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1 2012 17. Jahrgang Mai 2012 SENIOREN REPORT Landesseniorenvertretung Thüringen e. V. Alter ist Kompetenz Projekte Erzählcafé (S. 13) Lebensgeschichte bewahren (S. 13) Impressionen Die Macht der Erinnerung (S. 12) Erzählungen und Gedichte (S. 14) Biografiearbeit im Alter Informationen Buchvorstellungen (S. 18) Erfahrungen Tipps Biografien (S. 19) Aus den Seniorenbeiräten (S. 23) Buchtipp (S. 28) Impressum (S. 28) Möglichkeiten und Nutzen auch bei Alterskrankheiten Theorie -1-

1<br />

2012<br />

17. Jahrgang<br />

Mai 2012<br />

SENIOREN<br />

REPORT<br />

<strong>Landesseniorenvertretung</strong> Thüringen e. V.<br />

Alter ist Kompetenz<br />

Projekte<br />

Erzählcafé (S. 13)<br />

Lebensgeschichte<br />

bewahren (S. 13)<br />

Impressionen<br />

Die Macht der<br />

Erinnerung (S. 12)<br />

Erzählungen und<br />

Gedichte (S. 14)<br />

Biografiearbeit<br />

im Alter<br />

Informationen<br />

Buchvorstellungen<br />

(S. 18)<br />

Erfahrungen<br />

Tipps<br />

Biografien (S. 19)<br />

Aus den Seniorenbeiräten<br />

(S. 23)<br />

Buchtipp (S. 28)<br />

Impressum (S. 28)<br />

Möglichkeiten und Nutzen<br />

auch bei Alterskrankheiten<br />

Theorie<br />

-1-


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

Bedeutung von Biografie<br />

und Biografiearbeit<br />

Das mit dem Individualisierungsprozess<br />

einhergehende Bewusstsein, ein<br />

eigenständiger Mensch zu sein und<br />

ein persönliches Schicksal zu haben,<br />

ist eine zentrale Voraussetzung für<br />

das Interesse an Biografie. Die Möglichkeit,<br />

das eigene Leben zu gestalten,<br />

war jahrhundertelang nicht<br />

selbstverständlich. Die meisten Menschen<br />

fühlten, dachten und lebten in<br />

gemeinschaftlichen Zusammenhängen.<br />

Der Stamm, das Dorf, der Hof,<br />

die Großfamilien <strong>als</strong> Ganzes waren<br />

viel wesentlicher und bedeutsamer<br />

<strong>als</strong> die ständig gefährdete Einzelperson.<br />

Das Motiv für die Geschichten<br />

im alltäglichen Leben war, sie <strong>als</strong><br />

eine Art „Verdichtung“ allgemeiner<br />

Erfahrungen weiterzugeben und<br />

nicht, die einzelne Biografie herauszustellen.<br />

Das ändert sich mit dem<br />

in den 1960er Jahren einsetzenden<br />

Individualisierungsprozess. Dass die<br />

Biografie der Einzelperson wichtiger<br />

wird, erfährt man an der Fülle von<br />

biografischen Veröffentlichungen in<br />

der Gegenwart und an den kaum<br />

noch überschaubaren Selbstdarstellungen<br />

in den verschiedensten Medien.<br />

Eine weitere zentrale Voraussetzung<br />

für das Interesse an Biografie ist der<br />

sich in den 1960er Jahren etablierende<br />

Versuch, sich auf eine andere<br />

Art mit Geschichte zu befassen. Traditionelle<br />

historische Inhalte werden<br />

durch neue, lebensweltnähere und<br />

subjektbezogenere ersetzt. Die Geschichte<br />

der „kleinen Leute“, des gesellschaftlichen<br />

Alltags wird wichtiger.<br />

Der Historiker Lutz Niethammer<br />

hat diesen neuen Begriff von Geschichte<br />

so umschrieben: „In dieser<br />

Dimension des Alltäglichen ... wird<br />

nach der Subjektivität derer gefragt,<br />

die wir <strong>als</strong> Objekte der Geschichte<br />

zu sehen gelernt haben, nach ihren<br />

Erfahrungen, ihren Wünschen, ihrer<br />

Widerstandskraft, ... ihren Leiden.“<br />

In dem Gedicht „Fragen eines lesenden<br />

Arbeiters“ hat Bertolt Brecht diesem<br />

Zugang zur Geschichte einen<br />

poetischen Ausdruck verliehen.<br />

Beides, die Bedeutung der Subjektivität<br />

im Zuge des Individualisierungsprozesses<br />

und ihre Rolle in den<br />

neueren Geschichtswissenschaften,<br />

sind nicht nur Ursache und Folge<br />

einer Fundamentaldemokratisierung<br />

in der Gesellschaft, sondern sie setzen<br />

auf je eigene Weise auch die Arbeit<br />

an der Biografie in Gang.<br />

Subjektiv gesehen kann die Einzelpersönlichkeit<br />

in der Biografiearbeit mit<br />

dem Durcharbeiten früherer Lebensereignisse<br />

die Erinnerungsfähigkeit<br />

trainieren. Erinnerungen schwinden<br />

nämlich im Laufe der Zeit und stehen<br />

möglicherweise in einer späteren Lebensphase<br />

weniger zur Verfügung,<br />

wenn sie nicht fortwährend aktiviert<br />

werden. So haben Menschen, die<br />

gerne erzählen, deshalb auch ein<br />

besseres Gedächtnis an Szenen von<br />

Kindheit, Jugend und mittlerem Erwachsenenalter<br />

im späten Alter. Andererseits<br />

kann die Beschäftigung<br />

mit der eigenen Lebensgeschichte<br />

auch zu einer Heilung oder Besserung<br />

der gesundheitlichen Situation<br />

beitragen, die die personale Identität<br />

festigt. Menschen, die erzählen und<br />

Geschichte lebendig und subjektiv<br />

darstellen, können nicht nur ihre<br />

personale Identität stärken, sondern<br />

darüber hinaus durch die Auseinandersetzung<br />

mit ihrer Biografie jene<br />

persönlichkeitsinternen Reflexionen<br />

bei sich selber vollziehen, die eine<br />

Art (selbst-)therapeutischen Heilungsprozess<br />

beinhalten.<br />

Die Psychotherapie hat sich seit ihren<br />

Anfängen bei Sigmund Freud <strong>als</strong> eine<br />

Arbeit an der Biografie entwickelt.<br />

„Dem liegt die Einsicht zugrunde“,<br />

so K. P. Sprinkart, „dass psychische<br />

Störungen nicht <strong>als</strong> Krankheiten im<br />

medizinischen Sinne, sondern eher<br />

-2-<br />

<strong>als</strong> fehlgeleitete lebensgeschichtliche<br />

Bildungsprozesse aufzufassen<br />

sind. Psychotherapeutische Arbeit<br />

versteht sich <strong>als</strong> Versuch, diese fehlgeleiteten<br />

Bildungsprozesse bewusst<br />

zu machen, um den einzelnen Menschen<br />

aus dem Bann der eigenen<br />

Geschichte, der ihm oft eine sehr<br />

weitgehende Einengung seines Erlebens<br />

und Verhaltens aufzwingt, herauszulösen<br />

und so die Chance einer<br />

frei wählbaren Zukunft zu er<strong>öffnen</strong>.“<br />

Selbstverständlich ist Biografiearbeit<br />

keine Therapie und sie kann sie auch<br />

nicht ersetzen. Jedoch weist Werner<br />

Fuchs darauf hin, dass das Kommunikationsmuster<br />

erzählter Lebensgeschichte<br />

im Alltag weit verbreitet ist<br />

und folgert daraus, dass diese Form<br />

des Austausches die Basis dafür ist,<br />

dass wir unsere personale Identität<br />

gewinnen.<br />

Das verdeutlicht das folgende Beispiel:<br />

Geglücktes Lebenserzählen<br />

geht eng mit einer Veränderung des<br />

Bewusstseinszustandes und des persönlichen<br />

Sichwohlfühlens einher:<br />

Alte Menschen, die aus verschiedenen<br />

Gründen ihre Wohnung nicht<br />

verlassen konnten, wurden angeregt,<br />

sich mit Ereignissen aus ihrer<br />

Kindheit, Jugendzeit und ihrem Erwachsenenalter<br />

zu beschäftigen. Sie<br />

sollten sich an Erlebnisse erinnern,<br />

die für sie sehr befriedigend oder<br />

enttäuschend bzw. tragisch verlaufen<br />

waren. Insgesamt fand in jeder dersechs<br />

Wochen ein einstündiges Gespräch<br />

statt. Nach dem Ablauf dieses<br />

Zeitraumes stellte man bei den<br />

älteren Gesprächspartnern einen<br />

deutlichen Anstieg des subjektiven<br />

Gefühls des Sichwohlfühlens und<br />

der Lebenszufriedenheit fest. Möglicherweise<br />

waren diese günstigen Ergebnisse<br />

nur eine Folge davon, dass<br />

die Beteiligten regelmäßig Besuch<br />

erhielten, durch den sie Gelegenheit<br />

zum Gespräch hatten. Aber eine<br />

Vergleichsuntersuchung zeigte, dass<br />

bei älteren Menschen, die ebenfalls


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

über sechs Wochen die Gelegenheit<br />

zu jeweils einstündigen Gesprächen<br />

hatten, sich kein Anstieg der Lebenszufriedenheit<br />

und des subjektiven<br />

Wohlfühlens erkennen ließ. Bei den<br />

Angehörigen dieser zweiten Gruppe<br />

wurden ausschließlich Themen wie<br />

Wetter, aktuelle Ereignisse, Gesundheit<br />

und Fernsehprogramme angesprochen.<br />

Das Erzählen von Lebensgeschichten<br />

stellt eine Vergegenwärtigung<br />

des Erlebten dar. Selbstverständlich<br />

handelt es sich dabei nicht um direkte,<br />

authentische Erinnerungen, sondern<br />

in gewisser Weise um „Neuschöpfungen“,<br />

da man die Welt von<br />

gestern nur aus der Subjektivität in<br />

der Gegenwart erinnert. Welchen<br />

Grad der „Wahrheit“ diesen Neuschöpfungen<br />

zukommt, hängt von<br />

dem betreffenden Menschen ab und<br />

seinen lebensgeschichtlichen Erfahrungen.<br />

Deshalb kann diese „Vergegenwärtigung“<br />

unterschiedliche<br />

Grade der Intensität besitzen: Von<br />

einem bloßen abstrakten Benennen<br />

einer Erfahrung bis hin zu einem unmittelbaren<br />

erlebnismäßigen Hineingeraten<br />

in das dam<strong>als</strong> Erlebte. Das<br />

kann z. B. dazu führen, dass beim<br />

Erzähler der Prozess der Wiederaneignung<br />

von Lebensgeschichte in einer<br />

qualitativ anderen Weise in das<br />

Zentrum der Erinnerung rückt. Das<br />

Vorhandene in der Vergangenheit<br />

wird nicht bloß wieder aufgegriffen,<br />

um es neu und anders zu bewerten,<br />

sondern das, was dam<strong>als</strong> neben<br />

dem Vorhandenen auch noch da<br />

war, aber nicht aufgegriffen wurde,<br />

wird jetzt aufgegriffen, weil sich die<br />

Bedingungen verändert haben und<br />

Zugriffe auf das „Nicht-Gelebte“<br />

möglich werden.<br />

Das zeigt das folgende Beispiel,<br />

von dem Jan Philipp Reemtsma und<br />

Hannes Heer aus Diskussionen mit<br />

ehemaligen Wehrmachtsangehörigen<br />

im Rahmen der Ausstellung<br />

-3-<br />

„Verbrechen der Wehrmacht“ berichten:<br />

In einem Fall wird von einem<br />

ehemaligen Wehrmachtssoldaten<br />

die Geschichte eines Verbrechens<br />

erzählt, an dem der Soldat beteiligt<br />

war, denn sonst könnte er den<br />

Ablauf dieses Verbrechens nicht so<br />

konkret und nah schildern. Aber diese<br />

Geschichte zeigt den Erzähler <strong>als</strong><br />

denjenigen, der ganz anders gehandelt<br />

hat: Wenn es darum ging, einen<br />

Gefangenen nach hinten abzuführen<br />

und ihn einen Fluchtversuch<br />

machen zu lassen, das heißt hundert<br />

Meter weiter zu erschießen, dann<br />

berichtet das der Erzähler <strong>als</strong> eine<br />

Geschichte, nach der er selber genau<br />

das in einer anderen Situation<br />

verweigert hat. Oder wenn es darum<br />

ging, einen Juden zu erschießen, hat<br />

er den Juden dann gerettet. Hannes<br />

Heer bezeichnet solche Geschichten<br />

nicht einfach <strong>als</strong> Lügengeschichten,<br />

sondern <strong>als</strong> Geschichten, die auch<br />

zeigen, dass diese Person es heute<br />

bedauert, dass es so gewesen ist. Sie<br />

erfindet eine Geschichte, in der sie<br />

dam<strong>als</strong> so agiert, wie sie sich heute<br />

wünscht, dass sie dam<strong>als</strong> agiert hätte.<br />

In der biografischen Arbeit, die<br />

sich mit solchen lebensgeschichtlich<br />

verdrängten Dramen auseinandersetzt,<br />

kann man es erreichen, dass<br />

im biografischen Kontext der Gegenwart<br />

etwas Tatsache wird, was in der<br />

Vergangenheit eben nicht mögliche<br />

Tatsache wurde. Im genannten Fall<br />

erzählt der Zeitzeuge eine Geschichte,<br />

die zeigt, dass er es heute bedauert,<br />

was dam<strong>als</strong> geschehen ist und<br />

dass er es sich wünscht, dass er dam<strong>als</strong><br />

anders gehandelt hätte. Würde<br />

er zugeben, dass er einer Selbstlüge<br />

aufgesessen ist und seinen f<strong>als</strong>chen<br />

Stolz und die Scham, die damit verbunden<br />

ist, offen darstellen, träte so<br />

etwas wie Altersweisheit zutage. In<br />

Abwandlung eines Gedankens von<br />

Fried rich Nietzsche könnte man sagen:<br />

Das habe ich getan, sagt mein<br />

Gedächtnis. Das kann ich nicht getan<br />

haben, sagt mein Stolz. Aber das<br />

Gedächtnis bleibt unerbittlich. Endlich<br />

gibt mein Stolz nach.<br />

Eine Voraussetzung dafür, dass die<br />

wahre Geschichte ans Licht kommt,<br />

ist die Bereitschaft des Zeitzeugen,<br />

den eigenen Erinnerungsbestand<br />

von Zeit zu Zeit zu überprüfen und<br />

sich zu fragen: War es wirklich so,<br />

wie ich es mir in der Zwischenzeit zurechtgelegt<br />

habe? Erinnere ich mich,<br />

wenn ich mir Mühe gebe, nicht doch<br />

auch an anders geartete Vorfälle, an<br />

die ich später kaum noch gedacht<br />

habe, weil sie zu dem Bild jener Zeit,<br />

das ich mir inzwischen aufgebaut<br />

habe, nicht passen? Solche bohrenden,<br />

selbstkritischen Fragen, ob dam<strong>als</strong><br />

nicht doch noch vieles andere<br />

passiert ist, was ich nahezu vergessen<br />

habe, werden motiviert durch<br />

eine Emotionalisierung der eigenen<br />

Lebensgeschichte, die das Unbehagen,<br />

den Schmerz, das Trauern<br />

über das vergangene Geschehen,<br />

das Bedauern, dass es so gewesen<br />

ist, schließlich doch ans Licht bringt<br />

und artikuliert. Diese Wahrheit gegenüber<br />

der eigenen Geschichte<br />

kann auch eine wichtige präventive<br />

Maßnahme bezüglich psychischer<br />

und psychia trischer Erkrankungen<br />

im Alter sein.<br />

Die eigene Lebensgeschichte ist<br />

aber nicht nur subjektiv in dem Sinne,<br />

dass es nur um die Geschichte<br />

der einzelnen Persönlichkeit geht,<br />

sondern sie ist verwoben in das, was<br />

man die objektiven Strukturen von<br />

Geschichte und Gesellschaft nennt.<br />

Die Person ist Teil dieses Ganzen und<br />

dieses Ganze wirkt auf sie zurück.<br />

Politik, die eine Gestaltungskraft der<br />

Geschichte sein will, bewegt auch<br />

private Lebensläufe und umgekehrt.<br />

Das zeigt das oben angeführte Beispiel<br />

der Wehrmachtsangehörigen.<br />

Das Private ist politisch. Zwar wird<br />

Geschichte auch von Menschen gemacht,<br />

aber sie wird vor allem von<br />

ihnen erlitten. Menschen können


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

von der Geschichte aus der Lebensbahn<br />

geworfen werden. Die Macht<br />

von Gesellschaft und Geschichte ist<br />

mehr <strong>als</strong> die Summe der Intentionen<br />

ihrer Akteure.<br />

Alexander Kluge hat in seinem<br />

neuen Buch Lebensläufe erzählt, die<br />

das Welthistorische im Persönlichen<br />

und Intimen aufscheinen lassen.<br />

Geschichte ist für ihn eine Narration<br />

aus dem Blick von unten. In einem<br />

Spiegel-Interview sagt er dazu: „Nur<br />

die Menschen machen reale Erfahrungen.<br />

Sie erleben Wirklichkeit aus<br />

der Perspektive ihrer Lebensläufe, die<br />

ihre Behausung sind. Gehen ihnen<br />

diese Häuser verloren, kann es ihre<br />

Seele zerreißen.“ Aber bedeutet das,<br />

dass Menschen nur Objekte von Geschichte<br />

sind und keine Subjekte, die<br />

Geschichte machen? Damit hängt<br />

die Frage zusammen: Kann man aus<br />

der Geschichte lernen? „Prognosen<br />

lassen sich nicht ableiten“, antwortet<br />

Kluge, „aber man braucht geschichtliche<br />

Erfahrung, wenn man nach<br />

Auswegen sucht. Dafür muss man<br />

Möglichkeitsformen untersuchen.“<br />

Die Möglichkeit des Krieges muss<br />

man kennen, um ihn zu verhindern.<br />

Da macht die Beschränkung auf die<br />

Aktualität vorzeitig blind. Wenn man<br />

dagegen Möglichkeiten denkt, dann<br />

heißt das, dass man im Licht der Geschichte<br />

und der Zukunft nach Optionen<br />

sucht.<br />

Und auf die Frage, ob Lebenspläne,<br />

die man entwirft, überhaupt je<br />

so aufgehen, antwortet Kluge: „Sie<br />

funktionieren nicht, aber das sollte<br />

uns trotzdem nicht davon abhalten,<br />

welche zu machen.“ Und wie ist es<br />

mit grundlegenden gesellschaftlichen<br />

Veränderungen, die von den<br />

Menschen vorangetrieben werden<br />

könnten? „Es entspricht der Beobachtung“,<br />

so Kluge, „dass die<br />

Menschen sich nicht alles gefallen<br />

lassen. An unerwarteten Stellen, die<br />

man vorher nicht kennt, entfalten sie<br />

ihren Eigensinn. Keine Enttäuschung<br />

braucht den Vorrat an Hoffnung völlig<br />

auf ... Ob es am Ende nutzt oder<br />

nicht ... liegt in den Händen von uns<br />

allen. Der Eigensinn des Menschen<br />

ist verlässlich und unbesiegbar. Er<br />

kehrt immer wieder. Es ist ein Phönix.“<br />

Dass dieser „Phönix“ immer wieder<br />

aus der Asche steigt, dass es nicht<br />

so bleibt, wie es ist, sondern anders<br />

und besser wird, dazu kann die Auseinandersetzung<br />

mit der Biografie<br />

und die Biografiearbeit ein wenig<br />

beitragen.<br />

Prof. Rainer Hirt<br />

FH Jena<br />

Alter und Biografie<br />

Dass ältere Menschen im Zusammenhang<br />

mit der Bedeutung von<br />

Biografie und Biografiearbeit eine<br />

relevante Rolle spielen, liegt daran,<br />

dass sie mit ihrer Erinnerung und<br />

Lebenserfahrung weit in die Vergangenheit<br />

zurückreichen und Geschichte<br />

subjektiv erlebbar machen<br />

können. Nicht alle älteren Menschen<br />

erzählen von Kindheit, Jugend und<br />

früheren Zeiten, aber es verstärkt<br />

sich doch mit zunehmendem Alter<br />

und kommt besonders bei denjenigen<br />

zum Ausdruck, die ihr Leben<br />

lang Erzähler gewesen sind.<br />

Die Tatsache, dass bei vielen älteren<br />

Menschen „im Alter die Kindheit<br />

aufwacht“, wie das H. G. Gadamer<br />

einmal ausgedrückt hat, liegt nicht<br />

nur daran, dass sie auf eine lange<br />

Lebenszeit zurückblicken, sondern<br />

auch daran, dass für sie die Zukunft<br />

nicht mehr unendlich erscheint. Das<br />

Älterwerden bedeutet auch „das<br />

Hinschmelzen der Zukunft“.<br />

Das geht subjektiv mit körperlichen<br />

und psychosozialen Veränderungsprozessen<br />

einher: Der ältere<br />

Mensch beobachtet an seinem Körper<br />

Abbauerscheinungen, die ihm<br />

-4-<br />

unmissverständlich das Altern anzeigen.<br />

Damit verbinden sich in der<br />

RegeI altersgemäße Objektverluste,<br />

die nicht durch neue Objektbeziehungen<br />

kompensiert werden können:<br />

Nahestehende Menschen und<br />

Freunde sterben. So kommt es zu<br />

einem vermehrten Rückzug der Libido<br />

auf das eigene Selbst und einer<br />

Verstärkung des narzisstischen Anteils<br />

der Persönlichkeit im Sinne eines<br />

„tertiären Narzissmus“, wie das<br />

J. Kipp und G. Jüngling formuliert<br />

haben. Das Selbst rückt mehr und<br />

mehr in den Mittelpunkt des älteren<br />

Menschen. Außerdem verändert sich<br />

mit zunehmendem Alter die Wahrnehmung<br />

der Zeit. Bis zum Eintritt in<br />

das mittlere Erwachsenenalter sieht<br />

man zumeist das eigene Leben <strong>als</strong><br />

die Zeit, die seit der Geburt vergangen<br />

ist. Fortan rückt jedoch zunehmend<br />

die Frage in den Vordergrund,<br />

wie viele Jahre noch bis zum Tod zur<br />

Verfügung stehen.<br />

Wenn die Zukunft schwindet, kann<br />

die Vergangenheit <strong>als</strong> etwas erscheinen,<br />

womit es sich zu beschäftigen<br />

lohnt. An die Stelle der Zukunft tritt<br />

vielleicht die Fruchtbarkeit der Vergangenheit<br />

und es ist möglich, dass<br />

eine Art intensive Lebensrückschau<br />

beginnt. „Alte Menschen leben mehr<br />

von der Erinnerung <strong>als</strong> von der Hoffnung,<br />

die ihnen das Leben noch gelassen<br />

hat“, schrieb der griechische<br />

Philosoph Aristoteles. Indem die eigene<br />

Geschichte, die Autobiografie<br />

bedeutungsvoller wird, kann sie<br />

lehrreich für die nachfolgende Generation<br />

werden.<br />

Die Lebensrückschau älterer Menschen<br />

macht es möglich, die „große<br />

Geschichte“ durch das subjektive<br />

Erleben der Zeitzeugen <strong>als</strong> eine<br />

„Geschichte von unten“, <strong>als</strong> eine<br />

Geschichte der „kleinen Leute“ zu<br />

erfahren und damit generell Geschichte<br />

aus einem anderen Blickwinkel<br />

wahrzunehmen. Die Lebensrückschau<br />

macht es aber auch


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

möglich, das Verhältnis zwischen<br />

den Generationen in ein positiveres<br />

Licht zu rücken: Die Alten erzählen<br />

ihre Lebenserfahrungen und erfahren<br />

vielleicht dadurch Genugtuung, dass<br />

die Jungen dieses Wissen für die Zukunft<br />

in ihr Leben integrieren. Dieser<br />

Dialog ermöglicht es, dass der ältere<br />

Mensch in einer Art persönlichkeitsinterner<br />

Auseinandersetzung sich intensiver<br />

mit seinem bisherigen Leben<br />

beschäftigt und subjektive Lern- und<br />

Veränderungsprozesse erfährt. Das<br />

kann dazu führen, dass die Alten so<br />

etwas wie „Altersweisheit“ ausbilden.<br />

Altersweisheit heißt dann aber nicht,<br />

dass man auf alte, überkommene<br />

Lebensklugheiten zurückgreift, sondern<br />

sie wäre in die Materialität und<br />

die reflektierte Widersprüchlichkeit<br />

der eigenen Existenz eingebettet.<br />

Biografisch gesehen kann dieser<br />

Prozess der Aneignung von Lebensgeschichte,<br />

für die ein selbstkritisches,<br />

emotionales Hineinbegeben<br />

in das vergangene Erlebte charakteristisch<br />

ist und mithin auch für ein<br />

lebendiges Erzählen, misslingen.<br />

Von zentraler Bedeutung ist dabei<br />

der Umgang mit Verlusten, der zur<br />

gesamten Lebensgeschichte gehört.<br />

Dieser Umgang wird erworben.<br />

Keiner kann sich den Zeitpunkt seiner<br />

Geburt aussuchen. Dass es bestimmend<br />

für die Lebensgeschichte sein<br />

kann, in welche Zeit man hineingeboren<br />

wurde, zeigen die folgenden<br />

Geschehnisse: Ausgelöst durch den<br />

Ruhestand, Krankheiten oder den<br />

Verlust von Angehörigen suchen<br />

seit einigen Jahren Angehörige der<br />

Vorkriegsgeneration vermehrt die<br />

Hilfe von Therapeuten. Männer und<br />

Frauen dieser Generation kommen<br />

mit Ängsten, Albträumen, aggressiven<br />

Verstimmungen, Schlafstörungen<br />

und Depressionen in die Therapie.<br />

Aufgewachsen im 2. Weltkrieg<br />

bedeutete das für diese Generation:<br />

Bombenangriffe, Evakuierung,<br />

Flucht, Hunger und Armut. Für viele<br />

der damaligen Kinder hieß das,<br />

zäh zu sein, Härte gegen sich selbst,<br />

wenig Rücksichtnahme auf Hunger<br />

und Kälte. Diese Entbehrungen halfen<br />

ihnen dam<strong>als</strong> zu überleben und<br />

prägen bis heute ihre Gefühle. Gefühle<br />

wie Traurigkeit oder Wut waren<br />

ebenso verpönt wie Glück und<br />

Vergnügtheit. Die Botschaft in dieser<br />

Kriegssituation lautete: Nimm dich<br />

nicht so wichtig!<br />

Überhaupt ist die wesentliche<br />

Grundlage dafür, dass man sein<br />

„Leben lebt“ und sich seine Lebensgeschichte<br />

aneignen kann, ob das<br />

Bindungsverhalten und alle damit<br />

verbundenen Gefühle des Menschen<br />

während seiner frühen Kindheit<br />

und Adoleszenz von seinen<br />

Eltern und der unmittelbaren Umgebung<br />

bewertet und beantwortet<br />

wird. Niemand kann sich seine Eltern<br />

und die Umwelt aussuchen und<br />

viele Menschen arbeiten an diesem<br />

Zufall manchmal ein ganzes Leben<br />

lang. Keiner kann damit rechnen, in<br />

eine liebevolle Beziehung hineinzugeraten,<br />

um dadurch eine gesunde<br />

und gerechtfertigte Selbstachtung<br />

auszubilden.<br />

Der Schaden kann lebensgeschichtlich<br />

darin bestehen, dass Menschen,<br />

die im Laufe ihres Lebens einer ganzen<br />

Kette solcher rigiden Zwänge ausgesetzt<br />

waren, zäh, unnachgiebig und<br />

hart gegen sich selbst werden. Sie<br />

können sehr tüchtig sein und allem<br />

Anschein nach auch sehr selbstsicher<br />

auftreten und ohne offene Zeichen<br />

für einen Zusammenbruch durch das<br />

Leben gehen. Die lebensgeschichtlich<br />

eingeübte Verdrängung von Trauer<br />

auf Verluste wird aber erkauft mit einer<br />

Entemotionalisierung der Lebensgeschichte.<br />

Diese Entemotionalisierung<br />

der eigenen Geschichte dient der<br />

Stabilisierung des Selbst in der Gegenwart.<br />

Theodor W. Adorno hat in<br />

diesem Zusammenhang von der „Abwehr<br />

der Intrazeption“ gesprochen,<br />

die Abwehr aller Innerlichkeit.<br />

-5-<br />

Diese Verdrängung von Trauer auf<br />

Verluste und Verschließung des Inneren<br />

tritt nicht nur bei einzelnen<br />

Persönlichkeiten auf, sondern auch<br />

in historischen Auseinandersetzungen<br />

zwischen Nationen wie Wolfgang<br />

Schivelbusch in seinem Aufsatz<br />

„Heuchler und Helden“ herausarbeitet:<br />

Wenn sich eine Nation in einer<br />

kriegerischen Auseinandersetzung<br />

<strong>als</strong> die schwächere, d. h. unfähigere<br />

erweist und verliert, folgt auf die Fassungslosigkeit<br />

im Moment der Niederlage<br />

deren „Verarbeitung“. Eine<br />

Strategie von vielen kann man <strong>als</strong><br />

die der Gesichtswahrung bezeichnen.<br />

Sie soll sicherstellen, dass die<br />

Selbstachtung erhalten bleibt. Der<br />

Ausgangspunkt der Rhetorik der Gesichtswahrung<br />

ist die Überzeugung,<br />

dass man selber eigentlich der bessere<br />

Kämpfer war. Der Vorwurf der<br />

vom Sieger praktizierten Unfairness<br />

ist fester Bestandteil dieser Rhetorik.<br />

Die Geschichte der „Weimarer Republik“<br />

ist von dieser Rhetorik durchzogen,<br />

und die Nazis haben sie für ihre<br />

Barbarei funktionalisiert.<br />

Hartmut Radebold weist darauf hin,<br />

dass das Selbstbild älterer Menschen,<br />

„insbesondere das von Männern, sich<br />

größtenteils auf die Annahme stützt,<br />

das Leben bisher (mehr oder weniger<br />

gut) allein bewältigt zu haben und<br />

durch innere Abschottung, Vermeiden<br />

von Gefühlen sowie durch Zähnezusammenbeißen<br />

auch zukünftig<br />

mit Problemen und persönlichen<br />

Schwierigkeiten zurechtzukommen.“<br />

Annelie Keil spricht in diesem Zusammenhang<br />

in Anlehnung an Erich<br />

Fromm vom „ungelebten Leben“: Das<br />

Ungelebte, das Versäumte, das Verlorene<br />

in der Lebensgeschichte stellt<br />

sich <strong>als</strong> ein nichtgelebtes Leben dar.<br />

Es ist nicht nur Verdrängung, sondern<br />

auch ein Nichtwahrnehmen, eine Art<br />

Nichtgestaltung der eigenen Lebensgeschichte.<br />

Bei „antiintrazeptiven Persönlichkeiten“<br />

steht die Lebensgeschichte wie


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

unter einem Bann, der schwer aufzulösen<br />

ist. Eine Emotionalisierung der<br />

eigenen Biografie, ein Äußern von<br />

lebendiger Erinnerung ist solchen<br />

Menschen kaum noch möglich. AIs<br />

Produzenten lebendiger Lebenserfahrung,<br />

die den Jüngeren bei der<br />

Gestaltung ihrer Zukunft behilflich<br />

sind, stehen sie nicht zur Verfügung.<br />

Noch dramatischer zeigt sich die<br />

Entemotionalisierung der Lebensgeschichte<br />

in Symptomen, die mit psychopathologischen<br />

Zügen des Alters<br />

umschrieben werden. Die meisten<br />

Psychoanalytiker sind sich darin einig,<br />

„dass die Psychopathologie des<br />

Alterns umso gravierender ausfällt,<br />

je weniger es gelungen ist, die früheren<br />

Probleme zu lösen. Je rigider die<br />

Anpassung während der Kindheit,<br />

der Adoleszenz und der Lebensmitte,<br />

umso ernsthafter die Symptome im<br />

Alter.“ Auch Starrheit oder Lebendigkeit<br />

der Erinnerung und ihrer Darstellung<br />

sind eine Konsequenz des<br />

gesamten Lebenslaufs.<br />

Professor Rainer Hirt<br />

FH Jena<br />

Demenz, Lebensverlauf<br />

und Biografiearbeit<br />

-6-<br />

Demenzerkrankungen sind eine der<br />

am häufigsten vorkommenden altersassoziierten<br />

Krankheiten, die für<br />

Betroffene und für pflegende Angehörige<br />

ein gravierendes und für die<br />

Gesellschaft ein bisher nicht gelöstes<br />

Problem darstellen. Im Anfangsstadium<br />

machen sich dementielle<br />

Erkrankungen in der Regel mit Konzentrationsstörungen,<br />

depressiven<br />

Verstimmungen, Antriebsarmut, Erschöpfungszuständen,<br />

Interessenlosigkeit,<br />

diffusen Ängsten und Gefühlen<br />

der Überforderung bemerkbar.<br />

In einem fortschreitenden Stadium<br />

gibt es bei Erkrankten auffällige Gedächtnisstörungen<br />

und eine gestörte<br />

Orientierung in Raum und Zeit. Im<br />

Sozialverhalten äußern sich fortschreitende<br />

Demenzerkrankungen<br />

in einer erhöhten Reizbarkeit, die in<br />

aggressive Ausfälle münden können,<br />

sowie in einer fehlenden Motivation,<br />

sein Leben selbst zu organisieren.<br />

Als Hauptsymptome lassen sich bei<br />

an Demenz erkrankten Menschen<br />

eine Störung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses,<br />

ein genereller Intelligenzschwund<br />

mit kognitiven Ausfallsymptomen<br />

sowie ein Verlust der<br />

Fähigkeit, adäquat zu abstrahieren<br />

und angemessene Urteile zu fällen,<br />

feststellen. In fortgeschrittenen Stadien<br />

kommt es häufig zu Wortfindungsstörungen<br />

und einer Störung des<br />

Erkennens. Häufig besteht die Unfähigkeit,<br />

angefangene Tätigkeiten<br />

zu Ende zu führen. Als begleitende<br />

Phänomene können manifeste depressive<br />

Verstimmungen und Ängste<br />

vor der Zukunft auftreten. Man kann<br />

Apathie, Passivität und eine starke<br />

Verlangsamung beobachten. Häufig<br />

treten physische und psychische<br />

Veränderungen gleichzeitig auf, verbunden<br />

mit manifesten psychischen<br />

Störungen. Typisch ist eine sogenannte<br />

Affektinkontinenz* oder ein<br />

egozentrischer Rückzug. Darüber<br />

hinaus können bei manchen Demenzkranken<br />

Halluzinationen und<br />

Wahnideen entstehen, die sich u. a.<br />

in Bestehlungsideen ausdrücken. Es<br />

besteht eine leichte Reizbarkeit und<br />

ein erhöhtes Aggressionspotential.<br />

Dieser diagnostische und medizinorientierte<br />

defizitäre Beschreibungsansatz<br />

generiert keine ressourcenorientierte<br />

Perspektive und keine<br />

ressourcenorientierte Haltung zum<br />

Demenzerkrankten. Grundsätzlich<br />

gilt aber der ethische Grundsatz,<br />

dass die Würde des Menschen unantastbar<br />

ist. Diese ethische Perspektive<br />

relativiert nichts, und sie<br />

ist durch nichts zu relativieren. Sie<br />

betrachtet den Menschen in seiner<br />

Existenz, zumal sich das Menschsein<br />

im 21. Jahrhundert nicht mehr im<br />

Descartschen Paradigma des Cogito<br />

ergo sum definiert, sondern ganzheitlich<br />

und neuere Forschungen<br />

nachweisen, dass emotionale Prozesse<br />

viel stärker unser Handeln und<br />

unsere Handlungsmotive bestimmen<br />

<strong>als</strong> vernunftgeleitete. Demenzerkrankte<br />

besitzen starke Emotionen.<br />

Sie können auf vielfältige Weise,<br />

über Mimik und Gestik, über Verhalten,<br />

über ihre Körpersprache kommunizieren<br />

und Zufriedenheit oder


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

Unzufriedenheit ausdrücken. Sie<br />

haben ein internalisiertes** reiches<br />

biografisches Potential, das<br />

sich in ihrem Verhalten manifestiert.<br />

Sie besitzen differenzierte<br />

nichtsprachliche biografische<br />

Erinnerungen, die über ihre<br />

Sinnesorgane aktualisiert werden.<br />

Sie haben Grundbedürfnisse<br />

und vitale Lebensenergie.<br />

Eine Anekdote kann diese ressourcenorientierte<br />

Perspektive<br />

verdeutlichen: Kinder einer<br />

Schulklasse wurden nach den<br />

7 Weltwundern gefragt und die<br />

Vernunftperspektive der Lehrer<br />

und Institution Schule rekurrierte<br />

auf die neuzeitliche Antwort,<br />

dass die Pyramiden von Gize,<br />

das Taj Mahal, der Grand-Can-<br />

Computer-Tomographie (1995)<br />

Durchleuchtete man das Gedächtnis –<br />

Wir wüssten genauer, was uns beengt.<br />

Nur meßbar würden Bilder nie.<br />

Zeiten schöben sich ineinander,<br />

darüber, was wir vergaßen<br />

oder verdrängten und was uns<br />

vorgaugelte die Phantasie.<br />

In dieser Landschaft blieben wir fremd<br />

bis wir den Mut fänden zu uns selbst<br />

und uns wiederbegegneten <strong>als</strong> Kind.<br />

Klaus Steinhaußen<br />

* Affektinkontinenz = Unfähigkeit, Emotionsausbrüche<br />

zu kontrollieren<br />

** internalisieren = verinnerlichen<br />

yon-Nationalpark, der Panamakanal,<br />

das Empire State Building,<br />

der Petersdom im Vatikan und die<br />

Chinesische Mauer diese Weltwunder<br />

seien. Ein Mädchen benötigte<br />

länger <strong>als</strong> die anderen.<br />

Gefragt, warum sie nicht zum<br />

Ende komme, antwortete sie, dass<br />

eine Entscheidung so schwer sei,<br />

weil es so viele Wunder gäbe. Auf<br />

ihrem Blatt stand später, dass für<br />

sie das Sehen, das Hören, das<br />

Sich-Berühren, das Riechen,<br />

das Fühlen, das Lachen und die<br />

Liebe ihre Weltwunder wären. Man<br />

kann unterstellen, dass Demenzerkrankte<br />

diese Perspektive, die<br />

sich auf die existentiellen und hoch<br />

bedeutsamen Grundbedürfnisse<br />

des Menschens bezieht, teilen.<br />

Fotos: Die „Wunder“ der Wahrnehmung und des Gefühls<br />

-7-


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

Lebensverlauf und seine Manifestation<br />

beim Demenzerkrankten<br />

Ungeachtet dieser ressourcenorientierten<br />

Perspektive ist Demenz eine<br />

degenerative Gehirnerkrankung,<br />

deren genauen Ursachen nach wie<br />

vor unbekannt sind und die im Verlauf<br />

voranschreitet. Als häufigste<br />

Ursache von Demenz wird heute<br />

die Alzheimer-Krankheit angesehen.<br />

Bei der Alzheimer-Krankheit verlieren<br />

die Nervenzellen im Gehirn ihre<br />

enge Verknüpfung miteinander. Im<br />

Verlauf der Erkrankung kommt es<br />

zu einem Verlust der Nervenzellen<br />

und dadurch zu einer fortschreitenden<br />

Beeinträchtigung der Hirn- und<br />

Gedächtnisleistung. Wie es dazu<br />

kommt, ist noch immer nicht vollständig<br />

geklärt. Man weiß jedoch,<br />

dass sich im Prozess der Krankheit<br />

immer mehr Eiweiß-Spaltprodukte<br />

im Gehirn ablagern. Sie behindern<br />

die Reizübertragung zwischen den<br />

Nervenzellen, die für Lernprozesse,<br />

Orientierung und Gedächtnisleistungen<br />

unerlässlich ist.<br />

Auch Durchblutungsstörungen können<br />

zu Veränderungen der Hirnsubstanz<br />

und -funktion führen. Bei dieser<br />

sogenannten vaskulären Demenz<br />

verschlechtern sich einzelne Gehirnleistungen<br />

oft schlagartig, und es<br />

treten Zeichen eines Schlaganfalls<br />

wie Sprachstörungen auf.<br />

Stoffwechselstörungen wie ein Mangel<br />

an Vitamin B12 oder Schilddrüsenerkrankungen,<br />

chronische<br />

Vergiftungen (Alkoholismus), raumfordernde<br />

Prozesse im Gehirn (Gehirntumore)<br />

sowie Infektionen des<br />

Gehirns können ebenfalls zu einer<br />

Demenz führen. In vielen Fällen gibt<br />

es mehrere gleichzeitig wirkende Ursachen,<br />

die eine Demenzerkrankung<br />

hervorrufen. So führen im Alter überdurchschnittlich<br />

häufig auftretende<br />

Krankheiten wie erhöhter Blutdruck<br />

oder Diabetes mellitus zu einer Verschlechterung<br />

einer bestehenden<br />

Demenz, beziehungsweise rufen<br />

diese durch Hirngefäßschädigungen<br />

mit hervor. Auch Niereninsuffizienz<br />

und Adipositas scheinen Demenzerkrankungen<br />

zu begünstigen.<br />

Hauptrisikofaktor für eine Demenz<br />

ist das hohe Lebensalter. Während<br />

Demenzerkrankungen bei 60-Jährigen<br />

noch sehr gering sind, steigt die<br />

Prävalenzrate bei über 80-Jährigen<br />

sehr stark an. Der Alzheimerforscher<br />

Konrad Beyreuther ist sogar der Auffassung,<br />

dass die Alzheimer-Demenz<br />

Menschen im hohen Alter immer<br />

begleiten wird (Gehirn & Geist,<br />

5/2012, S. 67).<br />

Als weitere Risikofaktoren gelten Depressionen<br />

und früher erlittene Schädelhirnverletzungen.<br />

Zudem verweist<br />

die Forschung auch auf eine genetische<br />

Disposition.<br />

Noch nicht ausreichend geklärt ist<br />

die Rolle von Umwelteinflüssen. Da<br />

man aber weiß, dass Gehirnentwicklungen<br />

im Zusammenhang mit<br />

Körpererfahrungen stehen, erscheint<br />

es plausibel, dass Bewegungsmangel,<br />

Ernährungsweise und risikobelastetes<br />

Konsumverhalten mit Bezug<br />

auf Alkohol und andere Drogen<br />

Einfluss auf die Gehirnentwicklung<br />

und die psychische Disposition im<br />

Alter haben. Als gesichert gilt, dass<br />

Menschen mit einem höheren Schulund<br />

Ausbildungsgrad ein vermutlich<br />

niedrigeres Erkrankungsrisiko an<br />

Demenz haben, wobei man unterstellen<br />

muss, dass Kompensationsmechanismen<br />

besser aktualisiert<br />

werden können, die Gehirntätigkeit<br />

im Lebensverlauf aktiver war<br />

und risikobelastetes Verhalten bei<br />

Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen<br />

seltener ist. Als gesichert<br />

gilt auch, dass die Ernährungsweise<br />

Einfluss auf die Gehirnentwicklung<br />

und die psychische Gesundheit hat.<br />

Neuere Studien belegen zudem den<br />

Einfluss von Stress auf neurologische<br />

Prozesse. In Versuchen konnte<br />

man belegen, dass bei stressausgesetzten<br />

Tieren die Kommunikation<br />

-8-<br />

gestört wird und dass unter Stressbedingungen<br />

aufwachsende Affen<br />

deutlich weniger Synapsen, dafür<br />

mehr Plaques ausbilden <strong>als</strong> Tiere in<br />

normalem Umfeld. Zwar kann man<br />

die Reaktion von Tieren auf den<br />

Menschen nicht übertragen, dennoch<br />

gehen Wissenschaftler davon<br />

aus, dass Stress unter bestimmten<br />

Umständen bleibenden Eindruck im<br />

Gehirn hinterlassen kann und den<br />

Ausbruch von Gehirnkrankheiten<br />

wie Alzheimer begünstigt (vgl. Mossop,<br />

Brian; Angespanntes Gedächtnis,<br />

in: Gehirn & Geist, 5/2012,<br />

S. 73 f.).<br />

Elisabeth Höwler: Biografie und Demenz.<br />

Grundlagen und Konsequenzen im Umgang<br />

mit herausforderndem Verhalten, Verlag<br />

W. Kohlhammer 2011.<br />

Neue Forschungen wie die Studie<br />

von Elisabeth Höwler Biografie<br />

und Demenz weisen mit Bezug auf<br />

den hier besprochenen Gegenstand<br />

auf vier Sachverhalte:<br />

Erstens: Es scheint einen Zusammenhang<br />

zwischen Lebensverlauf<br />

und Demenzerkrankung zu geben.<br />

Zweitens: Die Verhaltensäußerungen<br />

des Demenzerkrankten lassen<br />

Rückschlüsse auf lebensbiografische<br />

Verhaltens- und Einstellungsmuster<br />

erkennen.<br />

Drittens: Biografische Kenntnisse von<br />

Pflegepersonen sind notwendig, um


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

einen adäquaten Umgang mit dem<br />

Demenzerkrankten zu entwickeln.<br />

Und Viertens: Biografiearbeit mit<br />

Demenzerkrankten kann deren Lebenszufriedenheit<br />

erhöhen. Sie sollte<br />

integraler Bestandteil der Betreuungs-<br />

und therapeutischen Arbeit mit<br />

Demenzerkrankten sein.<br />

Elisabeth Höwler verweist dabei auf<br />

Forschungsarbeiten, die den Einfluss<br />

der sozialen Biografie auf das Verhalten<br />

der Betroffenen nachweisen.<br />

Solche Studien kommen zu dem Ergebnis,<br />

dass die soziale Biografie einen<br />

großen Einfluss auf das aktuelle<br />

Wirklichkeitserleben von Erkrankten<br />

hat. Dieses Verhalten wird stark vom<br />

Gefühl der Vertrautheit bestimmt. So<br />

wollen insbesondere im Pflegeheim<br />

lebende, ehemalige Hausfrauen<br />

ständig nach Hause gehen, um für<br />

ihre Familie zu sorgen. Für eine dementiell<br />

erkrankte Hausfrau sei die<br />

Situation im Pflegeheim deshalb so<br />

problematisch, weil sie genau diese<br />

Vertrautheitserfahrung vermisst. Ordensfrauen<br />

hingegen würden das<br />

Leben im Heim <strong>als</strong> normal empfinden,<br />

da sie im Lebens- und Alltagsrhythmus<br />

an das frühere Klosterleben<br />

erinnert seien (vgl. S. 25).<br />

Dabei geht es Höwler primär um die<br />

Fragestellung, wie sich herausforderndes<br />

und aggressives Verhalten<br />

mit Bezug auf einen biografischen<br />

Kontext erklären lässt. Sie untersucht<br />

Biografien von in Pflegeheimen lebenden<br />

Demenzerkrankten und geht<br />

davon aus, dass die eigene Biografie<br />

für den Demenzerkrankten ein<br />

sozialweltliches Orientierungsmuster<br />

darstellt. Dabei wirken vor allem<br />

zeitliche Strukturen der Biografie,<br />

insbesondere die Strukturierung der<br />

Biografie durch das Erwerbsleben<br />

bis zum Verlust des Gedächtnisses<br />

identitäts- und persönlichkeitsprägend.<br />

Vertraute Erfahrungen, wie<br />

sie in der jahrzehntelang bewohnten<br />

Wohnung oder in einem bestimmten<br />

sozialen Umfeld gemacht<br />

wurden, sind bei den Handlungen<br />

Demenz erkrankter genauso spürbar<br />

wie in einem langen Leben gemachte<br />

sensorische Empfindungen.<br />

Demenz erkrankte Menschen, deren<br />

präfrontaler Cortex stark geschädigt<br />

ist, nehmen Gerüche, Atmosphären,<br />

Bilder, Stimmungen wahr und können<br />

diese Empfindungen intuitiv lebensbiografisch<br />

kontextualisieren.<br />

Gravierende Auswirkungen auf das<br />

Verhalten von Demenzerkrankten<br />

haben insbesondere kritische Lebensereignisse,<br />

traumatische Erfahrungen<br />

und posttraumatische Belastungsstörungen.<br />

Lebenskritische<br />

Ereignisse und wie sie bewältigt wurden,<br />

haben einen Einfluss darauf,<br />

wie ein Mensch mit Verlusten im Alter<br />

umgeht, wie er diese verarbeiten und<br />

kompensieren kann. Dabei hinterlassen<br />

<strong>als</strong> schwere Krisen wahrgenommene<br />

Ereignisse oder traumatische<br />

Belastungen und Belastungsstörungen<br />

eine neuronale Repräsentation,<br />

die, werden sie nicht adäquat bearbeitet,<br />

noch bei Hochaltrigen und<br />

Demenzerkrankten Leidbewusstsein,<br />

Alpträume, abwehrendes, aggressives,<br />

angstgesteuertes oder anderweitig<br />

auffälliges Verhalten erzeugen.<br />

Kriegserlebnisse, Unfälle, der<br />

Tod von nahen Angehörigen, Fluchterfahrungen,<br />

Misshandlungen, andauernde<br />

häusliche Gewalt, Gefangenschaft,<br />

Erdbeben oder andere<br />

Naturkatastrophen offenbaren ihre<br />

psychische Wirkung oft Jahrzehnte<br />

später. Sie können dazu führen, dass<br />

solche Ereignisse in Form fragmentierter<br />

Erinnerungssequenzen selbst<br />

und gerade bei Demenzerkrankten,<br />

denen Rationalisierungskompetenz<br />

fehlt, sich emotional und sensorisch<br />

ausdrücken und das Alltagserleben<br />

und Ausdrucksverhalten des Erkrankten<br />

bestimmen. Während Gesunde<br />

eine rationale Distanz zur Vergangenheit<br />

aufbauen können, sind<br />

Demenzerkrankte kaum in der Lage,<br />

biografische Kohärenz und Kontrolle<br />

-9-<br />

über Lebensereignisse herzustellen.<br />

Sie reflektieren eher auf einer emotionalen<br />

Ebene, bruchstück- und<br />

episodenhaft. Angst, Scham, Ekel,<br />

Schuldgefühle, Wut, Trauer, Ärger,<br />

Reizbarkeit und Aggressionen sind<br />

Äußerungsformen, deren Wurzeln<br />

diffus bleiben, die ihren Grund aber<br />

auch in solchen Erlebnissen haben<br />

können.<br />

Solche Erkenntnisse resultieren<br />

u. a. aus Studien, wie sie Hartmut<br />

Radebold durchführte. Radebold<br />

untersuchte Geburtsjahrgänge von<br />

1930-1945, die <strong>als</strong> Kinder den<br />

Zweiten Weltkrieg in verschiedener<br />

Form durchlebten. Er konnte nachweisen,<br />

dass traumatische Ereignisse<br />

wie Krieg, Flucht, Vertreibung noch<br />

im hohen Alter auf die seelische<br />

Gesundheit einwirken können. Die<br />

Zeitlosigkeit des Unbewussten und<br />

des Wirkens von Konflikten bedingt,<br />

dass Konflikte, traumatische und<br />

schwierige Erfahrungen auch nach<br />

dem 60. Lebensjahr und selbst bei<br />

Demenzerkrankten noch in voller Intensität<br />

erlebt werden (vgl. Radebold,<br />

Hartmut, Brauchen wir eine psychodynamische<br />

Sicht des Alterns?, in:<br />

Zwischen Abschied und Neubeginn,<br />

2002, S. 107). Biografische Untersuchungen<br />

zeigen laut Höwler, was<br />

Rainer Hirt in einem seiner letzten<br />

Beiträge im <strong>Seniorenreport</strong> bereits<br />

<strong>als</strong> These formuliert hatte, dass weniger<br />

bestimmte Ereignisse für die<br />

weitere Entwicklung eines Menschen<br />

entscheidend sind, sondern deren<br />

kognitive* Repräsentanz sowie die<br />

Formen der Auseinandersetzung mit<br />

dem traumatischen Ereignis (vgl.<br />

Höwler, S. 41). D. h., der Umgang<br />

mit lebensbiografischen Ereignissen<br />

hat nicht nur Auswirkungen auf das<br />

aktuelle Verhalten und Bewältigungsstrategien<br />

von Demenzerkrankten,<br />

sondern sie wirken auf die psychische<br />

Gesundheit im Alter sowie auf<br />

die Entwicklung und Ausbildung von<br />

psychischen Erkrankungen wie De-


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

menzen und Depressionen. Sie sind<br />

für diese gleichermaßen konstitutiv<br />

wie genetische, altersbedingte u. a.<br />

Faktoren, die Demenzen und andere<br />

psychische Erkrankungen im Alter<br />

hervorrufen können. So konnte eine<br />

Studie nachweisen, dass Extrembelastungen<br />

während des Zweiten<br />

Weltkrieges ein signifikanter Vulnerabilitätsfaktor**<br />

für Angststörungen<br />

im Alter waren.<br />

Höwlers Arbeit gibt einen ausgezeichneten<br />

Überblick über den<br />

Forschungsstand. Sie stellt in eindrucksvoller<br />

Breite Studien vor, die<br />

in den Zusammenhang mit eigenen<br />

Forschungsansätzen gestellt werden.<br />

In biografisch-narrativen Interviews<br />

kann sie nachweisen, dass lebensbiografisch<br />

lang zurückliegende<br />

Ereignisse bei Demenzerkrankten<br />

aktualisiert werden, eine aktuelle Relevanz<br />

besitzen und sich in besonders<br />

herausforderndem und aggressivem<br />

Verhalten manifestieren können.<br />

* kognitiv = verstandesmäßig; das Wahrnehmen,<br />

Denken und Erkennen betreffend<br />

** Vulnerabilität = Verwundbarkeit, Verletzbarkeit<br />

Biografiearbeit mit Demenzerkrankten<br />

Der Ansatz, Biografiearbeit mit Demenzerkrankten<br />

zu forcieren, beruht<br />

auf der Erkenntnis, dass sich ein bestimmtes<br />

Verhalten eines Demenzerkrankten<br />

nicht nur reaktiv und aus<br />

der aktuellen Erlebniswirklichkeit<br />

erklärt, sondern einen biografischen<br />

Hintergrund hat.<br />

Die Vorstellung, eine auf reflektierter<br />

Erinnerung basierte Biografiearbeit<br />

mit Demenzerkrankten leisten zu<br />

können, erscheint abwegig, weil dieses<br />

reflektierende Bewusstsein eben<br />

nicht mehr vorhanden ist. Biografiearbeit,<br />

und das ist der Unterschied<br />

zur Biografiearbeit mit anderen Alterskohorten,<br />

ist aber bei Demenzerkrankten<br />

nicht auf reflektierende<br />

und damit konfliktlösende Vergangenheitsbewältigung<br />

orientiert oder,<br />

wie Sabine Sautter u. a. (vgl. Sauter,<br />

Sabine u. a., Leben erinnern, 2004,<br />

S. 15) annehmen, auf ein strukturiertes,<br />

angeleitetes Erinnern oder<br />

ein gründliches Betrachten, vertieftes<br />

Verstehen und ein bewusstes Gestalten<br />

des eigenen Lebensweges, wie<br />

Bettina Lindmeier es reklamiert (vgl.<br />

Lindmeier, Bettina, Biografieorientierung<br />

… in: Biografiearbeit mit geistig<br />

behinderten Menschen, 2004,<br />

S. 10), sondern der Versuch, Mensch-<br />

Sein <strong>als</strong> Körper, Geist und Seele in<br />

den individuellen, gesellschaftlichen<br />

und tiefenpsychologischen Dimensionen<br />

wahrzunehmen, wie das<br />

Hans Georg Ruhe in seinem Buch<br />

über Methoden der Biografiearbeit<br />

beschreibt (siehe ebenda 1998,<br />

S. 134). Biografien beinhalten nicht<br />

nur kognitive, sondern immer auch<br />

emotionale, psychische und körperliche<br />

Dimensionen, die in der Biografiearbeit<br />

mit Demenzerkrankten<br />

viel stärker aktualisiert werden <strong>als</strong><br />

bei Menschen ohne Beeinträchtigungen<br />

des Denkens. Insofern geht<br />

es in der Biografiearbeit mit Demenzerkrankten<br />

nicht um Rekonstruktion<br />

der Vergangenheit, um reflektierte<br />

Verarbeitung des Gewesenen oder<br />

Aufarbeitung von Konflikten, sondern<br />

um das Herstellen einer identitätsstiftenden<br />

Lebensatmosphäre,<br />

die Lebensbiografisches in den Alltag<br />

von Demenzerkrankten integriert.<br />

Elisabeth Höwler verweist in diesem<br />

Zusammenhang auf Verschiedenes:<br />

Es geht ihr nicht nur um eine Biografiearbeit,<br />

die in einem definierten<br />

Setting <strong>als</strong> intentionaler Teil der therapeutischen<br />

und Betreuungsarbeit<br />

stattfindet, sondern um einen ganzheitlichen<br />

Ansatz in der Pflege und<br />

Betreuung von Demenzerkrankten:<br />

- Pflegende müssen ganz generell<br />

biografisches Wissen über die Person<br />

haben, die sie pflegen, um<br />

Gesten, Verhalten, Äußerungen,<br />

aggressive Verhaltensweisen ad-<br />

-10-<br />

äquat verstehen und angemessen<br />

reagieren zu können. Dabei geht<br />

es nicht um die grobe Kenntnis<br />

verschiedener Lebensstationen<br />

des Erkrankten, sondern um eine<br />

Anam nese, die den Lebensverlauf<br />

im Kontext der Erkrankung und<br />

eines krankheitsbedingten Verhaltens<br />

sieht. Das schließt Wissen<br />

über kritische Lebensphasen und<br />

traumatische Erlebnisse mit ein.<br />

- Die lebensbiografischen Ressourcen<br />

eines Demenzerkrankten sollten<br />

ganz generell im Mittelpunkt der<br />

therapeutischen und betreuerischen<br />

Tätigkeit stehen. Dabei geht es um<br />

eine biografische Gesamtsicht und<br />

Kenntnisse über den Lebensverlauf<br />

des Erkrankten, gleichermaßen<br />

aber auch um eine hermeneutische**<br />

Perspektive auf Gesten, Mimik,<br />

Stimmklang, Verhaltensweisen<br />

des Erkrankten, die einen biografischen<br />

Kontext vermuten lassen.<br />

Es sei leichter, so merkt Elisabeth<br />

Höwler an, herausfordernde demenzerkrankte<br />

Personen mit Psychopharmaka<br />

oder durch Fixierung<br />

ruhigzustellen, <strong>als</strong> eine biografische<br />

Perspektive einzunehmen, die herausforderndes<br />

Verhalten zu erklären<br />

versucht, um entsprechende pflegerische<br />

und auf Interaktion gerichtete<br />

Haltung zu generieren. Dabei geht<br />

es nicht nur um eine spontane und<br />

intuitive Interaktion oder um eine<br />

auf körperliche Grundbedürfnisse<br />

gerichtete Pflege, sondern um<br />

flexible interaktive Strategien und<br />

kommunikative Grundhaltungen<br />

der Empathie, Wertschätzung und<br />

Ressourcenorientierung. Das setzt<br />

voraus, dass Pflegeleitbilder eine<br />

biografische Perspektive integrieren<br />

(vgl. ebenda S. 167, S. 173). Die<br />

Pflegeziele dürfen nicht nur eine somatische<br />

(körperliche) Dimension<br />

bedienen, sondern müssen auch<br />

abgeleitet werden aus einer biografischen<br />

Perspektive, besonders<br />

dann, wenn aggressive oder ander-


Theorie<br />

Biografiearbeit<br />

weitig auffällige Verhaltensweisen<br />

eines Demenzerkrankten schwierige<br />

Lebensereignisse oder traumatische<br />

Erlebnisse vermuten lassen.<br />

- In Pflegeeinrichtungen ist die Tagesstruktur,<br />

soweit sich das logistisch<br />

steuern lässt, an Lebensgewohnheiten<br />

und an Biografien der<br />

Erkrankten auszurichten, weil desorientierte<br />

Menschen sich leichter<br />

zurechtfinden, wenn sie den<br />

Gewohnheiten entsprechen, die<br />

biografisch eingeübt sind (ebenda<br />

S. 169).<br />

- Im Umgang mit Demenzerkrankten<br />

sind Vertrautheit und Sicherheit<br />

zu fördern. Vertrautheit und<br />

Sicherheit kann für Demenzerkrankte<br />

vielfältig hergestellt werden<br />

über Gegenstände aus dem<br />

vertrauten Umfeld des Erkrankten<br />

und über Rituale, über eine<br />

wertschätzende und ressourcenorientierte<br />

Kommunikation, über<br />

betreuerische Maßnahmen wie<br />

dem Singen von Liedern, dem Anschauen<br />

von Büchern und Bildern<br />

oder dem Vorlesen von Märchen.<br />

- Angehörige sind aktiv in eine biografieorientierte<br />

Pflege und Betreuung<br />

einzubeziehen. Sie waren<br />

die oft langjährigen Bezugspersonen<br />

von Demenzerkrankten, sie<br />

kennen nicht nur Gewohnheiten,<br />

Rituale und Verhaltensweisen, sie<br />

werden von Demenzerkrankten,<br />

selbst wenn die namentliche Zuordnung<br />

nicht mehr erfolgt, intuitiv<br />

über Sprachmelodie, Bewegungsabläufe,<br />

ritualisierte Handlungen,<br />

Wortformeln, Gesten und Mimik<br />

identifiziert. Sie erzeugen eine an<br />

der Biografie der Erkrankten orientierte<br />

Vertrautheit und Zufriedenheit.<br />

Einen besonderen Ansatz der Biografiearbeit<br />

mit Demenzerkrankten hat<br />

Mandy Giruc in ihrem Buch Tiere,<br />

mit denen wir lebten entwickelt.<br />

Sie geht von dem plausiblen Ansatz<br />

Mandy Giruc; Tiere, mit denen wir lebten.<br />

Tiergestützte Biografiearbeit mit Demenzerkrankten,<br />

Schlütersche Verlagsgesellschaft<br />

2011.<br />

-11-<br />

aus, dass biografische Identität nicht<br />

nur über vertraute Personen, mit denen<br />

man längere Lebensabschnitte<br />

verbracht hat, erzeugt wird, sondern<br />

auch über Tiere hergestellt werden<br />

kann, die in den Haushalten von<br />

Demenzerkrankten lebten. Dabei<br />

erscheint es weniger wichtig, dass<br />

das lebensbiografisch situierte Tier<br />

vorhanden ist, sondern es wird unterstellt,<br />

wenn Menschen mit Tieren<br />

in wichtigen und längeren Phasen<br />

des Lebens zusammenlebten, dass<br />

ein emotionaler Bezug zu Tieren<br />

lebenslang erhalten bleibt, der bei<br />

einem Demenzerkrankten positive<br />

Emotionen erzeugt und einen lebensbiografischen<br />

Bezug herstellen<br />

kann. Sie versteht unter tiergestützter<br />

Biografiearbeit einen zielgerichteten<br />

und aktiven Gestaltungsprozess, der<br />

sich Tiere <strong>als</strong> Quelle bedient, um<br />

eine Identitätsfindung zu begünstigen<br />

(ebenda S. 27). Sie setzt ein<br />

klienten orientiertes Pflegekonzept<br />

voraus, das sich bei geplanten Aktivitäten<br />

sowie bei gezielten pädagogischen<br />

und therapeutischen Interventionen<br />

auf Tiere stützt. Dabei geht es<br />

ihr nicht um Aktivitäten in Form des<br />

Aufsuchens von Tieren oder um die<br />

alleinige Präsenz von Tieren in Pflegeheimen,<br />

sondern um einen gezielten<br />

Ansatz der Biografiearbeit, mit<br />

dessen Hilfe der Demenzerkrankte in<br />

die eigene Vergangenheit blickt und<br />

Erfahrungen in der eigenen Tierhaltung<br />

und -pflege aktualisiert. Durch<br />

die vielfältigen Wirkungen des Umgangs<br />

mit Tieren auf die Sinne, das<br />

Denken und die Emotionen erhofft<br />

sie sich Anregung, Ablenkung von<br />

den Mühen des Alltags sowie eine<br />

Stärkung der eigenen Identität (vgl.<br />

ebenda S. 31). Sie verdeutlicht ihren<br />

Ansatz an der Arbeit mit Hühnern,<br />

Ziegen, Schweinen, Schafen, Hunden,<br />

Kaninchen, Pferden und Katzen<br />

und beschreibt dabei Settings, wie<br />

diese Arbeit möglich ist und welche<br />

Voraussetzungen Einrichtungen sowie<br />

Pflege- und Betreuungspersonal<br />

mitbringen müssen. Mandy Girucs<br />

Arbeit ist ein auf praktische Umsetzung<br />

orientiertes Anleitungsbuch,<br />

wie tiergestützte Biografiearbeit zu<br />

planen, zu organisieren und durchzuführen<br />

ist.<br />

Dr. Jan Steinhaußen<br />

* hermeneutisch = erklärend, deutend, interpretierend


Die Macht der Erinnerung<br />

Last der Vergangenheit<br />

Von Phantasien und Träumen eingewickelt<br />

Schlürft er vom Arbeitszimmer in das Bad.<br />

Wenn in ihm die Sehnsucht nach was Neuem prickelt,<br />

hat er das Ewigkreisen um das Alte satt.<br />

Er blickt verzweifelt auf die vielen Dinge,<br />

die einst in seinem Leben wichtig waren:<br />

Die Bücher, Dokumente, Bilder, Treueringe <br />

Sie wurden schwer und bleiern in den Jahren<br />

Er zieht in seinem Zimmer viele Runden<br />

Und wünscht sich wirklich eine andere Welt;<br />

Nur ist er an das ganze Hier gebunden,<br />

das eigentlich am Ende nichts mehr zählt.<br />

Warum nicht diese ganze Last vernichten?<br />

Ein bißchen Mut dazu, den braucht er schon.<br />

Dann würden endlich Berge Mists sich lichten <br />

So einfach aber kommt er nicht davon:<br />

Er macht die Probe aufs Exempel …<br />

Die Erinnerungen lassen ihn nicht los;<br />

Er hängt an diesem ganzen alten Krempel.<br />

Der Schmerz, vom Alten sich zu trennen, wär zu groß.<br />

Ein Erinnerungsrundgang durch die<br />

Wohnung<br />

Menschen umgeben sich mit vielfältigen Erinnerungsgegenständen,<br />

hier Rainer Hirts „Erinnerungswand“<br />

und Bibliothekszimmer. Bilder, Fotografien, mitgebrachte<br />

Urlaubsgegenstände, Plastiken, Bücher, alte<br />

Möbel und Wohnungsinventar, alte Lampen – vieles<br />

von dem hat keine konkrete Zweckbestimmung. Sie<br />

haben einen Erinnerungswert und geben jeder Wohnungen<br />

einen authentischen und einmaligen biografischen<br />

Charakter. Ihre Funktion besteht u. a. darin,<br />

der „Monotonisierung der Welt“ (Stefan Zweig) das<br />

Individuelle entgegenzusetzen. Die Wohnung mit ihren<br />

sichtbaren Erinnerungsgegenständen ist der Ort<br />

der Identität und Selbstvergewisserung. Erinnerungslose<br />

Orte sind tote Orte, Orte, an denen sich Menschen<br />

auf Dauer nicht wohlfühlen.<br />

In der Biografiearbeit mit älteren und hochaltrigen<br />

Menschen werden alte Fotos und Fotoalben, alte<br />

Post- und Landkarten, Zeitschriften, Bücher, die inzwischen<br />

verstaubten und <strong>als</strong> Kitsch empfunden Urlaubsmitbringsel<br />

vergangener Jahrzehnte häufig verwendet.<br />

Sie verdichten die Erinnerung auf das, was für<br />

Menschen wertvoll war und was sie <strong>als</strong> aufhebenswert<br />

empfunden haben. JS<br />

Dann läßt er die Totalvernichtung sein.<br />

Ihm laufen Tränen über seine eingefallnen Wangen.<br />

Er nimmt den alten Sitz im Leben wieder ein<br />

Und ist am Ende hoffnungslos in ihm gefangen.<br />

Rainer Hirt, 2010<br />

-12-


Projekte<br />

Erzählcafé<br />

Lebensgeschichte bewahren<br />

Das Erzählcafé: Geschichte,<br />

Erinnern, Erzählen<br />

Das Erzählcafé ist ohne einen anderen<br />

Blick in die Ge schichte nicht zu<br />

verstehen. Die „oral history“ hat diesen<br />

anderen Blick auf die Geschichte.<br />

In ihr werden die Vergangenheit in<br />

ihrer alltäglichen Dimension und die<br />

mündlichen Quellen wichtig; sie werden<br />

nicht mehr ausgespart. Für die<br />

Geschichtsschreibung und -forschung<br />

bedeutet das, dass z. B. die Geschichte<br />

der Familie, der Jugend, der Kindheit,<br />

des Verkehrs, der Umwelt usw. aufgearbeitet<br />

und in Bezug zu Analysen der<br />

Gegenwart gesetzt wird. Dieser neue<br />

Ansatz von Historie lässt sich mit den<br />

klassischen Fächergrenzen schlecht<br />

verein baren. Die neuen Themen, Methoden<br />

und Ziele von Alltagsgeschichte<br />

bringen auch die Grenzen zwischen<br />

Wissen schaft, Bildung, Kultur und Sozialer<br />

Arbeit zum Fließen und bilden<br />

ein breites Spektrum von Projekten, die<br />

sich den unterschiedlichsten Spielarten<br />

von Biografie und Biografiearbeit verschrieben<br />

haben. Eine Spielart davon<br />

ist das Erzählcafé.<br />

Die Idee des „Erzählcafés“ kommt aus<br />

den USA, genauer aus New Orleans.<br />

Als C. W. Müller, dam<strong>als</strong> noch Professor<br />

am Sozialpädagogischen Institut<br />

der Technischen Universi tät Berlin, in<br />

den 1970er Jahren für längere Zeit in<br />

den USA weilte, entdeckte er in New<br />

Orleans die sog. „Revi val Hall“: Eine<br />

Einrichtung, eine Kneipe eigentlich, in<br />

der sich einmal wöchentlich die Veteranen<br />

des Südstaaten-Jazz trafen, die<br />

nicht nur Musik machten, sondern<br />

auch die Geschichten der alten Jazzer,<br />

ihre Anfänge und die Geschichte des<br />

Südstaaten-Jazz erzählten. C. W. Müller<br />

brachte diese Idee mit nach Westberlin<br />

und so wurde das Erzählcafé in der Bundesrepublik<br />

geboren. Seit 1987 gibt es<br />

das Erzählcafé in Westberlin, das das<br />

kulturelle Leben der Stadt bereichert.<br />

Eine erste, sehr lebendige Erzählrunde<br />

zum Thema jugoslawische Frauen<br />

in Berlin-Wedding versuchte, sich der<br />

Geschichte der Stadt Berlin über persönliche<br />

Geschichten der Menschen zu<br />

nähern.<br />

Das Erzählcafé soll ein öffentliches Forum,<br />

ein Treffpunkt der Generationen<br />

sein. Man kommt regelmäßig zum Zwecke<br />

des Erzählens zusammen. Die Themen<br />

sind vorbereitet, und vornehmlich<br />

ältere Menschen werden eingeladen.<br />

In der Atmosphäre eines Kaffeehauses<br />

beginnen sie zu erzählen. Sie erzählen<br />

die Geschichte ihres Lebens oder Geschichten<br />

aus ihrem Leben und vermitteln<br />

eine Vorstellung davon, wie Geschichte<br />

subjektiv erlebt wird und auf<br />

welche unterschied liche Art und Weise<br />

das Erlebte verarbeitet wurde. Solches<br />

Erzählen vermittelt eine Ahnung davon,<br />

wie stark persönliche Erfahrungen und<br />

die sog. „Große Geschichte“ miteinander<br />

ver bunden sind. Ohne eine solche<br />

Ahnung bleibt Geschichtsbetrachtung<br />

in der Regel abstrakt und leblos. Das<br />

Erzählcafé will die mündlich überlieferte,<br />

erzählte und erlebte Geschichte anderen<br />

Menschen nahebringen; es will<br />

zudem die Erlebnisse der älteren Generation<br />

erhalten und für die jetzt junge<br />

und für zukünftige Generationen vor<br />

dem Vergessen bewahren. Das „Café“<br />

im Titel verweist auf die notwendige anregende<br />

Atmosphäre und den geselligen<br />

Rahmen, derer es bedarf, um ein<br />

offenes, freies Erzählen, anteilnehmendes<br />

Zuhören und einen nachhaltigen<br />

Austausch zu ermöglichen.<br />

Erzählcafés entstanden nach Berlin auch<br />

sehr bald in anderen Städten, so z. B.<br />

in Frankfurt (M) und in Hamburg. Seit<br />

April 1998 gibt es auch ein Erzählcafé<br />

in Jena, das zwei bis dreimal im Jahr lokale<br />

Personen einlädt, um sich der Geschichte<br />

der Stadt auf andere Weise zu<br />

nähern. Themen waren u. a. „Die Stadt<br />

und der Turm“, „Als der Krieg zu Ende<br />

ging“ oder „42 Jahre für Carl Zeiss“.<br />

Das „Café Central“ bot hierfür bis vor<br />

zwei Jahren das entsprechende Ambiente.<br />

Seit einiger Zeit ist es jetzt der Cafésaal<br />

des „Ricarda-Huch-Hauses“ in der<br />

Innenstadt. Unterstützt wird die Initiativgruppe,<br />

die die Themen vorbereitet und<br />

-13-<br />

entsprechende Persönlichkeiten einlädt,<br />

von der evangelischen Erwachsenenbildung<br />

Thüringen, dem Seniorenbüro 55<br />

plus des DRK Jena und dem Fachbereich<br />

Sozialwesen der Fachhochschule.<br />

Prof. Rainer Hirt<br />

„Wie gehen Menschen mit<br />

ihren Lebensbrüchen um?“<br />

Eine Aktion des ASB Thüringen<br />

Lebensgeschichte bewahren –<br />

warum?<br />

Die derzeitigen Generationen von Älteren<br />

sind Zeitzeugen von zwei gravierenden<br />

Umbrüchen in der deutschen Geschichte,<br />

der Kriegs- und Nachkriegszeit<br />

sowie der Ereignisse von 1989/1990,<br />

die man je nach politischem und Geschichtsverständnis<br />

<strong>als</strong> Revolution oder<br />

Wende oder Umbruch bezeichnen<br />

kann. Aus diesen Erfahrungen von zwei<br />

Umbrüchen resultieren zahlreiche interessante<br />

und bewegende Einzelschicksale,<br />

deren Überlieferung sinnvoll und<br />

wertvoll ist. Wie sind Menschen mit<br />

solchen gesellschaftlichen Umbrüchen<br />

umgegangen? Welche Bewältigungsmuster<br />

haben sie aktualisiert und wie<br />

bewerten sie diese Jahrzehnte zurückliegenden<br />

Ereignisse mit Blick auf ihren<br />

eigenen Lebensweg? Das sind Fragen,<br />

denen die Projektbeteiligten nachgehen<br />

wollen. Anliegen ist es, Lebensläufe<br />

dieser Generationen unter dem<br />

Aspekt gesellschaftlicher Umbrüche zu<br />

bewahren und MitarbeiterInnen in sozialen<br />

Berufen, die mit Älteren arbeiten,<br />

für Anliegen von Älteren, die im Biografischen<br />

wurzeln, zu sensibilisieren.<br />

Die Fachbereiche für Sozialwesen der<br />

Fachhochschulen Erfurt und Jena unterstützen<br />

das Projekt. Dabei werden<br />

Studenten <strong>als</strong> Interviewer Ältere befragen<br />

und biografisches Material, das<br />

sich auf die erwähnten Umbrüche<br />

bezieht, sammeln. Dadurch soll eine<br />

Sammlung von verschieden biografischen<br />

Skizzen entstehen, die 2012 in<br />

geeigneter Form veröffentlicht werden<br />

sollen.<br />

Dr. Jan Steinaußen


Höhenflug<br />

Aus: Klaus Steinhaußen,<br />

Angst um die Nachtigall,<br />

Karin Fischer Verlag 2009<br />

Als meine frühe Kindheit hinter mir<br />

lag, kletterte ich eines Sonntags in<br />

den Korb eines Fesselballons. Mein<br />

Vater hatte mir den Ballonaufstieg<br />

verboten. „Für deine Luftschlösser ist<br />

jeder Pfennig zu viel“, hatte er gesagt.<br />

Meine Mutter hatte eine ihrer<br />

üblichen Lehren angehängt: „Wenn<br />

du nicht verzichten kannst, Hannes,<br />

wirst du dein Lebtag unzufrieden<br />

sein.“ Großzügig, wie sie es nannte,<br />

teilte sie mir zwei Fünfziger zu. Sie<br />

hätten für zwei Kartoffelpuffer oder<br />

einen Kochgeschirrdeckel Erbsensuppe<br />

gereicht. Für das Doppelte<br />

hätte ich einen Kanonenschuss abfeuern<br />

dürfen …<br />

Nichts schien wichtiger, <strong>als</strong> die Welt<br />

von oben zu sehen. Helfen konnte<br />

nur meine Tante Helene … Von ihrem<br />

„Notgroschen“ borgte sie mir<br />

die fehlenden vier Mark. „Aber versprich<br />

mir, daß du da oben, wenn<br />

du unsere schöne Heimat siehst, an<br />

mich denkst!“ Um ihr zu winken, gab<br />

sie mir ihre Hakenkreuzfahne mit.<br />

Als der Ballon mich über die Kasernendächer<br />

trug, sah ich meine Tante<br />

in ihrem Vorgarten stehen. Mit einem<br />

Handtuch winkte sie mir hinterher.<br />

Während ich zwischen meinen Fäusten<br />

die Fahne flattern ließ, schrumpfte<br />

sie zu einem winzigen Fleck …<br />

Als der Ballon sank, nahm ich die<br />

Bilder mit. Unter die Kletterweste geknüllt,<br />

brachte ich meiner Tante die<br />

Fahne zurück. „Was du gesehen hast,<br />

kann dir niemand mehr nehmen“,<br />

sagte sie. „Du denkst noch daran,<br />

wenn du hundert Jahre alt wirst.“<br />

Wie auf Flügeln rannte ich heim.<br />

Auch am Brückengeländer, die Elbe<br />

unter meinen Füßen, schwebte ich<br />

noch am Ballon …<br />

Als ich meinen Vater wiedersah,<br />

schleuderte ich meine Begeisterung<br />

aus mir heraus. „Ich bin mit dem<br />

Fesselballon hochgestiegen“, rief<br />

ich, „und habe die ganze Erde gesehen.“<br />

Ungläubig sah er mich an.<br />

Ehe ich ausweichen konnte, hatte ich<br />

seine schwielige Hand im Gesicht.<br />

„Warum bist du nicht gleich oben<br />

geblieben?“ schrie er. „Wer zu hoch<br />

hinaus will, bricht sich eines Tages<br />

das Genick.“ Seit je hatte er mich<br />

aus Traumhimmeln geholt. Noch nie<br />

aber hatte ich mich von ihm so gedemütigt<br />

gefühlt.<br />

Autobiografisches Erzählen <strong>als</strong> eine<br />

Form der inneren Selbstbefragung<br />

und der Selbstreflexion hat das<br />

Anliegen, das eigene Leben oder<br />

Abschnitte daraus nachzuerzählen.<br />

Das Besondere dieser literarischen<br />

Form besteht darin, dass Autor und<br />

Erzähler sowie Erzähler und der im<br />

Mittelpunkt stehende Protagonist<br />

identisch sind. Die Autoren von<br />

Autobiografien haben in der Regel<br />

den Anspruch, authentisch das objektiv<br />

Gewesene zu erzählen. Die<br />

Autobiografie unterscheidet sich<br />

dabei vom Lebenslauf dadurch,<br />

dass der Lebenslauf die zeitliche<br />

Abfolge von Lebensereignissen<br />

nachvollzieht, während die Autobiografie<br />

die Strukturierung des<br />

eigenen Lebenslaufs unter dem Aspekt<br />

der Bedeutsamkeit vornimmt.<br />

Sie bewertet eigene Lebensereignisse.<br />

Insofern ist autobiografisches<br />

Erzählen eine konstruktive<br />

Leistung. Beim autobiografischen<br />

Erzählen geht es nicht um historische<br />

Wahrheit oder um ein objektives<br />

Erkenntnisinteresse oder um<br />

historische Zusammenhänge, auch<br />

wenn das häufig <strong>als</strong> Anspruch formuliert<br />

wird, sondern um das Herstellen<br />

von subjektiver Lebenskohärenz.<br />

Autobiografisches Erzählen ist subjektive<br />

Konstruktion des selbst Erlebten.<br />

Max Frisch hat pointiert gesagt:<br />

„Irgendwann erfindet jeder die Geschichte,<br />

die er für sein Leben hält.“<br />

Der autobiografische Roman hat<br />

nicht mehr den Anspruch, etwas objektiv<br />

darzustellen. Er vermischt bewusst<br />

historisch Gewesenes mit fiktiven<br />

Elementen, so dass etwas Neues<br />

entsteht, das einen Gegenwartsbezug<br />

herstellt.<br />

Die moderne Autobiografie gibt es<br />

erst seit dem 18. Jahrhundert. Rousseaus<br />

Bekenntnisse waren hier gattungsbildend.<br />

In zuvor geschriebenen<br />

Autobiografien verorteten sich die Autoren<br />

mit ihrem Leben zu einem göttlichen<br />

Plan. In dem Moment, <strong>als</strong> das<br />

Individuum <strong>als</strong> gesellschaftsgestaltende<br />

und -verändernde Kraft entdeckte<br />

wurde, gewann die Autobiografie <strong>als</strong><br />

literarische Gattung und <strong>als</strong> authentisches<br />

Selbstbekenntnis an Bedeutung.<br />

Im Mittelpunkt autobiografischen<br />

Schreibens stand seitdem immer die<br />

Frage, welche Stellung das eigene<br />

kontingente, individuelle Leben in einem<br />

gesellschaftlichen Kontext hat.<br />

Welche Funktion das subjektive<br />

Erzählen für den jeweiligen Autor<br />

hat, ist sehr unterschiedlich. Die<br />

zeitgenössischen und infla tionär erscheinenden,<br />

trivialen Autobiografien<br />

von Personen des öffentlichen<br />

Lebens befriedigen ein bestimmtes<br />

öffentliches Interesse. Für Autoren<br />

und Verlage spielen hier kommerzielle<br />

Interessen die tragende<br />

Rolle. Eine tatsächliche Auseinandersetzung<br />

der Autoren mit dem<br />

eigenen Leben, die den Charakter<br />

von Biografiearbeit hat, kann man<br />

hier kaum unterstellen. Im Kontext<br />

der Biografiearbeit hat autobiografisches<br />

Erzählen die Funktion,<br />

wichtige Phasen des eigenen Lebens<br />

zu reflektieren und adäquat<br />

zu bewältigen. Über das Erzählen<br />

wird Lebenskohärenz und Lebenssinn<br />

hergestellt.<br />

Klaus Steinhaußen, Jahrgang<br />

1931, in Bremerhaven und Meißen<br />

aufgewachsen, schrieb diese autobiografisch<br />

geprägten Zeilen, <strong>als</strong> er<br />

selbst schon im Ruhestand war. Die<br />

Lebensthemen der Kindheit haben<br />

ihn zeitlebens beschäftigt, insbe-<br />

-14-


sondere die Auseinandersetzung mit<br />

seinem Vater, der <strong>als</strong> 47-Jähriger<br />

Selbstmord beging. Die dam<strong>als</strong> an<br />

dessen Seite lebende Frau gab dem<br />

Sohn die letzte Botschaft des Vaters<br />

mit auf den Lebensweg, dass er der<br />

einzige gewesen wäre, der dieses<br />

tragische Ereignis hätte verhindern<br />

können. Noch 60 Jahre später ist<br />

sie präsent <strong>als</strong> Erinnerungsmoment,<br />

das gut zu ruhen scheint, aber dennoch<br />

etwas Offenes und Ungeklärtes<br />

darstellt.<br />

In der scheinbar realistischen Schilderung<br />

einer Kindheitsepisode,<br />

dem Erlebnis, mit einem Fesselballon<br />

aufzusteigen, spiegeln sich Lebensthemen<br />

wieder sowie zeitlose<br />

literarische Motive. Der Vater warnt<br />

seinen Sohn Ikarus, sich der Sonne<br />

zu nähern, weil diese seine Flügel<br />

zum Schmelzen bringt, die Sonne<br />

<strong>als</strong> Sinnbild der Ewigkeit, der Göttlichkeit,<br />

der Schönheit, des Unerreichbaren.<br />

Sie repräsentiert die<br />

Sehnsucht, sich aus der Gefangenschaft<br />

zu befreien. Ikarus stürzt ins<br />

Meer. Klaus Steinhaußen meinte <strong>als</strong><br />

über 80-Jähriger, dass ihm der Bezug<br />

auf literarische Motive, den Vater-Sohn-Konflikt,<br />

das Ikarus-Motiv,<br />

beim Schrei ben nicht bewusst war. Er<br />

schrieb es, weil es ein Lebensthema<br />

war. Wie geht ein Kind, das Träume<br />

hat, mit einem demütigenden Vater<br />

um und welche Auswirkungen hat<br />

das auf die Entwicklung des Kindes?<br />

Wie verarbeiten Kinder Krieg und<br />

eine Kindheit, die durch Hunger und<br />

mangelnde Ressourcen geprägt ist,<br />

die für Kindheitsträume wenig Platz<br />

ließ. Es ist seit langem bekannt, dass<br />

die Kindheitseindrücke prägenden<br />

Einfluss auf den Menschen und lebenslange<br />

Bedeutung haben. In<br />

dem Maße, wie sie problematisch<br />

und konfliktreich waren und sich<br />

im Sinne einer traumatischen Erfahrung<br />

abgespeichert haben, lösen<br />

sie noch im hohen Alter Konflikte<br />

und problematische Erinnerungen<br />

aus. Das Schreiben ist der Versuch,<br />

inneren Frieden herzustellen, eine<br />

komplizierte und dennoch reiche<br />

und auch glückliche Kindheit gut zu<br />

verarbeiten. JS<br />

Aus: Klaus Steinhaußen:<br />

Spätes Erinnern. Gedichte.<br />

Arnim Otto Verlag. 1997<br />

Bilanz<br />

Die Hirnschale leer,<br />

kraftlos das Gebiß,<br />

in den Augenhöhlen Pinsel<br />

für all meine ungemalten Bilder –<br />

so sehe ich mich,<br />

während der Herbst üppig<br />

Knospen treibt.<br />

Vieles, allzuvieles probiert –<br />

Nichts ist vollbracht.<br />

1993<br />

Werra = altdeutsch: Weser<br />

Im Traum höre ich den Rattenfänger flöten<br />

und die Stadtmusikanten schreien<br />

und folge dem Fluß bis ans Meer.<br />

Wo er mündet, bin ich geboren<br />

Wo er entspringt, lebe ich jetzt.<br />

Frei möchte ich wandern,<br />

Gold schöpfen mit kindlichen Händen<br />

und heimkehren ohne die Ängste,<br />

die ich je trug.<br />

Doch von den Märchen<br />

hat mich ein Leben getrennt.<br />

Erwachend hängt es mir<br />

wie ein Mühlstein am H<strong>als</strong>.<br />

1990<br />

-15-


Beim Lesen<br />

der Selbstbetrachtungen des Marc Aurel<br />

Was ist wichtig? Die Träume der Jugend<br />

oder vermeintliche Einsicht des Alters,<br />

das alte Jahrtausend oder das neue,<br />

das mir einst <strong>als</strong> Ziel aller Erfüllung erschien?<br />

Nun, da es naht, sehe ich mich verstrickt in<br />

Schuld,<br />

beiseitegestellt mit nachsichtiger Freundlichkeit,<br />

belastet von unnütz gewordenem Wissen<br />

und mit Erfahrung, die keiner mehr braucht.<br />

Habe ich mich umsonst gemüht, nützlich zu sein?<br />

Leben, ohne zu irren, ist wohl nicht vorstellbar.<br />

Sapere aude, lernte ich einst, wage, weise zu sein!<br />

Ereifere dich nicht, wenn du unbeachtet bleibst!<br />

Wie viele, dir einst nah, verließen dich schon<br />

und nahmen auch Hoffnung von dir mit ins Grab.<br />

Noch wirst du erwartet! Vergiß deine Eitelkeit<br />

Und trage den Schmerz, wenn er dich trifft.<br />

Deine Tage teilend mit denen, die dir blieben,<br />

sei heiter und erwarte den Abschied ohne Angst!<br />

1997<br />

Phantom<br />

Manchmal steigt meine Mutter vom Totenbett<br />

und wird wieder jung:<br />

Ich drohe erneut zu ersticken,<br />

während sie durch die Nacht<br />

nach Hilfe rennt und dem Arzt,<br />

damit er ihr rasch folgt,<br />

eine ihrer armseligen Kostbarkeiten schenkt.<br />

Manchmal auch starre ich wieder<br />

auf ihren schwangeren Leib.<br />

Im Sirenengeheul, vierzehnjährig,<br />

beschütze ich sie.<br />

Ihre durchwachten Nächte<br />

sind ferngerückt wie der Krieg.<br />

Von den zerklüfteten Mandeln<br />

hat ein Skalpell mich befreit,<br />

nur daß seitdem manchmal<br />

Brot und Wein,<br />

selbst klares, erfrischendes Wasser<br />

nach Zyankali schmeckt.<br />

1996<br />

Abgewickelt<br />

Warum lassen mich meine Uhren im Stich?<br />

der Kuckucksuhr habe ich einen Feldstein<br />

neben den Zapfen gehängt –<br />

sie schleicht hoffnungslos<br />

der Zeit hinterher.<br />

Die alte Küchenuhr, längst ohne Glas,<br />

blieb endgültig stehen.<br />

Früher, wenn ich sie wöchentlich aufzog,<br />

schien sie zu fragen: Was hast du getan?<br />

Jetzt brauche ich keinen Wecker mehr.<br />

Die Züge im Tal fahren ohne mich.<br />

Ich hocke auf meinem Berg –<br />

läuten die Glocken den Sonntag<br />

oder den Montag ein?<br />

Das Armband meiner billigen Batterieuhr<br />

ist geplatzt –<br />

mag sie ticken im Schreibtisch<br />

gegen die Finsternis!<br />

Ich richte mich nach der Sonne<br />

oder noch besser: begleite sie,<br />

bis sie keinen Schatten mehr wirft.<br />

1991<br />

-16-


Gedichte von Rainer Hirt<br />

Andere Zeiten.<br />

Der Frühlingswind fegt durch die Verliese;<br />

der Staub fliegt aus den Kissen raus.<br />

Tante Erna betritt ganz neugierig die Wiese<br />

und Opa Karl bleibt vorerst einmal im Haus.<br />

Die Jungen wünschen sich das Neue;<br />

die Alten lieben die Beständigkeit.<br />

Erna sagt, daß sie sich auf das Morgen freue<br />

und Karl redet nur von der Vergangenheit.<br />

Daß keiner blind für den jeweils andern bleibe;<br />

daß der nach hinten sieht, den neuen Morgen meint<br />

und die das Neue wünscht, das alte nicht vertreibe...<br />

Am Ende das tun, was die Gegensätze eint.<br />

2008<br />

Kindheit<br />

Ins Kinderbett bekam ich noch<br />

Sirenengeheul und Bombenlärm.<br />

Und er schlug ins Gesicht,<br />

daß es tief in mir krachte,<br />

hinein bis ins innerste Gedärm.<br />

Und er schrie: So eine Sauerei.<br />

Weil das Blut aus meiner Nase<br />

sich auf den Weg<br />

in den Buchstabenkasten machte;<br />

und niemand stand mir bei.<br />

Meine Mutter, die auch<br />

grenzenlos unter ihm litt,<br />

machte das alles aber<br />

immer irgendwie mit:<br />

Sie drohte nicht nur mit<br />

Heim, Schlotfeger und Polizei…<br />

eine Ohrfeige war<br />

manchmal auch dabei.<br />

Wie sollte ein Kind entkommen<br />

aus dieser Barbarei?<br />

Nur manchmal im Frühling und Sommer<br />

verbrachte ich geruhsame Wochen<br />

bei Oma Ida auf dem Land.<br />

Dann kam wieder Mut aus mir gekrochen,<br />

weil ich von dem, was ich daheim verlor,<br />

in ihrem Kreis ein bißchen wiederfand.<br />

Wir bauten Hütten auf den Bäumen<br />

und hockten am Teich und am Bach.<br />

Hier hatte ich Zeit zum Träumen<br />

meiner Kindheit weine ich immer noch nach.<br />

2009<br />

Folgen der Revolte<br />

Etliche vertauschten den Anzug;<br />

einige starben zu schnell.<br />

Manche wurden sehr altklug<br />

in ihrem dunkelblauen Flanell.<br />

Einige taten ein bißchen klüger;<br />

andere passten sich einfach an<br />

oder liefen zum Ewiggestrigen über,<br />

so schnell man nur laufen kann.<br />

Manche verwechselten Freunde und Feinde<br />

oder irrten ziellos herum<br />

und das, was sie trennte und einte,<br />

brachte sie wütend am Ende um.<br />

Nicht wenige zeigten seltsame Interessen<br />

und gingen mit den Moden der Zeit;<br />

sie haben die Geschichte vergessen<br />

und verkrümelten sich in Heiterkeit.<br />

Vielen vernebelte es den Blick;<br />

nur wenige blieben sich treu<br />

und trotzdem wurde die Republik<br />

in manchen Etagen ein wenig neu.<br />

2010<br />

Perspektivenwechsel<br />

Die Zukunft schrumpft zu Stunden zusammen:<br />

Kurzes Abchecken, mechanisch und stur.<br />

Reflexe, die dem Alltag entstammen;<br />

keine Pläne mehr, nur der Blick auf die Uhr.<br />

Überwältigt vom immergleichen Heute,<br />

klammere ich mich besessen an ihm fest.<br />

Ich starre wie die Katze auf ihre Beute<br />

und gebe ihr instinktiv den Rest.<br />

Ich manage die noch verbleibende Zeit<br />

und denke noch bis zum nächsten Tag.<br />

Die Zukunft hält nichts mehr Neues bereit<br />

Nur die Erinnerung hält mich in Beschlag:<br />

Ich lebe in den alten, vergangenen Tagen<br />

und beweine die schöne, verlorene Zeit.<br />

Ich flüchte mich in Jammern und Klagen<br />

und verliere mich in endloser Traurigkeit.<br />

Die fesselnde Macht der Erinnerung<br />

wird zur trostlosen Fülle der Welt:<br />

Ein bißchen Trauer, ein bißchen Erlösung<br />

Der Tod hat sich mitten ins Morgen gestellt.<br />

2010<br />

-17-


Information<br />

Buchvorstellung<br />

Ingrid Miethe: Biografiear<br />

beit. Lehr- und Handbuch<br />

für Studium und<br />

Praxis.<br />

Juventa Verlag (Weinheim) 2011.<br />

175 Seiten. ISBN 978-3-7799-<br />

2241-4. 16,00 EUR<br />

Ingrid Miethe, Jg. 1962, Dr. phil.<br />

habil. ist Professorin für Allgemeine<br />

Erziehungswissenschaft an der<br />

Justus-Liebig-Universität Gießen.<br />

Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Biografieforschung<br />

und -arbeit, qualitative<br />

Bildungsforschung, Bildung<br />

und soziale Ungleichheit, Bildungsgeschichte,<br />

DDR-Forschung, soziale<br />

Bewegungen.<br />

Das Buch bietet einen systematischen<br />

Überblick über die verschiedenen<br />

Handlungsfelder der Biografiearbeit.<br />

Ein Anliegen der Autorin ist es, die<br />

Begrifflichkeiten des Arbeitsfeldes zu<br />

definieren. So wird im 1. Kapitel Biografiearbeit<br />

der Biografieforschung,<br />

dem biografischen Lernen sowie der<br />

Therapie gegenübergestellt. Zudem<br />

werden Formen der Biografiearbeit<br />

vorgestellt: Informelle vs. formelle<br />

Biografiearbeit sowie Einzel- und<br />

Gruppenarbeit. Die Autorin erläutert<br />

angemessene Rahmenbedingungen<br />

für Biografiearbeit und<br />

systematisiert deren Methoden. Auf<br />

die Darstellung einzelner Methoden<br />

wird bewusst verzichtet, mit dem Verweis<br />

auf eine Reihe von Nachschlagewerken,<br />

die im umfangreichen<br />

Literaturverzeichnis aufgeführt sind.<br />

Das zweite Anliegen des Buches ist<br />

es, die verschiedenen Traditionslinien,<br />

die in die Biografiearbeit eingegangen<br />

sind, zu beschreiben. Im<br />

2. Kapitel werden Traditionen aus<br />

der Psychoanalyse, der Humanistischen<br />

Psychologie, der Systemischen<br />

Familientherapie, der Biografieforschung,<br />

der Oral History (mündliche<br />

Geschichte) sowie der Antroposophischen<br />

Biografiearbeit aufgegriffen.<br />

Die Autorin weist darauf hin,<br />

dass das Wissen über die Traditionslinien<br />

fehlt und dass es daher bisher<br />

versäumt wurde, die beiden Traditionslinien<br />

– (Psycho-)Therapien und<br />

Sozialwissenschaften – miteinander<br />

zu verbinden. „Nur in Kenntnis der<br />

jeweiligen Traditionen, der diesen<br />

zugrunde liegenden theoretischen<br />

Prämissen und deren bewusster Verbindung,<br />

kann das in der Biografiearbeit<br />

liegende Potential voll entfaltet<br />

werden.“ (vgl. S. 8)<br />

Das 3. Kapitel widmet sich den Einsatzfeldern<br />

der Biografiearbeit. Es<br />

wird ein kurzer und komprimierter<br />

Überblick über die Entstehungsgeschichte,<br />

die wichtigsten Verfahren<br />

und Einsatzbereiche der jeweiligen<br />

Handlungsfelder gegeben. Am Ende<br />

jeden Kapitels gibt es weiterführende<br />

Literaturhinweise, die eine vertiefende<br />

Beschäftigung mit dem jeweiligen<br />

Thema ermöglichen. Als Einsatzbereiche<br />

werden die Altenbildung mit<br />

den Formen des Erzählcafés und<br />

den Lebensbüchern, die Altenpflege,<br />

die Frauenbildung, die Kinder- und<br />

Jugendhilfe sowie die Behindertenhilfe<br />

handbuchartig dargestellt.<br />

Im 4. Kapitel wird von Silke Birgitte<br />

Gahleitner auf Biografiearbeit und<br />

-18-<br />

Trauma <strong>als</strong> einer arbeitsfeldübergreifenden<br />

Querschnittsaufgabe<br />

eingegangen.<br />

In einem abschließenden Kapitel werden<br />

Schlussfolgerungen für Praxis und<br />

Ausbildung der Biografiearbeit gezogen.<br />

„Biografiearbeit, so die These,<br />

birgt das Potential in sich, nicht nur<br />

eine Methode unter anderen zu sein,<br />

sondern sich <strong>als</strong> konzeptioneller Ansatz<br />

in vielen Handlungsfeldern etablieren<br />

zu können.“ (vgl. S. 9)<br />

Mandy Mühle<br />

Gudula Ritz-Schulte, Alfons<br />

Huckebrink: Autor<br />

des eigenen Lebens werden.<br />

Anleitung zur Selbstentwicklung.<br />

Kohlhammer 2011. 170 Seiten.<br />

ISBN 978-3170220768.<br />

24,90 EUR.<br />

Das Buch richtet sich an alle Personen,<br />

die ihre eigene Biografie wertschätzen<br />

und Verantwortung für andere<br />

tragen wollen. Zudem bietet es<br />

Orientierung für alle, die biografisch<br />

arbeiten. Es verbindet Erkenntnisse<br />

aus der Psychologie und der Literaturwissenschaft.


Erfahrungsaustausch<br />

Biografien<br />

Anliegen des Buches ist es zu erklären,<br />

warum und wie biografische<br />

Aufmerksamkeit und Erzählung wirken,<br />

wie und wann man sie gezielt<br />

einsetzt. Dem Leser soll dadurch<br />

die Möglichkeit an die Hand gegeben<br />

werden, die zugrundeliegenden<br />

Prozesse der Biografiearbeit in den<br />

Dienst des Selbstmanagements und<br />

der Selbstentwicklung zu stellen. Dadurch<br />

soll er in der Lage sein, sein<br />

Leben nicht nur rückblickend zu beschreiben,<br />

sondern auch Gegenwart<br />

und Zukunft bewusst zu gestalten.<br />

„Ein selbstbestimmter Lebensstil wird<br />

in unserer heutigen Gesellschaft <strong>als</strong><br />

wertvoller Bestandteil eines gelingenden<br />

Lebens betrachtet. Vor dem<br />

Hintergrund der verblassenden traditionellen<br />

Gebundenheiten und<br />

Sinn vermittelnden Gewissheiten sowie<br />

dem Wandel von Biografie- und<br />

Lebensmustern bedeutet dies sogar<br />

für den postmodernen Menschen<br />

die Notwendigkeit der eigenverantwortlichen<br />

Gestaltung und Lebensführung.“<br />

(vgl. S.11/12)<br />

Im ersten Teil des Buches werden<br />

wissenschaftliche Grundlagen dargestellt.<br />

Im mittleren Teil, der sich<br />

mit literarischen Biografien beschäftigt,<br />

geht man der Frage nach, was<br />

wir von fremden Biografien und Autobiografien<br />

lernen können. Im dritten<br />

Teil werden die verschiedenen<br />

Selbstregulations- und Selbststeuerungskompetenzen<br />

vorgestellt und<br />

Möglichkeiten ihrer Entwicklung beschrieben.<br />

Dr. Gudula Ritz-Schulte ist Geschäftsführerin<br />

des Instituts für Motivations-<br />

und Persönlichkeitsentwicklung<br />

IMPART an der Universität<br />

Osnabrück. Sie arbeitet <strong>als</strong> Autorin,<br />

Dozentin und Beraterin.<br />

Alfons Huckebrink ist Schriftsteller,<br />

Literaturkritiker und leitet Schreibwerkstätten,<br />

u. a. für Menschen in<br />

psychosozialen Berufen.<br />

Mandy Mühle<br />

60 Jahre für das Ehrenamt<br />

Rudolf Eberl wurde 1932 im Sudetenland<br />

geboren. Als Sechsjähriger<br />

musste er erleben, wie sein Vater<br />

von der Gestapo verhaftet und in<br />

das Konzentrationslager Dachau gebracht<br />

wurde. 1946 kam er mit der<br />

Mutter und seinem jüngeren Bruder<br />

mit einem Flüchtlingstransport nach<br />

Thüringen.<br />

Rudolf Eberl wurde Fachlehrer für<br />

Deutsch und Geschichte. Noch mit<br />

60 Jahren erwarb er die Lehrbefähigung<br />

für den Ethikunterricht. In seiner<br />

47-jährigen Tätigkeit <strong>als</strong> Lehrer<br />

hat er viele Jahrgänge junger Menschen<br />

unterrichtet und ihnen wichtige<br />

Ratschläge auf den Weg ins Leben<br />

mitgegeben.<br />

Auch durch seine 40-jährige Tätigkeit<br />

<strong>als</strong> Übungsleiter im Kinder- und<br />

Jugendsport hat er mit vielen jungen<br />

Menschen Kontakt gehabt. Im<br />

Handballsport errang er über 100<br />

Bezirksmeistertitel in mehreren Altersklassen<br />

in Stützerbach und Suhl.<br />

Neben seinem sportlichen Engagement<br />

organisierte Rudolf Eberl an<br />

seiner Schule auch kulturelle Veranstaltungen,<br />

so <strong>als</strong> Vorsitzender des<br />

-19-<br />

Klubs der Lehrer und Erzieher. Von<br />

1978 bis 1990 war er Vorsitzender<br />

der 1. Suhler Wohnsportgemeinschaft.<br />

Ab 1990 brachte sich Rudolf Eberl<br />

in den Umgestaltungsprozess ein.<br />

Er war Mitglied des Runden Tisches<br />

der Lehrer in Suhl und 1990 Mitbegründer<br />

der Gewerkschaft Erziehung<br />

und Wissenschaft (GEW) in Thüringen<br />

und später Mitglied des Bezirkspersonalrates.<br />

Von 1990 bis 1999<br />

war er <strong>als</strong> Vertreter Thüringens in der<br />

Bundesfachgruppe „Re<strong>als</strong>chule“.<br />

Nach seinem Ausscheiden aus dem<br />

Schuldienst wurde er für zehn Jahre<br />

Vorsitzender des Seniorenarbeitskreises<br />

des DGB von Südthüringen.<br />

Von 2001 bis 2009 war er Vorsitzender<br />

des Seniorenbeirats Suhl. Viele<br />

Themen, die die ältere Generation<br />

betreffen, wurden durch ihn aufgegriffen.<br />

Mit dem Klinikum wurde die<br />

Pflegeüberleitung auf den Weg gebracht,<br />

mit den Schulen und Fachschulen<br />

gemeinsame Projekte erarbeitet.<br />

Rudolf Eberl hat die Interessen<br />

der Senioren bei der Erarbeitung<br />

des Stadtentwicklungskonzeptes gut<br />

vertreten. Jährlich wurden Seniorenveranstaltungen<br />

und Erfahrungsaustausche<br />

mit anderen Seniorenbeiräten<br />

und der BAGSO durchgeführt.<br />

Durch seine Mitarbeit in der <strong>Landesseniorenvertretung</strong><br />

hat er auch dort<br />

wichtige Impulse eingebracht.<br />

Rudolf Eberl ist auch ein aktiver Zeitzeuge,<br />

der seine Erinnerungen an<br />

die finstere Zeit der deutschen Geschichte<br />

an die jüngere Generation<br />

weiter vermittelt. Es ist für ihn selbstverständlich,<br />

dass er sich an den<br />

Aktionen gegen Rechtsradikalismus<br />

beteiligt.<br />

Rudolf Eberl ist Mitglied im Seniorenbeirat<br />

der Stadt Suhl.<br />

Für sein Engagement und seine Verdienste<br />

im Ehrenamt wurde er 2008<br />

mit dem Bundesverdienstkreuz am<br />

Bande ausgezeichnet.<br />

Rüdiger Müller


Erfahrungsaustausch<br />

Biografien<br />

Porträt eines Unermüdlichen<br />

Wir möchten Ihnen heute einmal einen<br />

Menschen vorstellen, ohne dessen<br />

Einsatz vor zehn Jahren der Seniorenbeirat<br />

Hermsdorf nicht gegründet<br />

worden wäre. Horst Bayer begeht in<br />

diesem Jahr seinen 85. Geburtstag<br />

und ist im täglichen Leben immer<br />

noch aktiv. Seit 1967 ist er Mitglied<br />

der Volkssolidarität, ab 1992 war<br />

er in der Revisionskommission tätig<br />

und seit 1998 ist er Hauptkassierer<br />

und Finanzverwalter der Hermsdorfer<br />

Ortsgruppe, welche z. Z. 160 Mitglieder<br />

zählt. Weiterhin ist er Organisator<br />

von Busreisen mit interessanten Zielen<br />

und bringt sich bei Veranstaltungen<br />

mit eigenen Beiträgen aus Mund und<br />

Schrift ein, denn er ist Mitglied beim<br />

Zirkel „Schreibende Senioren“ in der<br />

ehemaligen Kreisstadt Stadtroda. Für<br />

die Bürger der VG Hermsdorf, welche<br />

in der Volkssolidarität organisiert<br />

sind, ist er immer ein Ansprechpartner,<br />

zumal er <strong>als</strong> gebürtiger Holzländer<br />

seine Heimat und dessen Bräuche<br />

recht gut kennt. Für die Ortsgruppe<br />

ist er immer verfügbar. Für seine ehrenamtliche<br />

Arbeit wurde er zu einer<br />

Auszeichnung beim Landesvorstand<br />

der VS vorgeschlagen.<br />

Herbert Gürtler<br />

Seniorenbeirat der Stadt Hermsdorf<br />

„Unsere Taten begleiten<br />

uns noch lange auf unserer<br />

Reise, und was wir<br />

einmal waren, macht uns<br />

zu dem, was wir sind.“<br />

George Elliot<br />

Im Januar 1934 wurde ich geboren,<br />

in Neusalz/Oder in Niederschlesien.<br />

Das war zwei Monate zu früh<br />

und eine Hausgeburt. Die Hebamme<br />

sprach mir keine großen Überlebenschancen<br />

aus, worüber meine<br />

Oma sehr empört war, die Hebamme<br />

wegschickte und meine Versorgung<br />

selbst in die Hand nahm. Mit<br />

Erfolg.<br />

Meine Eltern waren dabei, sich eine<br />

Existenz aufzubauen, sie hatten ein<br />

Geschäft für Milch- und Molkereiprodukte<br />

erworben. Aber ich wuchs<br />

trotzdem geborgen und behütet auf.<br />

Da war meine Oma. Für mich von<br />

frühester Kindheit an die wichtigste<br />

Bezugsperson. Da waren auch noch<br />

die Tanten, die Onkel, Cousinen<br />

und Cousins.<br />

Mein erster Sommer in Omas Garten.<br />

-20-<br />

Als drei Jahre danach, 1937, meine<br />

Schwester geboren wurde und noch<br />

eineinhalb Jahre später mein Bruder,<br />

habe ich mich mit Sicherheit riesig<br />

gefreut. Aber plötzlich war ich „die<br />

Große“. Ich war im Gegensatz zu<br />

meinen Geschwistern ein regelrechter<br />

Wildfang, nur Bücher konnten<br />

diesen Bewegungsdrang bändigen.<br />

Meine Eltern hatten Pläne, unser<br />

Geschäft war schon irgendwie unser<br />

Familienmittelpunkt. Aber eben UN-<br />

SER. Wir Kinder wurden einbezogen<br />

in die Pläne für die Zukunft. In einem<br />

Vorort von Neusalz wollten wir<br />

ein weiteres Milchgeschäft mit Frühstücksstube<br />

er<strong>öffnen</strong>. Das Grundstück<br />

war gekauft und wir freuten<br />

uns auf das Haus, unser Haus, das<br />

darauf entstehen sollte. Wir hatten<br />

zu fünft nur eine 2-Zimmer-Wohnung<br />

mit Küche, die sich an den Laden<br />

anschloss.<br />

Und dann kam das Jahr 1939 und<br />

der 2. Weltkrieg begann! Aus der<br />

Traum vom Haus, vorbei die Zeit<br />

der glücklichen Familie. Mein Vater<br />

musste sofort in den Krieg, Onkel,<br />

die mir viel bedeuteten, auch. Es<br />

fing ein anderes Leben an. Wir Kinder<br />

haben das dam<strong>als</strong> wahrscheinlich<br />

nicht so empfunden. Es lief alles<br />

weiter. Die Mutti war nun der Chef<br />

und da war die Oma, die Beschützerin,<br />

die Trösterin.<br />

Obwohl erst 5 Jahre alt, fast 6,<br />

musste ich nun kleine Wege erledigen,<br />

Botengänge verrichten, in einer<br />

Kleinstadt kein Problem. Je älter<br />

ich wurde, umso mehr nahmen die<br />

Pflichten zu. Es hat mir Spaß gemacht,<br />

ich lernte viele Leute kennen<br />

und ich lernte viel dabei.<br />

1940 kam die Schuleinführung.<br />

Endlich konnte ich lesen und schreiben<br />

lernen. Und nun kamen richtige<br />

Bücher in mein Leben. Manchmal<br />

war ich so gefesselt davon, dass ich<br />

einen Auftrag vergaß.<br />

Der Krieg wurde daran spürbar,<br />

dass einige Onkel Opfer des Krie-


Erfahrungsaustausch<br />

Biografien<br />

Schuleintritt im April 1940<br />

ges wurden. Von Fliegerangriffen<br />

blieben wir verschont. Als 1944 die<br />

Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen,<br />

Pommern usw. durch unsere Stadt<br />

zogen, da fühlte man, dass da etwas<br />

auf uns zukam, aber wer wollte<br />

das wahrhaben? Anfang Februar<br />

1945 wurde uns mitgeteilt, dass wir<br />

die Stadt zu verlassen hätten, da die<br />

Gegend für ca. 6 Wochen Kampfgebiet<br />

sein würde. Am 4. Februar<br />

verließen wir per Zug unsere Heimatstadt.<br />

In Dresden wollte man<br />

uns – zum Glück – nicht aufnehmen,<br />

<strong>als</strong>o kamen wir am 7. oder 8. Februar<br />

in Erfurt an. Dort wurden wir mit<br />

Fliegeralarm begrüßt. Tieffliegerangriff!<br />

Also alles am Bahnsteig stehen<br />

lassen und rasch in den Bunker unter<br />

dem Stadtpark. Da waren mehr Leute<br />

drin <strong>als</strong> eigentlich reinpassten und<br />

meine Mutter und meine Geschwister<br />

verloren wir irgendwo zwischen<br />

den Massen. Das war beängstigend,<br />

aber wir haben uns wiedergefunden.<br />

Danach wurden wir in einer Schule<br />

untergebracht bis wir ein Zimmer zugewiesen<br />

bekamen, was manchmal<br />

gegen den Willen der Wohnungseigentümer<br />

geschah. Wir waren zu<br />

fünft: Oma, Mutter und wir 3 Kinder.<br />

Es gab ein Feldbett und ein normales<br />

Bett. Ich weiß nicht, wie das alles<br />

ging, aber die Kindheit war irgendwie<br />

zu Ende. Ich war gerade 11 Jahre<br />

alt. Es gab Demütigungen, Beleidigungen,<br />

aber auch Menschen<br />

mit Herz und einer überwältigenden<br />

Hilfsbereitschaft. Wir hatten so<br />

gut wie nichts mehr und wir waren<br />

niemand mehr. Wir haben ein völlig<br />

anderes, neues Leben begonnen,<br />

anfangs ohne jede Hoffnung und<br />

Freude. Der Krieg ging zu Ende und<br />

langsam, sehr langsam kehrte Normalität<br />

in unser Leben ein, irgendwie.<br />

Auch die Hoffnung, bald wieder<br />

nach Hause zu können, erwachte<br />

wieder. Sie hat sich nicht erfüllt.<br />

1946 nahmen wir noch meinen<br />

2-jährigen Cousin bei uns auf. Sein<br />

Vater war gefallen und die Mutter<br />

bei der Flucht gestorben.<br />

Irgendwann fing die Schule wieder<br />

an und das gab meinem Leben wieder<br />

eine Struktur. Endlich hatte ich<br />

auch wieder Zugang zu Büchern,<br />

was habe ich alles gelesen. An den<br />

Wochenenden fuhr ich zu Verwandten,<br />

die im Umland eine Bleibe gefunden<br />

hatten und schleppte Kartoffeln,<br />

Gemüse und Brot für meine<br />

Familie nach Hause.<br />

Im April 1948 kam mein Vater aus<br />

der Kriegsgefangenschaft nach Hause.<br />

Nach vielen Wegen auf die Ämter<br />

bekamen wir zu unserem Zimmer<br />

noch einen Raum und die Küche.<br />

Wir waren ja nun 7 Personen. Die<br />

Familie war wieder komplett, aber<br />

alles war anders. Die Oma und die<br />

Eltern hatten es schwer, den Verlust<br />

der Heimat zu verkraften. Mein Vater<br />

hatte sich durch den Krieg verändert,<br />

er war bedrückt und noch verschlossener<br />

<strong>als</strong> früher. Er starb 1967 mit<br />

62 Jahren.<br />

Einen Tag, nachdem mein Vater zurückgekehrt<br />

war, wurde ich konfirmiert<br />

und besuchte nach Abschluss<br />

-21-<br />

Konfirmation im April 1948<br />

der 8. Klasse die Oberschule. Mit<br />

der Jungen Gemeinde besuchten wir<br />

1950 das Diakonissenmutterhaus in<br />

Halle an der Saale. Ich wusste sofort,<br />

da will ich hin! Unter anderem<br />

war die Aussicht auf ein eigenes Bett<br />

und eine Kommode nicht unwichtig.<br />

Ende 1950 ging ich von der Schule<br />

ab und arbeitete in einem ev. Kindergarten,<br />

in dem Diakonissen aus dem<br />

Mutterhaus arbeiteten, da ich Kinderschwester<br />

werden wollte. 1951<br />

trat ich <strong>als</strong> Diakonissenschülerin in<br />

das Mutterhaus ein, wurde 1952<br />

Probeschwester und 1954 Novize.<br />

Ich arbeitete im Kindergarten und<br />

Als Kinderschwester (Erzieherin) 1953 im<br />

Augusta-Viktoria-Stift in Erfurt


Erfahrungsaustausch<br />

Biografien<br />

Kindereim, in der Küche und in der<br />

Bäckerei des Mutterhauses. Eigentlich<br />

wollte ich immer noch Kinderschwester<br />

werden. Dann begann ich<br />

die Ausbildung zur Krankenschwester,<br />

das war die einzige auch staatlich<br />

anerkannte Ausbildung, darauf legte<br />

das Mutterhaus Wert, dass wir auch<br />

im Falle eines Austritts aus dem Mutterhaus<br />

eine Qualifizierung hatten,<br />

und machte 1957 Examen. Nach<br />

einer Stationsschwestern-Vertretung<br />

auf einer Inneren Abteilung und der<br />

Arbeit <strong>als</strong> Gemeindeschwester in<br />

Halle wusste ich, dass ich gern <strong>als</strong><br />

Krankenschwester arbeiten wollte.<br />

Die Jahre im Mutterhaus waren<br />

streng, manchmal hart, aber ich<br />

fühlte mich geborgen, durfte lernen.<br />

Wir waren fröhlich und hatten<br />

immer Menschen, die uns zuhörten,<br />

uns führten.<br />

1960 verließ ich das Mutterhaus.<br />

Aber diese Jahre dort haben mich<br />

geprägt. Alle Schwierigkeiten und<br />

Verluste im späteren Leben konnte<br />

ich bestehen, weil diese knapp 10<br />

Jahre die Grundlage für mein späteres<br />

Leben legten.<br />

Nach einem Jahr <strong>als</strong> Abteilungsschwester<br />

der HNO in Hennigsdorf<br />

begann ich 1961 meine Tätigkeit <strong>als</strong><br />

Stationsschwester in der Medizinischen<br />

Akademie Erfurt (MAE). Nachdem<br />

ich das „Lehrbuch für Innere<br />

Medizin“ - herausgegeben von Professor<br />

August Sundermann von der<br />

MAE - in die Hände bekam, wollte<br />

ich unbedingt in die MAE, wo ich bis<br />

1994 <strong>als</strong> Stationsschwester gearbeitet<br />

habe. Die ersten Jahre tatsächlich<br />

unter Professor Sundermann!<br />

Zwischendurch war ich 5 Jahre <strong>als</strong><br />

Gemeindeschwester im Kreis Erfurt-<br />

Land. Eine eigene Wohnung war<br />

nötig, ich war mittlerweile verheiratet<br />

und hatte einen 2-jährigen Sohn.<br />

Eine Dienstwohnung kam <strong>als</strong>o wie<br />

gerufen! Nach 5 Jahren wollte ich<br />

wieder in die Klinik zurück. Unsere<br />

Ehe war gescheitert. Meine Mutter<br />

Als Gemeindeschwester 1973 in Eulendorf<br />

(Erfurt-Land)<br />

kümmerte sich um meinen Sohn,<br />

wenn ich Dienst hatte. „Meine“ Station<br />

wurde der Mittelpunkt meines<br />

Lebens. Das private Leben musste<br />

sich danach richten. Mein späterer<br />

Lebensgefährte hatte Verständnis<br />

dafür, mein Sohn vermutlich nicht<br />

immer.<br />

Die Jahre 1989/90 brachten diesem<br />

Land große Veränderungen. Für<br />

mich gab es den Bruch nur privat.<br />

1990 verstarb mein Lebensgefährte,<br />

das war eine schmerzvolle Zeit, vieles<br />

um mich herum schien mir ganz<br />

unwichtig. Aber die Station und meine<br />

Mitarbeiter haben mir sehr geholfen.<br />

Im Januar 1994 begann meine Altersrente.<br />

Der Gedanke nicht mehr<br />

arbeiten zu müssen und Rentner zu<br />

sein, kam mir völlig absurd vor. Also<br />

Als Stationsschwester in der MAE 1993 mit<br />

dem damaligen Stationsarzt<br />

-22-<br />

hatte ich mir eine Teilzeit-Tätigkeit<br />

in einem Pflegedienst besorgt, die<br />

schon im Februar begann. Dort<br />

bin ich immer noch tätig, 2 Stunden<br />

am Tag. Und solange ich das<br />

noch machen kann, möchte ich das<br />

auch weiter tun. Gewiss denke ich<br />

an manchen Tagen, was ich mir da<br />

noch antue: zeitig aufstehen, bei<br />

Wind und Wetter auf die Straße -<br />

ich bin kein Autofahrer. Aber dann<br />

komme ich zu meiner ersten Patientin<br />

und dann weiß ich wieder, es ist<br />

ganz einfach meine Aufgabe.<br />

1996 verstarb meine Mutter, sie<br />

wurde 88 Jahre alt und war für mich<br />

und meine Geschwister immer eine<br />

große Unterstützung.<br />

1999 wurde ich vom Schutzbund<br />

gebeten, den Briefkasten der LSV<br />

2mal wöchentlich zu leeren, da die<br />

Leiterin der Geschäftsstelle erkrankt<br />

war. Es blieb nicht beim Leeren des<br />

Briefkastens. Herr Gerlach, damaliger<br />

Vorsitzender der LSV, bat mich,<br />

die Geschäftsstelle vertretungsweise<br />

zu übernehmen. Als klar war, dass<br />

meine Vorgängerin die Arbeit nicht<br />

wieder aufnehmen konnte, übernahm<br />

ich ehrenamtlich die Leitung<br />

der Geschäftsstelle. Es war eine<br />

ganz andere Tätigkeit <strong>als</strong> Krankenschwester<br />

zu sein und das hat mir<br />

sehr viel Mühe bereitet und ich habe<br />

viele Fehler gemacht, aber es hat<br />

mir viel Spaß gemacht. Als Mandy<br />

Mühle 2009 die Geschäftsführung<br />

übernahm, war ich sehr froh, dass<br />

ich <strong>als</strong> Mitarbeiterin noch gebraucht<br />

wurde. Ich bin dankbar für die sehr<br />

gute Zusammenarbeit mit Mandy<br />

Mühle und dem Vorstand.<br />

„Ich kann nicht verhindern, dass ich<br />

älter werde, aber ich kann verhindern,<br />

dass ich mich dabei langweile.“<br />

hat Utta Danella gesagt. Das<br />

hätte das Motto meines Altwerdens<br />

sein können, aber ich habe diesen<br />

Ausspruch erst vor kurzem gefunden.<br />

Edith Rathjen (Foto oben, 2011)


Erfahrungsaustausch<br />

Aus den kommunalen Seniorenvertretungen<br />

und -beiräten<br />

Bad Langensalza<br />

Begegnung mit den Jungen<br />

Wenn es um die junge Genera tion<br />

geht, überzeugt immer das eigene<br />

Beispiel, das Wissen um die Schwachstellen,<br />

die sich im gemeinsamen Entgegenkommen<br />

rascher bewältigen<br />

lassen. Nicht zufällig stehen deshalb<br />

auch in den Arbeitsplänen des Seniorenbeirats<br />

in jedem Jahr Themen zu<br />

Problemen der Bildung und Erziehung,<br />

bei denen Pädagogen und auch Schüler<br />

Gesprächspartner sind. Jüngstes<br />

Beispiel ist ein Besuch im Staatlichen<br />

regionalen Förderschulzentrum „An<br />

der Salza“, das sowohl hinsichtlich der<br />

räumlichen Ausgestaltung <strong>als</strong> auch<br />

seiner Bildungs- und Erziehungsziele<br />

eine erfreuliche Aufwertung erfuhr.<br />

Was lag näher, <strong>als</strong> dass der Seniorenbeirat<br />

seine Bereitschaft unterstrich,<br />

mit den Lebenserfahrungen seiner<br />

Mitglieder den Unterricht zu bereichern<br />

und Antwort zu geben auf die<br />

Fragen der Zehntklässler. Wertvolle<br />

Erfahrungen konnte die Seniorenvertretung<br />

bereits vor Jahren sammeln,<br />

<strong>als</strong> Schüler des Gymnasiums nach<br />

vielen persönlichen Begegnungen<br />

die Lebensgeschichten von siebzehn<br />

Bürgern der Stadt aufschrieben und<br />

in einer Publikation zusammentrugen.<br />

Auch das ist ein Beispiel dafür, dass es<br />

sich lohnt, wenn sich jung und alt begegnen.<br />

Es sind Erfahrungen, die nicht<br />

zu den Akten gelegt werden sollten,<br />

sofern sich ein Sponsor fände, der die<br />

zweite Ausgabe dieser Publikationsreihe<br />

unterstützen würde.<br />

Waltraud Laeschke<br />

Erfurt<br />

Biografiearbeit bei Demenzerkrankung<br />

Ziel der biografischen Arbeit mit demenzkrankten<br />

Menschen ist die Bewahrung<br />

der personalen Identität.<br />

Angesichts des Unvermögens de-<br />

menzkranker Menschen sich auszudrücken<br />

und angemessen zu reagieren,<br />

gestaltet sich das Verstehen oft<br />

nicht leicht. Wenn Lebenszusammenhänge<br />

unübersichtlich geworden und<br />

für demente Menschen nicht mehr<br />

reflektierbar sind, werden Erfahrungen,<br />

Lebensereignisse und Bilanzen<br />

zur Selbstwertsteigerung herangezogen.<br />

Biografisches Wissen stärkt die<br />

gefühlsmäßige Beziehung zu den Erkrankten<br />

und erhöht die soziale Kompetenz<br />

der Pflegenden.<br />

Es wird bei jedem zu betreuenden<br />

Menschen in Verbindung mit den Angehörigen<br />

die Biografie erhoben und<br />

auch fortgeschrieben. Es werden Aktivierungsangebote<br />

nach individueller<br />

Abstimmung umgesetzt. Beziehungsqualität<br />

und Wertschätzung haben<br />

eine große Bedeutung.<br />

2011 wurden mit den ehrenamtlichen<br />

Helferinnen und Helfern zwei<br />

Weiterbildungen zur Biografiearbeit<br />

durchgeführt sowie Veranstaltungen<br />

nach dem psychobiografischen Pflegemodell<br />

nach Böhm angeboten.<br />

Die Helferinnen konnten somit ihr<br />

Wissen vervollständigen.<br />

Die Helferinnen haben gute Erfahrungen<br />

mit der Biografieerhebung<br />

gemacht. Schwierig gestaltet es sich<br />

allerdings, wenn keine Angehörigen<br />

vorhanden sind und keine oder wenig<br />

Angaben gemacht werden können.<br />

Andreas Günther<br />

Gera<br />

Einblicke in Lebensgeschichten<br />

In den vergangenen Jahren wurden<br />

in der Geschichtswerkstatt des Demokratischen<br />

Frauenbundes (DFB),<br />

im Frauenzentrum Gera Lebensläufe<br />

bzw. Episoden von Frauen aus Gera<br />

und Umgebung zusammengetragen.<br />

Elf bewegende Schicksale davon<br />

wurden in einer Broschüre veröffentlicht.<br />

Diese Dokumentation ist ein<br />

ausdrucksvolles Ergebnis der lang-<br />

-23-<br />

jährigen Arbeit der Leiterin der Geschichtswerkstatt,<br />

Erika Wellmann.<br />

1998 hat sie begonnen, die Geschichte<br />

des DFB aufzuarbeiten und<br />

Geschichten von Frauen für Frauen<br />

aufzuschreiben. So können wir heute<br />

u. a. Interessantes über:<br />

- Geschichten von gestern und heute<br />

in einem „Frauenkalender“<br />

- Frauen auf der BUGA 2007 in<br />

Gera<br />

- Frauen im Wandel der Zeit vom 17.<br />

bis 21. Jahrhundert in Gera und<br />

- Frauen im urbanen Umfeld<br />

erfahren.<br />

Erika Wellmann hat gezeigt, wohin<br />

das Leben führen kann, und ich denke,<br />

dass ihr eigener Lebensweg auch<br />

beispielgebend für die Vitalität der<br />

Frauen unseres Landes ist. 1953 in<br />

Gera geboren, hat sie viele Jahre <strong>als</strong><br />

Maschinistin gearbeitet, war 13 Jahre<br />

Ortsbürgermeisterin und ist bis heute<br />

Chronistin, Gästeführerin und engagierte<br />

Bürgerin unserer Stadt. Danke<br />

für so viel Engagement.<br />

Hannelore Hauschild<br />

Ilmenau<br />

Biografien werden gebraucht<br />

Biografie: Lebensbeschreibung – Lebensgeschichte<br />

– Weitergabe von<br />

Erlebnissen an unsere Nachkommen.<br />

In der „guten, alten Zeit“, an<br />

den langen Winterabenden erzählte<br />

Oma den staunenden Enkelkindern,<br />

wie ihr Leben war, <strong>als</strong> sie so jung<br />

war, und wir fragten ihr ein Loch in<br />

den Bauch.<br />

Es gibt gute Literatur, die Geschichte<br />

schildert. Ohne eine Wertung zwischen<br />

der professionellen Schriftstellerei<br />

und der autodidaktischen<br />

Erzählform vorzunehmen, meine ich,<br />

dass wir die Biografien verschiedener<br />

Generationen brauchen.<br />

Ich gehöre dem Verein „Gesichter<br />

geben – Opfer der Diktatur von<br />

1945 bis 1989 in Ilmenau e. V.“ an.


Erfahrungsaustausch<br />

Aus den kommunalen Seniorenvertretungen<br />

und -beiräten<br />

Dieser Verein sammelt die Lebensläufe<br />

der Opfer der Stasi, um sie in einer<br />

passenden Form für die Öffentlichkeit<br />

aufzuarbeiten. Warum? Wie 1945 so<br />

wehrt sich auch heute mancher, die<br />

Vergangenheit aufzuarbeiten, um<br />

nicht zur Verantwortung gezogen zu<br />

werden. Die rechte Szene wittert wieder<br />

einmal Morgenluft, und so wie<br />

ich <strong>als</strong> Kind und Jugendliche in der<br />

Zeit von 1945 bis 1960 auf die Propaganda<br />

der SED reingefallen bin,<br />

fallen heute auch wieder Kinder und<br />

Jugendliche auf die Thesen der Braunen<br />

rein. Hier hilft nur Aufklärung,<br />

und diese wird am wirkungsvollsten,<br />

wenn Zeitzeugen erzählen und<br />

schreiben.<br />

Christel Wilkinski<br />

Jena<br />

Biografien zwischen den Zeiten<br />

Man denkt bedauernd an die eigene<br />

Vergangenheit zurück, <strong>als</strong> man die<br />

Eltern zu Lebzeiten nicht zur Familiengeschichte<br />

ausgefragt hat. Heute<br />

gewinnt Biografiearbeit an Bedeutung,<br />

da wir im Alltag durch elektronische<br />

Medien wie Fernsehen, Telefon,<br />

Handy und Internet quasi gelebt werden.<br />

Werden die Enkel später einmal<br />

handschriftliche Zeugnisse, Geschichten<br />

oder Briefe von den Vorfahren in<br />

den Händen halten? Es ist uns längst<br />

bewusst, wie wichtig das Erinnern ist,<br />

einschließlich Biografiearbeit zur Stabilisierung<br />

der Persönlichkeit etwa bei<br />

Demenzkranken.<br />

Doch auch öffentlich gibt es Aktivitäten<br />

in dieser Richtung: Das Seniorenbüro<br />

hat gemeinsam mit dem Seniorenbeirat<br />

der Stadt Jena zwei Publikationen<br />

herausgebracht mit dem Titel „Älter<br />

werden in der Stadt“ und „Du und<br />

ich, wir beide“, sämtlich Erlebtes und<br />

Erdachtes von Senioren geschrieben.<br />

Es ist nicht nur für die Älteren wichtig,<br />

vielmehr auch für die jugendlichen<br />

Nachfahren. Die Schreibenden haben<br />

die Not im Krieg und in der Nachkriegszeit<br />

erlebt, sind von Erfahrungen<br />

zweier Diktaturen geistig und seelisch<br />

geprägt, haben aber auch viel Schönes<br />

erlebt. Über manches Detail äußert<br />

man sich erst Jahrzehnte später.<br />

Buchmarkt und Filmindustrie sind<br />

inzwischen voll mit Angeboten solch<br />

biografischer Inhalte.<br />

Die Veranstaltungen des Mittwochkreises<br />

der Evangelischen Erwachsenenbildung<br />

in Jena sind nicht nur<br />

Wissensvermittlung über verschiedene<br />

Fachgebiete, vielmehr handelt es<br />

sich dabei, mit Blick auf das eigene<br />

Leben in Beruf und Öffentlichkeit, um<br />

eine Art aktive Biografiearbeit. Thematisch<br />

selbst organisiert finden sich<br />

jeden Mittwoch 100 bis 200 Seniorinnen<br />

und Senioren ein. Es ist eine<br />

wichtige Kommunikation und Bereicherung<br />

eines aktiv gelebten Alltags.<br />

Es gibt inzwischen Aktivitäten der Erinnerungsarbeit<br />

in den Seniorenbegegnungsstätten<br />

und Vereinen.<br />

Hans Lehmann<br />

Mühlhausen<br />

Angebote zur Aktivität<br />

Viele Senioren finden in der Seniorenvertretung<br />

einen kompetenten<br />

Ansprechpartner und erhalten Angebote<br />

für eine vielfältige Freizeitgestaltung.<br />

Seit Beginn der Aktivitäten<br />

der Seniorenvertretung erfreut sich<br />

das Gehirnjogging großer Beliebtheit.<br />

Das Gedächtnistraining wirkt<br />

sich positiv aus. Das Selbstvertrauen<br />

wird gesteigert und die Teilnehmer<br />

werden ohne Leistungsdruck an Strategien<br />

herangeführt, die zur Bewältigung<br />

des Alltags von Nutzen sind.<br />

Das soziale Miteinander spielt eine<br />

wesentliche Rolle – ein Aspekt der im<br />

höheren Lebensalter von besonderer<br />

Bedeutung ist. In der Seniorenvertretung<br />

arbeiten unter Anleitung einer<br />

ausgebildeten Gedächtnistrainerin<br />

bereits drei Gruppen.<br />

-24-<br />

Ein weiteres Angebot der Seniorenvertretung<br />

ist der Seniorentanz. Auch<br />

dieses wird gern angenommen. Seniorentanz<br />

bedeutet Bewegung, Gehirntraining,<br />

Gemeinsamkeit. Auch dieses<br />

Angebot erfolgt unter Anleitung einer<br />

ausgebildeten Tanzleiterein.<br />

Die Seniorenvertretung bietet für Senioren,<br />

Kranke und Einsame die Möglichkeit<br />

zur regelmäßigen telefonischen<br />

Kontaktaufnahme (Telefonkette)<br />

<strong>als</strong> einfache Variante der Nachbarschaftshilfe<br />

an. Sie ermöglicht diesen<br />

Menschen den Kontakt untereinander<br />

und vermittelt bei unvorhersehbaren<br />

Ereignissen Hilfe.<br />

Das sind einige der vielfältigen Angebote<br />

der Seniorenvertretung. Ziel ist<br />

die Erhaltung der körperlichen und<br />

geistigen Kräfte, Verminderung der<br />

Vereinsamung der Senioren, damit sie<br />

so lange wie möglich selbständig in<br />

ihren eigenen vier Wänden leben können<br />

und in der Lage bleiben, am gesellschaftlichen<br />

Leben teilzunehmen.<br />

Petra Suckrau<br />

Nordhausen<br />

Mitsprache auf allen Ebenen<br />

In den 16 Jahren, in denen die Vertretung<br />

besteht, hat sie sich in das<br />

kommunalpolitische Geschehen mit<br />

zahlreichen Initiativen eingebracht.<br />

Am 25. Januar 2012 konnten wir im<br />

Hauptausschuss des Stadtrats über<br />

unsere erfolgreiche ehrenamtliche<br />

Tätigkeit einen Bericht abgeben. Neben<br />

vielen positiven Aspekten haben<br />

wir eine Reihe von Unzulänglichkeiten<br />

angesprochen und eine Änderung<br />

gefordert (fehlende öffentliche<br />

Toiletten, zu wenig Sitzgelegenheiten<br />

in der Stadt, Aushänge in den Haltestellen<br />

nicht seniorengerecht). Die<br />

Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung<br />

beschränkt sich jedoch nicht<br />

auf Gespräche mit verantwortlichen<br />

Mitarbeitern. Es ist für uns selbstverständlich,<br />

dass wir nach Vorstellung


Erfahrungsaustausch<br />

Aus den kommunalen Seniorenvertretungen<br />

und -beiräten<br />

und Erörterung der Projekte im Plenum<br />

eine schriftliche Stellungnahme<br />

mit Vorschlägen und Hinweisen bei<br />

dem jeweiligen Fachamt einbringen.<br />

Grundsätzlich gehen wir in unserer<br />

ehrenamtlichen Arbeit davon aus,<br />

dass eine zeitgemäße Seniorenarbeit<br />

nur möglich ist, wenn alle Träger –<br />

Sozialverbände, Begegnungsstätten,<br />

Gewerkschaften, Parteien – eng zusammenwirken.<br />

So haben sich die<br />

Vorsitzenden der Sozialverbände, die<br />

Fraktionen des Stadtrats, die Seniorenvertretung<br />

mit dem Bürgermeister<br />

getroffen, um das künftige Miteinander<br />

zu beraten.<br />

In der Berichterstattung vor dem<br />

Hauptausschuss haben wir deutlich<br />

gemacht, dass wir nicht Kaffeerunden<br />

und Fahrten organisieren, sondern<br />

dass es unsere Aufgabe ist,<br />

Anregungen zu geben, damit das<br />

Lebensumfeld für die Senioren in der<br />

Stadt verbessert wird. Wir wollen bei<br />

seniorenrelevanten Themen angehört<br />

werden und mit beraten. Und das besonders<br />

2012, dem „Europäischen<br />

Jahr für aktives Altern und Solidarität<br />

zwischen den Generationen“.<br />

Volkmar Pischel<br />

Pößneck<br />

Rückblick auf das erste Jahr<br />

Der hohe Anteil älterer Menschen an<br />

der Bevölkerung erfordert ein hohes<br />

gesellschaftliches Engagement der<br />

gewählten Volksvertretungen, der Sozialverbände<br />

sowie der ehrenamtlich<br />

Tätigen. Diesem Anliegen entsprechen<br />

die in fast allen Städten Thüringens<br />

arbeitenden Seniorenbeiräte<br />

bzw. Seniorenvertretungen.<br />

Auch in Pößneck ist der Anteil der<br />

älteren Bürger überdurchschnittlich<br />

hoch.<br />

Von den per 31.12.2011 mit Hauptwohnsitz<br />

in unserer Stadt lebenden<br />

12.628 Personen waren 4.249 älter<br />

<strong>als</strong> 60 Jahre – das entspricht 33,7<br />

Prozent, und 3.323 älter <strong>als</strong> 65 Jahre,<br />

das sind 26,3 Prozent.<br />

Im Februar 2011 wurde der Seniorenund<br />

Behindertenbeirat gegründet,<br />

der sich bislang u. a. mit folgenden<br />

Schwerpunkten befasste:<br />

- Erläuterung und Vorschläge zum<br />

innerstädtischen Verkehrsprojekt<br />

2011<br />

- Vorschläge zum „Integrierten Stadtentwicklungskonzept<br />

Pößneck<br />

2020“<br />

- Kennenlernen von Kultur- und Sozialeinrichtungen<br />

wie das Mehrgenerationenhaus<br />

der AWO, das<br />

DRK-Pflegeheim, das Senioren- und<br />

Sozialzentrum der VS und die Behindertenwerkstatt<br />

der AWO<br />

- Ehrenamtliche Betreuung des Stadtmuseums<br />

an Sonntagen von Mai bis<br />

September im Jahr 2011<br />

- Teilnahme an der Vor-Ort-Begehung<br />

zur Ortsumgehung B 281 und<br />

schriftliche Stellungnahme und Befürwortung<br />

der Wald-Trasse, die<br />

auch später in der Stadtratssitzung<br />

<strong>als</strong> Vorzugsvariante beschlossen<br />

wurde<br />

- Öffentlichkeitsarbeit im Stadtanzeiger<br />

zur Arbeit des Seniorenbeirats<br />

und zu Schwerpunktthemen.<br />

Wir <strong>als</strong> Beirat werden auch künftig<br />

Informationen zu Problemen für Senioren<br />

und Behinderte analysieren und<br />

veröffentlichen.<br />

Bedanken möchte ich mich bei Andrea<br />

Burges, Stadtverwaltung Pößneck,<br />

für die gute Unterstützung bei der Vorbereitung<br />

und Durchführung unserer<br />

Beratungen.<br />

Man kann einschätzen, dass Pößneck<br />

in der sozialen Betreuung seiner älteren<br />

und behinderten Bürger gut aufgestellt<br />

ist.<br />

Für die Arbeit des Senioren- und Behindertenbeirats<br />

ist es wichtig, durch<br />

den Bürgermeister, den Stadtrat und<br />

die Stadtverwaltung sowie die Sozialverbände<br />

in die Analyse und Entscheidungsprozesse<br />

rechtzeitig eingebunden<br />

zu werden.<br />

-25-<br />

Seit dem 15. Dezember 2011 ist unser<br />

Beirat offizielles Mitglied in der<br />

<strong>Landesseniorenvertretung</strong> Thüringen<br />

e. V.<br />

Otto Woggon<br />

Rudolstadt<br />

Stets im Ehrenamt<br />

Im Februar 2012 wurde die Rudolstädterin<br />

Irene Kahnt 76 Jahre und<br />

sie handelt immer noch nach ihrer<br />

Devise: „Es gibt so viel, was man tun<br />

kann.“<br />

Und sie tut es immer noch, trotz<br />

erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen.<br />

Sie war 1993 Gründungsmitglied<br />

des Rudolstädter Seniorenbeirats<br />

und arbeitete 17 Jahre<br />

lang im Vorstand. Sie ist die wohl<br />

engagierteste Seniorenvertreterin<br />

unserer Stadt, mit enormem Einsatzwillen,<br />

voller Aktivität, voller Pläne,<br />

voller Unrast, eine, die immer helfen<br />

wollte und Unzähligen geholfen<br />

hat. Sie ist bekannt und bewundert,<br />

hat die Fülle ihrer Lebenserfahrung<br />

<strong>als</strong> Lehrerin, alleinerziehende Mutter<br />

von fünf Kindern eingebracht – Erlebtes,<br />

Erkämpftes, Nachdenkliches und<br />

Heiteres.<br />

Sie kennt die Sorgen der Senioren<br />

unserer Stadt. Sie war Wanderleiterin,<br />

hat Gruppen über den Rennsteig<br />

geführt und gehört heute noch dem<br />

Schillerverein und der Goethegesellschaft<br />

an. Als Verbindungsfrau zu den<br />

Kulturgruppen und Einrichtungen Rudolstadts<br />

verstand sie es, acht Seniorenwochen<br />

mit hohem Niveau zu<br />

organisieren. Ihren Enkelkindern vermittelt<br />

sie Heimatverbundenheit und<br />

soziales Verständnis. Der seit Jahren<br />

bestehende Kontakt zu Seniorenvertretungen<br />

in Thüringen, Bayern und<br />

der Gemeinde Borger-Odoorn in<br />

den Niederlanden wurde von ihr mit<br />

organisiert.<br />

Ihr Anliegen war immer: Zuwenden,<br />

helfen, trösten und freiwillige Diens-


Erfahrungsaustausch<br />

Aus den kommunalen Seniorenvertretungen<br />

und -beiräten<br />

te verrichten. Sie qualifizierte sich zur<br />

Seniorenbegleiterin im Projekt Herbstzeitlose<br />

und schenkt Betroffenen ihre<br />

Zeit.<br />

Unsere Ministerin Ursula von der<br />

Leyen sagte: „Es gibt nicht die eine<br />

ältere Generation, sondern ältere<br />

Menschen mit ihren Biografien, Erfahrungen<br />

und Möglichkeiten. Die<br />

Gesellschaft hat die Chance davon<br />

zu profitieren“.<br />

Konrad Eberitzsch<br />

Ruhla<br />

Mit dem eigenen Leben identifizieren<br />

Es gibt einen schönen Ausspruch von<br />

Albert Schweitzer: „Wir kommen auf<br />

die Welt, müssen unser ganzes Leben<br />

lang arbeiten, uns Werte schaffen, um<br />

am Ende alles wieder zu verlieren.“<br />

Aber das ist nun mal der Sinn und<br />

Zweck des Lebens. Jeder Mensch lebt<br />

sein eigenes Leben und deshalb ist es<br />

wichtig, sich auch mit seinem Leben<br />

zu identifizieren mit allen Höhen und<br />

Tiefen.<br />

Oft ist der Auslöser, dass der eine oder<br />

andere unserer Senioren über sein Leben<br />

berichtet, eine Episode, die einer<br />

längst vergangenen Zeit angehört.<br />

Gerade ältere Menschen erinnern<br />

sich oft besser an Dinge, die sie früher<br />

erlebt haben. An Seniorennachmittagen<br />

hatten wir schon viel Spaß, <strong>als</strong> wir,<br />

gewissermaßen <strong>als</strong> Unterhaltungsprogramm,<br />

jedem Anwesenden ca. zehn<br />

Minuten Zeit gaben, um von sich zu<br />

erzählen: Name, geboren, wann und<br />

wo, Vater, Mutter, Geschwister und<br />

Kinder; dann sollte jeder eine Episode<br />

aus seinem Leben erzählen. Viele<br />

konnten sich an Details erinnern, die<br />

60 bis 70 Jahre zurück lagen. Sie<br />

wussten noch, wie ihre Lehrer hießen<br />

und neben wem sie in der Schulbank<br />

saßen oder wie der Pfarrer hieß. Aber<br />

den Namen des heutigen Pfarrers unserer<br />

Stadt, den kannten sie nicht. Wie<br />

gesagt, das Langzeitgedächtnis ist oft<br />

sehr ausgeprägt und das tägliche Leben<br />

geht unbeachtet an ihnen vorbei.<br />

Politische Themen und Tagesereignisse<br />

sind so kurzlebig, dass man sie sich<br />

gar nicht mehr merkt auf längere Zeit,<br />

die man ja auch in dem Alter gar nicht<br />

mehr hat. Die moderne Sprache in<br />

den Medien ist für Senioren oft nicht<br />

nachvollziehbar. Begriffe wie iPhone,<br />

Facebook, Online kennen sie allenfalls<br />

aus dem Wortschatz ihrer Kinder<br />

und Enkel. Ausnahmen bestätigen<br />

wohl auch hier die Regel, denn es sind<br />

auch „Alte“ im Internet unterwegs.<br />

Ob sich ein Jugendlicher von heute<br />

nach 60 oder 70 Jahren noch an den<br />

Inhalt einer E-Mail erinnern kann, ist<br />

fraglich, aber es gibt 80-Jährige, die<br />

kennen den Text eines Liebesbriefes<br />

oder Gedichte aus der Schulzeit noch<br />

aus dem Kopf.<br />

Das Leben ist in allen Zeitaltern verschieden<br />

und dementsprechend gestalten<br />

sich auch die Biografien eines<br />

jeden Menschen. Dabei spielt die<br />

Frage, was im Leben wichtig war, eine<br />

große Rolle.<br />

Hannelore Schröder<br />

Schleiz<br />

Schüler führten Interviews<br />

Unser Seniorenbeirat sucht den Kontakt<br />

zu jüngeren Menschen, Ältere<br />

bieten sich sozusagen <strong>als</strong> offene Geschichtsbücher<br />

an, denn sie wissen viel<br />

und haben Geschichte geschrieben<br />

und gelebt. Unsererseits werden Seminarfacharbeiten<br />

mit geschichtlichen<br />

Themen an interessierte Gymnasiasten<br />

vergeben. Zuletzt erarbeitete eine<br />

Gruppe mit einem echten Schleizer<br />

Original dessen Lebensgeschichte,<br />

die einen guten Einblick in die Zeit<br />

zwischen den Weltkriegen sowie die<br />

Zeit des letzten Weltkriegs und danach<br />

gewährt. Besonders eindrucksvoll waren<br />

die ersten Worte des über Neunzigjährigen<br />

zu den Schülern: „Schreibt<br />

-26-<br />

nur alles auf, damit es alle wissen!“<br />

Natürlich haben wir jüngeren Alten<br />

geholfen, die Probleme beim Interview<br />

zu mildern. Schwierig sind vor allem<br />

die Erinnerungslücken und die kaum<br />

zeitlich zusammenhängenden Schilderungen,<br />

das immer wieder notwendige<br />

taktvolle Nachfragen ohne Beeinflussung.<br />

Oft kommen Erinnerungen<br />

beim Betrachten alter Bilder, deren<br />

Aufbewahrungsort leider oft vergessen<br />

worden ist. Häufige Ruhepausen<br />

sind nötig. Immer wieder erstaunt die<br />

Detailtreue von Schilderungen, besonders<br />

wenn das Altgedächtnis die<br />

Führung übernimmt. Viele gängige<br />

Begriffe früherer Zeiten sind unseren<br />

Jugendlichen unbekannt, so dass<br />

wir Hilfestellungen anbieten können.<br />

Auch bei der Dokumentation des Lebenslaufs<br />

helfen wir gern – es geht um<br />

Herkunft, Kindheit, Jugendzeit, Familie,<br />

Greisenalter sowie um die Lehrzeit,<br />

die berufliche Karriere, die Verhaltensweisen<br />

bei den Umbrüchen 1945 und<br />

1989 sowie letztlich um ihre Taten, die<br />

für die Stadt und Nachwelt von Bedeutung<br />

sind.<br />

Es ist wohltuend zu sehen, wie die jugendlichen<br />

Interviewer sich nach und<br />

nach in die Gedankenwelt der Ältesten<br />

versetzen und ihnen mit großer<br />

Hochachtung begegnen.<br />

Dr. Manfred Eckstein<br />

Sonneberg<br />

Aus Erzähltem lernen<br />

Ohne Biografiearbeit gäbe es keine<br />

Informationen über vergangene Kulturen<br />

und das Leben. Prägende Ereignisse<br />

haben Spuren hinterlassen, und<br />

in Gesprächen mit älteren Menschen,<br />

die unterschiedlicher nicht sein können,<br />

staunen wir. Kindheitserinnerungen,<br />

Schule, Studium, Beruf, Familie, überhaupt<br />

die ganze Palette menschlichen<br />

Lebens. Fragen werden aufgeworfen,<br />

warum das Leben so und nicht anders<br />

verlaufen ist, was prägend war.


Erfahrungsaustausch<br />

Aus den kommunalen Seniorenvertretungen<br />

und -beiräten<br />

Frauen hatten nach dem Ende des 2.<br />

Weltkriegs mit anderen Problemen zu<br />

kämpfen: Der Mann tot oder vermisst,<br />

Not und Elend im Land, die Versorgung<br />

der Kinder; das alles musste gemeistert<br />

werden.<br />

Durch meine ehrenamtliche Arbeit<br />

komme ich mit vielen älteren Menschen<br />

zusammen. Es wird viel erzählt<br />

und das ist für mich ein Erlebnisund<br />

Lernpotenzial. Man erkennt, wie<br />

viel Kraft und Energie im Menschen<br />

schlummern, die auch im Alter genutzt<br />

werden. Voraussetzung ist, Vertrauen<br />

zum Erzählenden zu schaffen. Besondere<br />

Bedeutung haben für mich die<br />

Gespräche mit Demenzkranken. Hier<br />

muss viel Zeit zum Zuhören investiert<br />

werden.<br />

Wir wissen um den demografischen<br />

Wandel; im Ehrenamt ist viel zu tun,<br />

um Einsamkeit zu verhindern sowie<br />

Anregungen und Verständnis zu schaffen.<br />

Alte Menschen haben noch Kraft,<br />

kennen ihre Stärken und geistige Flexibilität,<br />

schaffen für sich und ihre Familien<br />

noch Freude. Wir altern aktiv und<br />

versuchen, unsere Lebenserfahrungen<br />

an Alt und Jung weiterzugeben.<br />

Rosemarie Weigel<br />

Weimar-Land<br />

Lebensgeschichte respektieren<br />

Biografiearbeit ist Erinnerung und<br />

Aufarbeitung des Lebens. Sie ist für<br />

jeden älteren Menschen und dessen<br />

Umfeld im Umgang miteinander<br />

sehr wichtig. In der Biografie steckt<br />

viel Lebenserfahrung, Freud und<br />

Leid. Wir begegnen vielen Älteren,<br />

die sich sehr gut an die Vergangenheit<br />

erinnern, aber alles Neue<br />

und Kurzzeitige schlecht behalten<br />

können. Das Erinnerungsvermögen<br />

funktioniert noch gut aus der Vergangenheit.<br />

Das sollte bis ins hohe<br />

Alter respektiert werden, zum Beispiel<br />

sollten liebgewonnene Stücke<br />

wie Bilder oder kleine Möbelstücke<br />

nicht aus dem Umfeld entfernt werden.<br />

Jede Generation hat andere Lebensbiografien,<br />

man sollte sie erfassen<br />

und mit den Jahren vergleichen. Ich<br />

glaube, wir könnten viel Positives<br />

daraus lernen.<br />

Monika Mittermeier<br />

Weimar<br />

Die Würde des Menschen ist antastbar<br />

Forderungen nach einem „sozialen<br />

Pflichtjahr für Rentner“, wie es der<br />

Philosoph und Publizist Richard David<br />

Precht vorschlug, sind mehr <strong>als</strong> provokant<br />

und bilden den geistigen Nährboden<br />

für weitere soziale Einschränkungen<br />

für die Alten.<br />

Bemerkenswert ist, dass weder die<br />

Bundesregierung noch die Parteien<br />

derartigen Auffassungen entgegentreten,<br />

obwohl wir wieder vor der Bundestagswahl<br />

2013 mit seniorenpolitischen<br />

Konzeptionen der Parteien <strong>als</strong><br />

unverbindliche Absichtserklärungen<br />

rechnen können. Nicht erst dann wäre<br />

nach der Glaubwürdigkeit ihrer Altenpolitik<br />

zu fragen.<br />

Die Bundeskanzlerin hat die globale<br />

Finanzkrise <strong>als</strong> einen Prozess bezeichnet,<br />

der das gesellschaftlich-politische<br />

Leben noch in den nächsten Jahren<br />

bestimmen wird. Dem politisch aufgeschlossenen<br />

Bürger wird nicht entgangen<br />

sein, dass der Staat von seinen<br />

Bürgern in absehbarer Zeit verlangen<br />

wird, den Gürtel enger zu schnallen.<br />

Vielleicht überrascht uns der Deutsche<br />

Seniorentag 2012 mit einem Aufschrei<br />

der Senioren.<br />

Solange die besondere Fürsorge der<br />

Gesellschaft für die Alten nicht im<br />

Grundgesetz verankert ist, können<br />

wir weder seniorenpolitische Rechte<br />

einklagen noch uns gegen altendiskriminierende<br />

Strömungen und Äußerungen<br />

zur Wehr setzen. Solange die<br />

-27-<br />

verschiedenen Seniorenorganisationen<br />

nicht mit einer einheitlichen politischen<br />

Stimme auftreten, bleibt ihre<br />

gesellschaftspolitische Wirksamkeit<br />

fraglich. Der Thüringer „Sozialgipfel“<br />

könnte durchaus ein wirksamer Ansatz<br />

für koordiniertes sozialpolitisches<br />

Denken, Kommunizieren und Handeln<br />

sein. Solange ehrenamtliche<br />

gesellschaftliche Arbeit in den Seniorenvertretungen<br />

von der Politik nicht<br />

bewusst gewollt, unterstützt und anerkannt<br />

wird, „schmoren wir im eigenen<br />

Saft“, machen wir uns hin und wieder<br />

etwas vor.<br />

Altersdiskriminierung darf in unserer<br />

Gesellschaft nirgends einen Platz finden.<br />

Dr. Hans-Jürgen Paul<br />

Besuch in der Bibliothek<br />

Der Seniorenbeirat Weimar besuchte<br />

kürzlich die Universitätsbibliothek Weimar.<br />

Herzlich begrüßt wurden wir vom<br />

Bibliotheksdirektor, Dr. Frank Simon-<br />

Ritz, und geführt von der Kunst- und<br />

Baureferentin an der Bibliothek, Sylvelin<br />

Rudolf. Die Beiratsmitglieder erfuhren<br />

und sahen viel zur Geschichte und<br />

Struktur sowie zum Bau der Bibliothek.<br />

Der Umbau des ehemaligen Brauereigebäudes<br />

ist in der Bevölkerung<br />

umstritten. Von innen betrachtet ist die<br />

Bibliothek hell, freundlich, von allen<br />

Seiten aus begehbar; der Bau wurde<br />

gut durchdacht. Die vielen Arbeitsplätze<br />

ermöglichen ein ruhiges Studium.<br />

Jede Etage hat bestimmte Sachgebietsbereiche,<br />

so dass ein leichtes<br />

Orientieren möglich ist. Die Bibliothek<br />

ist für jedermann offen und es kann<br />

kostenfrei das Internet genutzt werden.<br />

Zur Verfügung stehen auch Scanner<br />

und Kopierer. Barrierefreiheit ist in der<br />

Bibliothek weitgehend gewährleistet.<br />

Einen Computerarbeitsplatz für Sehbehinderte<br />

gibt es allerdings nicht.<br />

Nach Auskunft der Bibliotheksleitung<br />

habe sich gezeigt, dass der Bedarf<br />

bislang nicht vorliegt.<br />

Petra Seidel


Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts<br />

verstanden,<br />

aber nur in der Schau nach vorwärts<br />

gelebt werden.<br />

Søren Kierkegaard (1813-1855), dänischer Philosoph<br />

SENIORENREPORT,<br />

17. Jahrg. 1/2012<br />

<strong>Landesseniorenvertretung</strong> Thüringen e. V.<br />

Alter ist Kompetenz<br />

Impressum<br />

Elma van Fliet: Oma, erzähl mal.<br />

Das Erinnerungsalbum deines Lebens.<br />

Knaur Verlag 2008.<br />

12,99 Euro<br />

„Das Bedürfnis zu wissen, wo man<br />

herkommt, ist jahrhundertealt. Allein<br />

die Art, wie wir uns damit auseinandersetzen,<br />

hat sich im Laufe der Jahre<br />

verändert. Früher haben wir ganze<br />

Abende zusammengesessen und uns<br />

Geschichten über die Vergangenheit<br />

erzählt.“ Aufgrund veränderter Familienstrukturen<br />

gibt es heute meist<br />

wenig Gelegenheit, die Vergangenheit<br />

mündlich weiterzugeben. Eine<br />

Möglichkeit sie trotzdem für die<br />

Familie festzuhalten, sind die Erinnerungsalben.<br />

Die gibt es auch für<br />

Opa, Mama, Papa und ganz neutral<br />

<strong>als</strong> „Du, erzähl mal“. Sie können<br />

„leer“ an jemanden verschenkt werden,<br />

der einem viel bedeutet, und<br />

man bekommt sie dann ausgefüllt<br />

zurück. Sie können gemeinsam mit<br />

der betreffenden Person ausgefüllt<br />

werden, wenn dieser das Schreiben<br />

zu viel Mühe macht. Oder aber man<br />

verschenkt sie ausgefüllt.<br />

Auf www.epubli.de/erzaehlmal<br />

können die „Erzähl mal“-Bücher<br />

auch online erstellt werden. MM<br />

Erscheinungsweise viermal jährlich;<br />

Auflage 1500<br />

Nächste Ausgabe erscheint im<br />

Juli 2012<br />

Redaktionsschluss: 15.6.2012<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Landesseniorenvertretung</strong> Thüringen e. V.<br />

Prager Straße 5/11, 99091 Erfurt<br />

Telefon: 0361/562 16 49<br />

Fax: 0361/601 37 46<br />

info@landesseniorenvertretungthueringen.de<br />

www.landesseniorenvertretung<br />

-thueringen.de<br />

Vorsitzende: Irene Ellenberger<br />

Zeitschriftenbeirat:<br />

Dr. Jan Steinhaußen , N. N.<br />

Redaktion: Mandy Mühle (Ge schäfts -<br />

führerin), Dr. Jan Steinhaußen (stellv.<br />

Vorsitzender)<br />

Redaktion Praxisberichte: Reinhild<br />

Rubin (Seniorenbüro)„55plus“/DRK<br />

Dammstraße 32, 07749 Jena,<br />

Tel.: 03641/40 01 84,<br />

Fax: 03641/40 01 11<br />

reinhild.rubin@drk-jena.de<br />

Layout und Satz: Dr. Kerstin Ramm, Grafik und<br />

Werbung, Dorfstr. 15, 07646 Albersdorf,<br />

Tel.: 036692/213 82,<br />

Fax: 036692/355 77,<br />

www.grafikundwerbung-ramm.de<br />

Produktion: Förster & Borries GmbH &<br />

Co. KG, Zwickau<br />

Ehrenamtliche Mitarbeit: Charlotte Birnstiel,<br />

Lisa Gutsche, Günther Koniarcyk<br />

Fotos:<br />

Titelfoto, S. 2, 5, 6 u. r., 7, 8 o., 11 o., 18 o.,<br />

23, 24, 26: fotolia.de; S. 6 u. l., 11 u., 22 o.:<br />

Mandy Mühle; S. 12, 14: Jan Steinhaußen;<br />

S. 19-21, 22 im Text: privat<br />

Wenn Sie Fragen, Anregungen oder Kritik haben, freuen wir uns auf<br />

Ihre Post, E-Mail oder Ihren Anruf. Bitte nehmen Sie mit unseren Redaktionen<br />

in Erfurt (<strong>Landesseniorenvertretung</strong>) oder Jena (Seniorenbüro<br />

„55plus“) Kontakt auf.<br />

Thema nächster SeniorenReport:<br />

Generationensolidarität<br />

-28-<br />

Bilder S. 3, 4, 5 o., 9, 10, 13-17, 19-22 o.,<br />

25 o., 27 o. von Sieghard Narr<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel geben die<br />

Meinung der Autoren wieder und sind keine<br />

Stellungnahmen der Redaktion. Die Redaktion<br />

behält sich vor, eingereichte Beiträge zu kürzen<br />

und zu überarbeiten.<br />

Die Nutzung von Texten und Bildern ist nur nach<br />

Rücksprache mit der <strong>Landesseniorenvertretung</strong><br />

Thüringen e. V. möglich.<br />

Gefördert durch den<br />

Freistaat Thüringen.

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