünpo bestätigt: „Gegenwärtig<br />

(d.h. 1907/ H.S.) gibt es in Tashi-lunpo 3800 Mönche… Von den<br />

3800 sollen 2600 dem Gestsulgrad und 1200 dem Gelonggrad angehören.<br />

Die Gelong-Lamas brauchen sich nicht mit weltlichen Arbeiten<br />

zu befassen, sondern haben nur den Tempeldienst zu besorgen und<br />

beim Gottesdienst mitzuwirken.“ 302 1907 kamen also in Tashi-Lhünpo<br />

auf 2,2 Getshul jeweils 1 Gelong, d.h. 31,5% der Belegschaft waren<br />

Gelong und 68,5% Getshul. Dementsprechend kleiner war auch in<br />

Tashi-Lhünpo die Gruppe der eigentlichen Gelehrten, die ja nicht mit<br />

jener der Gelongs kongruent war, sondern nur die Geshe’s umfaßte.<br />

Für Labrang Tashi-Kyil (bLa-bra bKra-shis-’khyil) gibt Rock die<br />

Zahl der Geshe’s mit 300 an, bei einer um 1925 zählenden Mönchsbelegschaft<br />

von 3000 Mönchen. Das wären dann ganze 10% des Klosters<br />

in jener Zeit. 303<br />

Die Proportion der Gruppe, welche ihre Grundausbildung mehr oder<br />

minder abgeschlossen hatte, im Verhältnis zu jener, die nicht über den<br />

Status des Getshul hinausgekommen war, läßt sich auch für das Kolleg<br />

Sera Me quantifizieren. Im Dratshang (=Kolleg) Me (Grwa-tsha<br />

sMad) des Klosters Sera konnten vor 1950 beispielsweise von 2800<br />

Mönchen ganze 800 wirklich lesen und schreiben, das sind 29% der<br />

Belegschaft, und von diesen 800 beherrschten die meisten nur die<br />

niedrigsten Stufen des monastischen Wissensstoffes. 304<br />

300 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.122<br />

301 W.M.McGovern, Als Kuli nach Lhasa, Berlin 1924, S.274<br />

302 S.Hedin, Transhimalaja I, Leipzig 1922, S.316-7<br />

303 Siehje: J.F.Rock, The Amnye Machen and Adjacent Regions, Rom 1956, p.56<br />

304 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.24


151<br />

Dafür beherschten sie aber, wie bereits erwähnt, andere Fertigkeiten,<br />

die für die Aufrechterhaltung des monastischen Systems gleichermaßen<br />

unverzichtbar waren; denn aus der Perspektive des monastischen<br />

Systems, speziell der für es erforderlichen funktionalen Arbeitsteilung,<br />

war es gar nicht erstrebenswert, daß alle Mönche die Gelehrtenlaufbahn<br />

einschlugen, und zwar aus den gleichen Gründen wie es<br />

für jede Gesellschaft genauso wenig wünschenswert sein kann, daß<br />

alle ihre Mitglieder Gelehrte seien.<br />

Die Spiegelung der Beobachtungen von McGovern, Carasco und Hedin<br />

mit jener von Goldstein und vor allem von Rock macht vor allem<br />

deren unterschiedlichen Bezugsgesichtspunkt deutlich; der ist einmal<br />

der Vollzug der monastischen Gelübde, das anderemal der Erwerb gelehrter<br />

Qualifikationen. Diese beiden Bezugsgesichtspunkte lassen<br />

sich nur indirekt in Beziehung setzen, und zwar nur soweit, wie die<br />

Fortbildung der Gelehrsamkeit das Gelong-Gelübde voraussetzt, was<br />

ja auch Goldsteins Einwand herausstellt, wenn er betont, daß von den<br />

von ihm zitierten 800 Mitgliedern der kleinste Teil wirklich gelehrt<br />

gewesen war, was wiederum auf eine Mittelschicht zwischen hoher<br />

Bildung und Unbildung schließen läßt, auf die tatsächlich auch Ursula<br />

Baumgardt unter Hinweis auf ihren Informanten Tulku Lodrö aufmerksam<br />

gemacht hat, der diese Gruppe Pe-tscha-wa min-<strong>pa</strong> nannte,<br />

d.h. „jene die keine Bücher studierten“ oder wörtlich: „Nicht Bücherleute<br />

Seiende“. 305<br />

Danach müßte man also eine Schicht höherer von einer Schicht nieder<br />

Bildung unterscheiden und diese beiden wiederum von der großen<br />

Mehrheit der Ungebildeten. Diese Differenzierung der Belegschaft<br />

nach ihrer Bildung, wonach die Gebildeten selbst noch einmal in höher<br />

oder niedriger Gebildete unterschieden werden, macht also die Zäsur<br />

an der gleichen Stelle wie die Differenzierung der Mönche nach<br />

ihren Gelübden und führt außerdem eine zusätzliche Unterscheidung<br />

der Gelongs nach ihrem Bildungsgrad ein, weshalb man dann auch<br />

tatsächlich an der aus der Literatur vertrauten Zweiteilung in studierte<br />

und nichtstudierte Mönche weiterhin ohne Beugung der Tatsachen<br />

festhalten kann, denn diese bezieht sich ja auf die literarische Bildung,<br />

jene aber auf monastische Tugenden, welche zwar nicht ohne Bildung<br />

auskommen, aber keineswegs auf höchste Gelehrsamkeit angewiesen<br />

sind, woran besonders die „weisen Narren“ (Geshe Ben, Milare<strong>pa</strong>,<br />

Drugba Künleg, Patrul, Jamyang und Doe Khyentse, etc.) die Mönche<br />

305 Siehe: U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bzeichnungen in der Hierarchie des tibetischen Klerus, Rikon<br />

1977, S.40-41


152<br />

in Tibet immer wieder erinnert hatten. Allein, daß man den Geshe-Titel<br />

durch Studium erwerben kann, während der Gelong-Titel nur nach<br />

dem entsprechenden Gelübde verliehen wird, macht auch die inhaltliche<br />

Differenz dieser Unterscheidung deutlich. Unter diesem Gesichtspunkt<br />

wäre die Gruppe der Gelongs, die sich nicht dem ausführlichen<br />

Studium unterworfen hatte, entweder ebenfalls dem Kreis der Ungebildeten<br />

beizurechnen oder als eine mittlere Bildungsschicht<br />

anzusehen, und wenn man außerdem noch den Grundsatz berücksichtigt:<br />

sapientia non sit in literis, dann fällt die Gruppe der Gebildeten<br />

auch nicht mit der Gruppe der Weisen zusammen.<br />

Und genauso wenig, wie man die monastische Oberschicht nicht<br />

bruchlos mit der Gelehrtenschicht gleichsetzen kann, läßt sich die monastische<br />

Unterschicht nicht umstandslos gleichsetzen, denn auch unter<br />

den praktischen Funktionen gibt es solche, die mit höherem oder<br />

weniger hohem Status korreliert sind, so kommt z.B. all jenen Funktionen,<br />

die mit der Aufrechterhaltung der klösterlichen Disziplin verbunden<br />

sind, höherer Status zu als solchen Tätigkeiten wie z.B. der<br />

Küchendienst, der Reinigungsdienst oder die handwerkliche Arbeit.<br />

Aus dem Kreis der ungebildeten oder weniger gebildeten Mönche rekrutierten<br />

die Klöster auch ihre Milizen (ldab-ldob oder rdab-rdob),<br />

die sich selbst ebenfalls vereinsförmig organisierten, ihre Wehrübungen<br />

und sportlichen Trainingsprogramme im Verein absolvierten und<br />

ihr Können in Mannschaftswettkämpfen vorstellten. 306 Diese Milizen<br />

konnten eine Mannschaftsstärke zwischen 10% bis 15% der Klosterbelegschaft<br />

erreichen. 307<br />

Auch in den Filialklöstern scheint die Proportion der Literati und der<br />

Ungebildeten nicht wesentlich anders auszufallen. Carasco schreibt in<br />

Übereinstimmung mit McGovern (siehe oben): the majority of the inmates<br />

of the branch monasteries are not fully ordained.” 308 Swami<br />

Pranavananda 309 gibt die Proportion für das Kloster Simbeling an, die<br />

wir Carascos Fußnote 225 entnehmen: “For example in Simbeling 6<br />

“lamas” out of 170 “monks”." 310<br />

Die Analphabeten 311 wie die marginal Gebildeten arbeiteten für das<br />

Kloster in den verschieden niederen Diensten oder Gewerken oder für<br />

sich selbst, oder sie ernährten sich ausschließlich von den Nahrungs-<br />

306 Siehe: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140-141<br />

307 Siehe: M.C.Goldstein, A History of Modern Tibet, 1913-1951, Berkeley, Los Angeles, London 1991, p.25<br />

308 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.122<br />

309 Swami Pranavanada, Kailas-Manasarovar, Calcutta 1949, p.62-3<br />

310 P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.256<br />

311 „Sehr viele Mönche sind jedoch Analphabeten und können nur einige Gebete hersagen.“ M.Hermanns, Die<br />

Familie der Amdo-Tibeter, Freiburg, München 1959, S.234


153<br />

mittelzuteilungen und dem Tee-Ausschank während der täglichen Gebetssitzungen.<br />

Tucci hat beobachtet: „Trägern niedriger klösterlicher<br />

Grade obliegen einfache Aufgaben: Instandhaltung des Klostergebäudes,<br />

Anzünden der Lampen auf den Altären, kurz alle jene Verrichtungen,<br />

die keine besondere Gelehrsamkeit erfordern.“ 312<br />

Im Hinblick auf die Anstrengungen, welche von den Mönchen unternommen<br />

werden mußten, ihren Lebensunterhalt zu erwerben, sprach<br />

Max Weber von einer plutokratischen Gliederung der Lamas, 313 da die<br />

extramonastischen Einkommensquellen, über welche Mönche verfügen<br />

konnten oder nicht, deren Status im Kloster ganz wesentlich beeinflußten<br />

314 , d.h. auch die Chancen für ein höheres Studium.<br />

Wenn auch die Mehrzahl der Mönche also weder studierte noch meditierte,<br />

so hielt auch sie sich in den zölibatären Orden doch an das<br />

Gebot des Zölibats.<br />

Die eigentlichen Studenten dagegen strebten den Grad eines Geshe<br />

(dGe-bshes) an, den man in allen Gelug<strong>pa</strong>-Kollegien und in einigen<br />

Sakya-<strong>pa</strong> Kollegien erwerben konnte.<br />

„Studium und Vorbildung sind so die Wurzel einer tiefgehenden Differenzierung<br />

zwischen gelehrten und ungelehrten Mönchen. Zahlenmäßig<br />

sind es nur wenige, die eine derart schwierige Lehrzeit auf sich<br />

zu nehmen gewillt sind. Sie führen den Ehrennamen von Literaten<br />

(p’yag dpe-<strong>pa</strong>) und müssen sich, ihre Eignung dafür vorausgesetzt,<br />

dem Studium nach jener Methode unterziehen, die Tibet als Erbe von<br />

Indien übernommen hat, nämlich der Bewältigung der fünf Hauptgruppen,<br />

in die sich das ungeheure Corpus der buddhistischen Schriften<br />

gliedert: vor allem Logik (ts’ad ma), die p’ar p’yin, das philosophische<br />

System des Ngrjuna (dbu ma), Abhidharma (mon <strong>pa</strong>r<br />

mdsod) und Disziplin (so sor t’ar, adul ba)… Hat der Studierende…<br />

die vorgeschriebenen Prüfungen mit Erfolg abgelegt, dann eröffnen<br />

sich ihm zweierlei Aufstiegsmöglichkeiten: er kann den Rang eines<br />

dge bes zweiter Klasse erwerben (dge bes c’un); dieser Titel wird<br />

ihm von seinem <strong>Studien</strong>seminar verliehen. Oder er kann den Rang eines<br />

dge bes erster Klasse (dge bes c’en) erlangen, eine Beförderung,<br />

die seitens der Regierung auf Vorschlag der zuständigen <strong>Studien</strong>anstalt<br />

erfolgt.“ 315<br />

312 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.157; siehe auch: P.Carasco, Land and Polity in Tibet, Seattle 1959, p.122<br />

313 M.Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, B2,Tübingen 1966, S.314<br />

314 Siehe: R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140<br />

315 G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei, Stuttgart,<br />

Berlin, Köln Mainz 1970, S.159


154<br />

Nichttibetische Reisende und Forscher verbanden mit der Beobachtung<br />

dieser dualen Gliederung der Klosterbelegschaft in Gebildete und<br />

Ungebildete, die zugleich auch mit höherem oder niederem Rang korreliert<br />

war, mehr oder minder ausgesprochen einen Vorwurf, der vor<br />

allem von ihren eigen Vorstellungen über das Klosterwesen oder seiner<br />

idealen Form bestimmt wurde. Das galt auch für buddhistische<br />

Beobachter wie z.B. für Kawaguchi, für die das Ideal des claustrum,<br />

das Ideal der "Hauslosigkeit", im Vordergrund stand, und dementsprechend<br />

das Streben der Mönche nach Befreiung, Ideale, welche<br />

nach ihrem Dafürhalten auch schon die Eintrittsauswahl der Bewerber,<br />

die ins Kloster wollten, bestimmen sollten.<br />

Sobald man aber von den eigenen Vorstellungen über das Klosterwesen<br />

Abstand nimmt, und versucht, die Perspektive einzunehmen, unter<br />

der allein das buddhistische Kloster in Tibet seine Entstehungs- und<br />

Fortbestandschance besaß, d.h. die historischen Bedingungen ihres<br />

Entstehens und ihrer Verbreitung berücksichtigt und die verschiedenen<br />

sozialen und politischen Aufgaben in Rechnung stellt, welche das<br />

Kloster in Tibet übernehmen mußte, damit es sich dort behaupten<br />

konnte, dann ist weder etwas an der Tatsache dieser Differenzierung<br />

der Mönche in Gebildete und Ungebildete noch an der Proportion, in<br />

welcher beide Gruppen im Kloster vertreten sind, wirklich etwas auszusetzen.<br />

Die beobachteten oder vermeintlichen Mißstände, die sich in diesen<br />

Zusammenhang bringen lassen, lassen sich nicht grundsätzlich von<br />

dieser Differenz der Klosterbelegschaft her begründen, sondern nur<br />

von dem Mißbrauch des Wissens im Umgang mit den Ungebildeten,<br />

dessen Motive und Gründe in der Regel auch nicht im klösterlichen<br />

Bereich zu finden waren, sondern in den Zuständen und Bedingungen<br />

außerhalb, die von der Klosterführung aus den verschiedenen historischen<br />

wie sozialen oder politischen Gründen nicht immer abgewehrt<br />

werden konnten.<br />

Es erscheint daher unangemessen, ein System nur nach jenen Gesichtspunkten<br />

zu beurteilen, die nicht zu ihm gehören, wenngleich<br />

man auch nicht ignorieren darf, daß sich solche Faktoren, die eine<br />

Wert- und Akzentverschiebung in der klösterlichen Zielorientierung<br />

mit sich brachten, in das System einschleichen konnten und die zeitweilig<br />

so stark auf das System einzuwirken vermochten, daß es dann<br />

auch kaum noch wiederzuerkennen war.<br />

Wir haben oben bereits ein historisches Beispiel zitiert, das zeigte, daß<br />

Khamtsen-Äbte die Masse der Mönche ihres Kollegs sowohl gegen


155<br />

das geistliche und staatliche Oberhaupt ihres Landes aufzubringen in<br />

der Lage waren, als auch gegen statusabhängige Hintersassen, daß<br />

eine solche erregte Masse zu tätlichen Aktionen zu mobilisieren war,<br />

d.h. daß eben das, was jene erwähnten Autoren dem System als generellen<br />

Zweck unterstellten, durchaus möglich war, doch derartige Beispiele<br />

zeigen eben auch, wenn man sie über den Zeitraum der Geltung<br />

des monastischen Systems in Tibet betrachtet, daß sie nicht die Regel<br />

waren.<br />

Wir betrachten daher die Differenzierung der Klosterbelegschaft in die<br />

Literati (dPe-cha-ba) und die Ungebildeten nach der soziologischen<br />

Erfahrung, daß in jeder Gemeinschaft oder Gesellschaft die Zahl der<br />

Gebildeten kleiner und die Zahl der weniger Gebildeten sehr viel größer<br />

ist, und daß diese Proportion in der Perspektive funktionaler Arbeitsteilung<br />

auch durchaus sinnvoll ist und nicht an sich schon die Ursache<br />

für soziale Benachteiligungen abgibt. Damit das eintritt, müssen<br />

zusätzliche Bedingungen gegeben sein und wirksam werden.


156<br />

Die Klostermilizen (rdod-rdab oder ldab-ldob)<br />

Das differenzierte Erscheinungsbild tibetischer Mönche läßt sich unter<br />

verschiedenen Gesichtspunkten betrachten:<br />

1) als Ausdruck funktionaler Arbeitsteilung oder "organischer Solidarität"<br />

(Durkheim),<br />

2) als Ausdruck gebotener Einkommensalternativen (wie bereits in<br />

dem Kapitel "Unterhalt der Mönche" skizziert) oder<br />

3) als Ausdruck sozialer Schichtung, wenn der Zugang zu Einfluß und<br />

Macht abhängig ist von Qualifikationen, die man erworben haben muß<br />

oder die einem durch Geburt zugeschrieben werden. Daß alle führenden<br />

Positionen im Kloster des traditionellen Tibet entweder den Besitz<br />

eines Geshe-Titels, die Tulkuschaft oder adlige Herkunft voraussetzten,<br />

ist hier ebenfalls schon verschiedentlich erwähnt worden.<br />

Differenzierung der Mönche nach Qualifikationen (funkt. Arbeitst.) Die von einer Reihe<br />

Mönche<br />

von Beobachtern vorgestellte<br />

Zweiteilung<br />

Akademisch gebildete Mönche<br />

(dPe-cha-ba)<br />

Elementar geschulte Mönche<br />

(sGrogs-med)<br />

Dienstleister Handwerker Milizionäre<br />

(lDab-ldob)<br />

der Mönchsgemeinschaft<br />

in Mönche, die<br />

sich dem Studium<br />

widmen, und unter<br />

diesem Aspekt auch<br />

als Petschaba (dPe-cha-ba) zusammengfaßt werden, und in Mönche,<br />

die nicht studieren und deren Schulung nicht über die Grundausbildung<br />

hinausging (sGrogs-med), sondern sich auf die Bereiche klösterlicher<br />

Dienstleistungen, künstlerischer und handwerklicher Fertigkeiten<br />

konzentrierte, war aber durchaus geeignet, jene wirtschaftlichen<br />

und sozialen Strukturen zu reproduzieren, welche die traditionelle<br />

Gesellschaft Tibets auszeichneten.<br />

Stein verweist in diesem Zusammenhang auf eine weitere Funktion,<br />

welche von den nicht akademisch geschulten Mönchen übernommen<br />

werden konnte. "The impoverished lower clergy cannot usually follow<br />

the lengthy studies needed to reach high monastic positions, and often<br />

even remain illiterate. In addition to the duties of every kind with<br />

which they may be burdened at the monastery (...), they supply- in<br />

some large Gelug-<strong>pa</strong> monsteries, like Sera- quite an army of athlete or<br />

warrior monks." 316<br />

316 R.A. Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.140-141; siehe auch: W.M.McGovern, Als Kuli nach Lhasa,<br />

Berlin 1924, S.275


157<br />

Und wenn man speziell auf den Kreis jener Mönche schaut, welche<br />

den Beruf von Milizionären, d.h. von Polizisten und Soldaten, ausübten,<br />

dann wird auch die politische Dimension deutlich, welche in dieser<br />

Differenzierung der Mönche nach den Aufgaben erscheint, die sie<br />

wahrnehmen konnten.<br />

Polizeiliche und militärische Aufgaben gehören in der Regel zu den<br />

Funktionen staatlicher Exekutive als Ausdruck staatlichen Gewaltmonopols.<br />

Sie müssen aber nicht als spezieller Beruf oder als Amt für<br />

sich ausgeübt werden, sondern können auch von den Repräsentanten<br />

des Staates, die ihn in den Bezirken juristisch und administrativ vertreten,<br />

in Personalunion wahrgenommen werden, was dann auf ein<br />

rDab-rdob des Klosters Choni, 1927 aufgenommen von J.F.Rock, aus: M.Aris, Lamas, Princes, and Brigands,<br />

New York 1992, p.95<br />

Fehlen der Gewaltenteilung oder auf eine geringere Form der Gewaltenteilung<br />

hinweist. In Tibet wurden die polizeilichen und militärischen<br />

Aufgaben von einem und demselben Personenkreis, d.h. von<br />

Milizionären, vollstreckt, die man gemeinhin als Soldaten bezeichnete,<br />

und zwar, und das ist das Besondere an dem politischen System<br />

Tibets, in der Laiengesellschaft von den in ständiger Bereitschaft gehaltenen<br />

und auf die verschiedenen Dzongs verteilten Milizen und in<br />

den Klöstern von monastischen Milizen, die sich für ihre Aufgaben<br />

auf ganz ähnliche Weise vorbereiteten wie die weltlichen Milizen oder<br />

Soldaten, nämlich durch Exerzieren und sportliches Training.


158<br />

"These monks (dob-dob or ldab-ldob) are subjected to a regular training<br />

(jumping, quarter-staff, races, etc.); fight duels (often over a minion);<br />

take <strong>pa</strong>rt in sport contests between monasteries; and serve highranking<br />

ecclesiasticals as bodyguards on their travels, or the monastic<br />

proctors (zhal-ngo) as servants (dge-gyog) at the Great Prayer (smon<br />

lam) festival in Lhasa... on which occasion they exert political pressure<br />

backed up with force." 317<br />

Dem Shengo (Zhal-ngo), d.h. dem Kloster-Proctor oder Kloster Provost<br />

unterstehen nicht nur die Geyög (dGe-gyog), die aus der Gruppe<br />

der Dabdo (lDab-ldob) speziell für die Mönlam- (sMon-lam) und<br />

Tschogchö- (Tshogs-mchod) Feiern rekrutiert werden, sondern auch<br />

die als Leibgarden und Personenschützer tätigen Dabdo oder jene Milizen,<br />

welche im Ernstfall die politischen und weltlichen Entscheidungen<br />

der Äbte im Rahmen ihrer Hoheitsgewalt durchsetzen müssen.<br />

Schäfer beschreibt das polizeiliche Einschreiten dieser Milizen während<br />

des Mönlam-Festes: „Der Kommandeur des berühmten Trapschiregiments,<br />

einer der höchsten Generäle, der seit Jahren die Leibgarde<br />

des Dalai Lama befehligt, erhält eine scharfe Rüge, weil er allzu lässig<br />

sitzt. Unter drohend erhobenem Knüppel muß er sittsame Haltung<br />

einnehmen… Ein ne<strong>pa</strong>lesischer Leibgardist in roter Paradeuniform,<br />

der sich unvorsichtigerweise gegen eine Säule lehnt, kommt schon<br />

weit weniger glimpflich davon. Augenblicklich erhält er einen derben<br />

Schlag über den Schädel, daß er zu taumeln beginnt.“ 318<br />

Indem der Staat den Klöstern ein Selbstbewaffnungsrecht einräumte<br />

und ihnen außerdem die Wahrnehmung der Aufrechterhaltung der öffentlichen<br />

Ordnung sowohl in ihren Mauern als auch auf ihrem Grund<br />

und Boden übertrug, teilte er auch mit diesen jene Gewalt, die der<br />

Staat in der Regel mit keiner anderen Institution in seinem Hoheitsgebiet<br />

zu teilen bereit war. So wurden in Tibet also die Weichen gestellt<br />

zu einer politischen Struktur, nach der eben jene Klöster, die Mönchsmilizen<br />

unterhielten, zu kleinen Staaten im Staat werden konnten,<br />

nachdem ihre Belehnung mit Land und mit Handelsprivilegien sie<br />

schon wirtschaftlich relativ autark gemacht hatte. Mit der Einrichtung<br />

der Klostermilizen kam nun auch noch jenes Moment politischer Autonomie<br />

hinzu, das im Verbund großflächig angelegter klösterlicher<br />

Allianzen entlang der Linien ihrer Filialklöster jeder Regierung ernsthaft<br />

gefährlich werden konnte.<br />

317 R.A. Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.141<br />

318 E.Schäfer, Fest der weißen Schleier, Braunschweig 1952, S.129-130


159<br />

Nicht anders als die regulären Milizen oder Truppen des Staates organisierten<br />

sich die Klostermilizen corpsweise (gling-ka) und entwickelten<br />

auch ihren eigenen Esprit de Corps, den sie äußerlich durch ihre<br />

Variation der Mönchstracht zur Schau stellten. Neben der Tatsache,<br />

daß ihr Untergewand (sham-thabs) doppelt so lang war wie das der<br />

anderen Mönche und sie den Zen (gzan), über beide Schultern geworfen,<br />

wie einen Schal trugen, stach besonders auch ihre Weste (rtsasdom)<br />

ab, die am rechten Arm oberhalb des Ellenbogens, manchmal<br />

sogar mit der Phreng-ba 319 befestigt wurde. Die lDab-ldob ließen sich<br />

ihren Kopf nicht vollständig scheren, sondern behielten eine charakteristische<br />

Locke (rna-skra), die sie, zu einem Horn oder einer Schnecke<br />

geflochten, um das Ohr führten. Um einen martialischen Eindruck zu<br />

machen, trugen sie auch Lidschatten aus Ruß (Dreg-nag) und gingen<br />

stets bewaffnet, und zwar mit Wurfwaffen, die nur sie trugen. Eine der<br />

typischen Waffen war eine Lanzettwaffe (lDe-brdzus), die aus dem<br />

tibetischen Schlüssel herausgetrieben wurde, während die andere<br />

(Khye’u) eine Weiterbildung des Sichelmessers der Kürschner war.<br />

Beide wurden an Schnüren befestigt, mit denen sie geworfen wurden.<br />

Nur das Khye’u wurde auch als Messer im Nahkampf eingesetzt. 320<br />

Schäfer erwähnt ganze „Hundertschaften rangmäßig gegliederter<br />

Mönchspolizisten, der >Geiks< 321 und der >Dobdobs


160<br />

Aus diesem Kreis der Milizen stammen nicht immer die Gekö (dgebskos),<br />

wohl aber die Geyog (dge-gyog), die in der englischsprachigen<br />

Literatur häufig auch als >iron-club lama< 325 , Proctor oder Provost<br />

bezeichnet werden, und für die Aufrechterhaltung der monastischen<br />

Disziplin verantwortlich sind. Die eigentlichen Provosten oder Proctoren<br />

waren der Shengo (Zhal-ngo) oder die Gekös (dGe-bskos), denen<br />

die Geyog (dGe-gyog) und Dabdos (lDab-ldo) unterstanden. „Als Insignien<br />

ihrer… Macht führen sie vierkantig meterlange, mit prächtigen<br />

Schmuckleisten verzierte metallene Züchtigungsstäbe und tragen<br />

über brokatbestickten, ärmellosen Westen <strong>pa</strong>nzerähnliche Togen mit<br />

mächtig ausgestopften Schultern und gelbe Raupenhelme.“ 326 Die<br />

Standardbewaffnung der einfachen Dabdo’s hingegen waren das<br />

Dedzu (lDe-brdzus) und das Khiu (Khye’u) sowie ein Schwert, das sie<br />

unter der Robe trugen.<br />

Diese Gekö (dge-bskos) als Proctoren wie die Geyog (dge-gyog) als<br />

Polizisten scheuten sich nicht, ungebührliches und störendes Verhalten<br />

physisch zu bestrafen oder betrachteten es auch als ihre Aufgabe,<br />

Streitigkeiten unter Mönchen zu schlichten, wenn nötig mit Gewalt.<br />

„Es ist das Vorrecht,“ schreibt Schäfer, „der riesenhaften, knüppelbewaffneten<br />

Gepkö-Lamas, für Ruhe und Ordnung zu sorgen… Bereit,<br />

jedweden zurechtzuweisen, der es wagen wollte, die feierliche Stille<br />

durch gesprochene Worte zu entweihen, stoßen sie bei der geringsten<br />

Störung mit ihren langen Stöcken auf, erteilen scharfe Rügen und<br />

schrecken selbst bei den höchsten Ministern vor exemplarischer Bestrafung<br />

nicht zurück.“ 327 Amaury de Riencourt war ebenfalls, und<br />

zwar etwas später als Schäfer, Zeuge der Ausübung monastisch-milizonärer<br />

Exekutivgewalt: „Als ich die Hauptgasse Seras durchschritt,<br />

trieben vor meinen Augen hochgewachsene Dobdobs- die Mönchspolizisten,<br />

die ein besonderes Merkmal jeder großen Lamaserei bildenbuchstäblich<br />

Tausende neugieriger Mönche von den Straßen. Diese<br />

athletischen Hüter von Gesetz und Ordnung gingen gewichtigen<br />

Schrittes auf die Menge zu und ließen rechts und links ihre langen<br />

Peitschen auf die Fliehenden niedersausen. Die beiden Gerichtsherren,<br />

die für die innere Sicherheit der Rosenhecke verantwortlich sind, traten<br />

heraus, um uns zu begrüßen. Mit ihren togaähnlichen Mänteln,<br />

ihren helmartigen gelben Kappen und den breiten, auswattierten<br />

Schultern sahen sie in erstaunlicher Weise wie alte römische Senato-<br />

325 Das tibetische Wort für diese Stangen ist ltschag-tsan, d.h. „eiserne Peitsche“.<br />

326 E.Schäfer, Fest der weißen Schleier, Braunschweig 1952, S.144<br />

327 E.Schäfer, Fest der weißen Schleier, Braunschweig 1952, S.129


161<br />

ren aus. Die wuchtigen, oben und unten mit Spitzen versehenen Eisenkeulen<br />

erinnerten mich an Liktorenbündel.“ 328<br />

328 A. de Riencourt, Tibet im Wandel Asiens, Wiesbaden 1951, S.133-4


162<br />

V<br />

Genuin tibetische Institutionen<br />

Der bLa-ma (Skr. Guru)<br />

In der tibetischen Laiengesellschaft ist es Brauch gewesen, jeden<br />

Mönch als Lama anzureden, und zwar als Ausdruck der Höflichkeit.<br />

So redeten Laien in Zentraltibet auch jeden Mönch als Kusho (skuzhabs)<br />

an, doch in den Klöstern des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens ist diese Anrede<br />

dem Lama im eigentlichen Sinne vorbehalten, wenngleich die Lamas<br />

nur im Kloster Sera auch tatsächlich mit diesem Titel angesprochen<br />

wurden.<br />

Thubten Dschigme Norbu bezeichnet den Lama als die vierte Zuflucht.<br />

329 Und Aurel Stein versichert: "For all who enter upon the <strong>pa</strong>th<br />

of enlightenment, the object of faith is first and foremost the Lama or<br />

spiritual teacher (guru). For it is typical of Lamaism (...) that one's<br />

Lama (guru) is superior to all "deities", even the most prominent." 330<br />

Ja eine Dakini belehrte Gambo-<strong>pa</strong> (1079-1153): "To venerate a single<br />

hair of one's teacher (slob-dpon) is greater merit (bsod-nams) than to<br />

venerate all the buddhas of the three times (...)." 331<br />

Im Unterschied zum Mönch, der als Klosterinsasse das monastische<br />

Leben führt, gilt der Lama als eine Verkörperung Buddhas, 332 als die<br />

Verkörperung der unverfälschten Lehre. Tib. bLa-ma heißt der „Höherstehende“<br />

und umschreibt die Achtung vor der Weisheit dessen,<br />

dem man diesen Titel zubilligt. Das kann auch ein Laie sein. Die höfliche<br />

Anredeform für jeden tibetischen Mönch ist also in dieser Hinsicht<br />

nicht allein sein Privileg, sie gebührt jedem echten Lehrer, der<br />

als eine Verkörperung des Buddha auch stets ein Tulku (sPrul-sku) im<br />

wahrsten Sinne des Wortes ist, der aber nur für den zu erkennen ist,<br />

der das entsprechende seelische Organ dazu besitzt. Obwohl die Bestimmungen<br />

beider Begriffe sich decken, sind wegen der Schwierigkeit,<br />

den Lama zu entdecken, in Tibet daraus zwei verschiedene Institutionen<br />

geworden.<br />

329 „Es gibt noch eine vierte Zuflucht, den Lama.“ Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles<br />

Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.288<br />

330 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.176<br />

331 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.176<br />

332 ">The Lama is a buddha in person< think Mar<strong>pa</strong>'s disciples when he admits Mila Re<strong>pa</strong> to their number, and<br />

they are filled with faith." R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.176


163<br />

Streng genommen ist jede Person, die als geistlicher Mentor einer anderen<br />

Person zu wirken vermag, der Möglichkeit nach ein Guru, d.h.<br />

ein bLa-ma, wenn sich dieses Verhältnis herstellt.<br />

Der Lama ist der berufene Meister (Guru), der allein seinem Schüler<br />

ein tieferes Verständnis der Religion und den Weg vermitteln kann,<br />

der ihn zur Selbstvervollkommnung führt, während die Religion wiederum<br />

nur fortbestehen kann durch das mäeutische Verhältnis von<br />

Meister und Schüler. Er ist der Geburtshelfer des religiösen Erwachens<br />

seines Schülers und der wohlwollende Förderer seiner Entwicklung.<br />

Das jedenfalls ist die Idealvorstellung. Naro<strong>pa</strong> belehrte<br />

Mar<strong>pa</strong>: "As long as there is no Lama, there is not even the word buddha;<br />

even the buddhas of thousand kal<strong>pa</strong>s appear on the basis of Lamas...<br />

These gods are only forms of myself." 333<br />

Baumgardt rekapituliert: „Ein Phänomen besonderer Art innerhalb des<br />

tibetischen Glaubenslebens stellt dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis<br />

dar, das von derart zentraler Bedeutung ist, daß der tibetische Buddhismus<br />

in der Literatur sehr oft mit Lamaismus bezeichnet wird.<br />

Wenn auch der Name etwas irreführend sein kann, so ist er doch insofern<br />

verständlich, als daß der Tibeter sich nicht allein anschicken<br />

kann, den geistig-religiösen Weg, der schließlich zur Erlösung führen<br />

soll, anzutreten. Er braucht dazu unbedingt die Obhut und Führung<br />

durch einen La-ma.“ 334 Denn der Lama verfügt nicht nur über die<br />

theoretische Kompetenz der Lehre, Riten und Übungen der Selbstvervollkommnung,<br />

sondern auch über die praktische Kompetenz ihrer<br />

Durchführung. Er lehrt nur das, was er selber weiß und kann; und<br />

wenn sein Schüler alles das, was er weiß und kann, auch beherrscht,<br />

dann rät er ihm, sich einen neuen Lehrer zu suchen, der auf dem Weg<br />

noch weiter fortgeschritten ist als er selbst. Genau genommen braucht<br />

der Lama auch kein gelehrter Mönch zu sein; denn das, was er weitergibt,<br />

hat mit akademischer Gelehrsamkeit nichts zu tun oder kommt<br />

jedenfalls ohne sie aus. Der berühmteste Lehrer Tibets, Milare<strong>pa</strong>, oder<br />

so berühmte Weise wie Patrul Rinpoche oder Drugba Künleg, waren<br />

Lamas im eigentlichen Sinne und keine Gelehrten, ja nicht einmal<br />

Mönche, die dank ihrer Gelübde sich der Observanz des Regelbuches<br />

(Pratimoka Stra) unterstellten.<br />

Speziell die tantrische Praxis bezieht sich auf Erfahrungen und die dafür<br />

erforderlichen Übungen, die ausschließlich in einem mäeutischen<br />

Verhältnis von Meister und Schüler zu bewältigen sind, die ohne An-<br />

333 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.176<br />

334 U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bezeichnungen in der Hierarchie des tibetischen Klerus, Rikon 1977,<br />

S.151


164<br />

leitung des Guru und seine vorgelebten und vorgeführten Beispiele<br />

ausbleiben oder fehlschlagen, ja den Vorwitz voreiliger Umsetzung<br />

mit persönlicher Desintegration bestrafen. 335 Deswegen "a disciple's<br />

absolute submission to his Lama is required, and the latter subjects<br />

him to a series of trials to test the strenght of this faith." 336<br />

Auch Grimshaw machte von ihrer Stellung als Chomo im Nonnenkloster<br />

Julichang die Beobachtung: "Das Verhältnis Lehrer-Schüler war<br />

etwas Grundlegendes. Es war der Schlüssel zum Verständnis des tibetischen<br />

Buddhismus.“ 337<br />

Verschiedene Weisheitsgeschichten handeln davon, wie sich einzelne<br />

Schüler auf die Suche nach einem bestimmten Meister aufmachten,<br />

weil sie davon überzeugt waren, nur von diesen in die Geheimnisse<br />

des Mahmudr 338 , des Ati-Yo-Yoga 339 oder in die Mahkla-Mysterien<br />

340 eingeweiht werden zu können. Zur Ironie dieser Geschichten<br />

gehört u.a. auch, daß die Aufnahme- und Bewährungsproben, welche<br />

die Schüler jeweils vor ihrem gesuchten Meister zu bestehen haben,<br />

stets ungewöhnlich und nicht selten anstößig wirken. "The trials to<br />

which Mar<strong>pa</strong> subjected his disciple Mila Re<strong>pa</strong> are famous. Not only<br />

does he set him all kinds of useless tasks, but he rebuffs him in a thousand<br />

ways, strikes and insults him, humiliates him and drives him to<br />

des<strong>pa</strong>ir. But Mila's faith rises above it all." 341<br />

Der Sinn dieser Prüfungen wird verständlich, wenn man sich klar<br />

macht, daß der Schüler nicht nur selbst zum Lama oder Guru werden<br />

soll, sondern auch zum Gefäß aller Geheimnisse und Weisheit, die<br />

dieser selbst verkörpert. „The initiation conferred by one's master is<br />

the >power< (dbang) to practise a prticular group of meditations together<br />

with the official transmission and the >authority< (lung) to read<br />

the texts in which these are described; to which are added the master's<br />

more precise instructions (khrid). He inherits this >power< from his<br />

line of direct transmission (bla-brgyud), which invariably goes back to<br />

a supreme divinity. So the meditator does not forget to invoke that lineage<br />

in his ritual practise, to ensure the validity of what he is doing."<br />

342<br />

335 Siehe: D.I.Lauf, Das Erbe Tibets, Bern 1972, S.21<br />

336 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.176-7<br />

337 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.62<br />

338 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995, z.B. die Geschichte „Gampo<strong>pa</strong>s Rat in<br />

geschäftlichen Dingen“, ibid, S.239-241<br />

339 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995, z.B. die Geschichte „Der Kuckucksruf<br />

des Grundbeswußtseins“, ibid, S.211-216<br />

340 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995, z.B. die Geschichte „Traum und<br />

Wirklichkeit“, ibid, S.155-157<br />

341 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.177<br />

342 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.179


165<br />

Weniger dramatisch charakterisiert Thubten Dschigme Norbu den<br />

Status des Lama: „Der Lama ist einfach ein Lehrer, aber für jeden<br />

Schüler ist sein Lehrer das wichtigste Wesen der Welt, denn sein<br />

Geist, seine Rede und sein Körper entsprechen Sanggye 343 , Tschö 344<br />

und Gedun 345 . Bei einem Lehrer lernt man sich zu konzentrieren und<br />

danach die Meditation, die zum Sanggye Sa führt. Wendet man die<br />

richtigen Methoden an, dann ist die Konzentration einfach eine Ausschaltung<br />

physischer und gefühlsmäßiger Unausgeglichenheit, die zur<br />

körperlichen und geistigen Ruhe führt… Wir glauben, daß höchste<br />

geistige Fähigkeiten den Körper von den Naturgesetzen befreien können.<br />

Dann kann der Körper rechtmäßig zum Erreichen eines noch höheren<br />

Zustandes benutzt werden, aber das Ziel ist immer die Erleuchtung,<br />

die um aller fühlenden Wesen willen erreicht werden muß.“ 346<br />

Im monastischen System wurden und werden Lamas nach einer<br />

Rangordnung unterschieden, und zwar entweder nach ihrer Zuschreibung<br />

als Tulku von Königen oder geistlichen Regenten oder nach ihrer<br />

Funktion innerhalb des Klosters. Die Lamas, welche man als Inkarnationen<br />

früherer Könige oder Regenten ansah, hießen und galten<br />

als Gyetrul Hotuktu (rGyal-sprul Ho-thog-thu). Die Lamas der großen<br />

klösterlichen Versammlungshalle hießen Tsogchengyi Lama (Tshogschen<br />

gyi bLa-ma). Die Lamas der Kollegien hießen Dratsangyi Lama<br />

(Grwa-tshang gyi bLa-ma) und die Lamas der Koinobien oder Wohnviertel:<br />

Kamtsengyi Lama (Khang-tshan gyi bLa-ma).<br />

Die außerdem gebräuchliche Differenzierung der Lamas nach ihrem<br />

Ansehen oder Ruhm in große, d.h. Lama chekha (bLa-ma che-kha),<br />

mittlere, d.h. Lama drinkha (bLa-ma ’bring-kha) oder kleine Lamas,<br />

d.h. Lama chungkha (bLa-ma chung-kha) deckt sich nicht mit jener<br />

nach ihrer Funktion oder Tulkuschaft.<br />

343 Sangs-rgyas<br />

344 Chos<br />

345 dGe-dun<br />

346 Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.288-9


166<br />

Der Tulku<br />

Das tibetische Wort Tulku (sPrul-sku) 347 bedeutet „Körper der Verwandlung“<br />

und qualifiziert jemanden zu einer Wiedergeburt des Wesens<br />

einer verstorbenen Persönlichkeit, die dazu als befähigt gilt, sich<br />

Die Tulku-Linie des Karma<strong>pa</strong><br />

988-1069 Tilo<strong>pa</strong><br />

1016-1100 Naro<strong>pa</strong><br />

1012-1097 Mar<strong>pa</strong><br />

1052-1135 Milare<strong>pa</strong><br />

1079-1153 Gambo<strong>pa</strong><br />

1 1110-1193 Dusum Kyen<strong>pa</strong><br />

2 1204-1283 Karma Pakshi<br />

3 1284-1339 Rangjung Dorje<br />

4 1340-1383 Rol<strong>pa</strong>i Dorje<br />

5 1384-1415 Teshin Sheg<strong>pa</strong><br />

6 1416-1453 Tongwa Domden<br />

7 1454-1506 Chötrag Gyamtso<br />

8 1507-1554 Mikyö Dorje<br />

9 1556-1603 Wangchuk Dorje<br />

10 1604-1674 Chöying Dorje<br />

11 1676-1702 Yeshe Dorje<br />

12 1703-1732 Changchub Dorje<br />

13 1733-1797 Dudul Dorje<br />

14 1798-1868 Tegchok Dorje<br />

15 1871-1922 Khakhyab Dorje<br />

16 1924-1981 Rangjung Rigpi Dorje<br />

17 *1985- Urgyen Thinley Dorje<br />

als diese Persönlichkeit auch auszuweisen.<br />

Die Vorstellung beruft<br />

sich auf die Trikya-Lehre 348 , die<br />

sie in dem eben genannten Sinne<br />

auslegt. Historisch nachweisbar<br />

wurde diese Auslegung im buddhistischen<br />

Kontext in Tibet zum<br />

erstenmal angewandt bei der Auffindung<br />

des zweiten Karma<strong>pa</strong>,<br />

des Karma Pakshi 349 (1204-1283).<br />

Sehr wahrscheinlich wurde die<br />

tibetische Tulku-Institution<br />

angeregt durch die mongolische<br />

Chubiligan-Institution und<br />

entstand während der Mongolenmissionierung<br />

auf dem Wege<br />

der Integration jener Einrichtung<br />

in die Trikya-Lehre.<br />

Bärlocher weist auf die Schwierigkeiten<br />

des Altersnachweises tibetischer<br />

Tulku-Linien hin, daß die frühen Inkarnationen nicht zum<br />

Gelug<strong>pa</strong>-Orden gehören und daß es z.T. Linien geben soll, welche<br />

sich auf indische Präexistenzen beziehen. "Ein großer Teil heutiger Linien<br />

reicht bis zweihundert Jahre zurück- und einige Rinpoches sind<br />

die ersten Tulkus ihres Namens." 350<br />

Die Idee der Wiedergeburt von Seelen, die als Wesen bestimmter Persönlichkeiten<br />

auch in den Folgeinkarnationen als diese identifizierbar<br />

sind, wenngleich sie sich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen von Inkarnation<br />

zu Inkarnation anreichern, was dann zur Eigenart ihrer In-<br />

347 Mong. Hutuktu oder Chutuktu.<br />

348 “Drei-Körper-Lehre”, der 1. Körper, der Körper der großen Ordnung, des wahren Wesens des Buddha, der<br />

Essenz der Wirklichkeit heißt Dharmakya und verköpert die Einheit des Buddha mit allem Seienden. Der 2.<br />

Körper heißt Sambhogakya, „Körper des Entzückens“, der Körper Buddhas als die sich im Paradies (reinem<br />

Land) verkörpernde Wahrheit. Der 3. Körper ist der „Körper der Verwandlung“, Nirmnakya, es ist der Körper,<br />

in dem die Buddhas den Menschen erscheinen, um diese der Erlösung zuzuführen.<br />

349 Mong. Pai-shi= Guru.<br />

350 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.50


Die Tulku-Linie des Dalai-Lama<br />

1391-1475 1. Gedün Drup<br />

1475-1542 2. Gedün Gyatso<br />

1543-1588 3. Sonam Gyatso<br />

1589-1617 4. Yönten Gyatso<br />

1617-1682 5. Ngawang Lobzang Gyatso<br />

1683-1706 6. Tsangyang Gyatso<br />

1708-1757 7. Kelsang Gyatso<br />

1758-1804 8. Jampel Gyatso<br />

1806-1815 9. Luntok Gyatso<br />

1816-1836 10 Tshultrim Gyatso<br />

1837-1856 11. Khedrub Tsültrim Gyatso<br />

1856-1875 12. Trinle Gyatso<br />

1876-1933 13. Thupten Gyatso<br />

1935 14. Tenzin Gyatso<br />

167<br />

karnationsgeschichte wird, und welche sich inkarnieren, um an bestimmten<br />

Orten und unter bestimmen Gruppen zu wirken, ist nicht allein<br />

auf Tibet und auch nicht auf den Buddhismus beschränkt.<br />

"Tulkus, sagen die Lehrer, wirken unerkannterweise in allen Erdteilen,<br />

in allen Ländern- ja sogar im ganzen Universum. Das steht im Einklang<br />

mit ihrer Motivation, allen<br />

Leidenden zu helfen. Die Tibeter<br />

lernten, Tulkus zu erkennen und in<br />

gewisser Weise bei sich zu behalten;<br />

ein solches System wurde z.B. im<br />

Westen nicht entwickelt, das ist alles."<br />

351 In den Religionssystemen archaischer<br />

Völker, z.B. bei den Aborigines<br />

in Australien, gibt es vergleichbare<br />

Auffassungen über Seelen, deren<br />

Wesenheiten Eigentümer von Gemarkungen<br />

sind, sich zur Wiedergeburt<br />

finden lassen, und zwar von Mitgliedern<br />

des Clans, der in der entsprechenden<br />

Gemarkung siedelt, und welche sich für ihre Wiedergeburt<br />

zu erkennen geben. So sind für die Aborigines die Lebenden nicht<br />

nur Wiedergeburten solcher Wesenheiten, sondern auch das Wohlergehen<br />

der Lebenden hängt für sie ab von dem richtigen rituellen<br />

Verhältnis zu diesen Wesenheiten, die in Australien je nach Stamm<br />

Wondjina, Bugari, Rai, usw. heißen. Auf diesem Kontinent kennt man<br />

auch die Idee der "Splitting-Incarnation", nach der sich einzelne Charaktermerkmale<br />

der Wesenheit getrennt in verschiedenen Personen<br />

gleichzeitig inkarnieren, z.B. Verstand, Gemüt und Rede einer Wesenheit<br />

in drei Personen.<br />

Im Kontext des Buddhismus gibt es "ein Tulku-System mit ununterbrochenen<br />

Stammbäumen... nur unter tibetischen Buddhisten" 352<br />

(tibetische Buddhisten heißt: Buddhisten der lamaistischen Ökumene,<br />

schließt also die nichttibetischen Lamaisten ein). Dieser Hinweis ist<br />

religionsgeschichtlich äußerst bedeutsam, weil er darauf hinweist, daß<br />

das Tulku-System kein buddhistisches Generalmerkmal ist und harrt<br />

noch seiner religionshistorischen Aufklärung, will sagen, daß die Trikya-Lehre<br />

nicht notwendigerweise in derPraxis zu der Tulku-Institu-<br />

351 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.49<br />

352 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.49


168<br />

tion führt, was ja auch der Hinweis auf vergleichbare Inkarnationskonzepte<br />

außerhalb des Buddhismus nahelegt.<br />

Die Tulku-Linie des Panchen Lama<br />

1385- 1439 mKhas grub rje<br />

1439- 1505 bSod- nam phyogs- glang<br />

1509- 1569 dBen- sa- ba bLo- bzang don grub<br />

1569- 1662 Chos skyi rGyal btsan<br />

1663- 1737 bLo- bzang Ye- shes<br />

1738- 1780 bLo- bzang dPal- lden Ye- shes<br />

1781- 1854 Tempe Nyi- ma<br />

1855- 1882 Chos skyi Khrag- <strong>pa</strong><br />

1883- 1937 Chos skyi i- ma<br />

1938- 1989 Chos skyi rGyal btsan<br />

1995- dGe-dun Chos skyi i-ma<br />

Die kontinuierliche Reinkarnation<br />

einer Wesenheit,<br />

ursprünglich eines Stifters<br />

oder Klostergründers,<br />

sanktioniert die Kontinuität<br />

der klösterlichen Institution,<br />

ihrer religiösen Überlieferungen<br />

wie ihrer politischen<br />

Funktionen über die<br />

Prätention der sich fortschreibenden<br />

Präsens jener<br />

Wesenheit, die sich in ihrem<br />

Gründer historisch das erstemal manifestiert hatte.<br />

Bei den Gelug<strong>pa</strong>, so versichert Bärlocher, steht "am Ursprung einer<br />

Tulku-Linie... fast immer ein Geshe, ein Gelehrter und Meister der<br />

Meditation. Er wird am Ende<br />

seines Lebens von seinen<br />

Schülern beschworen, doch<br />

wieder unter ihnen zu erscheinen,<br />

und selbst ist er so<br />

weit verwirklicht, daß er dies<br />

auch tun kann. Mit dem Auffinden<br />

und der Anerkennung<br />

seiner Wiedergeburt beginnt<br />

sodann die Tulku-Linie. Der<br />

ursprüngliche Geshe wird<br />

darin als erste Inkarnation gezählt,<br />

dessen Tulku als<br />

zweite, usw." 353<br />

Tsemoling Rinpoche, aufgenommen 1927 von J.F.Rock, aus M.Aris,<br />

Lamas, Princes, and Brigands, New York 1992, p.125<br />

Ein bekanntes Beispiel dafür<br />

sind die Tulkus ehemaliger<br />

Ganden Tri<strong>pa</strong> (dGa-ldan<br />

Khri-<strong>pa</strong>). Obzwar die Würde<br />

des Ganden Tri<strong>pa</strong> allein durch<br />

Kompetenz und Tugend erworben<br />

wird und damit potentiell jedem Mönch, gleich welchen Standes,<br />

offensteht, sofern er sich nur dieses Amtes würdig erweist, läßt<br />

353 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.50


169<br />

sie mit jedem Inhaber dieses Amtes eine neue Tulku-Linie entstehen.<br />

„All of these (…) Khri-<strong>pa</strong> (…) are reincarnated and were revered<br />

throughout Tibet.“ 354 Drei dieser Tri<strong>pa</strong> hatten ihren Labrang im Kloster<br />

Labrang Tashi-khyil, was, diese drei Labrangs wiederum mit dem<br />

Kloster Ganden verband.<br />

Die Tulku-Linie in der Khön-Lineage von Sakya<br />

Zeitraum Hierarchen Titel Herkunft oder Sitz<br />

1 bis 1103 Khön Könchog Gyalpo<br />

2 1103-1111 Bari Lotsawa Ghongma<br />

3 1111-1159 Sachen Kün-ga Nyingpo Ghongma<br />

4 1159-1162 Acarya Sönam Tsemo Ghongma<br />

5 1162-1219 Jetsun Dhag<strong>pa</strong> Gyaltshän Ghongma<br />

6 1219-1247 Sakya Pantit Kün-ga Gyaltshän Ghongma<br />

7 1247-1249 Chögyal Phag<strong>pa</strong> Ghongma, Tishri<br />

8 1249-1258 Rinchen Gyaltshän Ghongma<br />

9 1258-1270 Chögyal Phag<strong>pa</strong> Ghongma, Tishri<br />

10 1270-1280 Shar<strong>pa</strong> Jamyang Chenpo Tishri Shar<strong>pa</strong> Luding Linie<br />

11 1280-1307 Zangpo Pal<br />

12 1307-1326 Khätsün Namkha Leg<strong>pa</strong> Thichen Zhithog Ladhang<br />

13 1326-1329 Janyang Dönyö Gyaltshän Thichen Rinchen Gang Ladhang<br />

14 1345-1375 Lama Dam<strong>pa</strong> Sönam Gyaltshän Thichen Rinchen Gang Ladhang<br />

15 1375-1393 Tawen Lodhö Gyaltshän Thichen Lhakang Ladhang<br />

16 Tawen Kün-ga Rinchen Thichen Zhithog Ladhang<br />

17 Kushi Lodhö Gyaltshän Thichen Zhithog Ladhang<br />

18 Jamyang Namkha Gyaltshän Thichen Rinchen Gang Ladhang<br />

19 Kün-ga Wangchuk Thichen Zhithog Ladhang<br />

20 Jagar Sherab Gyaltshän Thichen Rinchen Gang Ladhang<br />

21 Dagchen Lodhö Gyaltshän Thichen Rinchen Gang Ladhang<br />

22 Sa Lotsava Kün-ga Sönam Thichen Duchö Ladhang<br />

23 Ngachang Kün-ga Rinchen Thichen<br />

24 Sönam Wangpo Thichen<br />

25 Dhag<strong>pa</strong> Lodhö Thichen<br />

26 Kün-ga Wangyal Thichen<br />

27 Ngawang Kün-g Sönam (A-mye shab) Thichen<br />

28 Sönam Wangchuk<br />

29 Kün-ga Tashi<br />

30 Sönam Rinchen<br />

31 Kün-ga Lodhö<br />

32 Wangü Nyingpo<br />

33 Pema Düdul Dolma Photang<br />

34 Dorje Rinchen Zu Phüntsog Photang<br />

35 N.N.<br />

36 Kün-ga Sonam Phüntsok Photang<br />

37 Kün-ga Nyingpo Dolma Photang<br />

38 Dsamling Chegu Wangdü Phüntsok Photang<br />

39 Dhagtshül Tinlä Rinchen Dolma Photang<br />

40 Ngawang Thuob Wangchuk Phüntsok Photang<br />

41 ab 1945- Ngawang Kün-ga Dolma Photang<br />

Nach: Sherab Gyaltsen Ami<strong>pa</strong>, A Waterdrop from the Glorious Sea, Rikon 1976, S.71-4 und ipse: Über den Ursprung der<br />

Khön-Linie, das Land Sakya und seine Geschichte, Rikon 1994, S.6-8<br />

Neben den Ordenshäuptern aller vier Orden des tibetischen Lamaismus<br />

gibt es verschiedene andere Tulkulinien, z.B. auch von den Stiftern<br />

der Filiallinien der Orden, von Gründern bestimmter Regional-<br />

354 J.F.Rock, The Amnye Machen and Adjacent Regions, Rom 1956, p.36


170<br />

oder Heimatklöster, die dann der Aprobation der Metropolitanklöster<br />

unterliegen oder von Inkarnationen indischer wie tibetischer Heiliger,<br />

die über keine klösterliche Aprobation verfügen.<br />

„Die Zahl der Heiligen oder Buddhainkarnationen (Hutukhtu), welche<br />

in Gumbum ein mehr oder minder großes Haus besitzen, wurde mir<br />

verschieden angegeben. Meist hieß es, es seien 48. Die meisten residieren<br />

nicht ständig in Gum bum. Einer von ihnen wird immer für drei<br />

Jahre Abt im Kloster. Es gibt unter diesen Gottheiten reiche und<br />

arme.“ 355<br />

In Tschobtsen-Gomba mit 400 Mönchen gab es 3 Tulkus. 356 Im Kloster<br />

Gomang Se mit 800 Mönchen residierten 18 Tulkus, 357 zu<br />

Bestschun Gomba in der Nähe von Dscherkundo mit 300 Mönchen<br />

gehörten 2 Tulkus, 358 in Tschoktsen Gomba am Muri-la mit 300 Mönchen<br />

hatte 1 Tulku seinen Labrang. 359<br />

"Die Rangordnung der Gelug<strong>pa</strong>-Tulkus war (und ist) in direktem Zusammenhang<br />

mit der Zugehörigkeit eines Tulku zu einer der drei Kloster-Universitäten.<br />

Zwei Hauptgruppen lassen sich unterscheiden:<br />

Tulkus, die von der tibetischen Regierung offiziell anerkannt sind;<br />

dazu gehören die... Hothogthus und die Tshogchen-Tulkus- und Tulkus,<br />

die nur von ihrem Kloster anerkannt sind, die sog. Datsang Tulkus.<br />

Beide Gruppen kennen noch weitere Abstufungen." 360<br />

Auch diese Unterscheidung, so versichert Bärlocher, ist nicht älter als<br />

zweihundert Jahre und, so Bärlocher weiter: "hat im Grunde nichts mit<br />

Dharma zu tun; die Ränge bezeichnen keine Unterschiede der spirituellen<br />

Verwirklichung." 361<br />

Tafel verwies auf Mayers, der die Anzahl lamaistischer Tulkus, die<br />

von der chinesischen Regierung um 1900 registriert und anerkannt<br />

worden waren, auf 160 bezifferte. „Nach Mayers… gibt es in der Kukunor-Gegend<br />

35 Hutukhtu, die in den kaiserlichen Registern geführt<br />

werden. Es soll deren nur 160 für ganz Tibet und die Mongolei geben.<br />

Tatsächlich sind es viel mehr,“ 362 was nach der Regel des Entstehens<br />

ihrer Einrichtung, wie sie Bärlocher oben schilderte, eher wahrscheinlich<br />

ist.<br />

355 A.Tafel, Meine Tibetreise, I, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.231<br />

356 Siehe: A.Tafel, Meine Tibetreise, I, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.254<br />

357 Siehe: A.Tafel, Meine Tibetreise, I, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.254<br />

358 Siehe: A.Tafel, Meine Tibetreise, II, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.163<br />

359 Siehe: A.Tafel, Meine Tibetreise, II, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.171<br />

360 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.52<br />

361 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.53<br />

362 A.Tafel, Meine Tibetreise, I, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, S.231


171<br />

Es gehört seit der Mahsnghika-Schule zum kanonischen Bestand<br />

des Mahyna, das bestimmten Personen, den Bodhisattvas der 8. Stufe,<br />

den Bhmi 363 , die Fähigkeit zuerkannt wird, ihre künftige Wiedergeburt<br />

bestimmen zu können.<br />

Nach der Trikya-Lehre erscheint im Nirmnakya die höchste Wirklichkeit<br />

in physischer Gestalt infolge einer Projektion die sich der<br />

Barmherzigkeit der Buddhas des Sambhogakyas verdankt. Die auf<br />

dieser Ebene erscheinenden Buddhas erläutern den Weg der vier edlen<br />

Wahrheiten und zeigen Methoden der Erlösung auf. Auf diese Lehre<br />

beruft sich das Tulku-Konzept.<br />

Die Karma-Kagyü<strong>pa</strong> waren, wie bereits gesagt, der erste Orden in Tibet,<br />

der die Möglichkeiten dieses Konzepts der bewußt gewollten und<br />

gelenkten Wiedergeburt praktisch angewandt hat, z.B. zur Absicherung<br />

der Überlieferung ihrer Mahmudr-Lehre. Das geistige Potential<br />

des als Tulku erkannten Kindes wurde aufs Beste gefördert und zur<br />

Garantie der Verinnerlichung aller Ordensweisheiten, das sie seinerseits<br />

an die Reinkarnationen seiner Lehrer weitergab. Eine derartige<br />

Fortsetzung geistlicher Identität über Generationen verleiht der<br />

körperschaftlichen Kontinuität des Labrang den lebendigen Focus seiner<br />

und seiner Gemeinde Solidarität. Die Körperschaft (Labrang) organisiert<br />

die Formen der Verehrung des Tulku und gestaltet den Umfang<br />

seines Wirkens und seines Einflusses auf seine Umgebung.<br />

Politisch interessant an diesem Konzept war die Möglichkeit des Ordens<br />

zu verschiedenen Zeiten Filiationen oder "geistliche Ehen" eingehen<br />

zu können speziell auch mit bedeutenden Adelshäusern oder<br />

politischen Fraktionen, und zwar mit mehreren und nicht nur mit einem.<br />

Diese Option wurde besonders intensiv auch in der Mongolei<br />

wahrgenommen. Politischer oder anders interessierter Mißbrauch war<br />

hier nicht ausgeschlossen. "Gerade bei reichen Labrangs waren die<br />

Suche nach einer neuen Inkarnation und auch die Person des Tulkus<br />

oft überschattet von wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten." 364<br />

Im Gelug<strong>pa</strong>-Orden sind neben den Groß-Lamas von Lhasa und Shigatze<br />

der Groß-Lama von Urgya, der als Tulku die Reinkarnation des<br />

historischen Lama Trantha sein soll, welcher allerdings ein Lama<br />

des Sa-skya-Ordens war, der das Kloster Urgya Kuren gegründet hatte<br />

und später zum Gelug<strong>pa</strong>-Orden konvertierte, die berühmtesten Tul-<br />

363 Skr. Bhmi = Land. Steht für die 10 Stufen, die der Bodhisattva bis zur Buddhaschaft durchlaufen muß. Die<br />

8. Stufe heißt Achal Bhmi (unbewegtes Land). Das ist die Stufe der Unerschütterlichkeit eines Bodhisattvas,<br />

der erfahren hat, wann und wo er die Buddhaschaft erlangen wird. Er hat die Fähigkeit erworben, seine<br />

Fähigkeiten auf andere zu übertragen und verzichtet auf das Anreichern weiterer karmischer Schätze.<br />

364 D,Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.58


172<br />

kus. 365 Neben dem bereits erwähnten Karma<strong>pa</strong> gelten beispielsweise<br />

auch der Sa-skya Lama oder der Dharma-Raja von Bhutan als Tulku,<br />

nicht minder auch das heilige „Diamantschwein“ vom Kloster am<br />

Yamdok-See, das überraschenderweise eine weibliche Tulku-Linie institutionalisiert.<br />

366<br />

Jeder Tulku des Gelug<strong>pa</strong>-Ordens ist affiliert mit einem Kolleg der<br />

„Drei Residenzen“, wo er seine Erziehung und Ausbildung erfährt. So<br />

gehörte Reting Rinpoche 367 zum Kolleg Sera Che, Demo Rinpoche<br />

zum Kolleg Drepung Loseling und Taktra-Rinpoche 368 zum Kolleg<br />

Drepung Gomang. Thubten Dschigme Norbu, der Taktser Rinpoche,<br />

erhielt seine Ausbildung ebenfalls in Drepung.<br />

Die klösterliche Körperschaft mit einem Tulku an der Spitze heißt<br />

Labrang (bLa-bra). Diese kann mit weiteren Labrangs Bestandteil<br />

einer Klosteranlage sein oder aber auch als ein kleines Kloster für sich<br />

fungieren, so meistens als ein Fialialkloster (dgon-lag) der Region, als<br />

ein Heimatkloster (gzhi-dgon). Sein Name ist häufig auch der Linien-<br />

Name seines Tulku. So heißt z.B. der Taktser Tulku (sTag-’tsher<br />

sPrul-sku) wie das Taktser Labrang (sTag-’tsher bLa-brang) nach<br />

dem Ort. "Der Name einer Linie, den jeder Tulku vor seinem individuellen<br />

Namen führt, bezeichnet sehr oft die Gegend des Ursprungs.<br />

Namen verweisen auch auf Funktionen, sind Ehrentitel. Und in manchen<br />

Fällen ist die Bedeutung des Linien-Namens unbekannt." 369<br />

Die Reinkarnationskonzepte der tibetischen Orden lassen sich nach<br />

zwei Verfahrensweisen der Reinkarnation unterscheiden.<br />

Zwei Arten der Reinkarnation:<br />

1) 2)<br />

Orden Inkarnation korrespondiert mit leiblicher Identität des sich inkarnierenden Wesens<br />

Genealogie<br />

unabhängig von leiblicher Filiation<br />

Sakya<strong>pa</strong> Inkarnation in Schwestersohn<br />

Schwestersohn ist Inkarnation des<br />

Mutterbruders<br />

Ningma<strong>pa</strong> Nach Filiationsregel des Clans<br />

Gelug<strong>pa</strong><br />

Reinkarnation des Wesens in dem durch<br />

Kagyü<strong>pa</strong><br />

Vorzeichen (Orakel, Visionen, Omina,<br />

Duk<strong>pa</strong><br />

Prophezeiungen etc.) bezeichneten Nach-<br />

Karma<strong>pa</strong><br />

folger<br />

Nach dem einen Verfahren verbleibt das sich reinkarnierende Wesen<br />

in einer verwandtschaftrechtlich definierten leiblichen Abstammungs-<br />

365 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.240<br />

366 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.233<br />

367 Regent Tibets bis zum Zeitpunkt, an dem der Dalai Lama XIV seine ersten Mönchsgelübde abgelegt hat.<br />

368 Regent Tibets bis zum Zeitpunkt, an dem der Dalai Lama XIV sein Mönchs-Examen bestanden hat.<br />

369 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.50


173<br />

linie, d.h. die Inkarnation korreliert mit dem geltenden Verwandtschaftsrecht,<br />

d.h. es reinkarniert stets in einem irdischen Mitglied ein<br />

und derselben Abstammungslinie (Lineage), während sich nach dem<br />

zweiten Verfahren das Wesen unabhängig von der verwandtschaftsrechtlich<br />

gültigen Abstammungsrechnung reinkarniert, um mit der<br />

Reinkarnation den sozialen Kreis der Mitglieder auszudehnen auf<br />

solche Gruppen, die für den Labrang oder die anderen Institutionen,<br />

die sich der Tulkuschaft bedienen, von Bedeutung sind. In diesem<br />

Falle ist die Abstammungslinie eine imaginäre, nur für Eingeweihte<br />

durch bestimmte physische Merkmale identifizierbare und die Verkörperungen<br />

gehören den verschiedensten Verwandtschaftsgruppen,<br />

Lineages oder Familien an, die sich auf diesem Umwege mit dem<br />

Labrang und seinem Tulku identifizieren.<br />

Nach dem ersten Verfahren der Personenwahl agiert die Labrang-<br />

Körperschaft als geistliche Institution einer weltlichen Lineage, nach<br />

dem zweiten Verfahren der Personenwahl operiert die Labrang-Körperschaft<br />

autonom, d.h. sie oder die sich in ihrem Tulku verkörpernde<br />

Wesenheit bestimmt die Allianzen, die sie über die Tulkuwahl definiert.<br />

Differenzierung der Tulkus:<br />

Wesenheit Gattung Titel Inkarnation in:<br />

Amitabha Dhyani Buddha Rinpoche Panchen- Lama<br />

Avalokiteshvara Bodhisattva rGyalwa Rinpoche Dalai- Lama<br />

Gotteiten<br />

hohe Lamas<br />

Rinchen Zangpo Heiliger Rinpoche Tholing Rinpoche<br />

Tsongka<strong>pa</strong> Heiliger Rinpoche Ganden Thri Rinpoche<br />

Ts’atur Nomunkhan Heiliger Rinpoche Ts’omoling Rinpoche<br />

Tats’ag Lama Heiliger Rinpoche Kundeling Rinpoche<br />

Gar Min. Songtsen Gampos Rinpoche Tengyeling-Rinpoche<br />

Gotteiten Hutuktu, Rinpoche Dharmaraja von Bhutan<br />

Heilige<br />

Rinpoche<br />

hl. Gurus<br />

Rinpoche<br />

Demtschok Gottheit Rinpoche Großlama von Peking<br />

hl. Äbte<br />

Kusho(k)<br />

Bakula Heiliger Kusho Abt von Spituk<br />

Padma Karpo Heiliger Kusho Abt von Stakna<br />

Die Optionen der Objektwahl der sich inkarnierenden Wesenheiten<br />

sind so komplex wie differenziert, sie reflektieren eine Hierarchie geistiger<br />

Wesenheiten und spiegeln sie in einer geistlichen Hierarchie,<br />

die auf beiden Stufen der Komplexität des Seienden, das jeweils für<br />

sie stehen soll, gerecht werden muß.<br />

Daß in Tibet in diesem Zusammenhang aber auch weltliche Belange<br />

nicht außer Acht geblieben waren, daran erinnert Bärlocher: "Die


174<br />

oberste Schicht der Tulkus war unmittelbar mit Politik und Verwaltung<br />

verbunden. Dazu gehörten die Regenten (...), ihre nachfolgenden<br />

Inkarnatiomnen und eine Gruppe Tulkus, die als geistliche Landesfürsten<br />

den mongolischen Titel Hothogthu führten. Wenn diese Tulkus<br />

auch im Einzelnen spirituell gewirkt haben oder ein meditativ-zurückgezogenes<br />

Leben führten, so war ihr Erscheinen doch allzu oft von<br />

machtpolitischen Ränken und Blutvergießen begleitet." 370<br />

370 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.51


175<br />

VI<br />

Im Spiegel sozialer Rollen<br />

Dem Rückblick auf soziale Zustände, die bereits Geschichte geworden<br />

sind, ist ihre empirische Beobachtung grundsätzlich verwehrt, das gilt<br />

auch für das Verhalten innerhalb dieser Zustände, weshalb er angewiesen<br />

bleibt auf die Berichte jener Reisenden, die ein Auge hatten für<br />

soziale Verhaltensweisen, welche typisch waren für die vergangenen<br />

Zustände, die ihnen ja noch gegenwärtig waren, oder auf die Berichte<br />

einheimischer Quellen, sofern auch sie sich damit befaßt hatten.<br />

In Ermanglung ausdrücklicher Beobachtung der sozialen Beziehungen,<br />

wie sie sich im gegenseitigen Verhalten als typische Verhaltensweisen<br />

äußern, sind wir also gezwungen, uns ausschließlich auf die in<br />

diesen Quellen stets nur sporadisch eingestreuten Hinweise zu beziehen,<br />

die aber trotzdem den Schluß gestatten, daß die Formen des Respekts<br />

und der Achtung, welche in der Familie im Generationenverhältnis<br />

galten, das Vorbild darstellten auch für den Umgang der Personen<br />

verschiedenen Ranges und Standes untereinander.<br />

"This hierarchic character is strongly expressed in the language. The<br />

latter is altogether different when talking to a superior, an equal or an<br />

inferior; and that is true in all spheres of human intercourse- government,<br />

the family or spiritual relations." 371<br />

Einen Katalog von Regeln zur Orientierung gegenseitigen Verhaltens<br />

gibt es in Tibet mindestens solange man dort die Schrift eingeführt<br />

hatte. Von den 16 Verhaltensnormen (Micho Tsangma Chudruk) aus<br />

dem Thamdeb, die als Gebotekatalog Songtsen Gampo (Sro-btsan<br />

sGam-po) zugeschrieben werden, 372 fordern die beiden ersten jenes<br />

Katalogs dazu auf, nicht die religiösen Pflichten zu vernachlässigen,<br />

d.h. den Glauben an die „Drei Juwelen“ zu bewahren und die obligatorischen<br />

Riten zu vollziehen.<br />

Die nächsten vier gebieten, die Eltern zu achten und wie diese die<br />

Verhaltensvorbilder (Autoritäten), die Alten und die Personen hohen<br />

Standes. Auch den Verwandten und Freunden soll der notwendige Respekt<br />

nicht versagt werden, ebenso wenig wie die Pflichten, die man<br />

ihnen schuldig ist.<br />

371 R.A.Stein, Tibetan Civilization, London 1972, p.125<br />

372 Siehe: Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.11


176<br />

Auch die Pflichten gegenüber dem Staate werden dort angemahnt,<br />

dann die Pflichten gegenüber der Gesellschaft, als da sind: der angemessene<br />

Gebrauch der eigenen Güter, die Vergeltung erwiesener<br />

Wohltaten, die Unterlassung der Fälschung von Maßen und Gewichten,<br />

sowie der Zähmung des Neides und der Vermeidung von Streitigkeiten.<br />

Zum Abschluß wird jeder aufgefordert, sein Schicksal geduldig<br />

zu ertragen.<br />

Dieser Katalog gliedert die Pflichten in vier Gruppen: 1) in Pflichten<br />

gegenüber der Religion, 2) in Pflichten gegenüber der Familie, 3) in<br />

politische und 4) in weitere gesellschaftliche Pflichten.<br />

Die Erfüllung der aufgezählten Pflichten wird gefordert, damit man<br />

ein entsprechendes Verhalten erwarten kann, das sich dann, nach Alter,<br />

Geschlecht und Rang differenziert, in sozialen Rollen äußert, die<br />

man ihrerseits wieder einem Status zuschreiben kann. Der Höherstehende<br />

erwartet von dem Gemeinen in dessem Verhalten Respekt, Verehrung<br />

und Dienstwilligkeit, materiell: Dienste und Güter, der Gemeine<br />

erwartet vom Höherstehenden ein Verhalten der Huld, des<br />

Wohlwollens und der Autorität, materiell: Fürsorge und politische wie<br />

religiöse Führung.<br />

Nur dann, wenn man weiß, was man von dem anderen erwarten kann,<br />

darf oder soll, und was dieser von einem selbst, nur dann kann man<br />

auch sicher sein, das zu erhalten, was einem zusteht, sicher sein, das<br />

jedem das Seine zukommt.<br />

Das Muster, an dem sich das Verhalten orientieren kann, muß daher<br />

so einsichtig wie selbstverständlich sein, jedem zugänglich und jedem<br />

bekannt. Dieses Muster liefert überall auf der Welt die Familie. In ihr<br />

gibt es hierarchische und gleichrangige Beziehungen, solche der Zuneigung<br />

und solche der S<strong>pa</strong>nnung im Vorfeld von Konflikten. Schon<br />

in ihr korrespondieren die Rechte und Pflichten mit dem familiären<br />

Status.<br />

Das gegenseitige Verhalten orientierte sich im traditionellen Tibet<br />

entlang der Koordinaten von Generation und Alter, Geschlecht und<br />

Rang (hohe Geburt). Die Achtung vor dem Alter, der Vorzug des Geschlechts,<br />

weniger im Laien- als im Klosterleben, 373 und die Achtung<br />

der hohen Geburt durchzogen wie ein Leitmotiv das soziale Verhalten.<br />

An ihnen entzündeten sich Konflikte ebenso wie sie das Beispiel hergaben<br />

für Gesten des Großmuts und des Wohlwollens.<br />

Die abstammungsbedingt nicht zu überwindende familiäre Generationendifferenz<br />

impliziert eine natürliche Rangordnung, welche im fami-<br />

373 Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.162


177<br />

liären Leben verinnerlicht wird und das Muster abgibt für die Beziehungen<br />

zwischen dem Range nach verschiedenen Personen. Söhne gehorchten<br />

dem Vater solange, bis sie zum Vorstand eigener Haushalte<br />

wurden. 374 Ein tibetisches Sprichwort sagt: „Der Vater ist der erste in<br />

der Familie, die Mutter aber ist ihre Grundlage.“ 375 Dieses Sprichwort<br />

klärt nicht nur über den väterlichen Statusvorrang auf, sondern auch<br />

über das Verhältnis „organischer Solidarität“ (Durkheim) unter den<br />

Eheleuten und ihren Familien, d.h. es verweist auf die Gleichberechtigung<br />

oder zumindest hohe Stellung der Ehefrau in der tibetischen Familie.<br />

Andererseits wird aber auch darauf hingewiesen, daß Jungen in den<br />

Familien meistens bevorzugt behandelt wurden. "Boys enjoy better<br />

treatment in Tibet than their sisters, this discrimination beginning soon<br />

after their birth." 376<br />

Hoch und Niedrig<br />

So wie die innerfamiliäre Statusdifferenz sich über den Generationenunterschied<br />

ausdrückt, so versichert die Abstammungdifferenz die<br />

Standesgrenzen. Man erbt den Status, Beruf, die Rechte und Pflichten<br />

des Vaters. 377 Nur im monastischen System gab es bis zu einem gewissen<br />

Grade ein Entkommen aus dieser Regel.<br />

Diese Grundorientierung des Verhaltens äußerte sich quer durch die<br />

ganze Gesellschaft. Das Wort des Gutsherrn oder des Beamten der<br />

Regierung, ebenso wie das Wort des Lehrers oder Meisters galt wie<br />

das Wort des Vaters 378 , dessen Status Vorbild war für alle Haltungen<br />

höheren Ranges gegenüber Untergebenen oder Schutzbefohlenen, so<br />

wie das familiäre Rollenmuster auch das Vorbild abgab für die anderen<br />

Beziehungen zu den Personen gleichen Ranges außerhalb der Familie.<br />

Sohn oder Tochter hießen nicht nur die leiblichen oder adoptierten<br />

Kinder des Familienhauptes, sondern auch die Hintersassen,<br />

Untergebenen oder Untertanen in der Anrede durch den höheren Beamten,<br />

Gutsherrn oder Abt, dementsprechend Bruder oder Schwester<br />

die Gleichrangigen, während die Anrede als Vater oder Mutter neben<br />

den leiblichen Eltern oder bestimmten Onkeln (VaBr im polyandri-<br />

374 Siehe: F.Grenard, Tibet, Delhi 1974, p.251ff<br />

375 zitiert nach: E.K.Dargyay, Sozialwesen, Ehe, Familie, Erziehung, in: C.C.Müller, W.Raunig, Der Weg zum<br />

Dach der Welt, Innsbruck o.J., S.241<br />

376 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.479<br />

377 Siehe: F.Grenard, Tibet, Delhi 1974, p.266<br />

378 Huc und Gabet waren Zeuge der folgenden Aufforderung eines Beamten während eines Verhörs: „Antworte<br />

mir, der ich Vater und Mutter für dich bin, und hüte dich vor Lügen.“ R.E.Huc, Reise durch die Mongolei nach<br />

Tibet und China 1844-1846, Frankfurt 1986, S.252


178<br />

schen Haushalt) und Tanten (MuSw), ausgeschmückt mit Attributen<br />

der Ehrerbietung, auch an die Höherstehenden gerichtet wurde. 379 Mit<br />

Rinchen Dölma Taring heißt das, „daß die Adligen sich als Eltern ihrer<br />

Gefolgsleute betrachte(te)n und danach handel-(te)n.“ 380 Auf die<br />

Geltung des Seniroats in der Familie machte Thubten Dschigme Norbu<br />

aufmerksam: „Meine Geschwister jedoch riefen mich Dschola. Das<br />

heißt Ältester und ist gleichzeitig ein Ehrenname, da der älteste Sohn<br />

bei uns im Kreise der Familie eine Vorrangstellung genießt.“ 381<br />

Daß die Höherstehenden generell die Väter und Mütter waren, wenn<br />

auch nur in einem projektiven Sinne, und die Tieferstehenden deren<br />

Kinder, das hieß auch, daß die letzteren, die fiktiven Kinder, jenen,<br />

wenn auch nicht umstandslos zu gehorchen hatten wie ihren leiblichen<br />

Eltern, so doch verpflichtet waren, nicht nur zu Diensten und Gütern,<br />

sondern auch zu Haltungen des Respekts und der Ehrerweisung. So<br />

zeigt sich mit den auf verschiedene Weise erwiesenen Gesten und<br />

Haltungen, daß die Höherstehenden, gleich welchen Alters, in Relation<br />

zu den Tieferstehen den Rang und Status von Eltern im sozialen<br />

Sinne einnahmen, d.h. den Rang des Höherstehenden des familiären<br />

Vorbildes auf die gesellschaftliche Ebene übertrugen, und die Tieferstehenden,<br />

ganz gleich welchen Alters, sich als deren gesellschaftliche<br />

oder geistliche Kinder begriffen.<br />

In diesem Rahmen antworteten Gesten der Herablassung, des Wohlwollens<br />

oder der Großzügigkeit auf die Gesten des Respekts (Händedruck<br />

mit beiden Händen, gebeugte Haltung, Zunge zeigen, Niederwerfung,<br />

Beiseitetreten), ähnlich wie die Dienste des Rituals, der Belehrung,<br />

der Heilung oder Führung solche Leistungen wie die Fron,<br />

die Abgaben oder Spenden vergalten. Und die gleichen Gaben und<br />

Verhaltensweisen ließen sich verzögern oder verweigern, wenn die<br />

entsprechenden Schlüsselgesten oder Schlüsseldienste verweigert<br />

oder, aus welchen Gründen auch immer, unterlassen wurden. So wie<br />

die Unterlassung oder Verzögerung der Reverenz als erste Stufe der<br />

Sanktion erscheinen konnten, so wurde ihre Erzwingung ebenso wie<br />

die Erzwingung der Abgaben bereits als Strafe, wenigstens aber als<br />

Demütigung empfunden und mit den entsprechenden Empfindungen<br />

begleitet, welche man jenen entgegenbrachte, von denen diese Sanktionen<br />

ausgingen.<br />

Als Antwort auf die Frage, welche Verhaltensweise der Höherstehende<br />

vom Niederstehenden und dieser von jenem erwarten konnte,<br />

379 Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.159<br />

380 Rinchen Dölma Taring, Eine Tochter Tibets, Hamburg Düsseldorf 1972, S.20<br />

381 Thubten Dschigme Norbu, Tibet, verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.57


179<br />

antworten die Berichte der Reisenden und Forscher übereinstimmend:<br />

das Zeigen der Zunge, die gebeugte Haltung, das Beiseitetreten, die<br />

Niederwerfung, der Händedruck mit beiden Händen, die Übergabe der<br />

Glücksschleife, der Vorzug bei Mahlzeiten, Umtrünken oder Geschäften,<br />

382 der Anspruch auf den höchsten Sitz im Raume, 383 der<br />

Vortritt auf Wegen ebenso wie der Vortritt bei der Auswahl von<br />

gleichzeitig angebotenen Optionen.<br />

Auf engen Wegen besonders, aber als Zeichen der Achtung auf dem<br />

Weg überhaupt, trat der Tieferstehende beiseite und sollte der Höherstehende,<br />

dem der Weg freigemacht wurde, ein hoher Lama gewesen<br />

sein, dann wurde dieser außerdem mit Niederwerfungen geehrt.<br />

Die Reihenfolge, nach der beim Servieren vorgelegt wurde oder nach<br />

der am Tisch eingeschenkt wurde, begann in der Familie beim Vater,<br />

danach wurde die Mutter bedient, erst dann die Kinder in der Folge<br />

des Alters. Diese Regel galt auch bei Mahlzeiten oder Umtrünken im<br />

Kreise rangverschiedener Personen. 384 Der Höherstehende wurde<br />

grundsätzlich zuerst bedient.<br />

Die gezeigte Zunge unterstrich Ehrerbietung, die man aber noch öfter<br />

bekundete durch die gebeugte Haltung, in der man sich dem Höherstehenden<br />

näherte. Noch in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

konnte Cathriona Bass diese Form der Ehrerbietung beobachten:<br />

„Wenn er den Lama anspricht, zieht er den Atem ein und spricht mit<br />

halbherausgestreckter Zunge- die traditionelle Geste besonderen Respekts.“<br />

385 Auch der Händedruck mit beiden Händen bezeugte die<br />

Achtung und schließlich die Übergabe einer Glücksschärpe (khabtags).<br />

Diese überreichte man einem Mönch noch bevor man eine<br />

Bitte an ihn richtete.<br />

"Both by law and custom the higher classes enjoy special privileges,<br />

and these go a long way.<br />

The children of aristocrats, for instance, are entitled to exact from<br />

their humbler playmates great respect and courtesy. When the latter so<br />

forget themselves in their disputes and quarrels with their noble associates<br />

as to use rough language, they are at once punished, even when<br />

they are in the right." 386<br />

An dieser Differenz der Regeln und Zwänge vermochte selbst der in<br />

Tibet durchaus geachtete Wohlstand nichts zu ändern, wenn der Rei-<br />

382 Siehe: H.Harrer, Sieben Jahre in Tibet, Wien 1954, S.112<br />

383 Siehe: H.Harrer, Sieben Jahre in Tibet, Wien 1954, S.47<br />

384 Siehe: H.Harrer, Sieben Jahre in Tibet, Wien 1954, S.112<br />

385 C.Bass, Der Ruf des Muschelhorns, Reinbek 1992, S.290<br />

386 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.441


180<br />

che nicht dem Adelsstande angehörte oder den Status eines gehobenen<br />

Gutspächters innehatte. "A plebeian, no matter how wealthy, is obliged<br />

to behave respectfully under all circumstances to a man belonging<br />

to the Ngak-<strong>pa</strong> or Bon-bo, even though the latter may be as poor as a<br />

church mouse." 387 Wenn jene, welche diese Beweise des Respekts forderten,<br />

durch ihr eigenes Verhalten vergessen machten, daß sie den<br />

Respekt verdienten, blieben die entsprechenden Reaktionen derer auch<br />

nicht aus, die sich gedemütigt sahen, im Wiederholungsfalle stellte<br />

sich eine nicht ungefährliche Reserve ein, die auf die Gelegenheit lauerte,<br />

sich aggressiv zu revanchieren.<br />

Laien und Mönche<br />

Im Verhältnis der niederen Stände zum monastischen System äußerte<br />

sich die Standesdifferenz außerdem sehr ausgeprägt auch als eine Differenz<br />

des Wissens und der Bildung. So wie Waddell 388 verwies auch<br />

Kawaguchi auf die weite Verbreitung des Aberglaubens unter den<br />

niederen Ständen: "Like all uncivilised people they are intensely superstitious.<br />

To them a Lama is omnipotent, for they believe that he can<br />

cure diseases and divine all future events." 389 Die Unterschicht der tibetischen<br />

Gesellschaft kam ihm aber auch so leichtgläubig vor, wie<br />

sie ihm abergläubig erschien: "The nation is so credulous in the matter<br />

of religion that they indiscriminately believe whatever is told to them<br />

by their religious teachers, the lamas." 390 Dies entspricht einer allgemeinen<br />

Einschätzung Max Webers: „Nicht das »Wunder«, sondern<br />

der »Zauber« blieb daher die Kernsubstanz der Massenreligiosität, vor<br />

allem der Bauern und der Arbeiterschaft, aber auch des Mittelstands.“<br />

391<br />

Demenstrechend hoch stand das Ansehen der Mönche in der Gesellschaft.<br />

„They believe that the hermits in the mountains, and the monks<br />

in their cloisters, can readily become adepts in the black art, and can<br />

banish drought, and control the sun, and stay the storm.“ 392 Daß dieser<br />

Glaube an die Zauberkraft der Lamas im Volke tatsächlich existierte<br />

und keineswegs nur eine Projektion westlicher Reisender war, belegen<br />

die vielen Geschichten, die sich um das Wirken der heiligen Vagabunden<br />

Patrul Rinpoche und Khyentse Rinpoche ranken, welche die<br />

387 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.441<br />

388 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.475ff<br />

389 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.56<br />

390 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.271<br />

391 M.Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, II, Tübingen 1966, S.370<br />

392 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.475-6


181<br />

geistliche Hochstapelei des Mönchstums humorvoll und ironisch aufspießen.<br />

393 Kawaguchi sah noch andere, mehr weltliche Gründe, die<br />

das Ansehen der Mönche bestimmten, er fand sie speziell im innerklösterlichen<br />

Kontext, d.h. was die soziale Differenzierung der Mönche<br />

im Kloster anbelangte, in der oben bereits mit Max Weber erwähnten<br />

plutokratischen Gliederung. "In Tibet, the social estimation of priest<br />

and scholars is made, not according to their learning or virtue, nor yet<br />

according to the amount of good they have done for their fellow-men,<br />

but entirely according to the amount of property which they possess.<br />

Thus a priest who owns an estate of a thousand dollars, however mean<br />

and ignorant he may be, is much more influential and far more likely<br />

esteemed in society than a learned and virtuous priest who lives on a<br />

small income." 394<br />

Diese Beobachtung korrespondiert mit der soziologischen Erwartung,<br />

daß das monastische System stets die Sozialstruktur der Gesellschaft,<br />

zu der es gehört, in seinem eigenen Gefüge reflektiert, daß also Adlige<br />

ihren sozialen Status nicht verlieren, wenn sie im Kloster als ordinierte<br />

Mönche leben, genauso wenig wie die Vertreter der niederen<br />

Stände ihren Stand verlieren. Das gilt auch für den Status der Frau, um<br />

den es im monastischen System allerdings schlechter bestellt gewesen<br />

sein soll als in der Laiengesellschaft (dazu unten mehr).<br />

Die Klöster waren immer auch Herbergen für Pilger wie für Mönche,<br />

die aus verschiedenen Gründen sich für kürzere oder längere Zeit dort<br />

einfanden. Daß sich die Qualität der Unterbringung und Bewirtung der<br />

Gäste streng nach dem Status der Besucher richtete, bestätigen auch<br />

die Weisheitsgeschichten, die im Volke kursierten. 395<br />

Statusdifferenzen wurden auch berücksichtigt bei den rituellen Diensten<br />

der Geistlichkeit, wie Charles Bell beobachtet hatte.<br />

Der Dalai Lama <strong>pa</strong>ßte beispielsweise, ähnlich wie bei einem Hofprotokoll,<br />

die Form, in welcher er seinen Segen ausführte, dem Status der<br />

Person an, die seinen Segen begehrte. Nur den Personen höchsten<br />

Ranges legte der Kirchenfürst beim Segen beide Hände auf, hochstehenden<br />

Amts- und Würdenträgern, das waren etwa 200 Laien und<br />

zigtausend Mönche, legte er beim Segen nur eine Hand auf, während<br />

393 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995, hier z.B. die Geschichte über Khyentse<br />

Rinpoche: „Ein rauhes Erwachen“, ibid, S.80-82 oder die von Drug<strong>pa</strong> Künleg: „Der Yogi auf dem Fahnenmast“,<br />

ibid, S.56<br />

394 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.348<br />

395 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995, z.B. die Geschichte: „Milare<strong>pa</strong> der<br />

Langschläfer“, ibid, S.106-107


182<br />

er die Vertreter des gemeinen Standes zum Segen nur mit einer Quaste<br />

oder einem Wedel berührte. 396<br />

Rang wurde im Alltags- wie im Klosterleben auch durch die Sitzhöhe<br />

der Sitzgelegenheiten zum Ausdruck gebracht, den höchsten Sitz<br />

nahm im Kloster immer der Ranghöchste unter den Anwesenden ein,<br />

die anderen suchten ihren Sitz und dessen Höhe in der Reihenfolge,<br />

die ihrem Rang entsprach. 397 Auch über diese Form der Reverenz<br />

machten sich die heiligen Protagonisten der tibetischen Weisheitsgeschichten<br />

immer wieder lustig. 398 Die tibetischen Weisheitsgeschichten<br />

bestätigen auch die Bedeutung der Altersrangfolge im Kloster. 399<br />

Auch die Vorrechte der Bewirtung folgten im Kloster der Senioritätsregel.<br />

„Die Jungen brachten zuerst dem Abt und den älteren Mönchen<br />

etwas von allem“, beschreibt Grimshaw die Aufwartung beim Festessen<br />

im Kloster Rizong. 400<br />

Der Status der Frau<br />

Charles Bell versicherte, daß der Status der Frau im monastischen System<br />

deutlich schlechter war als in der Laiengesellschaft. „Here the<br />

signs of inferior status are not wanting“, heißt es, 401 wenngleich es unter<br />

den Geschichten über Mar<strong>pa</strong> und seinen Schülern auch solche gibt,<br />

die höchste Ehrerbietung dieser Weisen den Frauen gegenüber bezeugen.<br />

Hermanns schreibt: „Lamaistische Nonnen gibt es verschwindend wenige<br />

in A-mdo… Da die Nonnen wenig geachtet sind, hat dieser Beruf<br />

keine Anziehungskraft für die Mädchen.“ 402<br />

Daß die Frau im monastischen System eine nachgeordnete Stellung<br />

einnimmt, zeigt recht deutlich die institutionelle Unterstellung der<br />

Nonnenklöster unter die Mönchsklöster und die Tatsache, daß die<br />

Stellung des Abtes in diesen Klöstern stets ein Mönch innehat, der<br />

zum Kapitel jenes Klosters gehört, dem das Nonnenkloster unterstellt<br />

worden ist. Von dieser Regel gibt es nur wenige Ausnahmen in Tibet,<br />

z.B. das Kloster, in dem die Inkarnation von rDo-rje Phag-mo das<br />

396 Siehe: Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.162; siehe auch eine vergleichbare Beobachtung von<br />

George Bogle, in: ipse, Im Land der lebenden Buddhas, Stuttgart 1984, S.123-4<br />

397 Siehe: H.Harrer, Sieben Jahre in Tibet, Wien 1954, S.47 oder: D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus,<br />

IU, Rikon 1982, S.55<br />

398 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995, z.B. die Geschichte: „Der erleuchtete<br />

Vagabund“, ibid, S.37-38<br />

399 Siehe: Surya Das, Tibetische Weisheitsgeschichten, München 1995, z.B. die Geschichte: „Geshe Ben und<br />

sein Gewissen“, ibid, S.46<br />

400 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.68<br />

401 Ch.Bell, The People of Tibet, London 1928, p.162<br />

402 M.Hermanns, Die Familie der Amdo-Tibeter, Freiburg, München 1959, S.234-5


183<br />

Amt der Äbtissin hält, die als Abtissin den männlichen Insassen ihres<br />

Klosters Samding vorsteht. 403 Auch die Äbtissin des Klosters Drakar<br />

Gom<strong>pa</strong> (Brag-dkar dGon-<strong>pa</strong>) zwischen Heitso und Chone gelegen,<br />

gilt als weiblicher Tulku Gungritshang. 404<br />

Nonnenklöster stehen nicht nur unter der Aufsicht eines männlichen<br />

Abtes und eines Mönchsklosters, sondern sie stehen im System der<br />

Rechte und Pflichten jenes Klosters, dem sie unterstellt sind, vor allem<br />

als Arbeitskräfte und Güterlieferanten zu Buche. Grimshaw machte<br />

als Insassin des Klosters Julichang und als eine chomo auf Zeit klar,<br />

„daß alles, was wir in Julichang taten, unter der Aufsicht und Kontrolle<br />

des Mönchsklosters stand. Wir waren nur ein Teil des Reiches<br />

von Rizong, welches das Nonnenkloster<br />

sowie einige Dörfer und entlegene<br />

Mönchsgemeinschaften in ein komplexes<br />

Produktions- und Tauschsystem<br />

einbezog.“ 405 Das Leben der Nonnen<br />

von Julichang war alles andere als ein<br />

kontemplatives, dem Gebet und der<br />

Meditation geweihtes Leben. „Ihr Leben<br />

wurde beherrscht durch unaufhörliche<br />

körperliche Arbeit für das<br />

Mönchskloster.“ 406 Tatsächlich führten<br />

die Nonnen von Julichang das Leben<br />

von Dienstmägden ihres benachbarten<br />

Mönchsklosters. 407 Grimshaw war immer<br />

wieder erstaunt. „wie hart die<br />

Dorje Phagmo, aufgenommen 1932 von L.<br />

Weir, aus: L.P.Lhalung<strong>pa</strong>. Tibet, Heiliger<br />

Raum, Frankfurt 1990, S.67<br />

Nonnen für den Unterhalt des Mönchsklosters<br />

arbeiteten und daß ihnen dennoch<br />

ständig jede Anerkennung und<br />

jeder Status verweigert wurden.“ 408<br />

Was die Härte der Arbeit anbelangt, stimmen Aufschnaiters Beobachtungen<br />

mit denen Grimshaws überein. "Die Insassen solch kleiner<br />

Bergklöster mußten vielfach zur Sicherstellung ihrer Nahrung sehr<br />

hart arbeiten. Vor allem die Nonnen, welche weit herumgehen muß-<br />

403 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.275-6<br />

404 Siehe: Gyurme Dorje, Tibet Handbook, Nath 1996,p.640<br />

405 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.19<br />

406 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.84<br />

407 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.107<br />

408 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.58


184<br />

ten, um Tsam<strong>pa</strong> (...) zu bekommen, und welche schwere Arbeit zu<br />

verrichten hatten." 409<br />

Für Grimshaw verdichtete sich das Verhältnis des monastischen Systems<br />

zur Frau in dem Status der Chomo. Eine Chomo ist eine Frau,<br />

die mit geschorenem Haupte und roten Kleidern (ohne roten Umhang)<br />

wie eine Nonne zölibatär lebt, allerdings ohne formelle Gelübde, und<br />

das entweder zusammen mit Nonnen in einem Nonnenkloster oder<br />

aber auch allein in Abgeschiedenheit oder im Hause von Verwandten.<br />

„Der Stand der chomo war ein schlagender Beweis für die historische<br />

Nebenrolle der Frauen innerhalb des mönchischen Buddhismus. Chomo<br />

waren im Himalaya ein gewöhnlicher Anblick, die Mehrheit von<br />

ihnen lebte im Haushalt ihrer Eltern oder Brüder, wo sie mehr oder<br />

weniger als Mägde galten. Gelegentlich wurden diese Frauen auch einem<br />

Mönchskloster zugewiesen. Sie kochten für die Mönche und waren<br />

für die Reinigung und Instandhaltung der Tempel zuständig.<br />

Nachdem ich viele Witze über die chomo gehört hatte, über Frauen,<br />

die als schwer oder gar nicht zu verheiraten, als >alte Jungfern< galten,<br />

war ich zuerst nur erheitert, zu entdecken, daß ich in diesem Sinne<br />

auch als eine von ihnen betrachtet wurde.“ 410 Der Status dieser Frauen,<br />

die bereit waren, sich dem religiösen Leben zu widmen und deren<br />

Angebot sowohl im monastischen Sytsem als auch in der Laiengesellschaft<br />

mehr Spott als Anerkennung erntete, war offensichtlich problematisch.<br />

Gegenüber dieser Gruppe von Frauen offenbarten sich die<br />

Vorurteile einer <strong>pa</strong>triarchal geprägten Gesellschaft gegenüber der Frau<br />

vielleicht am deutlichsten. „Wo immer ich mein Interesse am Leben<br />

der buddhistischen Nonnen erwähnte, wurde ich ausgelacht. Ich<br />

schien nicht begreifen zu wollen, daß sie überhaupt keine Stellung innehatten.<br />

Niemand nahm sie ernst. Mir wurde oft erzählt, daß es für<br />

die Nonnen doch nur ein Spiel sei, sich als eifrige Anhängerinnen<br />

Buddhas zu gebärden- in Wirklichkeit seien sie alle bloß unzufriedene,<br />

schwatzhafte Weiber. Es wurde mir bald klar, daß sie in allen<br />

Schichten der Gesellschaft verspottet wurden.“ 411 Diese Haltung den<br />

chomo gegenüber änderte sich auch nicht in Julichang. „Jeder, ob<br />

Mönch, Nonne oder Dorfbewohner- schien irgendwelche Witze über<br />

die chomo von Lababs zu kennen. So war ich bereits lange, bevor ich<br />

die beiden kennenlernte, mit ihren Eigenheiten vertraut.“ 412<br />

409 P.Aufschnaiter, in: M.Brauen, Hrsg., Peter Aufschaiter, sein Leben in Tibet, Berwand 1988, S.189<br />

410 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.20<br />

411 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.34<br />

412 A.Grimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.42


185<br />

Die Stellung der Chomo wie der Nonnen war im monastischen System<br />

also keineswegs beneidenswert. Die Kooperation mit den Mönchen<br />

beschränkte sich nur auf die Ebene der Erledigung niederer Tätigkeiten<br />

und Dienste. Frauen ein vergleichbares Bedürfnis nach geistlicher<br />

Vervollkommnung und Befreiung zu unterstellen und ihnen zuzutrauen,<br />

auch hier ebenfalls erfolgreich sein zu können, war dieser Welt<br />

des „Männerbundes“ offensichtlich nicht möglich. Das reflektiert auch<br />

die demographische Nonnenquote Tibets (siehe oben). Die von Grimshaw<br />

geschilderten Vorbehalte der Tibeter gegenüber den Nonnen<br />

scheinen tief verwurzelt zu sein, denn sie erscheinen bereits als Thema<br />

der Schwänke im Onkel-Tön<strong>pa</strong>-Epenkreis oder in den Lebensbeschreibungen<br />

eines Drugba Künleg.<br />

Diese relativ schlechte Stellung der Nonnen wird auch heute immer<br />

noch in den aktuellen Berichten über das tibetische Nonnentum beklagt.<br />

„Seit jeher“, schreibt Lobsang Dechen, „standen tibetischen<br />

Mönchen großzügige Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung, nicht so<br />

den Nonnen, deren religiöse Ausbildung daher sehr begrenzt blieb.<br />

Bei der Schulung der Nonnen steht das Auswendiglernen von Gebeten<br />

im Mittelpunkt.“ 413 Wenn diese Auskunft verallgemeinert werden<br />

darf, wäre den Nonnen auch heute noch der Weg des Studiums versperrt.<br />

Diese Autorin jedenfalls sprach sich dafür aus, den Status der<br />

Nonnen auch im Kontext der Ausbildung zu verbessern und ihn den<br />

Gegebenheiten einer aufgeklärten Gesellschaft anzu<strong>pa</strong>ssen.<br />

Körperliche Züchtigung<br />

Daß zur Durchsetzung der Erziehungsziele ganz allgemein auch die<br />

körperliche Züchtigung gehörte, bestätigte Thubten Dschigme Norbu<br />

unter Hinweis auf die eigene häusliche Erfahrung: “Der Vater legte<br />

mich übers Knie, zog die überlappende Hose auseinander und verabfolgte<br />

mir mit der flachen Hand eine tüchtige Tracht Prügel.“ 414<br />

Aber nicht nur im Laienhaushalt galt die körperliche Züchtigung als<br />

Erziehungsmittel wie Waddell schreibt: „The novice now undergoes a<br />

severe course of instruction, during which corporal punishment is still,<br />

as heretofore, freely inflicted.“ 415 Tenzin Choedrak bestätigt: „Nach<br />

buddhistischen Prinzipien hatte der Tutor die Pflicht, seine Schüler zu<br />

413 Lobsang Dechen, Nonnen in der tibetischen Tradition, in: Karma Lekshe Tsomo, Töchter des Buddha,<br />

München 1991, S.140<br />

414 Thubten Dschigme Norbu, Tibet, verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.57<br />

415 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.181


186<br />

kritisieren, zu tadeln, aber auch, wenn nötig, zu schlagen; und er ließ<br />

sich dies nicht entgehen.“ 416<br />

Kawaguchi beobachtete, daß der Stock zum pädagogischen Standard<br />

gehörte, in der Laienerziehung ganz ausgeprägt, weniger dominant in<br />

der Klostererziehung: "The birch-rod is considered to be the most useful<br />

implement in teaching; not exactly a birch-rod, however, but a flat<br />

piece of bamboo. The cramming of difficult <strong>pa</strong>ssages of rhetoric being<br />

the princi<strong>pa</strong>l mode of learning imposed on pupils, their masters are invariably<br />

of opinion that they must make free use of the rod in order to<br />

quicken their pupils' progress." 417 Das Verhältnis von Lehrer und<br />

Schüler erinnerte ihn sogar an das zwischen Wärter und Sträfling:<br />

"The relation between masters and pupils does not differ much from<br />

that between goalers and convicts. The latter, poor fellows, hold their<br />

masters in such dread that they find it exceedingly trying, at the sight<br />

of them and their formidable pedagogic weapons, to compose their<br />

minds and to go on unfalteringly with their lessons. They cover with<br />

fear, and are filled with the perturbing thought that the rod is sure to<br />

descend upon them for the slightest stumble they make in the <strong>pa</strong>th of<br />

learning." 418<br />

Auch bei der Bemessung des Strafmaßes schienen die Lehrer nicht<br />

zimperlich gewesen zu sein: "The ordinary use of the rod is to give<br />

thirty blows with it on the left <strong>pa</strong>lm of the pupil." 419 Doch dies soll<br />

eher das Los der Laienschüler gewesen sein, die monastischen Lehrer<br />

erschienen ihm dagegen wesentlich moderater. "While the education<br />

of the sons of laymen is conducted with such severity, that of boy disciples<br />

by Lama priests is extremely lenient, and is quite in contrast to<br />

that of the others. 420<br />

Daß aber die körperliche Züchtigung auch vor dem Rabdschung oder<br />

jungen Dra<strong>pa</strong> nicht Halt machte, berichtete Paul Sherab, der sowohl<br />

im Elternhaus von seinem Vater als auch im Kloster von seinem Lehrer<br />

reichlich Stockhiebe abbekam, weshalb er seiner Zeit auch aus<br />

dem Kloster davongelaufen war, 421 eine Reaktion auf diese Art von<br />

Züchtigung, die auch Tenzin Choedrak nicht fremd geblieben war:<br />

„Während meiner ersten Jahre im Kloster zeigte sich mein Onkel (der<br />

Tutor des jungen Choedrak/ H.S.) mir gegenüber so unnachgiebig, daß<br />

416 Tenzin Choedrak, Im Dienst des Dalai Lama, Frankfurt 1999, S.48<br />

417 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.443-4<br />

418 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.444<br />

419 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.444<br />

420 E.Kawaguci, Three Years in Tibet, Madras, Benares, London 1909, p.445<br />

421 Siehe: P.Sherab (Dorje Zodba), A Tibetan on Tibet, London 1926, p.25


187<br />

ich mehrfach kurz davor war, wegzulaufen.“ 422 Jones-Tung, welche<br />

die Notizen von Dolan und Tolstoj ausgewertet hatte, gibt deren Beobachtungen<br />

zu diesem Thema so wieder: „To ensure the dedication<br />

of students, <strong>pa</strong>rents gave teachers the right to use physical punsihment<br />

to enforce discipline, but there is no evidence of cruelty.“ 423 Das gleiche<br />

galt für die Klosterschule. „Sobald etwas nicht in Ordnung war<br />

und je nach der Schwere meiner Verfehlungen, korrigierte er (der Onkel<br />

Tutor/H.S.), manchmal mit dem, was ihm gerade unter die Hände<br />

kam, einer Peitsche, einem Riemen oder einem Stock.“ 424<br />

Stockhiebe gehörten im Kloster, laut MacDonald, zum pädagogischen<br />

Alltag, wenn die erforderlichen Leistungen des Schülers ausblieben:<br />

„Should the student become slack in his work, his tutor does not scruple<br />

to inflict corporal punishment, for on the tutor, no less than on the<br />

student himself, will odium fall should the latter fail to <strong>pa</strong>ss examinations,<br />

held from time to time in the college.“ 425 Sandberg verweist sogar<br />

auf Berichte, nach denen auch der Tutor des Schülers körperlich<br />

gezüchtigt wurde, wenn dieser seinen Pflichten nicht nachkam, was in<br />

diesem System authoritärer Pädagogik nicht der Konsequenz entbehrt:“His<br />

tutor, moreover, at once receives ten strokes from the Ge-<br />

Koi’s staff and <strong>pa</strong>ys a fine of four bo of butter.” 426<br />

A.David-Neel berichtet, „daß die hohen geistlichen Würdenträger Tibets,<br />

der Dalai Lama eingeschlossen, in ihrer frühen Jugend von Züchtigungen<br />

nicht verschont bleiben, im Gegenteil, ihre Erzieher sind sehr<br />

freigebig damit. Ohne Zögern verabreichen der Sprach-, der Geschichts-<br />

oder der Philosophielehrer dem Zögling eine tüchtige Tracht<br />

Prügel, wenn er seine Aufgabe nicht richtig hersagen kann... Nach der<br />

Züchtigung muß der Knabe sich vor dem Lehrer niederwerfen und<br />

ihm für sein Wohlwollen danken.“ 427<br />

Die Indizien erlauben den Schluß, daß der wohlwollende wie strenge<br />

Ausdruck der Autorität in seinen verschiedenen politischen, sozialen<br />

und geistlichen Rollen, sich am Vorbild elterlichen Verhaltens, am<br />

Vorbild elterlicher Sanktionen wie elterlichen Wohlwollens orientierte<br />

und damit auf sich selbst die Legitimation jener als natürlich hingenommenen<br />

Autorität der Eltern übertrug. Der Mönch war für den Laien<br />

der geistliche Vater, der Grundherr der soziale Vater, der Regent<br />

der politische Vater. Jeder im Status höher Stehende konnte den Re-<br />

422 Tenzin Choedrak, Im Dienst des Dalai Lama, Frankfurt 1999, S.57<br />

423 R.Jones-Tung, A Portrait of Lost Tibet, Ithaca 1980, p.100<br />

424 Tenzin Choedrak, Im Dienst des Dalai Lama, Frankfurt 1999, S.48<br />

425 D.MacDonald, The Land of the Lama, London 1929, p.99<br />

426 G.Sandberg, Tibet and the Tibetans, London 1906, p.123<br />

427 A.David-Neel, Mönche und Strauchritter, Leipzig 1933, S.61


188<br />

spekt erwarten, den der ihm gegenüber tiefer Stehende seinen eigenen<br />

Eltern erwies. Nicht anders stand es im Kloster mit der Relation von<br />

Meister oder Lehrer und Schüler, mit der Relation der Insassen zu den<br />

höheren Würdenträgern. Daß diese für die monastische Karriere in Tibet<br />

so bedeutsame Beziehung von Meister und Schüler durchaus ambivalent<br />

gewesen sein muß, machen nicht nur die Hinweise auf die<br />

Prügelstrafe im Unterricht deutlich. Auch die tibetischen Weisheitsgeschichten<br />

wissen von eigentümlichen Schikanen der Meister ihren<br />

Schülern gegenüber zu berichten.<br />

Wer Normen durchsetzen muß, muß dabei immer wieder von Sanktionen<br />

Gebrauch machen, die je nach dem Mißvergnügen, das sie bereiten,<br />

das Verhältnis der Beteiligten trüben, die Einstellung des Genötigten<br />

zum Bevollmächtigten entsprechend aggressiv färben oder<br />

mit Vorbehalten und Ressentiments ausstatten, so daß schließlich<br />

Schüler die Begegnung mit besonders strengen Lehrern oder Würdenträgern<br />

unter allen Umständen zu meiden versuchten. Thubten<br />

Dschigme Norbu berichtete von solchen Lehrern, die von den Schülern<br />

bevorzugt gemieden wurden, in seinem Kloster. 428<br />

Diese Ambivalenz im Verhältnis zu Autoritäten erscheint schon in der<br />

Familie im Verhältnis von Vater und Sohn, welche dem Sohn die<br />

Haltung des Respekts abverlangt, sie wurde auch beobachtet im Verhältnis<br />

der Dörfler zu den Klosterkämmerern oder ihren Vertretern vor<br />

Ort, genauso wie im Verhältnis von Lehrern und Schülern, wiewohl<br />

sie in der Rückschau altersweiser Mönche in ihren Biographien immer<br />

wieder übergangen oder verklärt wurde. In deren Erinnerungen wird<br />

mit besonderer Wärme der Mutter gedacht, der die Söhne im Elternhaus<br />

ihre Haltung der Zuneigung unverstellt zeigen dürfen. Diese Orientierung<br />

der Gefühle entspricht den Beobachtungen, welche Völkerkundler<br />

in verwandtschaftsrechtlich organisierten Gesellschaften gemacht<br />

haben und welche Radcliffe-Brown in seiner berühmten Studie<br />

über den Mutterbruder in Südafrika zu einer systematischen Theorie<br />

sozialer Rollen ausgebaut hat.<br />

428 Thubten Dschigme Norbu, Tibet, verlorene Heimat, Wien, Berlin, Frankfurt 1960, S.94-5


VII<br />

189<br />

Das monastische Erziehungs- und Bildunsgssystem<br />

Vinaya (tib. lDul-ba)<br />

Vinaya heißt im engeren Sinne die monastische Disziplinarordnung,<br />

im weitesten Sinne reflektiert der Begriff die religiöse Praxis und<br />

Lehre im Vollzuge ihrer Verwirklichung.<br />

“Vinaya, im brahmanischen Sinne “Bescheidenheit”, bedeutet im buddhistischen<br />

„Unterdrückung, Zucht, gute Führung“. Als Zweig der<br />

Lehre und des Codex enthält er das Disciplinargesetz für die Geistlichen,<br />

und ist zunächst nur für diese bestimmt. Die Moral (Çila), deren<br />

allgemeinste Vorschriften auch für den Laien gelten, fällt nach buddhistischer<br />

Anschauung mit der Disciplin zusammen, bildet nur einen<br />

Theil derselben. Endlich ist auch der Cultus… blos ein Ausfluss der<br />

Disciplin. Mithin umfaßt der Vinaya die religiöse Praxis überhaupt,<br />

die gesamte thatsächliche Verwirklichung und Darstellung des guten<br />

Gesetzes.“ 429<br />

Vinaya- Variationen:<br />

Vinaya- Schule Anzahl der Regeln für Nonnen<br />

Anzahl der Regeln für<br />

Mönche<br />

Theravda (Pali) 311 227<br />

Dharmagupta 348 250<br />

Mahsaghika 290 218<br />

Mahisasika 380 251<br />

Sarvstivda (chin.) 355 257<br />

Sarvstivda (Skr.) - 263<br />

Mulasarvstivda (chin.) 354 245<br />

Mulasarvstivda (tib.) 371 262<br />

nach Waldschmidt, Bruchstücke des Bhikshuni- Pratimoksha der Sarvastivadins, 2-3<br />

Die praktischen Unterschiede in der Übung des Dharma sind also<br />

Unterschiede der Strenge und der Konsequenz, mit und nach der die<br />

Regeln der Ordensdisziplin befolgt werden, weniger streng und konsequent<br />

im Leben der Laien, immer konsequenter und strenger im Leben<br />

der Mönche und nach dem Grad ihrer geistigen Entwicklung.<br />

Weil sich im Vinaya die Praxis des Dharma im engsten (monastisches<br />

Regelwerk) wie im weitesten Sinne (Lebensführung nach den Grundsätzen<br />

der Religion) reflektiert, kann er auch zur Grundlage der Ver-<br />

429 C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.329


190<br />

fassung eines Weltanschauungsstaates werden, der sein Rechtssystem<br />

auf dessen Grundlage stellt und in seinem Sinne ausformuliert, was so<br />

nicht nur in Tibet geschehen ist.<br />

Neben der Regula monastica, dem „Buch der 13 Vorschriften“ 430 stellt<br />

das Sutra der Befreiung (Prtimoka Stra) das kanonische Kompendium<br />

der buddhistischen Disziplin dar, das in 8 Abteilungen „bei den<br />

südlichen Buddhisten 227, bei den Chinesen 250, in der tibetischen<br />

Version 253 Verbote und Gebote (enthält).“ 431 Außerdem gehören<br />

zum Vinaya Bücher des Kirchen- wie des Zivilrechts, Vorschriften<br />

über Ritus, Kultus, Hierarchie, Verwaltung und Katechese, „so dass<br />

z.B. die Vinayasection bei den Singhalesen 6, bei den Tibetern 15<br />

Bände des Kanons füllt.“ 432<br />

Im engeren monastischen Kontext regelt der Vinaya die Zulassung<br />

zum und die Dauer des Noviziats sowie dessen Pflichten, z.B. die<br />

Meidungsverpflichtung der Daskuala oder die Famulatspflichten:<br />

Fegen, Feuermachen, Tee servieren und andere Dienste. Das Noviziat<br />

schließt ab mit der U<strong>pa</strong>sam<strong>pa</strong>d, der Ordination zum Mönch, die vor<br />

versammeltem Kapitel stattfindet, dem der Updhyya vorsitzt und<br />

das vom Karmacrya geleitet wird. 433<br />

Dieses Gelübde bindet nicht das ganze Leben, um es zurückgeben zu<br />

können, bedarf es „nur der Erlaubnis einer gesetzmäßigen Versammlung<br />

von Priestern.“ 434<br />

430 Terasa dhtangga<br />

431 C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.332<br />

432 C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.333<br />

433 C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.336-8<br />

434 C.F.Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, I, Berlin 1857, S.338


191<br />

Der Ausbildungsrahmen im Dratsang oder Kolleg<br />

Mönche beim Pigmentmalen, aus: D.P.u.J.A.Jackson, Tibetan Thangka Painting, London 1984, S.83<br />

Das monastische Ausbildungsprogramm vom Eintritt ins Kloster bis<br />

zum Gelong-Gelübde genügtete dem eigentlichen monastischen Statusgefüge,<br />

von unten aufsteigend: Postulant, Novize und vollordinierter<br />

Mönch. Erst nach dem abgelegten Gelong-Gelübde bot sich dem<br />

Mönch die Möglichkeit zum höheren Studium. Dieser Ausbildungsabschnitt<br />

läßt sich also von jenem unterscheiden wie die Grundausbildung<br />

und die berufliche Spezialisierung von den höheren Disziplinen<br />

der Gelehrsamkeit, die nicht nur eine buddhologische oder religionswissenschaftliche<br />

Schulung anstreben konnte, sondern als Spezialdisziplin<br />

auch eine medizinische. Neben der Gelehrtenlaufbahn gab es<br />

also auch die Möglichkeit des Erwerbs verschiedener praktischer und<br />

administrativer Qualifikationen, die ihrerseits ein Funktionsspektrum<br />

nichtakademischer Spezialisierung ausweisen, das zusätzliche Schulung<br />

verlangte. Beide Optionen der Zusatzausbildung, die berufspraktische<br />

wie die akademische, gehörten also nicht zu der eigentlichen<br />

Grundausbildung eines Mönchs qua Mönch oder zur Vorbereitung auf<br />

die verschiedenen Gelübde.<br />

"Von einem jeden, der ins Kloster eintritt, wird erwartet, daß er die<br />

ersten Gelübde ablegt und Rabjung wird. Das ist die niedrigste Stufe


192<br />

in der Hierarchie der Mönche, darauf folgt Getsul und dann Gelon.<br />

Diese drei werden als Tra<strong>pa</strong> oder Mönche bezeichnet und sind bei den<br />

Geluks<strong>pa</strong> an den Zölibat gebunden. Diejenigen Mönche, die nicht studieren,<br />

können zu Handwerkern oder Kunsthandwerkern ausgebildet<br />

werden oder sie können die Felder des Klosters bestellen. Außerdem<br />

gehen aus ihnen die Beamten des Klosters hervor, die mit allen geschäftlichen<br />

und finanziellen Angelegenheiten zu tun haben. Weniger<br />

Begabte arbeiten in den Küchen des Klosters, sind aber keineswegs<br />

vom religiösen Leben abgeschnitten, sondern werden oft in Kultverrichtungen<br />

ausgebildet und dann hinausgeschickt, um unter der örtlichen<br />

Bevölkerung religiöse Handlungen vorzunehmen." 435<br />

Norbu skizziert hier ein dreigliedriges Ausbildungssystem, das nach<br />

einer monastischen Grundausbildung (Lehre, Lithurgie, Rituale), ohne<br />

deren erfolgreichen Abschluß niemand die Gelong-Gelübde ablegen<br />

kann, zwei Wege der Spezialisierung anbietet: 1) den Weg der akademischen<br />

Weiterbildung in den religiösen und medizinischen Wissenschaften<br />

und 2) den Weg der Spezialisierung in verschiedenen weltlichen<br />

Berufss<strong>pa</strong>rten des Handwerks, der Künste, der Landwirtschaft,<br />

der Betriebs- und Finanzwirtschaft.<br />

Die Qualifikation zum Musikanten, Maler, Bildhauer, Magazin- oder<br />

Gutsverwalter war also Gegenstand eines eigenen Ausbildungszweiges,<br />

über den sich in der Literatur nur wenig Informationen finden lassen,<br />

sie gehörte also weder zur monastischen Grundausbildung des<br />

Mönchs als Mönch, noch zum höhern Studium des monastischen Gelehrten,<br />

der nach Abschluß seines Studiums den Grad eines Geshe erwarb.<br />

Der Eintritt in die Verwaltung der Regierung setzte den Besuch einer<br />

speziellen Verwaltungsfachschule voraus, während die Schulung der<br />

handwerklichen Qualifikationen aller Wahrscheinlichkeit nach in einem<br />

meisterlichen Lehrbetrieb stattfand, was für die Ausbildung zum<br />

Maler 436 beispielsweise bezeugt ist; für diesen Beruf aber auch die extramonastische<br />

Lehrwerkstatt.<br />

Problematisch erscheint auch die Zuordnung der Ritualpraxis zur<br />

Grundausbildung. Einige Indizien sprechen dafür, daß sich auch in<br />

diesem Bereich die Zweiteilung minderer und höherer Bildung reflektiert.<br />

Schließlich hängt der Erfolg jedes Rituals ab von der Richtigkeit<br />

seiner Durchführung, und diese setzt ein Wissen voraus, das innerhalb<br />

der Gelugs<strong>pa</strong>-Klöster vor allem in den rGyud-Kollegien gelehrt<br />

435 Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.248<br />

436 Siehe: G.Tucci, Tibetan Painted Scrolls, 1 u.2, Kyoto 1980, D.P. u.J.A.Jackson, Tibetan Thangka Painting,<br />

London 1984, D.Jackson, A Historry of Tibetan Painting, Wien 1996


193<br />

wurde, zu denen wiederum nur jene Mönche Zutritt hatten, welche bereits<br />

den Geshe-Grad besaßen. In manchen nichtreformierten Orden<br />

hatte auch der Gelong, der vollordinierte Mönch, Zutritt zu diesem<br />

Wissensgebiet. „Zwar lesen schon die jüngsten Novizen im Chore mit,<br />

aber sie sind, wie überhaupt die meisten Lamas, beim Gottesdienst<br />

von untergeordneter Bedeutung… Von Wichtigkeit dagegen sind der<br />

mKhan-po oder Abt, sofern er beim Gottesdienst anwesend ist, der<br />

Gliederung der Riten nach Raum und Zeit:<br />

Dimension: Raum<br />

Ort der Rituale<br />

Innenriten<br />

Außenriten<br />

Tempelriten Hausriten Klosterhof Klosterumfeld Feldmark<br />

(drug bcu-<strong>pa</strong> (Maitreyapro- (Geomantische R.)<br />

Camtänze,etc) zession)<br />

Zelte/Häuser Mönchszelle<br />

(Feueropfer) (chug-gtor)<br />

tägliche<br />

ereignisabhängige (sog. große Rituale)<br />

größere Kalenderperioden<br />

Gliederung des großen Rituals<br />

Intervall der Rituale<br />

Dimension: Zeit<br />

nach F.Lessing, Wesen und Sinn des lamaistischen Rituals<br />

Segment des Rituals<br />

1 Dreifacher Sadhana begütigend (’phrin-las bzhi) weiß<br />

2 Abhiseka ( dbang-bskur), Initiation mehrend (rgyas) gelb<br />

3 a) Sonderopfer a.d. Gottheit (stong.mchod) unterwerfend (dbang) rot<br />

b) Tausendopfer a.d.Buddha (bskang-gso)<br />

optional: Bewirtung zornvoller Gottheiten<br />

4 Homa (sbying-sreg): Feuer- o.Brandofper vernichtend (drag) schwarz<br />

„Wie die Namen andeuten, dient die erste Art von Handlungen dazu, die Götter und Dämonen zu<br />

beschwichtigen, die zweite, alle Segnungen zu mehren, die dritte, Macht über die Götter, Geister<br />

und Menschen zu verleihen, die vierte, die Feinde zu vernichten.“ F.Lessing, Wesen und Sinn des<br />

lamaistischen Rituals, in: Hyllingsskrift tillägnad Sven Hedin, Geografiska Annaler 1935, XVII, Stockholm,<br />

S.361<br />

crya (sankrit, tib. slob-dpon) >Professor


194<br />

auch einer besonderen Licentia (anuja, tib. rjes-gnang, mong. daghan<br />

sojorqu), durch die ihnen des Gottes zuteil wird.“ 437<br />

Das Mitwirken so hochstehender Würdenträger wie der Abt, der Spiritual<br />

oder <strong>Studien</strong>präses, wie der Lithurg und der Disziplinar des<br />

großen Kapitels scheint nur bei den sog. großen Riten erforderlich zu<br />

sein, und damit dann auch deren Wissen und Können nur für diese erforderlich,<br />

während die Durchführung der kleinen Riten auch schon<br />

den Gelongs und Getshuls anvertraut wird, die entweder nicht studiert<br />

haben oder sogar noch vor dem Gelong-Gelübde standen.<br />

Diese Unterscheidung deutet also eine Differenzierung der Qualifikationen<br />

und Kompetenzen in der Ritualpraxis an, die durchaus jener<br />

entspricht, von der oben schon öfter zu sprechen war, nämlich von jener<br />

Differenzierung nach der niederen und höheren Bildung der Mönche.<br />

Wegen der dürftigen Quellenlage zu diesem berufspraktischen Ausbildungszweig<br />

innerhalb des monastischen Systems beschränken wir<br />

uns hier auf eine kurze Skizze der monastischen Grundausbildung und<br />

des monastischen Hochschulstudiums.<br />

437 F.Lessing, Wesen und Sinn des lamaistischen Rituals, in: Hyllningskrift tillägnad Sven Hedin <strong>pa</strong>r hans 70<br />

Arsdag, Geografiska Annaler 1935, Arg XII, Stockholm, S.360-361


195<br />

Die Grundausbildung der Postulanten und Novizen 438<br />

Waddell hatte den Eindruck, daß der Postulant in der Zeit kurz nach<br />

dem Eintritt in das Kloster nicht viel mehr gewesen zu sein schien als<br />

der Privatschüler eines Mönchs-Tutoren, dem zunächst und in der<br />

Hauptsache verschiedene niedere Dienste abverlangt wurden. Diese<br />

Beobachtung, so problematisch ihre Umschreibung erscheint, erfaßt<br />

wenigstens jene Bedeutung, welche der persönlichen Beziehung von<br />

Lehrer und Schüler bereits zu diesem Zeitpunkt auch im Kloster beigemessen<br />

wurde. Der Postulant trug meistens noch die Laienbekleidung<br />

und wenn sein Kopf geschoren wurde, dann noch ohne jede zeremonielle<br />

Begleitung. Sein Tutor brachte ihm zuerst einmal das tibetische<br />

Alphabet bei (das Ka Kha Ga, wie es nach den ersten Buchstaben<br />

genannt wird). Nach der Übung des Alphabets wurden weiter<br />

kleinere Text<strong>pa</strong>ssagen aus den heiligen Schriften zunächst gelesen und<br />

rezitiert, dann auswendig gelernt. Der Lehrstoff des Postulanten läßt<br />

sich mit Waddell folgendermaßen zusammenfassen:<br />

Lehrstoff A 439<br />

Titel Inhalt Seiten<br />

Le bdun ma Die 7 Kapitel (Gebetsbuch des Padmasambhava)<br />

Bar-chad lam gsal Gefahrenabwehrzauber (Gebet des Padmasambhava in 12 Stanzen)<br />

Sher-phyin<br />

Auszug aus der Transzendentalen Weisheit in 6 Blättern<br />

sKu-rim<br />

Übel abwehrendes Ritual<br />

sMon lam<br />

Gebet zum Wohle aller<br />

sDig-sags<br />

Sündenbekenntnis<br />

rDor-gchod<br />

Sutra aus dem Buch der Transzendentalen Weisheit<br />

Phyog-bchui phyogs-dral Beschreibung der 10 Richtungen 6<br />

Namo Guru Verehrung des Guru 5<br />

mChod-'bul Über Opfergaben 6<br />

gTor-ma Über das Torma 8<br />

bSas-bsur Über Lichter und Butterlampen 5<br />

lTo-mchod Über das Reisopfer 4<br />

Rig-'dsin snön-'gro Der erste Versuch des Weisen 4<br />

Drag-mar snön-'gro Fibel der roten zornvollen Gottheit 4<br />

bKa-brgyed Die 11 Gebote oder Vorschriften 4<br />

bDe gshegs kun 'dus Die Sammlung der Tathagatas 4<br />

Yeshes sKu mchog Das beste Vorherwissen 5<br />

rTsa-gdu bshag-gsal Das Fundament der Säule des klaren Bekennens 4<br />

Zum Lehrstoff gehörte auch die Einführung in die verschiedenen ethischen<br />

Maximen und goldenen Regeln des Verhaltens, wie sie teilweise<br />

in unübertrefflicher Weise auch von den Spruchweisheiten des<br />

Volkes geboten wurden.<br />

438 nach L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.174ff<br />

439 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.174-5


196<br />

Während dieser Unterrichtsperiode wurde der Postulant ungefähr einmal<br />

im Monat von seinen Eltern oder Verwandten im Kloster besucht,<br />

die sich nach seinem Wohlergehen<br />

erkundigten und seinem Lehrer die<br />

Schreibübungen der Rabjungs, nach H.Hirschberg,<br />

Ladakh, das andere Tibet,München 1980,<br />

S.166<br />

Unterrichtsgebühren entrichteten.<br />

Nach zwei oder drei Jahren dieser<br />

Form des Unterrichts, in der vor allem<br />

das Gedächtnis des Jungen geschult<br />

wurde (er konnte dann flüssig<br />

Texte von einer Länge von 125 Seiten<br />

auswendig wiedergeben), meldete<br />

ihn sein Tutor zum Noviziat an.<br />

Mit dem Noviziat begann der zweite<br />

Abschnitt der Grundausbildung.<br />

Der Novize mußte ein Jahr nach seiner<br />

Aufnahme in den Orden seine<br />

erste Prüfung ablegen, die nächste<br />

im folgenden Jahr (oder nach weiteren<br />

zwei Jahren), die zugleich jene<br />

Prüfung darstellte, nach der er das<br />

Mönchsgelübde ablegen durfte.<br />

Während dieser Ausbildungszeit gehörten<br />

auch andere tätige Dienste wie z.B. der Teeauschank zu seinem<br />

Aufgabenbereich.<br />

Wenn der Novize die hier erwähnten Bücher oder Textauszüge auswendig<br />

rezitieren konnte, hatte er die vorbereitenden Examina bestanden<br />

und brauchte sich keinen weiteren Examina mehr zu unterwerfen,<br />

um zur Ordination als Mönch zugelassen zu werden.<br />

Buddhistische Sprichwörter Lehrstoff B 440<br />

Die vier Regeln der Rede<br />

Die Erfordernisse der Rede<br />

Die Eigenschaften der Rede<br />

Die vier Relationen der Rede<br />

Gründe für Zusammenkünfte<br />

Die 8 Verhaltensweisen der Personen niederen Standes<br />

Die 10 Vergehen<br />

Die Anrufungen<br />

z.B. Segen der Beredsamkeit<br />

Zufluchtsformel<br />

Mantras<br />

440 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.175-6


197<br />

Waddell listet den Stoff auf, der beim ersten und zweiten Novizen-<br />

Examen im Kloster Pemiongchi (Padma bya rtse) bewältigt worden<br />

sein mußte (siehe die Tabellen oben und unten).<br />

Wollte der Mönch sich in den buddhistischen Wissenschaften weiterbilden,<br />

dann stand ihm der Ausbildungsweg des Geshe offen.<br />

Lehrstoff für das 1. Examen im Noviziat (Kloster Pemiongchi [Pad-ma rGyal-rtse]) 441 :<br />

I dKon-chog spyi 'dus Rig 'dsin 'dsah mshan ingpo<br />

chos khor (60 Seiten)<br />

und Dämonen<br />

Banquett zu Ehren der Versammlung aller Götter<br />

1) Tshe-sgrub Zur Erlangung langen Lebens<br />

2) Zi-khro Die wohlwollenden und zornvollen Gottheiten<br />

3) Guru grags Die zornvolle Form des Padmasambhava<br />

4) Se-gdo-ma Die löwengesichtige Dämonin<br />

5) Chos skyo Mahkla Yeshe mgon-po<br />

6) Ta lha Berg Thang-la mit Berggeist "Kiting", der nördliche<br />

Wächter Sikhims<br />

II bDe-geshegs-kün 'dus-gar-dba; Tugs rje chenpo<br />

(40 Seiten)<br />

gen<br />

Versammlung der Tathagatas und des barmherzi-<br />

Avalokita<br />

III Guru grags dmar , Khro-bo-rol dba' gtor zig;<br />

Grags po' las Guru-gsol-'debs len bdun-ma; Kha<br />

'don chos spyod<br />

Kreis der zornvollen und dämonischen Gottheiten<br />

Die Auskünfte, die Hedin in Tashi-Lhünpo erhielt, scheinen mit der<br />

von Wadell beschriebenen Zweiteilung des Unterrichtspensum, deren<br />

jeder Teil mit einem Examen abgeschlossen wird, übereinzustimmen.<br />

Wenn das der Fall ist, erfahren wir außerdem von ihm auch die mit<br />

diesen Examina verbundenen Titel: Ringding und Riktschen. „Einem<br />

anderen Gewährsmann zufolge“, schreibt Hedin, „werden der Ringding<br />

und der Riktschen noch zum Getsulgrad und der Katschen zum<br />

Gelonggrad gerechnet.“ 442<br />

Lehrstoff für das 2. Examen im Noviziat (Kloster Pemiongchi) 443 :<br />

1) mTsho-skyes rdo-rje Verehrung des meergeborenen Vajra<br />

2) Rig 'dsin rtsa-gsum Die drei Wurzeln der Weisheit<br />

a) Rig 'dsin lha-ma' las<br />

b)Tshe-sgrub khog dbugs<br />

c) gSa sgrub do yi sin-po<br />

3.1) rDo-rje phag-mo' las Die Taten Dorje Phagmos<br />

3.2) zag-med bde-chen Die große Glückseligkeit von zag-med<br />

3.3) Chos sru grags-po sde bzhi Die 4 Klassen zornvoller Gottheiten<br />

4.1) bdus dpu zil non Die Unterwerfung eines Gastgebers der Dämonen<br />

4.2) Kun-bza, mchod-sprin Opfer an die Dhyani Buddhas<br />

5) bska bshags Opferzeremonien<br />

6) bKra-shis smon-lam Das Gebet des ruhmreichen Tashi (Lepcha-Name Padmasambhava)<br />

1) bis 6) = 55 Seiten<br />

7.1) bKh-bgyad bde gesegs 'dus-<strong>pa</strong>' dkyil-'khor kyi las Die 8 Führer der versammelten Buddhas<br />

7.2) Khro-bo-rol wa gtor zlog gyi skor bkah brgyad<br />

7) = 40 Seiten<br />

441 L.A.Waddel, Tibetan Buddhsim, New York 1972, p.182-3<br />

442 S.Hedin, Transhimalaja, I, Leipzig 1922, S.316<br />

443 L.A.Waddel, Tibetan Buddhsim, New York 1972, p.183


198<br />

Das Curriculum im Kloster Sakya 444<br />

Im Kloster Sakya begann die Mönchsausbildung im Alter zwischen 7<br />

und 8 Jahren. Nach dem Eintritt ins Kloster lernten die Jungen zuerst<br />

Lesen und Schreiben. Danach lernten sie die meisten der Wurzeltexte<br />

auswendig. Jeder Postulant wurde von einem eigenen Lehrer<br />

unterrichtet, der bei ihm gleichsam die Vaterstelle vertrat. Er sorgte<br />

für ihn, achtete auf die Kleidung und auf die Ernährung. Der Lehrer<br />

erklärte seinem Schüler auch jene Wurzeltexte, die er auswendig<br />

lernen sollte. Neben diesem Einzelunterricht nahm der Schüler auch<br />

am klösterlichen Gruppenunterricht teil. Während der ersten Unterrichtsperiode<br />

der Postulantenzeit gab es nur zwei schulfreie Tage im<br />

Jahr, die einen Ausbildungsabschnitt abschlossen. Vor Antritt der<br />

Urlaubstage wurde stets ein Gebet gesprochen. Diese Tage nahmen<br />

Familienangehörige zum Anlaß, ihre Söhne, Neffen oder Vettern zu<br />

besuchen und scheuten dafür auch keine weite Anreise.<br />

Nachdem der Schüler einige Sicherheit in Wort und Schrift erworben<br />

hatte und die elementaren Texte auswendig konnte, begann er mit<br />

dem Studium des Pratimoka Stras, einem umfangreichen Text, in<br />

dem die Regeln der monastischen Disziplin kodifiziert wurden.<br />

Nach Abschluß des Studiums dieses Regelbuches hatte der Schüler<br />

die Voraussetzungen erreicht, seine Lehrzeit mit dem Studium des<br />

Prajpramit und der Logik fortzusetzen. Für das Studium dieser<br />

Disziplinen hatte der Schüler 3 Jahre Zeit, in denen er sich mit den<br />

Besonderheiten und Kommentaren dieser Disziplinen auseinandersetzen<br />

mußte. Die zur Grundausbildung gehörenden alltäglich gesprochenen<br />

Gebete und Rezitationen sowie die regelmäßig anfallenden<br />

Rituale hatte der Schüler sich natürlich zuvor anzueignen.<br />

Im Anschluß an diesen Unterrichtsabschnitt sollte sich der Schüler<br />

mit weiteren 10 Lerneinheiten aus dem Kangyur, der tibetischen<br />

Ausgabe des buddhistischen Kanons, beschäftigen.<br />

Der erfolgreiche Abschluß dieses <strong>Studien</strong>abschnitts, mit dem man den<br />

Titel Kachu erwarb, berechtigte zur Teilnahme an der akademischen<br />

Fortbildung. 445 Bis dahin hatte der Schüler eine 7 bis 8jährige Schulzeit<br />

hinter sich und war dann wenigstens 15 Jahre alt.<br />

Mit der akademischen Fortsetzung seiner Ausbildung strebte der<br />

Schüler den Grad oder Titel eines Geshe an.<br />

444 Nach Sherab Gyaltsen Ami<strong>pa</strong>, A Waterdrop from the Glorious Sea, Rikon 1976, S.50 ff und ipse: Über den<br />

Ursprung der Khön-Linie, das Land Sakya und seine Geschichte, Rikon 1994, S.19-20<br />

445 Siehe: Sherab Gyaltsen Ami<strong>pa</strong>, A Waterdrop from the Glorious Sea, Rikon 1976, S.50


199<br />

Der Lehrstoff dieses <strong>Studien</strong>ganges bestand aus den sechs großen<br />

Bänden des Sa-skya-<strong>pa</strong>-Kanons:<br />

Pramits<br />

Prama<br />

Vinaya<br />

Abhidharma<br />

Mdhyamika<br />

sDom gsum, (Drei Arten der Gelübde). 446<br />

Einen Schwerpunkt der Ausbildung machte die Beschäftigung mit<br />

der Weisheit aus. Zunächst machte man sich mit ihren Lehren vertraut,<br />

dann beschäftigte man sich mit ihrer Deutung. Angestrebt war<br />

aber die Verwandlung der Persönlichkeit, des persönlichen Verhaltens<br />

nach und durch die Versenkung in das Wesen ihrer Lehren.<br />

Drei Jahre beschäftigten sich die Schüler mit der Aneigung der<br />

Weisheitslehren. Zu ihrem <strong>Studien</strong>pensum gehörte auch das Studium<br />

der antidevas Bodhicaryavatara, das sie einführte in die sechs<br />

Pramits und die einzelnen Bodhisattva-Bhumis. Neben den sechs<br />

Pramits, die man auch in Euro<strong>pa</strong> kennen gelernt hat, gibt es im<br />

Mahayana auch noch weitere 13 Pramits, die gleichfalls zum<br />

Unterrichtsstoff des Klosters Sakya gehörten.<br />

Das gesamte Studium der Weisheit wurde begleitet von den persönlichen<br />

Unterweisungen der Lehrer, die ihren Schülern praktisch gezeigt<br />

hatten wie sie selbst die Lehren für sich umgesetzt hatten. Die praktischen<br />

Übungen und Anschauungen erleichterten es dem Schüler, seinen<br />

eigen Weg der Praxis zu finden, eine Methode der Lebensführung,<br />

die man allein auf dem Wege der Lektüre und der Textexegese<br />

nicht erreichen kann. Für diesen Bildungsabschnitt brauchten die<br />

Schüler zwei weitere Jahre intensivsten Studiums.<br />

Ein weiterer <strong>Studien</strong>gegenstand war die Logik. Man begann mit<br />

dem Auswendiglernen der Wurzeltext. Konnte man sie auswendig<br />

zitieren, studierte man die verschiedenen Kommentare der indischen<br />

und tibetischen Meister.<br />

Das Studium von sDom gsum, d.h. der drei Arten der Gelübde, beschäftigte<br />

sich mit den Kompendien, welche die Lehren der drei<br />

Fahrzeuge zusammenfassen: Hinayana, Mahayana und Vajrayana.<br />

Nach etwa zehn Jahren wurde der Student dann in allen Disziplinen<br />

seines Unterrichtsstoffs geprüft. Die Prüfung bestand aus zwei Teilen.<br />

Der erste, vier Tage dauernde Teil der Prüfung fand vor der<br />

446 Siehe: Sherab Gyaltsen Ami<strong>pa</strong>, A Waterdrop from the Glorious Sea, Rikon 1976, S.50


200<br />

dem Plenum der Mönchsgemeinschaft statt, im zweiten Teil prüften<br />

die Meister den Schüler drei Tage lang. Ihre Fragen betrafen 18 verschiedene<br />

Themenkreise. In dieser Prüfung mußte für jede Frage die<br />

richtige Antwort gewußt werden. Erst nachdem der Schüler sich dieser<br />

Prüfung unterzogen hatte, wurde ihm der Titel eines Geshe oder<br />

Rabjam<strong>pa</strong> verliehen.<br />

Obwohl man nach Abschluß dieser Ausbildung bereits einen recht<br />

hohen Wissensstand erreicht hatte, gab es noch mehr zu studieren,<br />

nämlich den ganzen Komplex des tantrischen Wissens und Könnens.<br />

Der Geshe (dGe-bshes)<br />

Diesen Titel kann ein Mönch nur nach jahrelangem Studium erwerben,<br />

und zwar vor allem im Orden der dGe-lugs-<strong>pa</strong>, wo der Begriff<br />

einen typischen <strong>Studien</strong>grad bezeichnet. Bei den Sa-skya-<strong>pa</strong> kann man<br />

diesen Grad auch erwerben, doch kommt er dort seltener vor, weshalb<br />

er für den Ausbildungsweg dieses Ordens weniger charakteristisch<br />

ist. 447<br />

Der geistliche Wissensstoff, den man vor dem Erwerb dieses <strong>Studien</strong>grades<br />

bewältigt haben muß, setzt sich aus zwei Gruppen zusammen:<br />

Monastisches Hochschul-Curriculum<br />

Diziplin<br />

Jahre<br />

1 Namdrel Logik 5<br />

2 Parchin Philologie 5<br />

3 Oumah Ontologie 2<br />

4 Dzö Metaphysik 1<br />

5 Wiederholung von Wiederholung und 9<br />

1-4 und Dulwa Disziplin<br />

22<br />

nach Thubten Dschigme Norbu<br />

1) aus den „Fünf Wissensgebieten“<br />

und 2)<br />

aus dem Tantra. Die<br />

„Fünf Wissensgebiete“<br />

betreffen 1) Logik (Pramna),<br />

2) die Weisheit<br />

(Prajpramit), die<br />

Lehren der „Schule des<br />

Mittelweges“ (Mdhyamika),<br />

die Metaphysik<br />

(Abhidharma) und die Regeln der Ordensdisziplin (Vinaya).<br />

Das Hochschul-Curriculum einer tibetischen Klosteruniversität mit<br />

einer Ausbildungszeit von gut 22 Jahren skizziert Thubten Dschigme<br />

Norbu folgendermaßen: "Die <strong>Studien</strong> zerfallen in fünf Gruppen, von<br />

denen jede eine mehrjährige Lehrzeit verlangt. Als erstes wird Logik<br />

oder Namdrel studiert, denn es ist für den Studenten am wichtigsten<br />

zu lernen, wie man richtig, vernünftig und folgerichtig denkt. Dann<br />

447 Siehe: U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bezeichnungen in der Hierarchie des tibetischen Klerus, Rikon<br />

1977, S.69


201<br />

kommt Parchin, das vergleichende Studium buddhistischer Schriften,<br />

das den Studenten mit den verschiedenen Schulen der Richtungen bekannt<br />

macht. In Lhasa dauert das Studium von Namdrel und Parchin<br />

je fünf Jahre. Darauf folgt Oumah, die Lehre der Vermeidung von den<br />

Extremen, die den Studenten in das schwierige, zweijährige Studium<br />

des Tong <strong>pa</strong> nid einführt, das im Westen besser als Sunyata bekannt<br />

ist- das Studium des Nichts, der Nicht-Existenz. Wir tibetischen Buddhisten<br />

behaupten nicht, wie manche das tun, daß der Tod allem ein<br />

Ende setzt, auch stellen wir uns Sangye Sa nicht als völlige Zerstörung<br />

der Existenz vor, obgleich wir natürlich sagen können, daß es sich<br />

nicht um eine Existenz bekannter Art handelt. Danach folgt Dzö, das<br />

Studium der Metaphysik, das ein Jahr dauert. Danach kommt eine<br />

Wiederholung alles Gelernten und der letzte, Dulwa genannte, Kursus.<br />

Dabei wird die Vinaya-Philosophie erklärt, die die Basis der Klosterdisziplin<br />

bildet. Das Dulwa-Studium dauert mindestens neun Jahre zusammen<br />

mit der Wiederholung des bisher Gelernten. Erst dann können<br />

die höheren Grade erworben werden, aber auch danach stehen den<br />

Interessierten weitere <strong>Studien</strong>möglichkeiten offen." 448<br />

Der Geshe-Titel schließt als Oberbegriff neun Titel und Grade ein, die<br />

ihn jeweils spezifizieren, und zwar äußerlich danach, wo er erworben<br />

wurde oder erworben werden kann, was auch die spirituellen Spezifikationen<br />

und Schwerpunkte reflektiert, die von dem <strong>Studien</strong>gang des<br />

Klosters, das den jeweiligen Grad vergibt, abhängen.<br />

Drei dieser Geshe-Alternativen kann man jeweils nur in den Klöstern<br />

Sang-bu, Ganden oder Sera erwerben, einen weiteren nur in den Klöstern<br />

Drepung oder Sera, zwei in den Tantra-Kollegs der Gelug<strong>pa</strong><br />

Klöster, weitere zwei in bestimmten Sakya<strong>pa</strong>- oder Gelug<strong>pa</strong>-Klöstern,<br />

während der höchste Geshe-Grad, der Geshe Lharam<strong>pa</strong>, vom Dalai-<br />

Lama verliehen wird (siehe die folgende Tabelle).<br />

Baumgardt weist außerdem daraufhin, daß diese neun verschiedenen<br />

Geshe Grade oder Titel zwei Gruppen zugewiesen werden, nämlich<br />

der Gruppe der „Großen Geshe“ (dGe-bshes chu) die Titel Tshoram<strong>pa</strong>,<br />

Rabdscham<strong>pa</strong> und Lharam<strong>pa</strong>, welche als die Grade der höchsten<br />

Gelehrsamkeit angesehen werden, sowie der Gruppe der „Kleinen<br />

Geshe (dGe-bshes-chen) die übrigen 6 Grade, von denen sich der<br />

Grad der Tantrik-Schule, der Ngaram<strong>pa</strong>-Titel, insofern abhebt, als er<br />

entweder das Studium der 5 Wissensgebiete voraussetzt oder ohne deren<br />

Studium erworben werden kann. 449<br />

448 Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.249-250<br />

449 Siehe: U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bezeichnungen in der Hierarchie des tibetischen Klerus, Rikon<br />

1977, S.100


Die Geshe-Titel nach demOrt des Erwerbs<br />

202<br />

Titel<br />

Ort des Erwerbs<br />

Nga-ram-<strong>pa</strong> sags-rams-<strong>pa</strong> Exklusiv in einer den beiden Tantrik-Schulen<br />

Ka-tshu sKabs-bcu Nur in den großen Sakya- und Gelug-Klöstern<br />

Ser-thri Ser-khri Exklusiv in Sang-bu<br />

Do-ram-<strong>pa</strong> mDo-rams-<strong>pa</strong> Exklusiv in Ganden<br />

Ling-se gLi-bsres, gLing-seb Nur in Sera und Drepung<br />

Ri-ram-<strong>pa</strong> Rigs- rams-<strong>pa</strong> Exklusiv in Sera<br />

Tscho-ram-<strong>pa</strong> Tshogs rams-<strong>pa</strong> Wird nur in Lhasa verliehen<br />

Lha-ram-<strong>pa</strong> Lha-rams-<strong>pa</strong> Wird nur vom Dalai Lama verliehen<br />

Rab-dscham-<strong>pa</strong> Rab-byams-<strong>pa</strong> Nur in bestimmten Sakya- und Gelug-Klöstern<br />

(nach U.Baumgardt, Geistliche Titel und Bezeichnungen in der Hierarchie des tibetischen<br />

Klerus, Rikon 1977,S.71)<br />

Geshe Rabten skizziert den <strong>Studien</strong>gang eines Geshe im Kloster Se-ra<br />

folgendermaßen: „Alle, die in Se-ra studieren, arbeiten auf den akademischen<br />

Grad des „Geshe“ hin. Um ihn zu erlangen, muß man mindestens<br />

vierzehn und bisweilen sogar fünfzehn Klassen durchlaufen.<br />

Der Reihe nach handelt es sich um folgende:<br />

1) Ausgewählter Lehrstoff für Anfänger<br />

2) Ausgewählter Lehrstoff, Mittelstufe<br />

3) Ausgewählter Lehrstoff für Fortgeschrittene<br />

4) Abhandlungen für Anfänger<br />

5) Abhandlungen für Fortgeschrittene<br />

6) Besonderer Lehrstoff für Anfänger<br />

7) Besonderer Lehrstoff für Fortgeschrittene<br />

8) Vollendungen (Prajpramit)<br />

9) Madhyamaka für Anfänger<br />

10) Madhyamaka für Fortgeschrittene<br />

11) Disziplin (Vinaya) für Anfänger<br />

12) Disziplin (Vinaya) für Fortgeschrittene<br />

13) Phänomenologie (Abhidharma)<br />

14) Karam- eine ausführliche Wiederholung der Kurse über Disziplin<br />

und Phänomenologie<br />

15) Lharam- eine abschließende Wiederholung der 5 Abhandlungen.<br />

In jedem Jahr können nur jeweils zwei Teilnehmer eines jeden Kollegs<br />

aus dieser Klasse die Abschlußprüfung ablegen.<br />

Die Möglichkeit, irgendeine dieser Klassen zu überspringen, besteht<br />

nicht. Das hochentwickelte Lehrsystem beginnt mit der Grundlage der<br />

Logik und führt zu den großen Schriften, die sowohl die Sutras als<br />

auch deren Kommentare umfassen. Wie in der Grundschule Alphabet


203<br />

und Grammatik für das Verständnis späterer Lehrstoffe erlernt werden,<br />

so studiert man Logik, um den Geist in der subtilen Beweisführung<br />

zu üben, die später eine Würdigung der großen Schriften erst<br />

möglich macht.<br />

Hat ein Mönch auf diese Weise seine Intelligenz und seine kritischen<br />

Fähigkeiten entwickelt, so ist er imstande, zu jedem größeren Lehrkomplex<br />

bis zu zwanzig oder dreißig logische Zugänge zu finden.“ 450<br />

Während die drei höchsten Grade (Lharam<strong>pa</strong>, Tsogram<strong>pa</strong>, Doram<strong>pa</strong>)<br />

erst nach einem 22jährigen Studium erworben werden können, kann<br />

man den Grad des Ragdscham<strong>pa</strong> schon nach 10 Jahren, d.h. nach dem<br />

Abschluß von Namdrel und Parchin erwerben, und den Grad des Kaju<br />

nach 12 Jahren, d.h. nach dem Abschluß von Oumah. 451<br />

Von den drei höchsten Graden werden der des Lharam<strong>pa</strong> und Tsogram<strong>pa</strong><br />

nur in Lhasa verliehen, während der Doram<strong>pa</strong>-Titel an jeder<br />

Klosteruniverstät erworben werden kann. 452<br />

450 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Leben und Lehren des Meditationsmeisters Geshe Rabten, Hamburg 1986,<br />

S.40-41<br />

451 Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.250<br />

452 Thubten Jigme Norbu u.C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.250


204<br />

VIII<br />

Der Klosteralltag<br />

Ein Tag im Kloster Namgyel<br />

Der Tagesablauf in dem Kloster des Groß-Lamas, im Kloster Namgyel<br />

(rNam-rgyal), beginnt gleich nach dem Wecken mit Niederwerfungen<br />

und Gebet. Noch vor Aufgang der Sonne findet die erste Versammlung,<br />

sna tsogs, (d.h. die "erste Versammlung") in der Gebetshalle<br />

statt. Die große Glocke weckt alle, die bis dahin noch nicht aufgestanden<br />

sind. Kurz darauf ruft das Muschelhorn zum erstenmal. Die<br />

Mönche kleiden sich an, verlassen ihre Unterkunft für die Waschung<br />

und warten unter Rezitation von Mantren auf das Wasser für die Waschung.<br />

Danach werden die Mantras der persönlichen Schutzgottheit<br />

gesprochen, und zwar so viele wie möglich. Fünfzehn Minuten später<br />

ruft das Muschelhorn ein zweites Mal und alle ordinierten Mönchen<br />

machen vor dem Eingang des Tempels ihre Niederwerfungen unter<br />

Aufsicht der Provoste.<br />

Im Tempel sitzen die Mönche dann in Reihe und Glied, jeder auf seinem<br />

eigenen Platz.<br />

Nach dem dritten Ruf des Muschelhorns beginnen dann die gemeinsamen<br />

Gesänge und Gebete mit der Zufluchtsformel und dem lha<br />

brya-ma, dem Ritual Tsongkha<strong>pa</strong>s (Tso-kha-<strong>pa</strong>). Danach und nach<br />

einer allgemeinen Danksagung des amtenden Lamas, in das alle einstimmen,<br />

wird Tee 453 serviert. 454<br />

Nach dem Tee werden die folgende Dienste abgehalten: „Das Ritual<br />

des großen Mitgefühls“ (oder „-der großen Barmherzigkeit“), der<br />

Preis der Schüler oder Sthaviras, das Mandalaopfer (das findet nicht<br />

jeden Tag statt), das Yönten-zhi-gyurma und die Verehrung des zornvollen<br />

Bhairava oder anderer Schutzgottheiten wie Sagdus, Demch'og<br />

oder Tara. Da die erwähnten Rituale recht lange dauern, werden<br />

sie immer wieder von Tee<strong>pa</strong>usen unterbrochen. 455<br />

In diesem Abschnitt des liturgischen Dienstes, etwa in seiner Mitte,<br />

werden die geistlichen Dienste für die Laien eingeschoben, Gebete<br />

453 gsol-ja= Klostertee im allegmeinen, grva-ja= Tee, der im Kollegiengebäude serviert wird, tshan-ja= Tee, der<br />

im Wohnquartier gereicht wird.<br />

454 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.213-4<br />

455 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.216


205<br />

und Opfer für die Kranken. Die Seelen der jüngst Verstorbenen werden<br />

in das westliche Paradies geleitet.<br />

Die erste Versammlung schließt mit dem Gesang des Shes-rab sipo.<br />

Die Mönche verlassen einzeln, aber geordnet die Halle, um sich in<br />

ihre Unterkünfte zurückzuziehen, wo sie ihren Schutzgottheiten opfern.<br />

456<br />

Tee<strong>pa</strong>use im Jo-kang, aufgenommen 1942 von Tolstoi, aus: R.Tung-Jones, A Portrait of Lost Tibet,pl.121<br />

Sobald sich die Sonnenscheibe das erstemal voll zeigt, werden Gebete<br />

rezitiert, die von Klängen geräuschvoller Instrumente begleitet werden,<br />

um auf diese Weise die Sonne zu begrüßen.<br />

Etwa gegen 9°° Uhr morgens beginnt die zweite Versammlung, "Die<br />

Nach-der-Hitze" (thsa-gti), wenn die Temperatur der Sonne sich bemerkbar<br />

macht. Nach der ersten Aufforderung des Muschelhorns machen<br />

sich alle bereit. Nach der zweiten Aufforderung versammeln sich<br />

alle auf dem Pflaster oder begeben sich, wenn es regnet, zu einem<br />

überdachten Platz, um dort zu lesen. Fünfzehn Minuten nach der<br />

zweiten erschallt die letzte Aufforderung, nach der sich alle im Tempel<br />

versammeln, um zunächst die "Religionswächter" einzuladen.<br />

Während dieses Rituals wird dreimal der Tee gereicht. Nach seinem<br />

Abschluß verlassen wiederum alle den Tempel.<br />

Die Schüler widmen sich ihren Lektionen oder hören die Unterweisungen<br />

ihrer Lehrer. 457<br />

456 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.217-8<br />

457 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.218-9


206<br />

Um die Mittagszeit wird der dritte Konvent abgehalten, er heißt auch<br />

"Mittagszeit". Nach dem ersten Ruf des Muschelhorns machen sich<br />

alle bereit, suchen nach dem zweiten Ruf den Versammlungsplatz vor<br />

dem Tempel auf und betreten nach dem dritten Ruf den Tempel, um<br />

die Rituale bShags-<strong>pa</strong> und bSka-ba auszuführen; währenddessen<br />

wird dreimal der Tee gereicht.<br />

Versammlung im Kloster Namgyal (Lhasa), aus C.Bell, Tibet einst und jetzt, Leipzig 1925, S.192<br />

Nach diesem Dienst ziehen sich die Mönche in ihre Unterkünfte zurück,<br />

bringen ihren Schutzgottheiten das Reisopfer dar. Danach rezitieren<br />

sie den "Lob der Drei Heiligen". Laiendiener bringen Essen in<br />

die Mönchsunterkünfte, das meist aus Tee, Pk (Kuchen aus Weizen<br />

oder Tsam-<strong>pa</strong>) und Fleisch besteht. Von diesem Essen wird stets etwas<br />

den hungrigen Manen, Hariti und ihren Söhnen, gelassen, d.h. die<br />

Reste werden gesammelt und außerhalb des Klosters von hungrigen<br />

Hunden und Vögeln gefressen.<br />

Die vierte Versammlung heißt "Erster Nachmittagstee" (dgu-ja-dapo).<br />

Sie findet gegen 15°° Uhr statt. Nach den drei Aufforderungen<br />

durch das Muschelhorn versammeln sich die Mönche zum Ritual,<br />

währenddessen sie den Gottheiten, die sie preisen, den göttlichen<br />

Verteidigern, Kuchen opfern. Auch während dieses Konvents wird<br />

dreimal der Tee gereicht.<br />

Danach wiederholen die Schüler ihre Lektionen. Der Pr-<strong>pa</strong>, ein<br />

schon weiter fortgeschrittener Schüler nimmt seinen Rhetorikunterricht<br />

und erlernt den Gebrauch der Schellen und Hörner. Außerdem


207<br />

finden die öffentlich ausgerichteten buddhologischen Streitgespräche<br />

statt.<br />

"Zweite Nachmittagsversammlung" heißt die fünfte Versammlung des<br />

Tages, die gegen 19°°Uhr beginnt. Nach dem dritten Ruf des Muschelhorns<br />

kommen die Mönchen in den Tempel, um Ta-rak zu verehren<br />

und die Ruhmesgebete (bKra-shis) zu sprechen.<br />

Nach diesem Kapitel ziehen sich die Mönche in ihre Unterkünfte zurück<br />

und bleiben dort solange, bis die zweite Nachtglocke ertönt, um<br />

die Schüler aufzufordern, bestimmte Schriften und ausgewählte Texte<br />

vor ihrern Lehren zu wiederholen. Die dritte Nachtglocke ruft alle auf,<br />

sich in ihren Unterkünften schlafen zu legen. 458<br />

458 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, p.219-220


208<br />

Ein Tag im Kloster Pemiongchi (Padma bya rtse)<br />

Die tägliche Routine in den Klöstern des nichtreformierten Ordens<br />

der i-ma-<strong>pa</strong> weicht von dem Stundenplan der anderen Orden ab<br />

und widmet sich stärker „demonolatry and the worship of the deified<br />

wizard Guru Padma-sambhava“ 459 .<br />

Morgens, nachdem heilige Speisen, Weihrauch und Butterlampen<br />

geopfert wurden, erklingt das Muschelhorn, das alle Mönche auffordert,<br />

ihre Kammern zu verlassen. Nach dem zweiten Signal des<br />

Horns versammeln sich alle im Kapitelsaal. Der Eintritt wird beaufsichtigt<br />

vom Disziplinar-Provosten, der seinen Schlagstock bereithält.<br />

Alle Mönche sitzen im Lotussitz.<br />

Die kleinste Regelabweichung wird vom Provosten sofort bestraft, im<br />

Falle der jüngeren Schüler vom Sakristan.<br />

Nachdem alle korrekt sitzen, servieren zwei oder drei jener Schüler,<br />

die ihre Examina noch nicht abzulegen vermochten und in den letzten<br />

Reihen sitzen, den Tee, den jeder Mönch aus seiner eigen Tasse trinkt,<br />

die er stets mit sich führt.<br />

Nach dem Tee gibt es noch eine Suppe, die gSol-jam t'ug<strong>pa</strong> genannt<br />

und von anderen Dra<strong>pa</strong>s gereicht wird. Sind die Tassen gefüllt, beginnt<br />

der Vorsänger mit dem Gesang „Das heilige Suppenopfer“,<br />

in den alle Mönche einstimmen. Von dieser Suppe werden den<br />

Mönchen drei oder vier Tassen gereicht. Danach wird die Halle<br />

von den jüngeren Dra<strong>pa</strong>s und Novizen gefegt und gereinigt.<br />

Der Vorsänger inspiziert daraufhin den sakralen Bereich und nachdem<br />

er alles an seinem richtigen Platz befunden hat, beginnt er mit<br />

der Liturgie, die sich zusammensetzt aus dem sNön-’gro, der Zufluchtsformel<br />

und dem Las-sbya, nach derem Abschluß alle wieder<br />

die Gebetshalle verlassen.<br />

Um 8°° morgens versammelt der Klang des Muschelhorns die<br />

Mönche noch einmal in dem Kapitelsaal, wo sie jetzt ein weiteres<br />

Ritual vollziehen, währenddessen immer wieder Tee und geröstete<br />

Gerste gereicht wird. Danach ziehen sich die Mönche wieder in<br />

ihre Kammern zurück.<br />

Gegen 10°° vormittags wird die chinesische Trommel geschlagen,<br />

um die Mönche wieder in die Versammlungshalle zu rufen. Bei<br />

dieser Sitzung wird zwischendurch Fleisch, Reis und Gemüse ge-<br />

459 L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, S.220


209<br />

reicht, zusammen mit einem Bier, das gSos-rgyab genannt wird.<br />

Vor dem Beginn des eigentlichen Rituals wurden wieder die Speiseopfer<br />

(lTo-mch’od) gebracht. Nach Abschluß der Liturgie begeben<br />

sich alle in ihre Unterkünfte.<br />

Nachmittags ruft das Muschelhorn zum Tee und der chinesische<br />

Gong zum Bier. Die Mönche versammeln sich wieder zur Liturgie<br />

des Fürstdämons Mahkl und der Wächter der Religion.<br />

Werden rituelle Dienste im Auftrage von und für Laien durchgeführt,<br />

dann geschieht dies meist während jener Liturgie für<br />

Mahkl und die Schützer des Glaubens. In diesem Falle verlassen<br />

die Mönche nach jedem von den Laiengläubigen beauftragten<br />

Ritual die Gebetshalle, um sich nach einer kurzen Pause wieder in<br />

ihr zu versammeln. Nach Abschluß der Dienste für die Laien wird<br />

die Liturgie der Beschützer des Glaubens wieder aufgenommen<br />

und der Nachmittagsdienst abgeschlossen.<br />

Zum Abend versammelt sich das Kapitel noch einmal mit 108<br />

Lampen zur Feier des sKan-shags. Auch während dieses liturgischen<br />

Dienstes wird Tee gereicht.<br />

Zur Nacht rufen die Trommelschläge zur liturgischen Tagesabschlußversammlung,<br />

während der noch einmal Reis und Fleisch<br />

gereicht wird.<br />

Während des ganzen Tages werden also neunmal Erfrischungen<br />

und Mahlzeiten ausgegeben. 460<br />

460 Siehe: L.A.Waddell, Tibetan Buddhism, New York 1972, S.220-221


210<br />

Tagesprogramm im Kloster Se-ra 461<br />

Um 5.00 Uhr ruft das Muschelhorn zur Gebetsstunde, Mang-dsha<br />

(=Tee für alle“, Gebetsstunde am frühen Morgen). Die Mangdscha<br />

dauert etwa eineinhalb Stunden. Zwischendurch nimmt jeder<br />

Mönch Tsam<strong>pa</strong> zu sich und trinkt aus seinem Tshog-p’or (ein Teegefäß)<br />

Tee, der während dieser Gebetsstunde dreimal serviert wird.<br />

Der Tee wird von der Regierung gestiftet.<br />

In Se-ra treffen sich alle drei Kollegien gemeinsam in der großen<br />

Gebetshalle zum Mang-dscha.<br />

Mönche mit einem großen <strong>Studien</strong>pensum können sich vom Oberen<br />

ihres Kollegs von der Teilnahme am Mang-dscha befreien lassen.<br />

Versammlungs<strong>pa</strong>use, aus: R.Gaillarde, C.Delacam<strong>pa</strong>gne, Ladakh, Zürich, Freiburg 1980, Nr.11<br />

Der Obere des Kollegs holt dafür die Erlaubnis bei seinen Vorgesetzten<br />

ein. Wird eine Befreiung vom Mang-dscha erteilt, dann gilt<br />

sie zunächst für ein Jahr.<br />

Für die Disziplin während des Mang-dscha sind zwei Provoste verantwortlich<br />

und drei ihnen unterstellte Mönche, die sich mit<br />

Stöcken bewaffnet Respekt verschaffen.<br />

461 nach der W iedergabe der S childerung des E w . A btes, G eshe U gyen T seten Phulotshang<br />

durch U rsula Baum gardt


211<br />

6.30 Uhr: Der Unterricht beginnt danach und dauert zwei bis drei<br />

Stunden. Dieser Ablauf gilt während der vier „Semester“ jeden<br />

Jahres. Gegenstand des Unterrichts ist die Lektüre des Kandschur.<br />

Der Unterricht findet draußen statt, und zwar auf dem Platz vor der<br />

Gebetshalle. In der Regel beschließt eine etwa zehnminütige Debatte,<br />

die stets von zwei Mönchen geführt wird, den Unterricht.<br />

Danach gibt es eine Pause. Gegen 11.00 Uhr beginnt die zweite<br />

Gebetsstunde, die Dra-dscha heißt. Sie dauert zwischen einer und<br />

einundeinhalb Stunden. Während der Dra-dscha wird zweimal Tee<br />

ausgeschenkt.<br />

Die Dra-dscha besteht aus Gebeten und der Rezitation verschiedener<br />

Texte, die abgeschlossen wird mit einer kurzen Debatte auf<br />

dem offenen Platz. Die Debatte ihrerseits wird mit einem Gebet<br />

beendet.<br />

Damit sind die morgendlichen Pflichten erledigt. Die Mönche ziehen<br />

sich in ihre Unterkünfte zurück oder halten auch manchmal<br />

noch eine weitere Gebetsstunde in ihrem Kolleg ab.<br />

Nach einer Pause von etwa 12.30 bis 15.00 Uhr trifft man sich um<br />

15.00 Uhr noch einmal zum Gebet. Auch diese Gebetsrunde wird<br />

mit einer kurzen Debatte abgeschlossen, an der jeder teilnehmen<br />

muß. Jeweils zwei Mönche diskutieren über Fragen der Lehre. Das<br />

ganze dauert bis 18.00 Uhr. Danach begibt man sich wieder in die<br />

Unterkünfte.<br />

Abends erteilen die Lehrer ihren Gruppenunterricht, der zwei Stunden<br />

dauert.<br />

Um 21.00 Uhr kommt man noch einmal zu einer Debatte zusammen,<br />

die einuneinhalb Stunden dauert. Zu dieser Übung kommt<br />

man bereits mit Lampen. Es ist die Debatte der Lha-ram<strong>pa</strong>-Klasse,<br />

die sich hier jeden Abend trifft. Ihre Teilnehmer sind von den übrigen<br />

Gebetsstunden befreit.


212<br />

Außerklösterliche Ritualdienste<br />

Da die meisten Klöster in ihrem Status als Grundherren mit einer<br />

Reihe von Dörfern eng verbunden waren, hatten sie auch dort, vor Ort,<br />

für das geistliche Wohl ihrer Hintersassen zu sorgen, begleiteten sie<br />

die sozialen wie die klimatischen und natürlichen Übergangsphasen<br />

(Namengebung, Hochzeit, Krankheit, Tod, Aussaat, Ernte, Neues<br />

Jahr) mit ihren Ritualen.<br />

Riten nach Ort und Zeit (siehe: F.Lessing, Wesen und Sinn lamaistischer Riten, ibid)<br />

Ort und Riten Zeit Gruppe<br />

Tempel-, Kapitelriten<br />

Hausriten Mönchszelle (chug-gtor) täglich Kleine Riten<br />

Haus (Feueropfer)<br />

Zelt (Feueropfer)<br />

Klosterhof (drug bcu-<strong>pa</strong>, Cham)<br />

Klosterumfeld (Matreyaprozession)<br />

anlaßweise Große Riten<br />

Feldmark (geomantische Riten)<br />

„Während des ganzen Jahres“, so schreibt Norberg-Hodge, „besonders<br />

zur Zeit der Aussaat und Ernte werden nämlich wichtige Rituale in<br />

den Kapellen jedes Hauses (der Umgebung des Klosters Ridzong/<br />

H.S.) zelebriert. Damit ist er (der Mönch/ H.S.) nicht nur sehr beschäftigt,<br />

sondern sorgt dafür zugleich auch für seinen Unterhalt. Jede Familie<br />

bezahlt ihn für seine Dienste.“ 462<br />

Auf eine rituelle Exkursion der Mönche des Klosters Ridzong in die<br />

Dörfer seiner Pächter, wurde Grimshaw, die als Nonne im Kloster Julichang<br />

lebte, von dem Verwalter des Klosters Ridzong hingewiesen.<br />

„Der Verwalter erzählte mir, daß der große Teil der Mönche nach<br />

Yangtang gegangen sei, in das Dorf, das am engsten mit dem Kloster<br />

verbunden war. Sie waren unterwegs, um dort bei den einzelnen Familien<br />

eine Reihe buddhistischer Zeremonien zu vollziehen, die insgesamt<br />

12 Tage dauerten. Damit sollten Gefahren, Unglück oder Krankheit<br />

abgewehrt werden. Das bedeutet, daß in jedem Hause des Dorfes<br />

der Reihe nach religiöse Texte gelesen, Opfer dargebracht und Reinigungsrituale<br />

vollzogen werden mußten. Die Mönche waren für das<br />

geistliche Wohl der Dörfler verantwortlich.“ 463<br />

Bei derartigen Exkursionen mußten die Mönche auch Rücksicht nehmen<br />

auf den Volksglauben und dessen Geisterwelt, die es vielfach<br />

462 H.Norberg-Hodge, Leben in Ladakh, Freiburg, Basel, Wien 1993, S.100<br />

463 A.Gimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.70


Beschwörung örtlicher Geister, aufgenommen 1924 on J.F.Rock, aus M.Aris, Lamas Princes, and Brigands, new York 1992, p.93<br />

213<br />

günstig zu stimmen galt. Hier wurden immer wieder die lokalen Erdgeister<br />

erwähnt.<br />

„Vor der Aussaat wird ihnen (den Erdgeistern/H.S.) ein Fest veranstaltet.<br />

Einen ganzen Tag lang sagen Gruppen von Mönchen Gebete<br />

her, niemand ißt Fleisch oder trinkt chang, das heimische Bier. In einer<br />

Baumgruppe am Dorfende, wo man einen kleinen Hügel aus Tonziegeln<br />

für die Geister errichtet hat, wird Milch geopfert, andere Opfergaben<br />

werden in den Fluß geworfen.“ 464<br />

Die gleichen Erdgeister gilt es auch beim Hausbau zu beschwören, zu<br />

fangen und nach erfolgreicher Arbeit wieder freizusetzen. „Es wird<br />

kein neues Haus gebaut, ohne sich das Wohlwollen der Erdgeister (sadaks)<br />

zu sichern. Zuallererst kommt ein hoher Lama, um das Land zu<br />

segnen. Er benutzt dann einen Messingspiegel, um die gesamte Umgebung<br />

zu spiegeln und so die Erdgeister einzufangen und zu verhüten,<br />

daß sie während des Baues Schaden erleiden. Der Spiegel wird<br />

sorgfältig in einem Kästchen aufbewahrt, bis der Bau vollendet ist.<br />

Dann findet eine abschließende Zeremonie statt, während der der<br />

Lama das Kästchen öffnet und die Geister wieder freisetzt.“ 465<br />

Die Pächter klösterlicher Ländereien wurden aber nicht nur von den<br />

Mönchen besucht, um geistlich und rituell versorgt zu sein, sondern<br />

begaben sich auch an größeren Feiertagen zu ihrem Kloster, um an be-<br />

464 H.Norberg-Hodge, Leben in Ladakh, Freiburg, Basel, Wien 1993, S.31<br />

465 H.Norberg-Hodge, Leben in Ladakh, Freiburg, Basel, Wien 1993, S.46-7


214<br />

stimmten Feierlichkeiten oder Mysterienspielen teilzunehmen. Grimshaw<br />

stellte fest, „daß für jedes der Dörfer, die mit dem Kloster (Ridzong/H.S.)<br />

assoziiert waren, ein Tag der Feiern reserviert war. Am<br />

ersten Tag kamen die Nomaden und die Leute aus Yangthang, am<br />

zweiten die aus Hemis Shugba und am dritten die Dörfler aus Saspol.“<br />

466<br />

Die <strong>pa</strong>storalen Aufgaben der Mönche in Osttibet unter den Nomaden<br />

beschreibt Thubten Dschigme Norbu: "Wer es sich leisten kann, zahlt<br />

einem Kloster für die Entsendung eines Mönchs in das Lager. Der<br />

Mönch liest nicht nur die Schriften vor und sagt Gebete her, sondern<br />

er gibt auch den Kindern Unterricht. Zu der gastgebenden Familie<br />

kommen dann alle anderen Kinder aus der Nachbarschaft und nehmen<br />

am Unterricht teil. Die Anwesenheit eines Mönchs ist stets gut, besonders<br />

bei einer Hochzeit oder einem Todesfall. Stirbt einer, und es<br />

ist kein Mönch da, so spricht einer, der von den Mönchen gelernt hat,<br />

die Gebete, die den Geist des Toten auf den Weg bringen. Der Körper<br />

wird vierundzwanzig Stunden in sitzender Haltung im Zelt behalten,<br />

und die ganze Zeit sitzen Menschen um ihn herum und singen und<br />

beten. Das Hauptgebet sorgt dafür, daß die Seele nicht dableibt, sondern<br />

sich vom alten Körper trennt und sich auf den Weg macht, ihren<br />

Lehrer zu suchen. Gebete werden auch von allen Göttern dargebracht,<br />

und dann wird der Leichnam in die Berge getragen und dort den wilden<br />

Tieren und den Vögeln überlassen." 467<br />

Ähnliches hatte auch M. Hermanns in Amdo beobachtet: „Es gibt<br />

auch einzelne reiche Familien, in denen sich ein Mönch das ganze<br />

Jahr hindurch oder doch für längere Zeit als „Familienmönch“ aufhält.<br />

Meist ist er ein Verwandter der Sippe. Neben den Gebeten und Opfern<br />

übernimmt er auch den Unterricht der Kinder im Lesen, Schreiben<br />

und Auswendiglernen der Gebete.“ 468<br />

Über den Anteil der Beschäftigung der Mönche mit den Riten innerhalb<br />

oder außerhalb des Klosters machen die älteren und viele der<br />

neueren Beobachter keine Angaben, nur eine Studie über ein Kloster<br />

aus Ladakh macht da eine Ausnahme.<br />

Goldstein und Tsarong stellten fest, daß in dem Filial- oder Heimatkloster<br />

Kyilung, 15km westlich von Leh, der weitaus größte Teil der<br />

Aufgaben der Mönche den Vollzug der Riten außerhalb des Klosters<br />

ausmachten. Im Kloster Kyilung verteilten sich die rituellen Dienste,<br />

die 1980-1981 als Kloster- und als sog. Dorfriten vollzogen wurden,<br />

466 A.Gimshaw, Ich hörte den Klang der Stille, Freiburg, Basel, Wien 1994, S.70<br />

467 Thubten Jigme Norbu u. C.M.Turnbull, Geheimnisvolles Tibet, Freiburg, Basel, Wien 2000, S.68<br />

468 M.Hermanns, Die Familie der Amdo-Tibeter, Freiburg, München 1959, S.232-3


215<br />

mit 53-61% auf die Dorfriten und mit 19-24% auf die Klosterriten.<br />

Den Rest der Zeit verbrachten die Mönche entweder allein in ihren<br />

Zellen (14-24%) oder woanders (1-6%). 469 D.h. die <strong>pa</strong>storale Betreuung<br />

ihrer Gemeinde, als die man die Dörfer rings um das Kloster<br />

Kyilung durchaus ansehen kann, erweist sich als wesentlicher Faktor<br />

des monastischen Lebens. Sollte das Beispiel auf Tibet übertragbar<br />

sein, dann gilt die Schlußfolgerung auch für Tibet.<br />

469 Siehe: M.C.Goldstein/ P.Tsarong, Tibetan Buddhist Monasticism, Social, Psycological and Cultural<br />

Implications, The Tibet Journal, 10/1, 1985, p. 24


216<br />

IX<br />

Das Kloster im sozialen und politischen Bezugsrahmen<br />

Der Aufstieg des monastischen Systems geschah in Tibet zu einer Zeit<br />

als das Königtum in ihm eine Organisation erkannte, welche sein Interesse<br />

an der Überwindung der Stammesgesinnung förderte und das<br />

Mönchstum im Königtum den weltlichen Garanten seiner eigenen Bestrebungen<br />

erkannte. Der Stammesegoismus erschien beiden Seiten<br />

als die Gefährdung ihrer Interessen.<br />

Das Königtum in Tibet mußte zur Durchsetzung und Rechtfertigung<br />

seiner Ansprüche zu jener Zeit nach etwas Fremden Ausschau halten,<br />

weil die eigene Tradition nichts Vergleichbares anzubieten hatte, während<br />

das Mönchstum nur in dieser Herrschaftsinstitution eine ihm gewogene<br />

weltliche Macht zu finden hoffen konnte, die seinen Interessen<br />

dienlich war.<br />

Allerdings vermochte sich das Versprechen dieses Anfangs historisch<br />

nicht sofort und bruchlos umzusetzen, es brauchte vielmehr einen<br />

zweiten Anlauf, bis das Kloster in Tibet zur geistigen, sozialen und<br />

politischen Mitte der Gesellschaft wurde.<br />

In dieser Rolle unbestreitbar erschien das monastische System, als<br />

fremde Eroberer und Hegemonien (mongolischer und chinesischer<br />

Provenienz) sich dieses Landes versichern wollten, und dabei auf die<br />

Dienste des monastischen Systems zurückgriffen und ihre Gouverneure<br />

und Reichsverweser aus den Repräsentanten dieses Systems<br />

auswählten, dem sie allein die Fähigkeit zur Supervision und Verwaltung<br />

zutrauten. Während die Stammesgesinnung der Fürsten und<br />

Kleinkönige nach dem Zusammenbruch der Yarlung-Dynastie Tibet<br />

in einer Kleinstaaterei aufzulösen schien, erschien das monastische<br />

System mit seiner landesweiten Organisation wie die Vorwegnahme<br />

eines tibetischen Einheitsstaates, deren Einrichtungen die fremden<br />

Regenten entsprechend zu nutzen verstanden und deren führende Vertreter<br />

(die Hierarchen der Sakya<strong>pa</strong> und später der Gelug<strong>pa</strong>) bald auch<br />

mit der Regentschaft in Tibet betrauten. Erst durch die Intervention<br />

ausländischer Mächte oder über eine Allianz mit ihnen erreichte das<br />

monastische System seine politische Vormachtstellung in Tibet, das<br />

sich seiner geistlichen Ziele wegen auch nicht scheute, die Vertretung


217<br />

fremder Mächte in dem Lande auszuüben, in dem es Fuß gefaßt hatte<br />

und geistlich wirken wollte.<br />

Im monastischen System der Zeit vor 1950 wiederholen sich alle entscheidenden<br />

Schichtungsmerkmale der traditionellen tibetischen Gesellschaft.<br />

Der Zugang zu monastischen Titeln korrespondierte weitgehend<br />

mit der sozialen Herkunft der Mönche. 470 In bestimmten Klöstern<br />

konnten sich nur Vertreter der Oberschicht einschreiben, so war<br />

beispielsweise Namgyel Dratsang, das Kloster des Dalai Lama, fast<br />

ausschließlich mit Mönchen adliger Herkunft bestallt, das gleiche galt<br />

für das Pemiongchi (Padma bya rtse) Kloster in Sikkim. 471<br />

Die Möglichkeiten adliger und wohlhabender Mönche, Dienste wie<br />

Dispense zu erkaufen, verbesserte deren Aufstiegschancen gegenüber<br />

ihren nichtadligen Weggefährten, die neben ihren eigenen Pflichten<br />

sich auch noch jene aufzuerlegen hatten, für die sie bezahlt wurden,<br />

und für die sie sich ihres Lebensunterhaltes wegen bezahlen lassen<br />

mußten. "Erhebliche Vorteile genossen die Tulkus bezüglich ihres<br />

Studiums. Sie hatten ein eigenes Haus (tib. bLa-bra), ausgesuchte<br />

Privatlehrer und Diener. Hatten sie den Lehrplan bewältigt, so wurden<br />

sie gleich zu den Abschlußprüfungen zugelassen. Dies war jährlich<br />

nur für eine beschränkte Anzahl Kandidaten möglich, weshalb lange<br />

Wartelisten bestanden. Gewöhnliche Mönche errangen ihre Geshe-<br />

Titel meist mit vierzig und mehr Jahren, Tulkus dagegen schaffen dies<br />

bei guter Leistung im Alter zwischen zwanzig und dreißig." 472<br />

In den nichtzölibatären Orden gab es unter den höchsten Würdenträgern<br />

sogar einen Blutadel genauso wie unter dem Laienadel. Ihre<br />

Ämter und Liegenschaften zählten zum Besitzstand bestimmter Adelshäuser,<br />

die sich differenzierten in ein geistliches und ein weltliches<br />

Haus. Diese verwandtschaftliche Durchdringung von Gesellschaft und<br />

Orden war in der Frühphase der Verbreitung des Buddhismus Garant<br />

der Verwurzelung der Orden im Lande wie später der politischen Einflußnahme<br />

der Orden auf die Geschicke des Landes.<br />

Statistisch siknifikant machte sich auch die Inkarnation vieler Tulkus<br />

in den Adelsfamilien bemerkbar. 473 In dieser Perspektive erscheint<br />

dann auch die Alternative monastischer Herrschaft oder jener des Laienadels<br />

nur als eine Frage der Akzentverschiebung, da ja die Macht<br />

470 Sarat Chandra Das, The Monastic University of Tashi Lhunpo, Journ.of Buddhist Text Society, I, <strong>pa</strong>rt 6, S.18<br />

471 Siehe: E. Kawaguchi, Three Years in Tibet, Benares, London 1909, S.559; Ch.Bell, Portrait of the Dalai<br />

Lama, London 1946, S.264<br />

472 D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.55<br />

473 Siehe: G.Tucci, Tibet, The Land of Snows, London 1967, p.203; D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus,<br />

I, Rikon 1982, S,59


218<br />

im Grunde in den gleichen Händen (Adel) geblieben ist; jener teilte<br />

sich nur in geistliche und weltliche Herren. Andererseits stand die<br />

Tulkuschuft auch Mönchen aus den niederen Ständen offen, wenn sie<br />

es zu Lebzeiten z.B. zur Würde des Ganden Tri<strong>pa</strong> (dGa-ldan Khri-<strong>pa</strong>)<br />

gebracht hatten. Dieser wurde dann zum Ausgangspunkt einer eigenen<br />

Tulku-Linie mit dazugehörigem Labrang (siehe unten).<br />

Die kaiserliche Regierung hatte wiederholt versucht, die Tulku-Wahl<br />

zugunsten der Unterschichtenfamilien zu beeinflussen. Das gelang ihr<br />

aber, wenn überhaupt, erst in jüngster Zeit bei der Wahl der letzten<br />

Panchen- und Dalai Lamas und in einigen Gebieten der Mongolei,<br />

während die anderen, im Range tiefer stehenden Tulkus bis 1950 eine<br />

Prärogative der Adelsfamilien geblieben sind. 474 Allerdings vereitelte<br />

die Gnadenwahl, daß sich das geistliche Amt und der Labrang auf<br />

Dauer mit einer einzigen Adelsfamilie exklusiv, d.h. quasi dynastisch<br />

verband. So konnte der Labrang seine politischen Allianzen im Spektrum<br />

des Adels nach Bedarf variieren und bedarfsweise sogar Laienfamilien<br />

integrieren.<br />

Der Klosteradel unterhielt ausgedehnten Grundbesitz (beneficium)<br />

und trat als Grundherr auf wie der Laienadel, mit dem er ja auch vielfach<br />

verwandtschaftlich verbunden war. Sein Landbesitz übertraf bald<br />

den des Laienadels (siehe oben), was den Klosteradel wiederum politisch<br />

selbständiger machte gegenüber dem Laienadel, d.h. hin und<br />

wieder nur jeweils den geistlichen Zweig eines Hauses oder Clans.<br />

Demgegenüber besetzten die Mönche unterschichtlicher Herkunft<br />

mehrheitlich die unteren Ränge der Klosterhierarchie und die niederen<br />

Positionen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Auch sie hielten<br />

die Verbindungen zu ihren Familien aufrecht, sei es, daß sie von<br />

dort Unterstützung erfuhren oder ihrerseits nach dorthin Unterstützung<br />

gewährten.<br />

Im Unterschied zu den Standesschranken der Laiengesellschaft gewährte<br />

das monastische System auch Mönchen niederer Herkunft<br />

Aufstiegschancen, wie sie außerhalb des Systems ganz ausgeschlossen<br />

waren.<br />

Auch die Vertreter der Unterschicht konnten in den Orden durch Studium<br />

und religiöse Praxis höchste Würden erreichen, so z.B. das Amt<br />

des Ti-Rimpoche (Khri Rin-po che) im Gelug<strong>pa</strong>-Orden, der den Stuhl<br />

des Ordensgründers innehatte und bis heute als einer der höchsten<br />

Würdenträger dieses Ordens gilt. Der Inhaber dieser Würde wurde in<br />

474 Siehe: D.MacDonald, Twenty years in Tibet, Philadelphia 1932, S.253; Sarat Chandra Das, Journey to Lhasa<br />

and Central Tibet, London 1902, S.138; Ch.Bell, The People of Tibet, Oxford 1928, S.208; E. Kawaguchi, Three<br />

Years in Tibet, Benares, London 1909, S.422;


219<br />

der Regel zum Ausgangspunkt einer neuen Tulku-Linie, deren Labrang<br />

sich in Klöstern wie Labrang oder Kumbum etablieren konnte.<br />

Profunde Bildung und große Erfahrung in der Ausführung religiöser,<br />

darunter auch ekstatischer Übungen waren die Mittel zur Wahrnehmung<br />

von Aufstiegschancen für die Mönche unterschichtlicher Herkunft.<br />

Es gab sogar eine religiöse Protestbewegung vagabundierender Yogis,<br />

die im Volke hochverehrt wurden, und z.T. mit bestimmten Orden liiert<br />

waren, z.B. Drug<strong>pa</strong> Künleg mit der Kagyü-Drug-<strong>pa</strong>-Linie oder die<br />

Weisen Patrul Rinpoche oder Khyentse Rinpoche mit den Nyingma<strong>pa</strong>.<br />

Auch den tibetweit verehrten Milare<strong>pa</strong>, einen Heiligen des Kagyü<strong>pa</strong>-<br />

Ordens, wird man in diesen Kontext einer geistlichen Protesthaltung<br />

stellen müssen, die vor allem geistliche Hochstapelei, Formalismus<br />

und Pharisäertum mit ihrem Witz und Humor bloßzustellen strebte.<br />

Mit der Ex<strong>pa</strong>nsion der Orden und der Gründung von Filialen waren<br />

auch immer dringlicher die weltlichen Kenntnisse der Verwaltung,<br />

Wirtschaft und der regionalen Verhältnisse gefragt. Es galt Posten zu<br />

besetzen in Klöstern, die nicht nur geistliche Zentren der Region waren,<br />

sondern auch Funktionen der politischen Verwaltung übernahmen.<br />

Das monastische System war also angewiesen auf die Bildungsund<br />

Aufstiegsbereitschaft seiner Vertreter unterschichtlicher Herkunft,<br />

weshalb die Option des Mönchstums grundsätzlich als eine Option der<br />

Statusverbesserung angesehen wurde mit Folgen für die ganze Familie.<br />

Am deutlichsten trat dies zutage, wenn ein Tulku sich in einem<br />

Kind der Unterschicht reinkarnierte, was automatisch auch die Statusanhebung<br />

der Familie jenes Kindes nach sich zog.<br />

Die hohe Mönchsquote und die große Klosterdichte des Landes unterstreicht,<br />

was viele Beobachter der Volksreligiosität ebenfalls unter<br />

Hinweis auf die Verbreitung der Hausaltäre in fast jedem Haushalt<br />

oder Zelt, der Amulette, Malas (Gebetsschnüre) und Handgebetsmühlen<br />

und unter Hinweis auf die Häufigkeit privater Pilgerreisen, auf die<br />

große Zahl der Mendongs (Mani-Mauern) und Stu<strong>pa</strong>s im Lande hervorgehoben<br />

haben, nämlich das vollständige Durchdrungensein der tibetischen<br />

Kultur vom Buddhismus, die es mehr als gerechtfertigt erscheinen<br />

läßt, im Kloster, d.h. im monastischen System, die geistige<br />

Mitte des Volkes zu sehen, was auf makabere Weise selbst die heutige<br />

Besatzungsmacht, die kommunistische Volksrepublik China mit ihrem<br />

erbarmungslosen Ausrottungsversuch des monastischen Systems in<br />

Tibet unterstreicht, da sie in ihm die Immunbarriere des tibetischen


220<br />

Volkes gegen seine kommunistische Pro<strong>pa</strong>ganda erkannt zu haben<br />

glaubt.<br />

Obwohl die Verfassung Tibets zwischen 1642 und 1950 mit einer kurzen<br />

Unterbrechung die Verfassung eines Kirchenstaates war, betrachteten<br />

die Träger dieser Idee, der monastische Regent des Landes, die<br />

Leitung der „Drei Residenzen“, der Mönchsadel und die Beamten aus<br />

dem Klerus, das politische Geschehen aus ihren unterschiedlichen, ja<br />

zum Teil konträren Interesensperspektiven.<br />

Das politische Handeln der Regierung mußte die gegensätzlichen Interessen<br />

und Allianzen integrieren oder deren Konflikte regeln. Der<br />

Regent konnte und mußte mit dem Laienadel gegen die Klosterführung<br />

koalieren, mit der Klosterführung wiederum gegen den Laienadel<br />

und die beiden Adelsfraktionen (Laien- und Klosteradel) pflegten<br />

nicht zuletzt auch in beiderseitigem Interesse gegen den Regenten zu<br />

koalieren. Innerhalb der Klöster kollidierten bisweilen die Interessen<br />

der Mönche, die im Dienste der Regierung standen, mit denen der anderen<br />

Mönche. Die ersten waren abhängig von der Regierung, die anderen<br />

von den verschiedenen Gremien ihrer Klöster.<br />

Am Fortbestand der Feudalordnung waren der Laienadel wie der Klosteradel,<br />

d.h. die weltlichen wie die geistlichen Grundherren, gleichermaßen<br />

interessiert und koalierten auch immer dann, wenn ihre Rechte<br />

als Grundherren zur Diskussion standen.<br />

Darüber hinaus unterhielt fast jede Laienadelsfamilie exklusive Beziehungen<br />

zu einem oder mehreren Khamtsen (Kha-mtshan) oder<br />

Kollegien eines Klosters, für das oder für die sie das Patronat übernahmen,<br />

das sie oder die sie mit Fonds austatteten. Eine weitere Option<br />

weltlich-geistlicher Beziehungen unterhielten Laienadelshäuser in der<br />

Relation zu den Shagtsangfamilien. Diese Beziehungen einzelner klösterlicher<br />

Körperschaften zu Familien des Laienadels waren häufig<br />

sogar besser als das Verhältnis dieser Körperschaft zu ihrer Klosterspitze<br />

oder zu den „Drei Residenzen“.<br />

Auch die einzelnen Körperschaften der großen Klöster sahen sich in<br />

der Regel als Konkurrenten um den politischen Einfluß und dessen<br />

wirtschaftlicher Grundlage, so die Kollegien (grva-tsha) untereinander,<br />

aber auch die Wohngemeinden (Kha-mtshan). Ein weiteres Interessenzentrum<br />

mit Sonderinteressen war und ist der Labrang (bLabra),<br />

sein Haupt, der amtierende Tulku (sPrul-sku), unterhielt wiederum<br />

bevorzugte Beziehungen zu den Kollegien oder Khamtsen innerhalb<br />

der „Drei Residenzen“, in denen er seine Ausbildung genos-


221<br />

sen hatte und mit denen sein Haus affiliert war. Das politische Engagement,<br />

speziell der gehobenen Tulkuschicht, war ganz beträchtlich.<br />

Diese Tulkus fungierten als Regenten oder Landesfürsten (die Hothogthus)<br />

und waren nicht selten Drahtzieher politischer Revolten. 475<br />

Eine der letzten politischen Revolten vor 1950 sollte ihren Ausgang<br />

nehmen vom Labrang des Reting Rinpoche, jenes Würdenträgers, der<br />

seinerzeit zugunsten von Taktra Rinpoche zurückgetreten war.<br />

Aus dieser Gemengelage verschiedener institutionell bedingter differerierender<br />

klerikaler Interessen wird ersichtlich, daß trotz der Anerkennung<br />

des religiösen Primats der Politik, die Vorstellungen darüber<br />

auch innerhalb des Klerus ganz verschieden ausfallen mußten, was die<br />

Ziele und Maßnahmen der Regierung zum Wohle der Religion wie<br />

des Landes anbelangten. Historisch profitierte davon die sog. Regentenherrschaft,<br />

die in einer nicht immer rühmlichen Weise eine historische<br />

Epoche der Regierung in Tibet ausmachte.<br />

Die institutionelle Organisation des religiösen Lebens, das Ringen um<br />

Gunst und Einfluß der Klöster und ihrer Körperschaften hat sich in<br />

Tibet als ein chronischer Herd politischer Konflikte herausgestellt, die<br />

sich nicht selten aufdringlicher manifestierten als der religiöse Konsensus.<br />

Der Drang der Klöster, die Zahl ihrer Belegschaft anzuheben und damit<br />

auch die ihrer Gefolgschaft, hielt sie stets hungrig auf Land und<br />

Einkünfte, um den Unterhalt der Mönche in ihrer wachsenden Zahl<br />

und die religiösen Feste sowie andere ehrgeizige Vorhaben finanzieren<br />

zu können. Diese Tendenz stand zuletzt in scharfem Gegensatz zu<br />

den Bemühungen der Regierung, die Leibeigenschaft zu lockern und<br />

die Revenuen der Klöster zu reduzieren. Bis zum Schluß waren die<br />

Klöster die entschiedensten Vertreter der Leibeigenschaft in Tibet,<br />

wie sie natürlicherweise auch ebenso entschiedene Gegener aller Säkulariserungsbemühungen<br />

waren, welche die Verfassung des Staates<br />

betrafen.<br />

War zu Beginn der Laufbahn des monatischen Systems der Zweck ihrer<br />

politischen Förderung die Aufhebung der zentrifugal divergiernden<br />

sozialen und politischen Kräfte in ihrer Zumittung auf das geistige<br />

Zentrum, die Kultanlage, eben das Kloster, erscheint das Kloster auch<br />

zunächst als Zentrum sozialer und politischer Integration, so wird es<br />

nach seiner Verankerung in der Gesellschaft, besonders in der Periode<br />

der Dalai-Lama-Herrschaft, zu einer Bürde, die allen anderen sozialen<br />

Kräften den Raum der eigenen Entfaltung schmälert und damit auch<br />

475 Siehe: D.Bärlocher, Testimonies of Tibetan Tulkus, I, Rikon 1982, S.51


222<br />

seine eigene Funktion der schöpferischen Integration lähmt. Die Ausweitung<br />

der Ansprüche des monastischen Systems in das profane Leben<br />

graben, indem sie sich dort politisch Geltung verschaffen und<br />

vorherrschend werden, selbst die Existenzgrundlagen ab. Nachdem<br />

die politische Führungsrolle des monastischen Systems nicht mehr infrage<br />

gestellt werden konnte, schuf es bald auch aus seiner Mitte heraus<br />

jene politischen Gegensätze, an denen es schließlich zerbrechen<br />

sollte. Es war nicht mehr der Träger der politischen Einheit.<br />

Tucci beschrieb die politische Rolle der Klöster dementsprechend:<br />

„Als straff organisierte und wirtschaftlich starke Gebilde waren die<br />

Klöster ebensowenig wie ursprünglich der Laienadel geneigt, auf ihre<br />

Selbstverwaltung und Unabhängigkeit zu verzichten. Dadurch wurde<br />

der unter dem einheitlichen Firnis des offiziellen Glaubens fortschwelenden<br />

Neigung zur Aufsplitterung immer mehr Vorschub geleistet,<br />

und dies um so mehr, als die Mehrheit der Mönche kaum imstande<br />

war, die nur einer begrenzten Elite zugänglichen <strong>Studien</strong> zu bewältigen,<br />

und so ein leicht manövrierbares, bei geeigneten Anlässen stets<br />

zur Aktion bereites Mönchsproletariat zur Verfügung stand… So bildeten<br />

die Klöster bis zur Zeit der Einbeziehung Tibets in den Herrschaftsbereich<br />

Chinas ein Gegengewicht gegen das jeder Regierungsgewalt<br />

zugrunde liegende Einheitsstreben… Andererseits war die gewaltige<br />

Macht der Klöster eine ständige Quelle des Mißvergnügens<br />

für den Laienadel, der sich in seinen Bestrebungen und Herrschaftsansprüchen<br />

auf Schritt und Tritt durch die Mönchsgemeinschaft gehemmt<br />

sah, ohne doch die Kraft aufbringen zu können, dieses Joch<br />

abzuschütteln.“ 476<br />

Tatsächlich aber war der hier angesprochene Gegensatz von Klostermacht<br />

und Regierungsgewalt auch ein Gegensatz innerhalb der Klostermacht,<br />

weshalb der Laienadel seit 1750 gar keine Chance mehr<br />

hatte, aus eigener Kraft dieses Joch abzuschütteln, zumal er ja auch<br />

häufig selbst mit bestimmten Klöstern verwandtschaftlich verbunden<br />

war, was ja besonders deutlich die Periode nach dem Tode des Dalai<br />

Lama XIII. bis etwa zum Zeitpunkt der chinesischen Okku<strong>pa</strong>tion offenbarte.<br />

Der Laienadel hatte nur dann eine Chance an Einfluß zu gewinnen,<br />

wenn die Interessen der großen Klöster mit denen der Regierung<br />

konfligierten, und jene, obwohl geistlich geführt, angewiesen<br />

war auf die Unterstützung des Laienadels in ihrer Auseinandersetzung<br />

mit den Klostergrundherrn. In dieser Hinsicht war Grenards Einschät-<br />

476 Siehe: G.Tucci, Die Religionen Tibets, in G.Tucci, W.Heissig, Die Religionen Tibets und der Mongolei,<br />

Stuttgart, Berlin, Köln Mainz 1970, S.181


223<br />

zung der politischen Verhältnisse in Tibet, obwohl zu einem Zeitpunkt<br />

geäußert, in dem die Chancen politischer Autonomie für Tibet noch<br />

offen standen, bereits viel abgeklärter. „The Tibetan clergy possesses<br />

all the known elements of dominion: religious authority, territorial<br />

wealth, financial and commercial supremacy, armed force, numbers<br />

and discipline.“ 477<br />

Speziell der Faktor "armed force", d.h. die Klostermilizen, auf die<br />

auch Tucci anspielte, machten das Bild komplett, nach dem die Klöster<br />

quasi als kleine Staaten im Staate erscheinen konnten, der hier<br />

nicht einmal das Gewaltmonopol besaß, sondern dieses mit jenen teilen<br />

mußte. Und dieses Selbstbewaffnungsprivileg der Klöster stellte<br />

sich auch als ein deutlicher Statusvorteil des Klosteradels gegenüber<br />

dem Laienadel dar, der keine eigenen Milizen unterhalten durfte, um<br />

polizeiliche und militärische Aufgaben in seinem eigenen Interesse zu<br />

übernehmen, sondern in dieser Hinsicht ebenso abhängig war von der<br />

monastisch geführten Regierung und deren Exekutivorganen wie seine<br />

Hintersassen.<br />

Während die Klöster um ihres Status willen die Mehrzahl ihrer niederrangigen<br />

Mönche nicht nur zu den verschiedensten praktischen, administrativen<br />

und wirtschaftlichen Diensten heranzogen, d.h. im Gegensatz<br />

zum Laienadel über eine Reserve an qualifizerten Fachkräften<br />

verfügten, sondern darüber hinaus aus ihnen auch ihre Milizen rekrutierten,<br />

war dem Laienadel besonders diese milizionäre Organisation<br />

seiner Hörigen verwehrt. An diesem Umstand läßt sich dann auch der<br />

höhere Rang des Klosteradels gegenüber dem Laienadel bemessen, da<br />

er sowohl ein Privileg ausweist als auch ein politisches Machtmittel<br />

der Interessendurchsetzung, das den einen Typus des Herrn so sehr<br />

ziert wie es dem anderen fehlt.<br />

Daß die Struktur der traditionellen Gesellschaft Tibets und damit eine<br />

historische Epoche seinem Klosterwesen einen ganz eigenen Charakter<br />

verliehen hat, erscheint besonders deutlich im Kontrast zum exiltibetischen<br />

Klosterwesen von heute, das weder mit politischen Aufgaben<br />

betraut ist noch die wirtschaftlichen und sozialen Funktionen eines<br />

Grundherrn ausübt, sondern neben seinen geistlichen Aufgaben<br />

nur noch die Pflege der tibetischen Kultur betreibt, die ja weitgehend<br />

durchdrungen ist von der Religion, und speziell deswegen auch die<br />

geistige Mitte der Exiltibeter geblieben ist.<br />

477 F.Grenard, Tibet, Delhi 1974, p.336


X<br />

224<br />

Anhang 1 Die Mönchstracht<br />

"GESHE: Bevor man sich der mönchischen Disziplin unterwirft, benötigt<br />

man eine vollständige Kleidung.<br />

Dazu gehören auch Kappe, Stiefel und verschiedene andere Artikel.<br />

Sie sind alle nicht sonderlich attraktiv, doch jedes Stück ist voll von<br />

Bedeutung, vor allem, in soweit es die Erlösung vom Leiden im<br />

Kreislauf der Wiedergeburt (samsra) und die Freude an der endgültigen<br />

Befreiung (nirvna) betrifft." 478<br />

Stiefel<br />

"So symbolisieren die Stiefel des Mönches die Drei Geistesgifte und<br />

ihre Bekämpfung. Diese Gifte sind Begierde,<br />

Haß und Verwirrung. Die Form<br />

der Stiefel erinnert an einen Hahn, eine<br />

Schlange und ein Schwein. Ihre nach<br />

oben gebogene Spitze soll die Schnauze<br />

eines Schweines darstellen. Zwei seitliche<br />

Ausbuchtungen ähneln den oberen<br />

Teilen von Hahnenflügeln, während die<br />

Krümmung vom oberen Rand des Stiefelschaftes<br />

bis zu seiner Spitze an eine<br />

Schlange denken läßt.<br />

Buddha sprach von diesen drei Tieren<br />

als den Symbolen der Geistesgifte. Das<br />

Schwein versinnbildlicht die Verwirrung,<br />

der Hahn die Begierde und die Schlange den Haß. Buddha zufolge<br />

geht alles Leiden der Welt auf diese geistigen Verdrehungen zurück.<br />

Dadurch daß die Mönche die Sinnbilder an ihren Füßen tragen,<br />

werden sie ständig daran erinnert, die Gifte zu meiden. Die Stiefel<br />

sind weder bequem noch elegant Wer sie zum ersten Mal sieht, kann<br />

sie leicht für die Fußbekleidung von Barbaren halten. Ihre Plumpheit<br />

hat einen guten Grund: Sie soll gegen Begierde schützen. Schädliche<br />

Handlungsweise geht sehr oft auf Begierde zurück; es ist daher sehr<br />

wichtig, ihr einen Riegel vorzuschieben." 479<br />

478 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.18<br />

479 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.18


225<br />

Robe<br />

"Buddha wies die Mönche unter seinen Anhängern an, ein rockartiges<br />

unteres Kleidungsstück zu tragen, das sie an ihre Gelübde und<br />

Pflichten als Mönche erinnern soll. Es hat einen oberen und einen<br />

unteren Saum und dazwischen ein Muster von Flicken. Die Säume<br />

versinnbildlichen, daß der Mönch im Kloster leben, durch Lernen und<br />

Meditieren das Leiden im Existenzkreislauf beseitigen und die Freude<br />

der Befreiung erlangen soll. Sie sollen den Mönch auch davon abhalten,<br />

seine Übung des Dharma mit weltlichen Aktivitäten zu vermengen.<br />

Wenn auf diese zuviel Energie verwendet wird, nehmen die<br />

geistigen Verdrehungen zu und das Ziel, um dessenwillen er Mönch<br />

wurde, kann nicht erreicht werden. Die Flicken sollen den Unterschied<br />

zwischen buddhistischen Mönchen und solchen anderer Religionen<br />

aufweisen, deren Gewänder keine Flicken haben." 480<br />

"Auch die Art, wie das Gewand getragen wird, versinnbildlicht die<br />

Vier Wahrheiten der Erleuchteten. Auf der rechten Seite symbolisieren<br />

zwei nach außen gerichtete Falten die beiden aufzugebenden Wahrheiten,<br />

während die beiden auf der linken Seite liegenden und nach<br />

innen gerichteten Falten die zu erlangenden Wahrheiten darstellen.<br />

Für das Aufgeben der ersten zwei und die Erlangung der anderen beiden<br />

Wahrheiten bedarf es der harmonischen Übung und Vereinigung<br />

von Methode und Weisheit. Diese Tatsache wird von zwei sich gegenüberliegenden<br />

Falten auf der Vorderseite symbolisiert. So erinnert<br />

die Robe den Mönch nicht nur an seine Ordination, sondern auch<br />

daran, daß es notwendig ist, sich von den ersten beiden Wahrheiten<br />

abzuwenden und auf die anderen beiden zu richten, sowie daran, daß<br />

er den Methodenaspekt und den Weisheitsaspekt der Lehre gemeinsam<br />

praktiziert." 481<br />

Weste<br />

"Die von den Mönchen getragene Weste ist zwar auch nicht sonderlich<br />

attraktiv, hat aber ebenfalls große symbolische Bedeutung. Für<br />

den Erfolg der Übung des Dharma ist freudige Anstrengung notwendig,<br />

und diese erwirbt man durch das Verstehen der Vergänglichkeit.<br />

480 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.18-19<br />

481 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.19-20


226<br />

In einigen Schriften wird die Anstrengung mit einem Pferd und das<br />

Verständnis der Vergänglichkeit mit der Peitsche verglichen. Die Weste<br />

symbolisiert Vergänglichkeit. Auf jeder Seite sind zwei spitz zulaufende<br />

Streifen, die sich bei den Achselhöhlen kreuzen. Das sind die<br />

Fangzähne des Herrn des Todes, während die Mitte des Kleidungsstückes<br />

seinen Mund darstellt. So leben wir zwischen seinen Kiefern<br />

und können jederzeit sterben." 482<br />

Kappe<br />

"Freudige Anstrengung allein ist nicht genug. Wir müssen die Belehrungen<br />

hören, in uns aufnehmen und darüber meditieren. Für die Ausübung<br />

und die Ergebnisse dieser drei Tätigkeiten ist die Mönchskappe<br />

ein Symbol. Gehört werden sollen die Lehren Buddhas, sie können in<br />

zwölf Gruppen unterteilt werden, die durch zwölf Stiche im Griff der<br />

Kappe symbolisiert werden. Die Gruppen werden in den sogenannten<br />

'Drei Körben der Lehre' (tripitaka) zusammengefaßt, die durch drei<br />

vom Griff herabhängende blaue Quasten dargestellt sind. So wird<br />

der Mönch, wenn er die Kappe ergreift, an das erinnert, was er zu lernen<br />

hat. Trägt man sie auf dem Kopf, so wird der Griff nach innen gefaltet,<br />

wird sie in der Hand getragen, so bleibt er draußen.<br />

Die Kappe ist außen gelb und innen weiß und blau. Gelb symbolisiert<br />

Weisheit, Weiß Mitgefühl und Blau Kraft. Wenn man sie sieht,<br />

482 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.20-21


227<br />

erinnert man sich dieser drei Eigenschaften und meditiert über sie.<br />

Weiter stehen sie für Manjusri, Avalokitesvara und Vajrapni, welche<br />

Weisheit, Mitgefühl und Kraft der Buddhas<br />

verkörpern. Stützen wir uns auf diese drei<br />

göttlichen Wesen, erlangen wir eine besondere<br />

Kraft, um ihre drei Tugenden zu entwickeln.<br />

Tausende von kleinen Fäden, welche<br />

die Kappe bedecken, versinnbildlichen<br />

die volle Entwicklung von Weisheit, Mitgefühl<br />

und Kraft, mit anderen Worten, das<br />

Erreichen von Buddhaschaft. Sie erinnern<br />

auch an die vielen tausend Buddhas unseres<br />

glücklichen Zeitalters. Weil es sich bei ihnen<br />

um Symbole der endgültigen Zuflucht,<br />

der wir uns anvertrauen, handelt, werden<br />

sie an der höchsten Stelle des Körpers getragen,<br />

oben auf dem Kopf. Wenn ein Mönch richtig motiviert ist und<br />

die Bedeutung seiner Kleidung versteht, dient sie ihm als ständiger<br />

Mahner und Lehrer.<br />

Die Kappe und ein besonderer Umhang werden von den Mönchen auf<br />

ihren Versammlungen getragen." 483<br />

Umhang<br />

"Der Umhang besteht aus zwei zusammengenähten Teilen. Ein<br />

Band voller Lotusmotive ist unter den Kragen genäht, darunter<br />

wirft der Umhang auf ganzer Länge zahlreiche Falten. Da der Prozeß<br />

der Buddhawerdung weder leicht noch schnell ist, sollten wir unsere<br />

Übung des Dharma durch das Zeitalter des Buddha Säkyamuni hindurch<br />

fortführen. Wenn es zu Ende geht und (22/23) wir unseren Pfad<br />

zur Erleuchtung noch zu vollenden haben, müssen wir sie im Zeitalter<br />

des Buddha Maitreya fortsetzen. Der obere Teil des Umhangs, ein<br />

Symbol für Säkyamunis Lehre, ist eng mit dem Unterteil verbunden,<br />

das die Lehre Buddha Maitreyas darstellt. Dies will sagen, daß es<br />

wichtig ist, daß es keine große Zeits<strong>pa</strong>nne zwischen der Zerstörung<br />

der ersten und dem Aufkommen der zweiten gibt für die, welche ihre<br />

Übung von einem Zeitalter zum nächsten fortsetzen. Unsere Absicht,<br />

alle fühlenden Wesen zur Glückseligkeit der Erleuchtung zu führen,<br />

wird durch all die Falten symbolisiert, die zu den Lotusblättern oben<br />

483 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.21-22


228<br />

fuhren. Dieses Blütenband symbolisiert die reinen Länder der<br />

Buddhas. Es gibt spezifische Dharma-Übungen, die zur künftigen<br />

Wiedergeburt in solchen reinen Ländern führen.<br />

Es ist für einen Mönch nicht notwendig, immer Gewand und Hut zu<br />

tragen, doch muß er dies bei allen Mönchsversammlungen tun.<br />

Manche Leute könnten meinen, daß die spirituellen Übungen eines<br />

Mönches sich in erster Linie um den rechten Gebrauch dieser Kleidungsstücke<br />

drehen. Aber dem ist nicht so. Am wichtigsten ist, daß<br />

seine Einstellung , Achtsamkeit und Lebensweise mit der Bedeutung<br />

dieser Symbole in Einklang steht. Denkt ein Mönch über seine Kleidung<br />

nach, wird er an sein Mönchtum und die Lehre Buddhas erinnert.<br />

Die beiden überlappenden Stoffteile, aus denen der Umhang besteht,<br />

sind ein Zeichen für die Hoffnung, daß der Lehre des Buddha<br />

Säkyamuni sofort die des Buddha Maitreya folgen wird. Ein Mönch,


229<br />

der sich dieser Bedeutung bewußt ist, soll dafür beten, daß dies eintritt.<br />

In Büchern werden viele Illustrationen als Verständnishilfen gegeben,<br />

doch scheinen sie sinnlos, wenn ihre Bedeutung unbekannt<br />

bleibt. Das gleiche gilt für Mönchskleider. (23)<br />

Das gelbe Futter des Umhanges symbolisiert die weite Verbreitung<br />

und lange Erhaltung der Lehren über die Disziplin (vinaya). Damit<br />

sind zum einen die Worte des Buddhas gemeint, wie sie in den<br />

Schriften niedergelegt wurden. Der gesamte Weg zur Erleuchtung<br />

wird unter dem Gesichtspunkt der Drei Arten von Übung angeordnet:<br />

Weisheit, Konzentration und Moral. Das gelbe Futter versinnbildlicht<br />

zum anderen auch die Basis der Disziplin, die Moral. Diese ist die<br />

Grundlage, auf der, durch die Übung des Dharma, Tugenden erlangt<br />

werden. Die gelbe Farbe des Hutes ebenso wie des Umhangfutters ist<br />

nicht etwa ein besonderes Kennzeichen der Gelug<strong>pa</strong>-Tradition. Es<br />

sind nicht nur viele Menschen im Westen, sondern auch Tibeter, die<br />

immer, wenn sie die Farbe Gelb sehen, an diese Tradition denken. Das<br />

ist ein großer Fehler, der auf Unkenntnis beruht, aber immer noch von<br />

manchen vertreten und auch weitergegeben wird." 484 (23)<br />

Farbe Gelb<br />

"Die wahre Bedeutung läßt sich erklären, wenn man das Beispiel der<br />

Erde heranzieht: Sie ist die Grundlage<br />

für alle Lebewesen und alle unbelebten<br />

Dinge in der Welt. Das Element Erde<br />

(23/25) wird durch Gelb repräsentiert,<br />

und beide, Erde wie Gelb, sind<br />

Symbole für die Moral, auch sie ist<br />

ein Fundament, das alles Wissen möglich<br />

macht, angefangen von der Erlernung<br />

des Alphabets bis hin zur Erlangung<br />

von Erleuchtung. Das Tragen<br />

des gelben Hutes ist eine alte Tradition<br />

der Meister der Disziplin, die in der<br />

Moral die Basis aller Tugenden sehen.<br />

Diese Tradition bestand schon in der Zeit des Lama Lachen Gong<strong>pa</strong><br />

Rabsäl, des größten Meisters der buddhistischen Disziplin. Als der<br />

damalige tibetische König Langdarma in Zentraltibet alles, was an die<br />

buddhistische Lehre erinnerte, zerstört hatte, floh der Lama aus der<br />

484 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.22-23


230<br />

Höhle, in der er zu meditieren pflegte, in das Grenzgebiet von Osttibet.<br />

Dort traf er viele Mönche und wurde auch selbst zum Mönch geweiht.<br />

Durch ein umfassendes und tiefes Studium wurde er ein großer<br />

Meister der Disziplin. Einmal kamen zehn Mönche aus Zentraltibet zu<br />

ihm, die er ordinierte und in Disziplin unterwies. Seinem besten Schüler<br />

aus Zentraltibet, Lume, gab er vor dessen Rückkehr noch einen<br />

gelben Hut zum Zeichen, daß er dort die buddhistische Lehre verbreiten<br />

solle. Das war lange bevor der Ausdruck 'Gelug<strong>pa</strong>' bekannt wurde.<br />

Der indische Meister der Disziplin, Säkyaprabhä, sagte:<br />

Wie in dieser (Welt) die Wurzel des Baumes<br />

für dessen Wachstum und Erhaltung lebensnotwendig ist<br />

so ist Disziplin die Grundlage<br />

und die Wurzel all der erhabenen Dharmas.<br />

Es wird deutlich geworden sein, daß es sich bei dem gelben Hut nicht<br />

um ein ausschließliches Merkmal der Gelug<strong>pa</strong>-Tradition handelt<br />

Auch sind nicht alle, die schwarze Hüte tragen, Kagyü<strong>pa</strong>-Lamas.<br />

Der Gründer des Klosters Sera, Jamchen Chöje, zum Beispiel, hat<br />

einen schwarzen Hut getragen, ein Geschenk des Kaisers von China.<br />

Der Kaiser hatte Je Tsongkha<strong>pa</strong> zu sich gebeten, damit er sein spiritueller<br />

Führer werde. Je Tsongkha<strong>pa</strong> konnte diesem Wunsch nicht entsprechen<br />

und schickte dem Kaiser daher seinen Schüler Jamchen<br />

Chöje." 485<br />

Beutel<br />

"Was die Mönchskleidung anbelangt, so sind noch einige andere<br />

Dinge erwähnenswert. Zu Zusammenkünften von Mönchen, bei denen<br />

Tee gereicht wird, bringt jeder einen kleinen Beutel voller Gerstenmehl<br />

mit. Der etwa bechergroße Beutel ist innen weiß, außen blau,<br />

rot, gelb und weiß gestreift. Holt ein Mönch den Beutel für sein Mittagsmahl<br />

hervor, so berührt er beim öffnen zunächst sei(26/27)ne Lederschnur.<br />

Dabei denkt er vielleicht daran, daß sie einst ein Teil der<br />

Haut eines Tieres war, das sein Leben hatte lassen müssen, und daß<br />

auch er einmal sterben muß. Das Bewußtsein ist abhängig von den<br />

vier Elementen, Erde, Feuer, Luft und Wasser, aus denen der Körper<br />

sich zusammensetzt. Löst sich diese Verbindung, so bedeutet das den<br />

Tod. Die vier Elemente werden von den Farben Blau, Rot, Gelb<br />

485 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.23-26


231<br />

und Weiß repräsentiert. So bietet der Beutel dem Mönch die Möglichkeit,<br />

darüber zu meditieren, daß der Geist von den Elementen abhängig<br />

ist, und daran zu denken, daß der Tod sofort einsetzt, wenn<br />

diese vier Elemente in Unordnung geraten. Es ist ganz einfach. Sich<br />

des Todes bewußt zu sein, gibt einen größeren Ansporn, zu lernen und<br />

sich dem Dharma zu widmen. Dies ist allerdings nicht die einzige Bedeutung<br />

der Farben. Wer, dem Pfad<br />

des Dharma folgend, eine hohe Stufe<br />

der Erleuchtung erreicht hat, ist zu<br />

den verschiedensten Meditationen<br />

über die Elemente fähig. Auch für<br />

diese Meditationen stehen die Farben<br />

des Beutels. So gibt es verschiedene<br />

Möglichkeiten, über sie nachzudenken<br />

und den Geist zu entwickeln.<br />

Zu Beginn seines Aufenthaltes in einem<br />

Kloster kennt der junge Mönch<br />

die Bedeutung dieser Symbole noch<br />

nicht. Der Disziplinar der Klosterschule<br />

erklärt sie daher alle <strong>pa</strong>ar Wochen<br />

im Rahmen einer Diskussion.<br />

Die meiste Habe eines Mönches ist so gestaltet, daß sie ihm hilft,<br />

Fehler auszutreiben und gute Eigenschäften zu entwickeln. Wie zum<br />

Beispiel Soldaten Tarnkleidung tragen und in vielen Waffen ausgebildet<br />

werden, wobei diese Dinge nicht attraktiv wirken, sondern den<br />

Feind bekämpfen und überwinden sollen, so werden in einem Kloster<br />

Mönche darin unterwiesen, ihre geistigen Verzerrungen zu bekämpfen<br />

und zu überwinden. Das Wichtigste ist, daß sie Verwirrung beseitigen<br />

und gute Eigenschaften und richtiges Verständnis erwerben. Zwei<br />

Hindernisse stehen dem entgegen: Stolz und Mißachtung. So werden<br />

den Mönchen von Anfang an Demut und besondere Achtung vor den<br />

Vorgesetzten beigebracht. Die Vorgesetzten im Kloster lassen es ihrerseits<br />

an Mitgefühl für die jungen Mönche nicht fehlen und erteilen<br />

ihnen nützliche Ratschläge. Sie müssen, wenn nötig, ihre Handlungsweisen<br />

korrigieren, und zwar ohne Unterschied der Person. Es verstößt<br />

jedoch gegen die klösterlichen Regeln, sie aus Zorn zu schlagen."<br />

486<br />

486 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.26-28


232<br />

"SCHÜLER: Gibt es jemanden, der für die neuen Mönche und ihre<br />

Unterweisung in mönchischem Gehorsam verantwortlich ist?<br />

GESHE: Jeder neu ins Kloster eingetretene Mönch hat zwei Lehrerder<br />

eine kümmert sich um sein Wohlergehen und der andere unterrichtet<br />

ihn im Dharma. Während seiner Ausbildungszeit gibt der<br />

Mönch dem für seine Versorgung verantwortlichen sein ganzes Geld.<br />

Er erhält Nahrung und Kleidung. Der Versorger trägt auch Verantwortung<br />

für die jungen Mönche. Er muß eine abgeschlossene Ausbildung<br />

als Geshe vorweisen, bevor er eine solche Verantwortung übernehmen<br />

darf. Der Dharma-Lehrer gibt dagegen in erster Linie Unterricht."<br />

487<br />

487 B.Allan Wallace, Mönch in Tibet, Hamburg 1986, S.28


233<br />

Anhang 2 Hüte und Kappen der Mönche


Anhang 3 Lithurgische Gegenstände<br />

234


235<br />

Anhang 4 Instrumentale Ritualbegleitung<br />

Das Ritual ist in Tibet eine Prärogative der Mönche. Sie kennen das<br />

genaue Verfahren und wissen um die Umstände ihres angemessenen<br />

Einsatzes. Die Ausführung der Rituale gehört zur Grundausbildung<br />

Sil san Rol mo; sbub can Ti sag Dril-bu<br />

Du dkar Du chen, Du dmar rGgya gLi rKa gLi<br />

Kar gLi<br />

sBu phag<br />

ra chen Drva ti rGyal ra; ’khar<br />

ra<br />

Lag ra; rNa chu<br />

mGon po<br />

Da ma ru<br />

der ordinierten Mönche. Spielt dabei die Musik eine Rolle, dann gehört<br />

auch sie als Bestandteil des Rituals zu deren Vorrecht. Die<br />

Kenntnis der religiösen Gesänge und der Gebrauch der Ritualinstru-


236<br />

mente können daher auch nur im Kloster erworben oder gelernt werden.<br />

Die Signalklänge der Instrumente rufen zu den Diensten in das Kapitel<br />

oder zeigen im Kapitel wie in der Zelle den Beginn der Meditation an.<br />

Instrumentalmusik begleitet die Rituale im Tempel, auf der Dachterasse<br />

der Klöster, bei Prozessionen, bei der Zeremonie der Leichenverbrennung,<br />

bei Willkommensumzügen und den Maskentänzen<br />

(Cham). Instrumentalmusik begleitet die Durchführung der Übergangsrituale<br />

(Geburt, Hochzeit, Sterben) in Privathäusern, die Fruchtbarkeitssegen,<br />

die Glücksgebete, die metereologischen Riten und die<br />

Reinigungsriten von Feld, Platz oder Haus.<br />

Instrument Name Gattung<br />

„Die Liturgie des<br />

tibetischen Buddhismus<br />

ist kom-<br />

Glocke Dril-bu Idiophone<br />

Große Zimbel; Becken Rol mo; sbub can<br />

Zimbeln<br />

Sil san<br />

plexer Natur, doch<br />

Flache Becken<br />

Sil san<br />

läßt sich zusammenfassend<br />

sagen,<br />

Kleine Becken<br />

Ti sag<br />

Großtrompete Du chen, Du dmar Aerophone daß eine typische<br />

Weiße Muschel (Horn) Du dkar<br />

religiöse Zeremonie<br />

sich im allge-<br />

Kleine Trompete<br />

rGgya gNi<br />

Flöte<br />

rGgya gLi<br />

Knochentrompete, -flöte rKa gLi<br />

meinen in nachstehender<br />

Reihen-<br />

Kurztrompete aus Metall rKa gLi<br />

Blasinstrument chin. Herk. Kar gLi<br />

Klarinette<br />

sBu phag<br />

folge abspielt:<br />

Im Anschluß an<br />

Große Trommel ra chen Membraphone<br />

verschiedene Vor-<br />

Kleine Trommel<br />

Gong<br />

Gongbaum, Gongleiter<br />

Kleine Sanduhrtrommel<br />

Lag ra; rNa chu<br />

mGon po<br />

rGyal ra; ’khar ra<br />

Drva ti<br />

Da ma ru<br />

bereitungen, bei<br />

denen der Wunsch<br />

nach Erleuchtung<br />

erneuert wird, und<br />

zwar nicht nur zum Wohle des einzelnen Mönches, sondern aller<br />

Menschen, wird die Gottheit, die man um die Leitung der Kulthandlung<br />

gebeten hatte, durch die Meditationen und Visionen der Mönche<br />

"wirklich" gegenwärtig gemacht; ihr werden dann Opfergaben dargebracht,<br />

darunter auch die Musik (Chöröl); schließlich werden der<br />

Gottheit Kultgegenstände geweiht, auch bittet man sie um ihren Beistand<br />

und gelegentlich um Gunstbeweise. Es folgt nun vielleicht die<br />

Beschwörung und Austreibung einer bestimmten Kategorie von verneinenden<br />

Geistern. Am Ende verabschiedet man sich von der Gottheit,<br />

indem man sich für die Fehler entschuldigt, die im Verlauf der


237<br />

Zeremonie möglicherweise begangen wurden, und sie mit der traditionellen<br />

glückverheißenden Formel (Trashi) grüßt.<br />

Oft werden die Kulthandlungen an ein und demselben Tag zweimal<br />

zelebriert, und zwar einmal in der Morgendämmerung und noch einmal<br />

am Nachmittag. Die Länge der Zeremonien ist von den Umständen<br />

abhängig und kann bei großen Anlässen mehrere Tage dauern.<br />

Ein und dieselbe Zeremonie kann ebenfalls recht erheblichen Veränderungen<br />

unterworfen sein.<br />

Gewöhnlich finden die Zeremonien in einem besonderen Saal statt,<br />

wo die Mönche während der Riten in der traditionellen Meditationshaltung<br />

auf ziemlich niedrigen Bänken sitzen, die im allgemeinen in<br />

<strong>pa</strong>rallelen Reihen angeordnet sind. Die beiden mittleren Reihen liegen<br />

einander gegenüber und bilden so eine Art Kirchenschiff, das lotrecht<br />

zum Altar verläuft. Die Mönche, die in diesen Bankreihen keinen<br />

Platz mehr finden, bilden dahinter weitere Reihen, wobei sie in der<br />

Weise Platz nehmen, daß sie stets in Richtung auf den Mittelpunkt<br />

blicken.<br />

In den meisten Klöstern befinden sich am Ende der beiden Mittelreihen<br />

auf der Altarseite zwei oder drei Sitze, die wesentlich höher sind<br />

als die Bänke der Mönche und die für den Abt des Klosters, für den<br />

obersten Lama des Mönchsordens,<br />

zu dem das Kloster<br />

gehört, oder für den Dalai<br />

Lama persönlich reserviert<br />

sind. Die wichtigeren Lamas<br />

nehmen gewöhnlich in den<br />

beiden mittleren Reihen<br />

Platz. Der Mönch, der das<br />

Ritual leitet und oft auch für<br />

die Musik verantwortlich ist,<br />

sitzt entweder am Ende einer<br />

der beiden Mittelreihen neben<br />

dem Abt und unterhalb von<br />

ihm bzw. ihm beinahe gegenüber<br />

oder aber auf dem Platz<br />

unmittelbar daneben. Oft befinden<br />

sich an jenem dem<br />

Altar gegenüberliegenden Ende der beiden mittleren Reihen zwei<br />

große Trommeln, die in einem Rahmengestell aufgehängt sind. Von<br />

dieser Anordnung gibt es gelegentlich Ausnahmen, die auf den beson-


238<br />

deren logistischen Bedingungen beruhen, denen die heute im Exil lebenden<br />

Mönche sich anzu<strong>pa</strong>ssen gezwungen waren.<br />

Die … Skizze (oben/H.S.) zeigt die Sitzverteilung der Mönche während<br />

einer Zeremonie im Kloster von Shedup Chökor Dargye Ling,<br />

das bei Swayambhunth im Tal von Katmandu liegt:<br />

1. Sitz des obersten Lamas des Mönchsordens;<br />

2. Abt des Klosters, der die Glocke und die kleine Trommel mit Anschlagkügelchen<br />

(Damaru) spielt;<br />

3. Leiter der Zeremonie, der die Becken schlägt;<br />

4. zwei Lamas, die die Glocke bedienen;<br />

5. weitere Mönche;<br />

6. zwei Mönche, die die in einem Rahmengestell aufgehängten<br />

Trommeln schlagen;<br />

7. zwei große, in einem Rahmengestell aufgehängte Trommeln;<br />

8. zwei Mönche, die abwechselnd Oboe und Kurztrompete spielen;<br />

9. zwei Mönche, die Langtrompeten spielen;<br />

10. zwei Novizen, die auf Muschelhörnern spielen.<br />

Dem Ablauf religiöser<br />

Zeremonien<br />

liegt im allgemeinen<br />

der Wechsel<br />

von Rezitation, Gesang<br />

und Instrumentalmusik<br />

zu-<br />

Ritualinstrumente nach der Sitzordnung der Spieler<br />

grunde. Sämtliche<br />

anwesenden Mönche<br />

nehmen an der<br />

Rezitation und am<br />

Gesang teil. Die<br />

Instrumentalmusik<br />

wird von einer Kategorie<br />

von Mönchen<br />

gespielt, die man vom rein musikalischen Standpunkt jedoch<br />

nicht als Berufsmusiker ansehen kann.“ 488<br />

Der Ritualgesang und die Begleitung der Rituale durch Musikinstrumente<br />

gehören wie die Rituale selbst zu den alltäglichen Handlungen<br />

im Kloster. Der Novize lernt bis zu seinem 20. Lebensjahr den Gebrauch<br />

aller Musikinstrumente kennen „und nimmt an den religiösen<br />

Zeremonien auch als Musiker teil. Im Laufe der Zeit überläßt er dann<br />

488 Ivan Vandor, Die Musik des tibetischen Buddhismus, Wilhelmshaven, Locarno, Amsterdam 1978, S.24-26


239<br />

nach und nach diese Aufgabe den jüngeren Mönchen, einerseits, um<br />

ihnen Gelegenheit zu geben, sich während der Riten mit der Handhabung<br />

und dem Spielen der Instrumente vertraut zu machen, andererseits<br />

aber auch weil das Spielen einiger Instrumente eine körperliche<br />

Anstrengung verlangt, die mit zunehmendem Alter immer schwerer<br />

wird.“ 489<br />

Da alle Novizen im Verlaufe ihres Noviziats in den Genuß kommen<br />

oder die Pflicht haben, die Ritualinstrumente zu bedienen, muß man<br />

Instrumentalbegleitung, aus: R.Gaillarde, C.Delacam<strong>pa</strong>gne, Ladakh, Zürich, Freiburg 1980, Nr.10<br />

davon ausgehen, daß ihr Gebrauch auch von allen Mönchen beherrscht<br />

wird, weshalb die Ritualmusik auch nicht zu den speziellen<br />

Ausbildungsdiziplinen des Klosters gehört und der musizierende<br />

Mönch kein Spezialist unter den Mönchen darstellt. 490 „Außerdem erfolgt<br />

eine solche Betätigung nicht unbedingt kontinuierlich. In einigen<br />

Klöstern wie in dem von Shedup Chökor Dargye Ling werden die Musiker<br />

im monatlichen Wechsel ausgewählt. Auf diese Weise erhalten<br />

zwar alle Novizen die Möglichkeit, sich im Spiel der Instrumente zu<br />

üben, doch können sie dadurch kein sehr hohes technisches Niveau erreichen.“<br />

491<br />

489 Ivan Vandor, Die Musik des tibetischen Buddhismus, Wilhelmshaven, Locarno, Amsterdam 1978, S.30-31<br />

490 Siehe: Ivan Vandor, Die Musik des tibetischen Buddhismus, Wilhelmshaven, Locarno, Amsterdam 1978,<br />

S.31<br />

491 Ivan Vandor, Die Musik des tibetischen Buddhismus, Wilhelmshaven, Locarno, Amsterdam 1978, S.31


240<br />

Vandor weist außerdem daraufhin, daß die Musik für die Ausführung<br />

der Riten durchaus entbehrlich sein kann und schließt aus dieser Feststellung,<br />

„daß die Funktion des Musikers im eigentlichen Sinn<br />

ebenfalls entbehrlich ist, weshalb die Bedeutung, die man ihm<br />

beimißt, nur relativ ist.“ 492<br />

Dennoch schließt Vandor eine gewisse Tendenz zur Spezialisierung<br />

im Rahmen der Ritualmusik nicht aus, sondern glaubt dafür sogar<br />

Indizien wahrnehmen zu können. „Während ein Mönch theoretisch<br />

imstande ist, alle Musikinstrumente zu spielen, wird er sich dennoch<br />

einem bestimmten Instrument mit besonderer Gründlichkeit widmen,<br />

sei es, weil keiner seiner Kollegen das betreffende Instrument<br />

genügend beherrscht, um ihn wirksam ersetzen zu können, wie es<br />

oft in weniger bedeutenden Klöstern der Fall ist, sei es, weil seine<br />

musikalische Begabung ganz einfach Anerkennung gefunden hat.<br />

So entsteht allmählich eine Art Spezialisierung, die auf die am<br />

schwersten zu spielenden Instrumente wie die Oboe, die Langtrompete<br />

und die Becken beschränkt bleibt. Tucci (…) gibt an, daß<br />

die Mönche, die das Muschelhorn und die Oboe spielen, eine besondere<br />

Vergütung erhalten. Unsere Beobachtungen decken sich freilich<br />

nicht mit dieser Information. Möglicherweise ist eine solche<br />

Nichtübereinstimmung der ganz speziellen Situation von Verbannten<br />

zuzuschreiben, in der sich die Mönche der meisten von uns besuchten<br />

Klöster heute befinden.“ 493<br />

492 Ivan Vandor, Die Musik des tibetischen Buddhismus, Wilhelmshaven, Locarno, Amsterdam 1978, S.31-32<br />

493 Ivan Vandor, Die Musik des tibetischen Buddhismus, Wilhelmshaven, Locarno, Amsterdam 1978, S.32


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