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Aphorism n=11330 id='VIII.8[5]'

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<strong>Aphorism</strong> <strong>n=11330</strong> <strong>id='VIII.8</strong>[5]' kgw='VIII-1.347' ksa='12.337'<br />

jede Ungerechtigkeit etwas unfreiwilliges: folglich eine<br />

sumphora: so Plato in 9. und 11 Buch(1502) der Gesetze in<br />

Hinsicht auf Tempelraub und Elternmord.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11331 <strong>id='VIII.8</strong>[6]' kgw='VIII-1.347' ksa='12.337'<br />

Die Entwicklung der persönlichen Verantwortlichkeit<br />

zurückgehalten: durch die straff gespannte Geschlechts-Organisation<br />

(die Folge traf nicht den Thäter, und jeder trug die<br />

Folgen Aller — am wunderlichsten war es wohl mit dem<br />

„Gewissen“ des Oberhaupts bestellt, der relativ Alles büßen<br />

mußte)<br />

Die großen Ereignisse:<br />

Sieg des Mannes über das Weib (kriegerisch, Herrenrecht<br />

Sieg des Friedens über den Krieg<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11332 <strong>id='VIII.8</strong>[7]' kgw='VIII-1.347' ksa='12.337'<br />

Die Lust an der Lüge als die Mutter der Kunst, Furcht und<br />

Sinnlichkeit als Mutter der Religion, das Nitimur in vetitum<br />

und die Neugierde als Mutter der Wissenschaft, die Grausamkeit<br />

als Mutter der unegoistischen Moral, die Reue als Ursprung<br />

der socialen Gleichheits-Bewegung, der Wille zur Macht als<br />

Ursprung der Gerechtigkeit, der Krieg als der Vater (des guten<br />

Page Break KGW='VIII-1.348' KSA='12.338'<br />

Gewissens und der Heiterkeit) der Ehrlichkeit, das Herrenrecht<br />

als der Ursprung der Familie; das Mißtrauen als die Wurzel<br />

der Gerechtigkeit und Contemplation<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11333 <strong>id='VIII.8</strong>[8]' kgw='VIII-1.348' ksa='12.338'<br />

Zarathustra<br />

An diesem Werk muß Einem jedes Wort einmal wehgethan<br />

und verwundet, und wieder einmal tief entzückt haben: — was<br />

man nicht so verstanden hat, hat man gar nicht verstanden.<br />

VIII-2<br />

Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888<br />

[ 9 = W II 1. Herbst 1887 ]


Page Break KGW='VIII-2.1' KSA='12.339'<br />

Erstes Buch<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11334 id='VIII.9[1]' kgw='VIII-2.1' ksa='12.339'<br />

Prinzipien und vorausgeschickte<br />

Erwägungen.<br />

1. Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.<br />

Als nothwendige Consequenz der bisherigen Ideale:<br />

absolute Werthlosigkeit.<br />

2. Die Lehre von der ewigen Wiederkunft: als<br />

seine Vollendung, als Krisis.<br />

(1) 3. Diese ganze Entwicklung der Philosophie als<br />

Entwicklungsgeschichte des Willens zur Wahrheit.<br />

Dessen Selbst-In-Fragestellung. Die socialen Werthgefühle<br />

zu absoluten Werthprincipien aufgebauscht.<br />

(2) 4. Das Problem des Lebens: als Wille zur Macht.<br />

(Zeitweiliges Überwiegen der socialen Werthgefühle<br />

begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung<br />

eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere<br />

Gattung möglich wird.) Maaßstab der Stärke: unter den<br />

umgekehrten Werthschätzungen leben können und<br />

sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als<br />

Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als<br />

Züchtung.<br />

Page Break KGW='VIII-2.4' KSA='12.340'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11335 id='VIII.9[2]' kgw='VIII-2.4' ksa='12.340'<br />

(3) Kritik des guten Menschen. (Nicht der<br />

Hypokrisie: — das diente mir höchstens zur Erheiterung<br />

und Erholung) Der bisherige Kampf mit den furchtbaren<br />

Affekten, deren Schwächung, Niederhaltung —: Moral als<br />

Verkleinerung.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11336 id='VIII.9[3]' kgw='VIII-2.4' ksa='12.340'<br />

(4) Kant: macht den erkenntnißtheoretischen Scepticismus<br />

der Engländer möglich für Deutsche<br />

1) indem er, die moralischen und religiösen Bedürfnisse<br />

der Deutschen für denselben interessirt (: so wie<br />

aus gleichen Gründen die neueren Akademiker die


Scepsis benutzten als Vorbereitung für den Platonismus<br />

v. Augustin; so wie Pascal sogar die<br />

moralistische Scepsis benutzte, um das Bedürfniß<br />

nach Glauben zu excitiren („zu rechtfertigen“)<br />

2) indem er ihn scholastisch verschnörkelte und<br />

verkräuselte und dadurch dem wissenschaftlichen<br />

Form-Geschmack der Deutschen annehmbar machte (denn<br />

Locke und Hume an sich waren zu hell, zu klar d.h.<br />

nach deutschen Werthinstinkten geurtheilt „zu<br />

oberflächlich“ — )<br />

Kant: ein geringer Psycholog und Menschenkenner; grob<br />

fehlgreifend in Hinsicht auf große historische Werthe (franz.<br />

Revolut.); Moral-Fanatiker à la Rousseau mit unterirdischer<br />

Christlichkeit der Werthe; Dogmatiker durch und<br />

durch, aber mit einem schwerfälligen Überdruß an diesem<br />

Hang, bis zum Wunsche, ihn(1503) zu tyrannisiren aber<br />

auch in der Scepsis sofort müde; noch von keinem Hauche<br />

kosmopolitischen Geschmacks und antiker Schönheit<br />

angeweht … ein Verzögerer und Vermittler, nichts<br />

Originelles<br />

( — so wie Leibniz zwischen Mechanik und Spiritualism<br />

Page Break KGW='VIII-2.5' KSA='12.341'<br />

wie Goethe zwischen dem Geschmack des 18. Jahrhunderts<br />

und dem des „historischen Sinns“ ( — der wesentlich<br />

ein Sinn des Exotism ist)<br />

wie die deutsche Musik zwischen französischer und<br />

italienischer(1504) Musik<br />

wie Karl der Große zwischen imperium Romanum und<br />

Nationalism.<br />

vermittelte, überbrückte, — Verzögerer par excellence.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11337 id='VIII.9[4]' kgw='VIII-2.5' ksa='12.341'<br />

Zum Schluß: „ein Lehrer dessen gewesen zu sein“<br />

come l'uom s'eterna …<br />

(Inf. XV, 85)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11338 id='VIII.9[5]' kgw='VIII-2.5' ksa='12.341'<br />

(5) Zur Charakteristik des nationalen Genius,<br />

in Hinsicht auf Fremdes und Entlehntes.<br />

der englische Genius vergröbert und vernatürlicht<br />

Alles, was er empfängt


der französische verdünnt, vereinfacht, logisirt,<br />

putzt auf.<br />

der deutsche verwischt, vermittelt, verwickelt,<br />

vermoralisirt.<br />

der italiänische hat bei weitem den freiesten und<br />

feinsten Gebrauch vom Entlehnten gemacht und hundert<br />

Mal mehr hinein gesteckt als herausgezogen: als der reichste<br />

Genius, der am meisten zu verschenken hatte.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11339 id='VIII.9[6]' kgw='VIII-2.5' ksa='12.341'<br />

(6) Zur Aesthetik<br />

Die Sinnlichkeit Bilder des erhöhten siegreichen<br />

Lebens und ihre verklärende<br />

Kraft: so daß eine gewisse Vollkommenheit<br />

der Rausch in die Dinge gelegt wird<br />

Page Break KGW='VIII-2.6' KSA='12.342'<br />

Umgekehrt: wo die Schönheit der Vollkommenheit<br />

sich zeigt, wird die Welt der Sinnlichkeit und<br />

des Rausches mit erregt, aus alter Verwachsenheit.<br />

Deshalb gehört zum religiösen Glück die Sinnlichkeit<br />

und der Rausch.<br />

Und wesentlich insgleichen die sensualistische<br />

Erregbarkeit der Künstler.<br />

„schön“ wirkt entzündend auf das Lustgefühl; man<br />

denke an die verklärende Kraft der „Liebe“. Sollte nicht<br />

umgekehrt wiederum das Verklärte und Vollkommene die<br />

Sinnlichkeit sanft erregen, so daß das Leben als Wohlgefühl<br />

wirkt? —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11340 id='VIII.9[7]' kgw='VIII-2.6' ksa='12.342'<br />

(7) Die überschüssige Kraft in der Geistigkeit,<br />

sich selbst neue Ziele stellend; durchaus nicht bloß<br />

als befehlend und führend für die niedere<br />

Welt oder für die Erhaltung des Organismus,<br />

des „Individuums“. Wir sind mehr als das Individuum,<br />

wir sind die ganze Kette noch mit den Aufgaben<br />

aller Zukünfte der Kette<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11341 id='VIII.9[8]' kgw='VIII-2.6' ksa='12.342'<br />

Zum Plane.


An Stelle der moralischen Werthe lauter<br />

naturalistische Werthe. Vernatürlichung der Moral.<br />

An Stelle der „Sociologie“ eine Lehre von den<br />

Herrschaftsgebilden<br />

An Stelle der „Erkenntnißtheorie“ eine Perspektiven-Lehre<br />

der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte<br />

gehört).<br />

die transfigurirten Affekte: deren höhere<br />

Ordnung, deren „Geistigkeit“.<br />

An Stelle von Metaphysik und Religion die ewige<br />

Page Break KGW='VIII-2.7' KSA='12.343'<br />

Wiederkunftslehre (diese als Mittel der Züchtung und<br />

Auswahl)<br />

(8) „Gott“ als Culminations-Moment: das Dasein eine ewige<br />

Vergottung und Entgottung. Aber darin kein Werth-Höhepunkt<br />

sondern nur Macht-Höhepunkte<br />

Absoluter Ausschluß des Mechanismus und<br />

des Stoffs: beides nur Ausdrucksform niedriger<br />

Stufen, die entgeistigtste(1505) Form des Affektes („des Willens<br />

zur Macht“)<br />

die Verdummung der Welt als Ziel, in Consequenz<br />

des Willens zur Macht, der die Elemente so<br />

unabhängig von einander als möglich macht: Schönheit als<br />

Anzeichen der Gewöhnung und Verwöhnung<br />

des Siegreichen: das Häßliche der Ausdruck<br />

vieler Niederlagen (im Organismus selbst) Keine<br />

Vererbung! Die Kette als Ganzes wachsend —<br />

Der Rückgang vom Höhepunkt im<br />

Werden (der höchsten Vergeistigung der Macht auf dem<br />

sklavenhaftesten Grunde) als Folge dieser höchsten<br />

Kraft darzustellen, welche, gegen sich sich wendend,<br />

nachdem sie nichts mehr zu organisiren hat, ihre Kraft<br />

verwendet, zu deorganisiren …<br />

a) Die immer größere Besiegung der Societäten<br />

und Unterjochung derselben unter eine kleinere, aber<br />

stärkere Zahl.<br />

b) die immer größere Besiegung der Bevorrechteten<br />

und Stärkeren und folglich Heraufkunft der<br />

Demokratie, endlich Anarchie der Elemente.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11342 id='VIII.9[9]' kgw='VIII-2.7' ksa='12.343'<br />

Die Musik der Gegenwart.<br />

Eine Streitschrift<br />

von<br />

F. N.


Page Break KGW='VIII-2.8' KSA='12.344'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11343 id='VIII.9[10]' kgw='VIII-2.8' ksa='12.344'<br />

Zweite Streitschrift<br />

Die Heerden-Optik als Moral.<br />

Unter Moralisten und Moralphilosophen.<br />

Eine Abrechnung mit der Moral.<br />

was hat die Stände-Differenz beigetragen<br />

zur Moral?<br />

was das asketische Ideal?<br />

was die Heerde?<br />

was die Philosophen?<br />

was die Raubthier-Affekte?<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11344 id='VIII.9[11]' kgw='VIII-2.8' ksa='12.344'<br />

Unter Moralisten. — Die großen Moral-Philosophen.<br />

Moral als Verhängniß der Philosophen bisher<br />

Rousseau. Kant. Hegel. Schopenhauer. Lichtenberg. Goethe.<br />

B. Grazian. Macchiavell. Galiani. Montaigne. Pascal.<br />

Carlyle. G. Eliot. H. Spencer.<br />

S. Beuve. Renan. Goncourts. Stendhal. Napoléon.<br />

Plato. Epictet. Epicur. Seneca. Marc-Aurel.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11345 id='VIII.9[12]' kgw='VIII-2.8' ksa='12.344'<br />

(9) Offenbach: französische Musik, mit einem<br />

Voltaireschen Geist, frei, übermüthig, mit einem kleinen<br />

sardonischen Grinsen, aber hell, geistreich bis zur Banalität<br />

( — er schminkt nicht — ) und ohne die mignardise krankhafter<br />

oder blond-wienerischer Sinnlichkeit<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11346 id='VIII.9[13]' kgw='VIII-2.8' ksa='12.344'<br />

Werthe.<br />

„Der Werth des Lebens“: aber Leben ist ein Einzelfall, man<br />

muß alles Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, —<br />

das rechtfertigende Princip ist ein solches, aus dem sich das<br />

Leben erklärt …<br />

Page Break KGW='VIII-2.9' KSA='12.345'


das Leben selbst ist kein Mittel zu etwas; es ist der<br />

Ausdruck von Wachsthumsformen der Macht.<br />

— Daß wir nicht mehr „Wünschbarkeiten“ zu Richtern<br />

über das Sein machen!<br />

— daß wir nicht unsere Endformen der Entwicklung<br />

(z.B. Geist) wieder als ein „An sich“ hinter die Entwicklung<br />

placiren<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11347 id='VIII.9[14]' kgw='VIII-2.9' ksa='12.345'<br />

Schlusscapitel: die letzte Wünschbarkeit.<br />

Schluß des Buchs (wie das Leben, so die Weisheit<br />

selber:) tief und verführerisch.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11348 id='VIII.9[15]' kgw='VIII-2.9' ksa='12.345'<br />

(10) Was Tertullian von den bösen Engeln sagt, das<br />

könnte man von den asketischen Priestern sagen.<br />

Tertullian (Apologet. nr. 22) von den bösen Engeln:<br />

„in Heilung der Krankheiten sind sie wahre Zauberer.<br />

Zunächst nämlich plagen sie; dann aber schreiben sie<br />

Mittel vor, die, bis zum Wunder, neu und nachtheilig sind: —<br />

dennoch aber glaubt man, sie hätten geholfen, weil sie<br />

aufgehört haben zu plagen.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11349 id='VIII.9[16]' kgw='VIII-2.9' ksa='12.345'<br />

(11) „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“<br />

Das „auf daß“ ist verächtlich. Unvornehm …<br />

1) man giebt, wenn man die Befugniß zu richten hat,<br />

damit schlechterdings nicht zu, daß Andere die Befugniß<br />

haben, uns zu richten …<br />

2) die unangenehmen Folgen kommen für einen, der<br />

zu irgend einer Aufgabe geschaffen ist, nicht als<br />

Gegengründe gegen diese Aufgabe in Betracht: unter<br />

Umständen können es Reizmittel sein.<br />

Page Break KGW='VIII-2.10' KSA='12.346'<br />

Nichts ist unverständiger als eine Übertreibung an<br />

Moral hinzustellen (z.B. liebet eure Feinde): damit hat man<br />

die Vernunft aus der Moral herausgetrieben … die<br />

Natur aus der Moral


Absolute Überzeugung: daß die Werthgefühle oben<br />

und unten verschieden sind; daß zahllose<br />

Erfahrungen den Unteren fehlen, daß von Unten<br />

nach Oben das Mißverständniß nothwendig ist.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11350 id='VIII.9[17]' kgw='VIII-2.10' ksa='12.346'<br />

(12) Die Verkleinerung des Menschen muß lange<br />

als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites Fundament<br />

zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch<br />

darauf stehen kann: inwiefern bisher jede verstärkte Art<br />

Mensch auf einem Niveau der niedrigeren<br />

stand — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11351 id='VIII.9[18]' kgw='VIII-2.10' ksa='12.346'<br />

(13) Krieg gegen das christliche Ideal, gegen<br />

die Lehre von der „Seligkeit“ und dem Heil als Ziel des<br />

Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen, der reinen<br />

Herzen, der Leidenden und Mißglückten usw. ( — was<br />

geht uns Gott, der Glaube an Gott noch an! „Gott“ heute<br />

bloß ein verblichenes Wort, nicht einmal mehr ein<br />

Begriff!) Aber, wie Voltaire auf dem Sterbebette sagen:<br />

„reden Sie mir nicht von dem Menschen da!“<br />

Wann und wo hat je ein Mensch, der in Betracht<br />

kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich gesehen?<br />

Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und<br />

Nierenprüfer haben muß! — man blättere alle Helden<br />

eines Plutarch durch.<br />

Page Break KGW='VIII-2.11' KSA='12.347'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11352 id='VIII.9[19]' kgw='VIII-2.11' ksa='12.347'<br />

(14) Franz von Assisi: verliebt, populär, Poet, kämpft<br />

gegen die Aristokratie und Rangordnung der Seelen<br />

zu Gunsten der Niedersten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11353 id='VIII.9[20]' kgw='VIII-2.11' ksa='12.347'<br />

(15) Sokrates: kämpft gegen die vornehmen Instinkte,<br />

sehr plebejisch (gegen die Kunst, aber vorbildlich


wissenschaftlich. Spott über Renans fehlgreifenden<br />

Instinkt, der noblesse und Wissenschaft<br />

zusammenmengt.)<br />

Die Wissenschaft und die Demokratie<br />

gehören zusammen (was auch Ms Renan sagen mag) so<br />

gewiß als die Kunst und die „gute Gesellschaft“.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11354 id='VIII.9[21]' kgw='VIII-2.11' ksa='12.347'<br />

(16) Zu Ehren der Laster:<br />

die griechische Cultur und die Päderastie<br />

die deutsche Musik und die Trunksucht<br />

die Wissenschaft und<br />

die Rachsucht<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11355 id='VIII.9[22]' kgw='VIII-2.11' ksa='12.347'<br />

(17) Die großen Lügen in der Historie:<br />

als ob es die Verderbniß des Heidenthums<br />

gewesen wäre, die dem Christenthum die Bahn gemacht<br />

habe! Aber es war die Schwächung und Vermoralisirung<br />

des antiken Menschen! Die Umdeutung der<br />

Naturtriebe in Laster war schon vorhergegangen!<br />

— als ob die Verderbniß der Kirche die<br />

Ursache der Reformation gewesen sei; nur der Vorwand,<br />

die Selbstvorlügnerei seitens ihrer Agitatoren — es<br />

waren starke Bedürfnisse da, deren Brutalität eine<br />

geistliche Bemäntelung sehr nöthig hatte<br />

Page Break KGW='VIII-2.12' KSA='12.348'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11356 id='VIII.9[23]' kgw='VIII-2.12' ksa='12.348'<br />

(18) die lügnerische Auslegung der Worte, Gebärden und<br />

Zustände Sterbender: da wird z.B. die Furcht vor<br />

dem Tode mit der Furcht vor dem „Nach-dem-Tode“<br />

grundsätzlich verwechselt …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11357 id='VIII.9[24]' kgw='VIII-2.12' ksa='12.348'<br />

die imitatio als Buch der Verführung (bei Comte)


<strong>Aphorism</strong> n=11358 id='VIII.9[25]' kgw='VIII-2.12' ksa='12.348'<br />

die vier großen Demokraten Sokrates Christus Luther<br />

Rousseau<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11359 id='VIII.9[26]' kgw='VIII-2.12' ksa='12.348'<br />

(19) gegen den Werth des Ewig-Gleichbleibenden<br />

(v. Spinozas Naivetät, Descartes ebenfalls)<br />

der Werth des Kürzesten und Vergänglichsten, das<br />

verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange<br />

vita —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11360 id='VIII.9[27]' kgw='VIII-2.12' ksa='12.348'<br />

(20) Ersatz der Moral durch den Willen zu unserem<br />

Ziele, und folglich zu dessen Mitteln.<br />

des kategorischen Imperativs durch den Natur-Imperativ<br />

Kein Lob haben wollen: man thut, was Einem<br />

nützlich ist oder was Einem Vergnügen macht oder was<br />

man thun muß.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11361 id='VIII.9[28]' kgw='VIII-2.12' ksa='12.348'<br />

(21) Die großen Fälschungen der Psychologen:<br />

1) der Mensch strebt nach Glück<br />

2) die Moral ist der einzige Weg zum<br />

Glücklich werden<br />

Page Break KGW='VIII-2.13' KSA='12.349'<br />

fader und leerer Begriff der christlichen „Seligkeit“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11362 id='VIII.9[29]' kgw='VIII-2.13' ksa='12.349'<br />

(22) Absoluter Instinkt-Mangel des Ms. Renan, der die<br />

Wissenschaft und die noblesse zusammen in Eins rechnet.<br />

Die Wissenschaft ist grund-demokratisch und<br />

anti-oligarchisch.


<strong>Aphorism</strong> n=11363 id='VIII.9[30]' kgw='VIII-2.13' ksa='12.349'<br />

(23) Berichtigung des Begriffs<br />

Der Egoismus. Hat man begriffen, inwiefern<br />

„individuum“ ein Irrthum ist, sondern jedes Einzelwesen<br />

eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht<br />

bloß „vererbt“, sondern er selbst …), so hat dies<br />

Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung.<br />

Der Instinkt redet darin ganz richtig; wo dieser<br />

Instinkt nachläßt ( — wo das Individuum sich einen<br />

Werth erst im Dienst für Andre sucht) kann man<br />

sicher auf Ermüdung und Entartung schließen. Der<br />

Altruismus der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie,<br />

ist ein Instinkt dafür, sich wenigstens einen zweiten<br />

Werth zu schaffen, im Dienste andrer Egoismen.<br />

Meistens aber ist er nur scheinbar: ein Umweg<br />

zur Erhaltung des eignen Lebensgefühls,<br />

Werthgefühls —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11364 id='VIII.9[31]' kgw='VIII-2.13' ksa='12.349'<br />

(24) In der Philosophie handelt es sich wie auf dem<br />

Schlachtfelde darum<br />

— innere Linien —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11365 id='VIII.9[32]' kgw='VIII-2.13' ksa='12.349'<br />

wer nicht an dem scheußlichen Obskurantism der<br />

Bayreuther Antheil genommen hat<br />

Page Break KGW='VIII-2.14' KSA='12.350'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11366 id='VIII.9[33]' kgw='VIII-2.14' ksa='12.350'<br />

(25) der Mangel an Zucht: in der Zukunft<br />

braucht es viel Askese für die Stärkung des Willens, das<br />

freiwillige Sich-Versagen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11367 id='VIII.9[34]' kgw='VIII-2.14' ksa='12.350'<br />

(26) Arbeiter sollten wie Soldaten empfinden lernen.


Ein Honorar, ein Gehalt, aber keine Bezahlung! Kein<br />

Verhältniß zwischen Abzahlung und Leistung!<br />

Sondern das Individuum, je nach seiner Art, so stellen,<br />

daß es das Höchste leisten kann, was in seinem<br />

Bereiche liegt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11368 id='VIII.9[35]' kgw='VIII-2.14' ksa='12.350'<br />

(27) 1. Der Nihilism ein normaler Zustand.<br />

Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die<br />

Antwort auf das „Warum?“ was bedeutet Nihilism? —<br />

daß die obersten Werthe sich entwerthen.<br />

Er ist zweideutig:<br />

A)) Nihilism als Zeichen der gesteigerten Macht<br />

des Geistes: als activer Nihilism.<br />

Er kann ein Zeichen von Stärke sein: die Kraft<br />

des Geistes kann so angewachsen sein, daß ihr die<br />

bisherigen Ziele („Überzeugungen“, Glaubensartikel)<br />

unangemessen sind<br />

— ein Glaube nämlich drückt im Allgemeinen den<br />

Zwang von Existenzbedingungen aus, eine<br />

Unterwerfung unter die Autorität von Verhältnissen,<br />

unter denen ein Wesen gedeiht, wächst, Macht<br />

gewinnt …<br />

Andrerseits ein Zeichen von nicht genügender<br />

Stärke, um produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein<br />

Warum? einen Glauben zu setzen.<br />

Page Break KGW='VIII-2.15' KSA='12.351'<br />

Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als<br />

gewaltthätige Kraft der Zerstörung: als aktiver<br />

Nihilism. Sein Gegensatz wäre der müde Nihilism,<br />

der nicht mehr angreift: seine berühmteste<br />

Form der Buddhismus: als passivischer Nihilism<br />

Der Nihilism stellt einen pathologischen<br />

Zwischenzustand dar (pathologisch ist die ungeheure<br />

Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen<br />

Sinn): sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht<br />

stark genug sind: sei es, daß die décadence noch zögert<br />

und ihre Hülfsmittel noch nicht erfunden hat.<br />

B)) Nihilism als Niedergang und Rückgang<br />

der Macht des Geistes: der passive Nihilism:<br />

als ein Zeichen von Schwäche: die Kraft des Geistes<br />

kann ermüdet, erschöpft sein, so daß die bisherigen<br />

Ziele und Werthe unangemessen sind und keinen<br />

Glauben mehr finden —


daß die Synthesis der Werthe und Ziele (auf der jede<br />

stärke Cultur beruht) sich löst, so daß die einzelnen<br />

Werthe sich Krieg machen: Zersetzung<br />

daß Alles, was erquickt, heilt, beruhigt, betäubt, in<br />

den Vordergrund tritt, unter verschiedenen Verkleidungen,<br />

religiös, oder moralisch oder politisch oder<br />

ästhetisch usw.<br />

2. Voraussetzung dieser Hypothese<br />

Daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute<br />

Beschaffenheit der Dinge, kein „Ding an sich“ giebt<br />

— dies ist selbst ein Nihilism, und<br />

zwar der extremste. Er legt den Werth der<br />

Dinge gerade dahinein, daß diesem Werthe keine Realität<br />

Page Break KGW='VIII-2.16' KSA='12.352'<br />

entspricht und entsprach, sondern nur ein Symptom<br />

von Kraft auf Seiten der Werth-Ansetzer, eine<br />

Simplification zum Zweck des Lebens<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11369 id='VIII.9[36]' kgw='VIII-2.16' ksa='12.352'<br />

der Wille zur Wahrheit als Wille zur Macht<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11370 id='VIII.9[37]' kgw='VIII-2.16' ksa='12.352'<br />

Wesen des Urtheils (Ja-setzend).<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11371 id='VIII.9[38]' kgw='VIII-2.16' ksa='12.352'<br />

(28) die Werthschätzung „ich glaube, daß das und<br />

das so ist“ als Wesen der „Wahrheit“<br />

in den Werthschätzungen drücken sich<br />

Erhaltungs- und Wachsthums-Bedingungen aus<br />

alle unsere Erkenntnißorgane und -Sinne<br />

sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs- und<br />

Wachsthums-Bedingungen<br />

das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien,<br />

zur Dialektik, also die Werthschätzung<br />

der Logik beweist nur die durch Erfahrung bewiesene<br />

Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht<br />

deren „Wahrheit“.


Daß eine Menge Glauben da sein muß, daß<br />

geurtheilt werden darf, daß der Zweifel in<br />

Hinsicht auf alle wesentlichen Werthe fehlt: —<br />

das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines<br />

Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden muß,<br />

ist nothwendig; nicht, daß etwas wahr ist.<br />

„die wahre und die scheinbare Welt“ —<br />

dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf<br />

Werthverhältnisse<br />

Page Break KGW='VIII-2.17' KSA='12.353'<br />

wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen<br />

projicirt als Prädikate des Seins überhaupt<br />

daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um<br />

zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die „wahre“<br />

Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine<br />

seiende ist.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11372 id='VIII.9[39]' kgw='VIII-2.17' ksa='12.353'<br />

(29) die Werthe und deren Veränderung<br />

steht im Verhältniß zu dem Macht-Wachsthum<br />

des Werthsetzenden<br />

das Maaß von Unglauben von zugelassener<br />

„Freiheit des Geistes“ als Ausdruck des Machtwachsthums<br />

„Nihilism“ als Ideal der höchsten Mächtigkeit<br />

des Geistes, des überreichsten Lebens; theils<br />

zerstörerisch theils ironisch<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11373 id='VIII.9[40]' kgw='VIII-2.17' ksa='12.353'<br />

(30) Daß die Dinge eine Beschaffenheit an sich<br />

haben, ganz abgesehen von der Interpretation und<br />

Subjektivität, ist eine ganz müssige Hypothese:<br />

es würde voraussetzen, daß das Interpretiren<br />

und Subjektiv-sein nicht wesentlich sei, daß ein<br />

Ding aus allen Relationen gelöst noch Ding sei.<br />

Umgekehrt: der anscheinende objektive Chararter der<br />

Dinge: könnte er nicht bloß auf eine Graddifferenz<br />

innerhalb des Subjektiven hinauslaufen? — daß<br />

etwa das Langsam-Wechselnde uns als „objektiv“ dauernd,<br />

seiend, „an sich“ sich herausstellte<br />

— daß das Objektive nur ein falscher Artbegriff und<br />

Gegensatz wäre innerhalb des Subjektiven?


Page Break KGW='VIII-2.18' KSA='12.354'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11374 id='VIII.9[41]' kgw='VIII-2.18' ksa='12.354'<br />

(31) Was ist ein Glaube? Wie entsteht er? Jeder<br />

Glaube ist ein Für-wahr-halten.<br />

Die extremste Form des Nihilism wäre: daß<br />

jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten nothwendig<br />

falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht<br />

giebt. Also: ein perspektivischer Schein,<br />

dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere,<br />

verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend nöthig<br />

haben)<br />

— daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns<br />

die Scheinbarkeit, die Nothwendigkeit der Lüge<br />

eingestehn können, ohne zu Grunde zu gehn.<br />

Insofern könnte Nihilism, als Leugnung<br />

einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine<br />

göttliche Denkweise sein: — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11375 id='VIII.9[42]' kgw='VIII-2.18' ksa='12.354'<br />

(32) Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes<br />

bisheriges Wollen compromittirt zu sehn, als<br />

ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswolle: und<br />

ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der<br />

tiefen Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch<br />

die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich vor<br />

mir sah.<br />

Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar<br />

eingekerkert in meine Philologie und Lehrthätigkeit<br />

— in einen Zufall und Nothbehelf meines Lebens —:<br />

ich wußte nicht mehr, wie herauskommen und war müde,<br />

verbraucht, vernutzt.<br />

Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf<br />

das Gegentheil hinauswollte als der Schopenhauers: auf<br />

eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem<br />

Page Break KGW='VIII-2.19' KSA='12.355'<br />

Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten: — dafür<br />

hatte ich die Formel „dionysisch“ in den Händen.<br />

( — daß ein „An-sich-der-Dinge“ nothwendig gut,<br />

selig, wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers<br />

Interpretation des An-sich's als Wille ein wesentlicher<br />

Schritt: nur verstand er nicht diesen Willen zu<br />

vergöttlichen: er blieb im moralisch christlichen Ideal<br />

hängen


Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft<br />

der christlichen Werthe, daß nun, nachdem ihm das Ding<br />

an sich nicht mehr „Gott“ war, es schlecht, dumm, absolut<br />

verwerflich sein mußte. Er begriff nicht, daß es<br />

unendliche Arten des Anders-sein-könnens, selbst des<br />

Gott-sein-könnens geben kann.<br />

Fluch jener bornirten Zweiheit: Gut und Böse.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11376 id='VIII.9[43]' kgw='VIII-2.19' ksa='12.355'<br />

(33) Die Frage des Nihilism „wozu?“ geht von der<br />

bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von<br />

außen her gestellt, gegeben, gefordert schien — nämlich<br />

durch irgend eine übermenschliche Autorität.<br />

Nachdem man verlernt hat an diese zu glauben,<br />

sucht man doch noch nach alter Gewöhnung eine andere<br />

Autorität, welche unbedingt zu reden<br />

wüßte, Ziele und Aufgaben befehlen könnte.<br />

Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je<br />

mehr emancipirt von der Theologie, um so imperativischer<br />

wird die Moral); als Schadenersatz für eine<br />

persönliche Autorität. Oder die Autorität der<br />

Vernunft. Oder der sociale Instinkt (die Heerde)<br />

Oder die Historie mit einem immanenten Geiste, welche<br />

ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen<br />

kann. Man möchte herumkommen um den<br />

Willen, um das Wollen eines Zieles, um das Risico,<br />

Page Break KGW='VIII-2.20' KSA='12.356'<br />

sich selbst ein Ziel zu geben; man möchte die<br />

Verantwortung abwälzen ( — man würde den Fatalism<br />

acceptiren) Endlich: Glück, und, mit einiger<br />

Tartüfferie, das Glück der Meisten<br />

individuelle Ziele und deren Widerstreit<br />

collektive Ziele im Kampf mit individuellen<br />

Jedermann wird Partei dabei, auch die<br />

Philosophen.<br />

Man sagt sich 1) ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nöthig<br />

2) ist gar nicht möglich vorherzusehen<br />

Gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten<br />

Kraft nöthig wäre, ist er am schwächsten<br />

und kleinmüthigsten.<br />

Absolutes Mißtrauen gegen die<br />

organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze.<br />

Zeit, wo alle „intuitiven Wertschätzungen“ der<br />

Reihe nach in den Vordergrund treten, als ob man von<br />

ihnen die Direktiven bekommen könne, die


man sonst nicht mehr hat.<br />

— „wozu?“ die Antwort wird verlangt vom<br />

1) Gewissen<br />

2) Trieb zum Glück<br />

3) „socialen Instinkt“ (Heerde)<br />

4) Vernunft („Geist“)<br />

— nur um nicht wollen zu müssen, sich selbst<br />

da „Wozu“ setzen zu müssen.<br />

5) endlich: Fatalismus, „es giebt keine<br />

Antwort“ aber „es geht irgend wohin“, „es ist<br />

unmöglich ein wozu? zu wollen“, mit Ergebung …<br />

oder Revolte … Agnosticismus in<br />

Hinsicht auf das Ziel<br />

6) endlich Verneinung als Wozu des Lebens;<br />

Page Break KGW='VIII-2.21' KSA='12.357'<br />

Leben als etwas, das sich als unwerth begreift<br />

und endlich aufhebt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11377 id='VIII.9[44]' kgw='VIII-2.21' ksa='12.357'<br />

(Zur dritten Abhandlung)<br />

(34) Hauptgesichtspunkt: daß man nicht die<br />

Aufgabe der höheren species in der Leitung der<br />

niederen sieht (wie es z.B. Comte macht — ) sondern<br />

die niedere als Basis, auf der eine höhere species ihrer<br />

eigenen Aufgabe lebt, — auf der sie erst stehen<br />

kann.<br />

die Bedingungen, unter denen die starke und<br />

vornehme species sich erhält (in Hinsicht auf geistige<br />

Zucht), sind umgekehrt als die unter denen die<br />

„industriellen Massen“ der Krämer à la Spencer stehn.<br />

Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten<br />

Naturen freisteht, zur Ermöglichung ihrer<br />

Existenz, — Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung<br />

selbst — das würde, wenn es den mittleren Naturen<br />

freistünde, diese nothwendig zu Grunde richten — und thut<br />

es auch. Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die<br />

Mäßigkeit, die feste „Überzeugung“ am Platz, — kurz die<br />

Heerdentugenden: unter ihnen wird diese mittlere Art<br />

Mensch vollkommen.<br />

Ursachen des Nihilism:<br />

1) es fehlt die höhere Species d.h. die,<br />

deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den<br />

Glauben an den Menschen aufrecht erhält. (Man denke, was<br />

man Napoleon verdankt: fast alle höheren Hoffnungen<br />

dieses Jahrhunderts)<br />

2) die niedere species „Heerde“ „Masse“


„Gesellschaft“ verlernt die Bescheidenheit und bauscht<br />

ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen<br />

Werthen auf. Dadurch wird das ganze Dasein<br />

Page Break KGW='VIII-2.22' KSA='12.358'<br />

vulgarisirt: insofern nämlich die Masse herrscht,<br />

tyrannisirt sie die Ausnahmen, so daß diese den<br />

Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden<br />

Alle Versuche, höhere Typen auszudenken,<br />

manquirt („Romantik“, der Künstler, der Philosoph,<br />

gegen Carlyles Versuch, ihnen die höchsten<br />

Moralwerthe zuzulegen).<br />

Widerstand gegen höheren Typus als Resultat.<br />

Niedergang und Unsicherheit aller<br />

höheren Typen; der Kampf gegen das Genie<br />

(„Volkspoesie“ usw.) Mitleiden mit den Niederen und<br />

Leidenden als Maaßstab für die Höhe der Seele<br />

es fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der<br />

That, nicht nur der Umdichter<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11378 id='VIII.9[45]' kgw='VIII-2.22' ksa='12.358'<br />

(35) Im Allgemeinen ist jedes Ding so viel<br />

werth, als man dafür bezahlt hat. Dies<br />

gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isolirt<br />

nimmt; die großen Fähigkeiten des Einzelnen stehn außer<br />

allem Verhältniß zu dem, was er selbst dafür gethan,<br />

geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine<br />

Geschlechts-Vorgeschichte an, so entdeckt man da die<br />

Geschichte einer ungeheuren Aufsparung und Capital-Sammlung von<br />

Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten,<br />

Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch so viel<br />

gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder als<br />

Gabe des Himmels und „Zufalls“ dasteht, wurde er groß.<br />

„Vererbung“ ein falscher Begriff. Für das, was Einer ist,<br />

haben seine Vorfahren die Kosten bezahlt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11379 id='VIII.9[46]' kgw='VIII-2.22' ksa='12.358'<br />

(36) Der Wille zur Wahrheit<br />

1) als Eroberung und Kampf mit der Natur<br />

Descartes' Urtheil der Gelehrten<br />

Page Break KGW='VIII-2.23' KSA='12.359'<br />

2) als Widerstand gegen regierende Autoritäten


3) als Kritik des uns Schädlichen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11380 id='VIII.9[47]' kgw='VIII-2.23' ksa='12.359'<br />

Geschichte der wissenschaftlichen Methode,<br />

von A. Comte beinahe als Philosophie selber verstanden<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11381 id='VIII.9[48]' kgw='VIII-2.23' ksa='12.359'<br />

(37) das Feststellen zwischen „wahr“ und<br />

„unwahr“, das Feststellen überhaupt von<br />

Thatbeständen ist grundverschieden von dem schöpferischen<br />

Setzen, vom Bilden, Gestalten, Überwältigen,<br />

Wollen, wie es im Wesen der Philosophie<br />

liegt. Einen Sinn hineinlegen — diese Aufgabe bleibt<br />

unbedingt immer noch übrig, gesetzt daß kein<br />

Sinn darinliegt. So steht es mit Tönen, aber<br />

auch mit Volks-Schicksalen: sie sind der verschiedensten<br />

Ausdeutung und Richtung zu verschiedenen<br />

Zielen fähig. Die noch höhere Stufe ist ein Zielsetzen<br />

und darauf hin das Thatsächliche einformen,<br />

also die Ausdeutung der That und nicht bloß<br />

die begriffliche Umdichtung.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11382 id='VIII.9[49]' kgw='VIII-2.23' ksa='12.359'<br />

(38) Man ist vielmehr das Kind seiner vier Grosseltern als<br />

seiner zwei Eltern: das liegt daran, daß in der Zeit, wo<br />

wir gezeugt wurden, die Eltern meistens sich selbst noch<br />

nicht festgestellt hatten; die Keime des großväterlichen<br />

Typus werden in uns reif; in unsren Kindern die Keime<br />

unsrer Eltern.<br />

Page Break KGW='VIII-2.24' KSA='12.360'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11383 id='VIII.9[50]' kgw='VIII-2.24' ksa='12.360'<br />

(39) Nichts ist weniger unschuldig als das neue Testament.<br />

Man weiß, auf welchem Boden es gewachsen ist. Dies<br />

Volk, mit einem unerbittlichen Willen zu sich selbst, das<br />

sich, nachdem es jeden natürlichen Halt verloren und sein<br />

Recht auf Dasein längst eingebüßt hatte, dennoch<br />

durchzusetzen wußte und dazu nöthig hatte, sich ganz und gar


auf unnatürliche, rein imaginäre Voraussetzungen (als<br />

auserwähltes Volk, als Gemeinde der Heiligen, als Volk<br />

der Verheißung, als „Kirche“) aufzubauen: dies Volk<br />

handhabt die pia fraus mit einer Vollendung, mit einem<br />

Grad „guten Gewissens“ daß(1506) man nicht vorsichtig genug<br />

sein kann, wenn es Moral predigt. Wenn Juden als<br />

die Unschuld selber auftreten, da ist die Gefahr groß<br />

geworden: man soll seinen kleinen fond Verstand, von<br />

Mißtrauen, von Bosheit immer in der Hand haben, wenn<br />

man das neue Testament liest.<br />

Leute niedrigster Herkunft, zum Theil Gesindel, die<br />

Ausgestoßenen nicht nur der guten, sondern auch der<br />

achtbaren Gesellschaft, abseits selbst vom Geruche<br />

der Cultur aufgewachsen, ohne Zucht, ohne Wissen, ohne<br />

jede Ahnung davon, daß es(1507) in geistigen Dingen Gewissen<br />

geben könnte (das Wort „Geist“ immer nur als<br />

Mißverständniß da: was alle Welt „Geist“ nennt ist diesem<br />

Volke immer noch „Fleisch“) aber — Juden: instinktiv<br />

klug, aus allen abergläubischen Voraussetzungen, mit<br />

der Unwissenheit selbst einen Vorzug, eine Verführung<br />

zu schaffen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11384 id='VIII.9[51]' kgw='VIII-2.24' ksa='12.360'<br />

(40) In wie fern der Wille zur Macht als das<br />

Allein- und Absolut-Unmoralische übrig bleibt:<br />

s. Stuart(1508) Mill (über Comte)<br />

„wir halten das Leben für nicht so reich an Genüssen,<br />

Page Break KGW='VIII-2.25' KSA='12.361'<br />

als daß es der Pflege aller derer sollte entbehren können,<br />

die sich auf die egoistischen Neigungen beziehn. Im<br />

Gegentheil, wir glauben, daß eine genügende Befriedigung<br />

dieser letzteren, nicht im Übermaaß, wohl aber bis<br />

zu jenem Maaße, das den Genuß am vollsten<br />

gewährt, fast immer auf die wohlwollenden Triebe<br />

günstig einwirkt. Die Versittlichung der persönlichen<br />

Genüsse besteht für uns nicht darin, daß man sie auf das<br />

möglichst kleine Maaß beschränkt, sondern in der<br />

Ausbildung des Wunsches, sie mit Anderen und mit allen<br />

Anderen zu theilen und darin, daß man jeden Genuß<br />

verschmäht, der sich nicht in dieser Weise theilen läßt.<br />

Es giebt nur eine Neigung, oder Leidenschaft,<br />

die mit dieser Bedingung dauernd<br />

unverträglich ist, nämlich die Sucht<br />

zu herrschen — ein Streben, das die entsprechende<br />

Erniedrigung Anderer in sich schließt und zur<br />

Voraussetzung hat.“


<strong>Aphorism</strong> n=11385 id='VIII.9[52]' kgw='VIII-2.25' ksa='12.361'<br />

(41) Der Muthigste unter uns hat nicht Muth genug zu<br />

dem, was er eigentlich weiß … Darüber, wo Einer<br />

stehen bleibt oder noch nicht, wo Einer urtheilt „hier<br />

ist die Wahrheit“, entscheidet Grad und Stärke seiner<br />

Tapferkeit; mehr jedenfalls als irgend welche Feinheit<br />

oder Stumpfheit von Auge und Geist.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11386 id='VIII.9[53]' kgw='VIII-2.25' ksa='12.361'<br />

(42) die Juden haben in der Sphäre der Kunst das Genie<br />

gestreift, mit H. Heine und Offenbach, diesem<br />

geistreichsten und übermüthigsten Satyr, der als Musiker zur<br />

großen Tradition hält und für den, der nicht bloß Ohren<br />

hat, eine rechte Erlösung von den gefühlsamen und im<br />

Grunde entarteten Musikern der deutschen Romantik ist<br />

Page Break KGW='VIII-2.26' KSA='12.362'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11387 id='VIII.9[54]' kgw='VIII-2.26' ksa='12.362'<br />

— ein Weib, das an dem, was es liebt, leiden will …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11388 id='VIII.9[55]' kgw='VIII-2.26' ksa='12.362'<br />

(43) Den Werth eines Menschen darnach abschätzen,<br />

was er den Menschen nützt oder kostet<br />

oder schadet: das bedeutet ebensoviel und<br />

ebensowenig als ein Kunstwerk abschätzen je nach den<br />

Wirkungen, die es thut. Aber ein Kunstwerk will<br />

mit Kunstwerken verglichen sein; und damit ist der<br />

Werth des Menschen im Vergleich mit anderen<br />

Menschen gar nicht berührt.<br />

Die „moralische Werthschätzung“, so weit sie eine<br />

sociale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen<br />

Wirkungen.<br />

Ein Mensch mit seinem eignen Geschmack auf der<br />

Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit,<br />

unmittheilbar, unmittheilsam — ein unausgerechneter<br />

Mensch, also ein Mensch einer höheren,<br />

jedenfalls anderen Species: wie wollt ihr den abwerthen


können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht<br />

vergleichen könnt?<br />

Ich finde den typischen Stumpfsinn in Hinsicht auf<br />

diesen Werth bei jenem typischen Flachkopf,<br />

dem Engländer J. St. Mill: er sagt z.B. von A. Comte „er<br />

betrachtete in seinen früheren Tagen Napoleons Namen<br />

und Andenken mit einem Ingrimm, der ihm die<br />

höchste Ehre macht; später freilich erklärte<br />

er Napoleon für einen schätzenswertheren Diktator als<br />

Louis Philipp; — etwas, das die Tiefe ermessen läßt, zu<br />

der sein sittlicher Maaßstab heruntergesunken<br />

war“.<br />

Die moralische Abwerthung hat die<br />

größte Urtheils-Stumpfheit im Gefolge gehabt: der Werth<br />

Page Break KGW='VIII-2.27' KSA='12.363'<br />

eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast übersehn,<br />

fast geleugnet.<br />

Rest der naiven Teleologie: der Werth des<br />

Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11389 id='VIII.9[56]' kgw='VIII-2.27' ksa='12.363'<br />

Historiker und andere Todtengräber, solche, die zwischen<br />

Särgen und Sägespänen leben —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11390 id='VIII.9[57]' kgw='VIII-2.27' ksa='12.363'<br />

(44) Philosophie als die Kunst, die Wahrheit zu entdecken:<br />

so nach Aristoteles. Dagegen die Epicureer, die sich<br />

die sensualistische Theorie der Erkenntniß des Aristoteles<br />

zu Nutze machten: gegen das Suchen der Wahrheit ganz<br />

ironisch und ablehnend; „Philosophie als eine Kunst des<br />

Lebens“.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11391 id='VIII.9[58]' kgw='VIII-2.27' ksa='12.363'<br />

die drei großen Naivetäten:<br />

Erkenntniß als Mittel zum Glück (als ob …<br />

als Mittel zur Tugend (als ob …<br />

als Mittel zur „Verneinung des Lebens“,<br />

— insofern sie ein Mittel zur<br />

Enttäuschung ist — (als ob …)


<strong>Aphorism</strong> n=11392 id='VIII.9[59]' kgw='VIII-2.27' ksa='12.363'<br />

(45) — so stehen sie da, die Werthe aus Urzeiten: wer könnte<br />

sie umwerfen, diese schweren granitenen Katzen?<br />

— deren Sinn ein Widersinn, deren Witz ein Doch- und<br />

Aber-Witz ist<br />

— ungeduldige und feurige Geister, die wir nur an<br />

Wahrheiten glauben, die man erräth: alles Beweisen-wollen<br />

macht uns widerspänstig, — wir flüchten beim<br />

Anblick des Gelehrten und seines Schleichens von Schluß<br />

zu Schluß.<br />

Page Break KGW='VIII-2.28' KSA='12.364'<br />

— Hartnäckige Geister, fein und kleinlich<br />

— was um euch wohnt, das wohnt sich bald auch ein.<br />

— ausgedorrte sandige Seelen, trockne Flußbetten<br />

— langen Willens, tief in seinem Mißtrauen und vom<br />

Moor der Einsamkeit überwachsen<br />

— Heimlich verbrannt, nicht für seinen Glauben,<br />

sondern dafür, daß er zu keinem Glauben mehr den Muth<br />

hat<br />

— vor kleinen runden Thatsachen auf dem Bauche<br />

liegen<br />

— was man nicht machen wollte als es Zeit dazu war,<br />

muß man schon nachher wollen; man hat „gut zu machen“,<br />

was man nicht gut gethan hat.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11393 id='VIII.9[60]' kgw='VIII-2.28' ksa='12.364'<br />

(46) Ungeheure Selbstbesinnung: nicht als Individuum,<br />

sondern als Menschheit sich bewußt werden. Besinnen<br />

wir uns, denken wir zurück: gehen wir<br />

die kleinen und großen Wege<br />

A. Der Mensch sucht „die Wahrheit“: eine Welt, die<br />

nicht sich widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine<br />

wahre Welt — eine Welt, in der man nicht leidet:<br />

Widerspruch, Täuschung, Wechsel — Ursachen des Leidens!<br />

Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein<br />

soll, giebt; er möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische<br />

Kritik: selbst das „Ich“ als scheinbar, als nicht-real)<br />

Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der<br />

Realität? —<br />

Warum leitet er gerade das Leiden von Wechsel,<br />

Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr<br />

sein Glück? … —


Die Verachtung, der Haß gegen Alles, was vergeht,<br />

wechselt, wandelt: — woher diese Werthung des<br />

Bleibenden?<br />

Page Break KGW='VIII-2.29' KSA='12.365'<br />

Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das<br />

Verlangen in eine Welt des Bleibenden.<br />

Die Sinne täuschen, die Vernunft corrigirt die Irrthümer:<br />

folglich, schloß man, ist die Vernunft der<br />

Weg zu dem Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen<br />

müssen der „wahren Welt“ am nächsten sein. — Von den<br />

Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge — sie<br />

sind Betrüger, Bethörer, Vernichter:<br />

Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein:<br />

Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch<br />

hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge.<br />

Das ist der sonderbare Weg zum höchsten Glück.<br />

In summa: die Welt, wie sie sein sollte, existirt;<br />

diese Welt, in der wir leben, ist nur Irrthum, — diese<br />

unsere Welt sollte nicht existiren.<br />

Der Glaube an das Seiende erweist sich<br />

nur als(1509) eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der<br />

Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das<br />

Werdende, die Geringschätzung alles Werdens …<br />

Was für eine Art Menschen reflektirt so? Eine unproduktive<br />

leidende Art; eine lebensmüde Art. Dächten<br />

wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte<br />

sie den Glauben an das Seiende nicht nöthig: mehr noch,<br />

sie würde es verachten, als todt, langweilig, indifferent…<br />

Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich<br />

existirt, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht<br />

eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen<br />

sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln<br />

und Wegen, um zu ihr zu gelangen. — „Wille zur<br />

Wahrheit“ — als Ohnmacht des Willens zum<br />

Schaffen<br />

Page Break KGW='VIII-2.30' KSA='12.366'<br />

erkenne, daß etwas so und<br />

so ist Antagonism in den<br />

thun, daß etwas so und so Kraft-Graden der<br />

wird. Naturen.<br />

Fiktion einer Welt, welche unseren Wünschen<br />

entspricht, psychologische Kunstgriffe und Interpretationen,<br />

um alles, was wir ehren und als angenehm<br />

empfinden, mit dieser wahren Welt zu verknüpfen.<br />

„Wille zur Wahrheit“ auf dieser Stufe ist wesentlich<br />

Kunst der Interpretation; wozu immer noch


Kraft der Interpretation gehört.<br />

Dieselbe Species Mensch, noch eine Stufe ärmer<br />

geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu<br />

interpretiren, des Schaffens von Fiktionen, macht den<br />

Nihilisten. Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von<br />

der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und<br />

von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht.<br />

Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen)<br />

keinen Sinn: das Pathos des „Umsonst“ ist das Nihilisten-Pathos<br />

— zugleich noch als Pathos eine Inconsequenz des Nihilisten<br />

Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag,<br />

der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen<br />

Sinn hinein: d.h. den Glauben, daß schon ein Wille<br />

da sei, der in den Dingen will oder wollen soll.<br />

Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie<br />

weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann,<br />

wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält:<br />

weil man ein kleines Stück von ihr<br />

selbst organisirt.<br />

Das philosophische Objektiv-Blicken<br />

kann somit ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armuth<br />

sein. Denn die Kraft organisirt das Nähere und Nächste;<br />

die „Erkennenden“, welche nur fest-stellen wollen,<br />

Page Break KGW='VIII-2.31' KSA='12.367'<br />

was ist, sind solche, die nichts festsetzen können, wie<br />

es sein soll.<br />

Die Künstler eine Zwischenart: sie setzen wenigstens<br />

ein Gleichniß von dem fest, was sein soll — sie sind<br />

produktiv, insofern sie wirklich verändern und umformen;<br />

nicht, wie die Erkennenden, welche Alles lassen,<br />

wie es ist.<br />

Zusammenhang der Philosophen mit<br />

den pessimistischen Religionen: dieselbe<br />

Species Mensch ( — sie legen den höchsten<br />

Grad von Realität den höchstgewertheten<br />

Dingen bei.<br />

Zusammenhang der Philosophen mit<br />

den moralischen Menschen und deren<br />

Werthmaaßen. (Die moralische Weltauslegung als<br />

Sinn: nach Niedergang des religiösen Sinnes —<br />

Überwindung der Philosophen, durch<br />

Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode<br />

des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werthe<br />

umzuwenden und das Werdende die scheinbare Welt als<br />

die Einzige zu vergöttlichen, gutzuheißen.<br />

B. Der Nihilism als normales Phänomen kann ein<br />

Symptom wachsender Stärke sein oder wachsender<br />

Schwäche


theils daß die Kraft zu schaffen, zu wollen so<br />

gewachsen ist, daß sie diese Gesamt-Ausdeutungen<br />

und Sinn-Einlegungen nicht mehr braucht<br />

(„nähere Aufgaben“, Staat usw.)<br />

theils, daß selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu<br />

schaffen, nachläßt, und die Enttäuschung der<br />

herrschende Zustand wird(1510). Die Unfähigkeit<br />

zum Glauben an einen „Sinn“, der „Unglaube“<br />

Page Break KGW='VIII-2.32' KSA='12.368'<br />

Was die Wissenschaft in Hinsicht auf beide<br />

Möglichkeiten bedeutet?<br />

1) Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung,<br />

als Entbehrenkönnen von heilenden<br />

tröstlichen Illusions-Welten<br />

2) als untergrabend, secirend, enttäuschend,<br />

schwächend<br />

C. der Glaube an die Wahrheit, das Bedürfniß,<br />

einen Halt zu haben an etwas Wahrgeglaubtem:<br />

psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen<br />

Werthgefühlen. Die Furcht, die Faulheit<br />

— insgleichen der Unglaube: Reduktion. In<br />

wiefern er einen neueren Werth bekommt, wenn<br />

es eine wahre Welt gar nicht giebt (dadurch werden die<br />

Werthgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt<br />

verschwendet worden sind)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11394 id='VIII.9[61]' kgw='VIII-2.32' ksa='12.368'<br />

die großen Methodologen: Aristoteles, Bacon, Descartes,<br />

A. Comte<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11395 id='VIII.9[62]' kgw='VIII-2.32' ksa='12.368'<br />

(47) In wiefern die einzelnen erkenntnißtheoretischen<br />

Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus,<br />

Idealismus) Consequenzen der Werthschätzungen<br />

sind: die Quelle der obersten Lustgefühle („Werthgefühle“)<br />

auch als entscheidend über das Problem der<br />

Realität.<br />

— das Maaß positiven Wissens ist ganz<br />

gleichgültig, oder nebensächlich: man sehe doch die<br />

indische Entwicklung.<br />

Die buddhistische Negation der Realität überhaupt<br />

(Scheinbarkeit = Leiden) ist eine vollkommene


Page Break KGW='VIII-2.33' KSA='12.369'<br />

Consequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit, Mangel<br />

an Kategorien nicht nur für eine „Welt an sich“, sondern<br />

Einsicht in die fehlerhaften Prozeduren,<br />

vermöge deren dieser ganze Begriff gewonnen ist.<br />

„Absolute Realität“, „Sein an sich“ ein Widerspruch. In<br />

einer werdenden Welt ist „Realität“ immer nur eine<br />

Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine<br />

Täuschung auf Grund grober Organe, oder eine<br />

Verschiedenheit im tempo des Werdens.<br />

Die logische Weltverneinung und Nihilisirung folgt<br />

daraus, daß wir Sein dem Nichtsein entgegensetzen müssen,<br />

und daß der Begriff „Werden“ geleugnet wird („etwas<br />

wird“) wenn das Sein — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11396 id='VIII.9[63]' kgw='VIII-2.33' ksa='12.369'<br />

Sein und Werden<br />

„Vernunft“ entwickelt auf sensualistischer Grundlage,<br />

auf den Vorurtheilen der Sinne, d.h. im Glauben<br />

an die Wahrheit der Sinnes-Urtheile.<br />

„Sein“ als Verallgemeinerung des Begriffs „Leben“<br />

(athmen) „beseelt sein, „wollen, wirken“ „werden“<br />

Gegensatz ist: „unbeseelt sein“, „nicht-werdend“;<br />

„nicht-wollend“. Also: es wird dem „Seienden“ nicht<br />

das Nicht-seiende, nicht das Scheinbare, auch nicht das Todte<br />

entgegengesetzt (denn todtsein kann nur etwas, das auch leben<br />

kann)<br />

Die „Seele“, das „Ich“ als Urthatsache gesetzt; und<br />

überall hineingelegt, wo es ein Werden giebt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11397 id='VIII.9[64]' kgw='VIII-2.33' ksa='12.369'<br />

(48) die Colportage-Philosophen, welche nicht<br />

aus ihrem Leben, sondern aus Sammlungen von Beweisstücken<br />

für gewisse Thesen eine Philosophie aufbauen<br />

Nie sehen wollen, um zu sehen! Als Psychologe<br />

muß man leben und warten — bis von selber das<br />

Page Break KGW='VIII-2.34' KSA='12.370'<br />

durchgesiebte Ergebniß vieler Erlebnisse seinen Schluß<br />

gemacht hat. Man darf niemals wissen, woher man etwas<br />

weiß<br />

Sonst giebt es eine schlechte Optik und Künstlichkeit.


— Das unfreiwillige Vergessen des Einzel-Falls<br />

ist philosophisch, nicht das Vergessen wollen,<br />

das absichtliche Abstrahiren: letzteres kennzeichnet<br />

vielmehr die nicht-philosophische Natur.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11398 id='VIII.9[65]' kgw='VIII-2.34' ksa='12.370'<br />

das was ich an Wagner schätzte(1511) war das gute Stück Antichrist,<br />

das er mit seiner Kunst und Art vertrat (oh so klug! —<br />

ich bin der Enttäuschteste aller Wagnerianer; denn in dem<br />

Augenblick, wo es anständiger als je war, Heide zu sein, wurde<br />

er Christ… Wir Deutschen, gesetzt daß wir uns je in ernsten<br />

Dingen ernst genommen haben, sind ja deutsche Atheisten und<br />

Spötter allesamt: Wagner(1512) war es auch.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11399 id='VIII.9[66]' kgw='VIII-2.34' ksa='12.370'<br />

(49) Werthe umwerthen — was wäre das? Es müssen die<br />

spontanen Bewegungen alle da sein, die neuen<br />

zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch unter falschen<br />

Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht<br />

bewußt geworden<br />

ein muthiges Bewußtwerden und Ja-sagen zu<br />

dem, was erreicht ist<br />

ein Losmachen von dem Schlendrian alter Werthschätzungen,<br />

die uns entwürdigen im Besten und Stärksten,<br />

was wir erreicht haben.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11400 id='VIII.9[67]' kgw='VIII-2.34' ksa='12.370'<br />

(50) Die unfreiwillige Naivetät des Larochefoucauld, welcher<br />

glaubt, etwas Böses, Feines und Paradoxes zu sagen<br />

— damals war die „Wahrheit“ in psychologischen Dingen<br />

Page Break KGW='VIII-2.35' KSA='12.371'<br />

etwas, das erstaunen machte — Beispiel: „les grandes<br />

âmes ne sont pas celles, qui ont moins de passions et plus<br />

de vertus que les âmes communes, mais seulement celles, qui<br />

ont de plus grands desseins.“ Freilich: J. Stuart Mill (der<br />

Chamfort den edleren und philosophischeren Larochefoucauld<br />

des 18. Jahrhunderts nennt — ) sieht in ihm nur<br />

den scharfsinnigsten Beobachter alles dessen in der<br />

menschlichen Brust, was auf „gewohnheitsmäßige Selbstsucht“<br />

zurückgeht und fügt hinzu: „ein edler Geist wird es


nicht über sich gewinnen, sich die Nothwendigkeit einer<br />

dauernden Betrachtung von Gemeinheit und Niedrigkeit<br />

aufzulegen, es wäre denn um zu zeigen, gegen<br />

welche verderblichen Einflüsse sich hoher Sinn und Adel<br />

des Charakters siegreich zu behaupten vermag.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11401 id='VIII.9[68]' kgw='VIII-2.35' ksa='12.371'<br />

Der complicirte Charakter Henri IV: königlich und ernst<br />

und wieder mit der Laune eines Buffo, undankbar und treu,<br />

großherzig und listig, voll von Geist, Heroism und Absurdität.<br />

„bei den Schriften Friedrich des Grossen findet man Flecken<br />

von Bier und Tabak auf Seiten eines Mark-Aurel“<br />

Der Admiral de Coligny und der grosse Condé sind Montmorency<br />

durch ihre Mütter. Die männlichen Montmorency sind<br />

tüchtige und energische Soldaten, aber keine Genies.<br />

Ebenso leben die grossen Feldherrn Moritz und Heinrich<br />

von Nassau wieder in Turenne auf, ihrem Neffen, dem Sohn<br />

ihrer Schwester Elisabeth<br />

Die Mutter des grossen Condé, Charlotte de Montmorency,<br />

in die Henri IV so gründlich verliebt war: er sagte von ihr, sie<br />

sei(1513) einzig, nicht nur in ihrer Schönheit, sondern auch in ihrem<br />

Muthe.<br />

Der alte Marquis de Mirabeau sich beklagend, als er sah,<br />

wie sein Sohn sich „vers la canaille plumière, écrivassière“<br />

neigte<br />

Page Break KGW='VIII-2.36' KSA='12.372'<br />

un certain génie fier, exubérant,“ — Mirabeau von seiner<br />

Familie.<br />

Napoléon: „j'ai des nerfs fort intraitables; si mon coeur<br />

ne battait avec une continuelle lenteur, je courrais risque de<br />

devenir fou.“<br />

Descartes hat die Entdeckungen eines Gelehrten mit einer<br />

Folge von Schlachten verglichen, die man gegen die Natur<br />

liefert.<br />

Voltaire erzählt, daß er den Catilina vollständig in 8<br />

Tagen gemacht habe „Ce tour de force me surprend et<br />

m'épouvante encore.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11402 id='VIII.9[69]' kgw='VIII-2.36' ksa='12.372'<br />

„Le génie n'est qu'une longue patience.“ Buffon. Das gilt<br />

am Meisten, wenn man an die Vorgeschichte des Genies denkt,<br />

an die Familien-Geduld, mit der ein Capital von Kraft gehäuft<br />

und zusammengehalten wurde —


<strong>Aphorism</strong> n=11403 id='VIII.9[70]' kgw='VIII-2.36' ksa='12.372'<br />

Beethoven componirte gehend. Alle genialen Augenblicke<br />

sind von einem Überschuß an Muskelkraft begleitet<br />

Das heißt in jedem Sinne der Vernunft folgen. Fordert(1514) erst<br />

jede geniale Erregung eine Menge Muskel-Energie, — sie<br />

erhöht das Kraft-Gefühl überall. Umgekehrt steigert ein starker<br />

Marsch die geistige Energie, bis zum Rausch<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11404 id='VIII.9[71]' kgw='VIII-2.36' ksa='12.372'<br />

(51) NB. Was nützlich heißt ist ganz und gar abhängig<br />

von der Absicht, dem Wozu?; die Absicht wieder ist<br />

ganz und gar abhängig vom Grade der Macht:<br />

deshalb kann Utilitarism keine Grundlage sondern nur eine<br />

Folgen-Lehre sein(1515) und ist(1516) absolut zu keiner<br />

Verbindlichkeit für Alle zu bringen.<br />

Page Break KGW='VIII-2.37' KSA='12.373'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11405 id='VIII.9[72]' kgw='VIII-2.37' ksa='12.373'<br />

(52) Erkenntniß als Mittel zur Macht, zur<br />

„Gottgleichheit“<br />

Die altbiblische Legende glaubt daran, daß der<br />

Mensch im Besitz der Erkenntniß ist;<br />

daß die Vertreibung aus dem Paradies nur insofern die<br />

Folge davon ist, daß Gott nunmehr Furcht vor dem<br />

Menschen hat und ihn jetzt von der Stelle forttreibt, wo<br />

der Baum des Lebens, der Unsterblichkeit steht; wenn er<br />

jetzt auch vom Baum des Lebens äße, so wäre es um seine<br />

Macht gethan: abgesehen davon, ist die ganze Cultur eine<br />

wachsende Furchtbarkeit des Menschen, im Thurm von<br />

Babel, mit seinem „himmelstürmenden“ Zweck, symbolisirt.<br />

Gott trennt die Menschen: er zersplittert sie; die<br />

Sprachvielheit ist eine Nothmaßregel Gottes, er wird mit<br />

den einzelnen Völkern besser fertig, insofern sie jetzt<br />

unter einander selber sich Krieg machen und zerstören.<br />

Im Anfange des Alten Testaments steht die berühmte<br />

Geschichte von der Angst Gottes. Der Mensch ist<br />

dargestellt als Fehlgriff Gottes, das Thier ebenso; der<br />

Mensch, der erkennt als Rivale Gottes, als die höchste<br />

Gottes; Arbeit, Noth, Tod als Nothwehr Gottes, um<br />

seinen Rivalen niederzuhalten:


Die Angst Gottes: der Mensch als ein Fehlgriff Gottes;<br />

das Thier ebenso<br />

Moral:<br />

Gott verbietet die Erkenntniß, weil sie zur Macht,<br />

zur Gottgleichheit führt. Er würde an sich dem Menschen<br />

die Unsterblichkeit gönnen, vorausgesetzt, daß derselbe<br />

immer unsterblich dumm bleibt<br />

Er schafft ihm Thiere, dann das Weib, damit er<br />

Gesellschaft hat, — damit er Unterhaltung hat (damit er<br />

nicht auf schlechte Gedanken kommt, auf's Denken auf's<br />

Erkennen<br />

Page Break KGW='VIII-2.38' KSA='12.374'<br />

Aber der Dämon (Schlange) verräth dem Menschen,<br />

was es mit der Erkenntniß auf sich hat.<br />

Die Gefahr Gottes ist ungeheuer: jetzt muß er die<br />

Menschen forttreiben vom Baum des Lebens und sie<br />

durch Noth, Tod und Arbeit niederhalten. Das<br />

wirkliche Leben ist dargestellt als eine Nothwehr<br />

Gottes, als ein unnatürlicher Zustand … Die<br />

Cultur d.h. das Werk der Erkenntniß strebt trotzdem<br />

nach Gottgleichheit: sie thürmt sich himmelstürmend auf.<br />

Jetzt wird der Krieg für nöthig befunden (Sprache als<br />

Ursache des „Volks“) die Menschen sollen sich selber<br />

zerstören. Endlich wird der Untergang beschlossen. —<br />

An einen solchen Gott hat man geglaubt! …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11406 id='VIII.9[73]' kgw='VIII-2.38' ksa='12.374'<br />

(53) Das Bedürfniß nach einer metaphysischen<br />

Welt ist die Folge davon, daß man keinen Sinn, kein<br />

Wozu? aus der vorhandenen Welt zu entnehmen<br />

wußte. „Folglich, schloß man, kann diese Welt nur<br />

scheinbar sein.“<br />

Verhältniß der „Scheinbarkeit“ zur „Sinnlosigkeit“,<br />

„Zwecklosigkeit“: psychologisch auszulegen: was bedeutet<br />

das?<br />

Unwirklichkeit, Traum usw.<br />

(wodurch unterscheidet sich das Wirkliche vom<br />

Traum? durch den Sinnzusammenhang, durch das<br />

Nicht-Zufällige -Beliebige, Causale. Aber bei jedem Blick<br />

im Großen aufs Ganze des Daseins schien es sinnlos,<br />

beliebig, zwecklos, die vorhandenen Zwecke nur<br />

tromperies usw.)<br />

die mechanistische Causalität als solche wäre noch<br />

einer vollkommenen Ausdeutung auf Scheinbarkeit<br />

fähig: ja sie fordert dieselbe heraus.


Page Break KGW='VIII-2.39' KSA='12.375'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11407 id='VIII.9[74]' kgw='VIII-2.39' ksa='12.375'<br />

Periode der Aufklärung<br />

darauf Periode der Empfindsamkeit<br />

in wiefern Schopenhauer zur „Empfindsamkeit“ gehört<br />

(Hegel zur Geistigkeit)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11408 id='VIII.9[75]' kgw='VIII-2.39' ksa='12.375'<br />

(54) Eine Periode, wo die alte Maskerade und<br />

Moral-Aufputzung der Affekte Widerwillen macht: die<br />

nackte Natur, wo die Macht-Quantitäten<br />

als entscheidend einfach zugestanden werden (als<br />

rangbestimmend), wo der große Stil wieder<br />

auftritt, als Folge der großen Leidenschaft.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11409 id='VIII.9[76]' kgw='VIII-2.39' ksa='12.375'<br />

(55) Die Posthumen ( — Schwierigkeit ihres<br />

Verständnisses; in einem gewissen Sinn nie verstanden)<br />

Epikur?<br />

Schopenhauer<br />

Stendhal<br />

Napoleon<br />

Goethe?<br />

Shakespeare?<br />

Beethoven?<br />

Macchiavell:<br />

Die posthumen Menschen werden schlechter verstanden,<br />

aber besser gehört als die zeitgemäßen. Oder, strenger: sie<br />

werden niemals verstanden: und daher(1517) ihre Autorität.<br />

(comprendre c'est égaler)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11410 id='VIII.9[77]' kgw='VIII-2.39' ksa='12.375'<br />

(56) Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht Alles schon<br />

bereit liegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen.<br />

Eine Umwerthung von Werthen wird nur erreicht, wenn<br />

Page Break KGW='VIII-2.40' KSA='12.376'


eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen<br />

da ist, welche an der alten Werthung leiden, ohne<br />

zum Bewußtsein zu kommen, — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11411 id='VIII.9[78]' kgw='VIII-2.40' ksa='12.376'<br />

(57) Wer weiß, wie aller Ruhm entsteht, wird einen<br />

Argwohn auch gegen den Ruhm haben, den die Tugend<br />

genießt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11412 id='VIII.9[79]' kgw='VIII-2.40' ksa='12.376'<br />

(58) Was ist das Loben? —<br />

Lob und Dankbarkeit bei Ernte, gutem Wetter,<br />

Sieg, Hochzeit, Frieden — die Feste brauchen alle<br />

ein Subjekt, gegen welches hin sich das Gefühl<br />

entladet. Man will, daß Alles, was einem Gutes geschieht,<br />

einem angethan ist, man will den Thäter. Ebenso<br />

vor einem Kunstwerk: man begnügt sich nicht an ihm;<br />

man lobt den Thäter. — Was ist also loben? Eine Art<br />

Ausgleichung in Bezug auf empfangene Wohlthaten,<br />

ein Zurückgeben, ein Bezeugen unserer<br />

Macht — denn der Lobende bejaht, urtheilt, schätzt ab,<br />

richtet: er gesteht sich das Recht zu, bejahen zu<br />

können, Ehre austheilen zu können … Das erhöhte<br />

Glücks(1518)- und Lebensgefühl ist auch ein erhöhtes<br />

Machtgefühl: aus dem heraus lobt der Mensch<br />

( — aus dem heraus erfindet und sucht er einen Thäter,<br />

ein „Subjekt“ — )<br />

Die Dankbarkeit als die gute Rache: am<br />

strengsten gefordert und geübt, wo Gleichheit und Stolz<br />

zugleich aufrecht erhalten werden soll, wo am besten<br />

Rache geübt wird.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11413 id='VIII.9[80]' kgw='VIII-2.40' ksa='12.376'<br />

„Winter meines Mißvergnügens.“<br />

Page Break KGW='VIII-2.41' KSA='12.377'<br />

„das ist so Einer von den Neusten<br />

er wird sich grenzenlos erdreusten“<br />

„Dreckgeburt von Spott und Feuer“


<strong>Aphorism</strong> n=11414 id='VIII.9[81]' kgw='VIII-2.41' ksa='12.377'<br />

Berlioz Ouvertüre „römischer Carnaval“ ist von 1844<br />

(Offenbach)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11415 id='VIII.9[82]' kgw='VIII-2.41' ksa='12.377'<br />

Der zweite Buddhismus.<br />

Die nihilistische Katastrophe, die mit der<br />

irdischen Cultur ein Ende macht.<br />

Vorzeichen dafür:<br />

die Überhandnahme des Mitleids<br />

die geistige Übermüdung<br />

die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen<br />

die Kriegs-Glorie, welche einen Gegenschlag hervorruft<br />

ebensowie die nationale Abgrenzung eine Gegenbewegung,<br />

die herzlichste „Fraternität“ hervorruft,<br />

die Unmöglichkeit der Religion, mit Dogmen und<br />

Fabeln fortarbeiten zu können<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11416 id='VIII.9[83]' kgw='VIII-2.41' ksa='12.377'<br />

Zur Genealogie der Moral.<br />

Zweite Streitschrift<br />

von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Vierte Abhandlung: der Heerdeninstinct in der Moral.<br />

Fünfte Abhandlung: zur Geschichte der Moral-Entnatürlichung.<br />

Sechste Abhandlung: unter Moralisten und Moralphilosophen.<br />

Nachwort. Eine Abrechnung mit der Moral (als Circe der<br />

Philosophen). Die Moral — ich habe es schon einmal<br />

Page Break KGW='VIII-2.42' KSA='12.378'<br />

gesagt — war bisher die Circe der Philosophen. Sie ist die<br />

Ursache des Pessimismus und Nihilismus…<br />

Dessen höchste Formel formulirt.<br />

Die Aufgabe.<br />

Eintritt in das tragische Zeitalter von Europa<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11417 id='VIII.9[84]' kgw='VIII-2.42' ksa='12.378'<br />

(59) Die große nihilistische Falschmünzerei unter klugem


Mißbrauch moralischer Werthe<br />

a) Liebe als Entpersönlichung; insgleichen Mitleid.<br />

b) Nur der entpersönlichte Intellekt<br />

(„der Philosoph“) erkennt die Wahrheit,<br />

„das wahre Sein und Wesen der Dinge“<br />

c) das Genie, die großen Menschen sind<br />

groß, weil sie nicht sich selbst und ihre Sache<br />

suchen: der Werth des Menschen wächst im<br />

Verhältniß dazu, als er sich selbst verleugnet.<br />

Schopenhauer II 440 ss.<br />

d) die Kunst als Werk des „reinen willensfreien<br />

Subjektes“ Mißverständniß der<br />

„Objektivität“.<br />

e) Glück als Zweck des Lebens; Tugend als<br />

Mittel zum Zweck<br />

die pessimistische Verurtheilung des Lebens bei<br />

Schopenhauer ist eine moralische Übertragung der<br />

Heerden-Maaßstäbe ins Metaphysische.<br />

Das „Individuum“ sinnlos; folglich ihm einen<br />

Ursprung im „An-sich“ gebend (und eine Bedeutung seines<br />

Daseins als Verirrung); Eltern nur als<br />

„Gelegenheitsursache“.<br />

Es rächt sich, daß von der Wissenschaft das Individuum<br />

nicht begriffen war: es ist das ganze bisherige<br />

Leben in Einer Linie und nicht dessen Resultat.<br />

Page Break KGW='VIII-2.43' KSA='12.379'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11418 id='VIII.9[85]' kgw='VIII-2.43' ksa='12.379'<br />

(60) Die gelobten Zustände und Begierden:<br />

friedlich, billig, mäßig, bescheiden, ehrfürchtig,<br />

rücksichtsvoll, tapfer, keusch, redlich, treu, gläubig, gerade,<br />

vertrauensvoll, hingebend, mitleidig, hülfreich,<br />

gewissenhaft, einfach, mild, gerecht, freigebig, nachsichtig,<br />

gehorsam, uneigennützig, neidlos, gütig, arbeitsam<br />

NB zu unterscheiden: in wiefern solche Eigenschaften<br />

bedingt sind als Mittel zu einem bestimmten<br />

Willen und Zwecke (oft einem „bösen“<br />

Zwecke)<br />

— oder als natürliche Folgen eines dominirenden<br />

Affekts (z.B. Geistigkeit)<br />

— oder Ausdruck einer Nothlage, will sagen: als<br />

Existenzbedingung (z.B. Bürger; Sklave,<br />

Weib usw.)<br />

Summa: sie sind allesamt nicht um ihrer<br />

selber willen als gut empfunden, alle<br />

nicht an und für sich „gut“, sondern bereits unter dem


Maaßstab der „Gesellschaft“, „Heerde“ als Mittel zu<br />

deren Zwecken, als nothwendig für die Aufrechterhaltung<br />

und Förderung, als Folge zugleich eines eigentlichen<br />

Heerdeninstinktes im Einzelnen, somit im<br />

Dienste eines Instinktes, der grundverschieden<br />

von diesen Tugendzuständen ist: denn die<br />

Heerde ist nach außen hin feindselig, selbstsüchtig,<br />

unbarmherzig, voller Herrschsucht,<br />

Mißtrauen usw.<br />

Im „Hirten“ kommt der Antagonismus heraus:<br />

er muß die entgegengesetzten Eigenschaften<br />

der Heerde haben<br />

Todfeindschaft der Heerde gegen die Rangordnung:<br />

Page Break KGW='VIII-2.44' KSA='12.380'<br />

ihr Instinkt zu Gunsten der Gleichmacher<br />

(Christus); gegen die starken Einzelnen (les<br />

souverains) ist sie feindselig, unbillig, maßlos,<br />

unbescheiden, frech, rücksichtslos, feig, verlogen, falsch,<br />

unbarmherzig, versteckt, neidisch, rachsüchtig.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11419 id='VIII.9[86]' kgw='VIII-2.44' ksa='12.380'<br />

(61) moralistischer Naturalismus: Rückführung<br />

des scheinbar emancipirten, übernatürlichen<br />

Moralwerthes auf seine „Natur“: d.h. auf die natürliche<br />

Immoralität, auf die natürliche „Nützlichkeit“ usw.<br />

Ich darf die Tendenz dieser Betrachtungen als<br />

moralistischen(1519) Naturalismus(1520) bezeichnen: meine<br />

Aufgabe ist, die scheinbar emancipirten und naturlos<br />

gewordenen Moralwerthe in ihre Natur zurückzuübersetzen<br />

— d.h. in ihre natürliche „Immoralität“<br />

NB. Vergleich mit der jüdischen „Heiligkeit“ und<br />

ihrer Naturbasis: ebenso steht es mit dem souverain<br />

gemachten Sittengesetz, losgelöst von seiner<br />

Natur ( — bis zum Gegensatz zur Natur — )<br />

Schritte der „Entnatürlichung der Moral“ (sog.<br />

„Idealisirung“)<br />

als Weg zum Individual-Glück<br />

als Folge der Erkenntniß<br />

als kategorischer(1521) Imperativ, losgelöst<br />

von — — —<br />

als Weg zur Heiligung<br />

als Verneinung des Willens zum Leben<br />

die schrittweise Lebensfeindlichkeit der Moral.


<strong>Aphorism</strong> n=11420 id='VIII.9[87]' kgw='VIII-2.44' ksa='12.380'<br />

(62) Die unterdrückte und ausgewischte Häresie<br />

in der Moral<br />

Page Break KGW='VIII-2.45' KSA='12.381'<br />

Begriffe: heidnisch<br />

: Herren-Moral<br />

: virtù<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11421 id='VIII.9[88]' kgw='VIII-2.45' ksa='12.381'<br />

(63) Im neuen Testament, speziell aus den Evangelien höre<br />

ich durchaus nichts „Göttliches“ reden: vielmehr<br />

eine indirekte Form der abgründlichsten<br />

Verleumdungs- und Vernichtungswuth — eine der<br />

unehrlichsten Formen des Hasses:<br />

— es fehlt alle Kenntniß der Eigenschaften einer<br />

höheren Natur<br />

— ungescheuter Mißbrauch aller Art Biedermännerei;<br />

der ganze Schatz von Sprüchwörtern ist<br />

ausgenützt und angemaßt; war es nöthig, daß ein Gott<br />

kommt, um jenen Zöllnern zu sagen usw.<br />

nichts ist gewöhnlicher als dieser Kampf gegen die<br />

Pharisäer mit Hülfe einer absurden und unpraktischen<br />

Moral-Scheinbarkeit — an solchem tour de force<br />

hat das Volk immer sein Vergnügen gehabt<br />

Vorwurf der „Heuchelei“! aus diesem Munde!<br />

nichts ist gewöhnlicher als die Behandlung der Gegner<br />

— ein indicium verfänglichster Art für Vornehmheit<br />

oder nicht…<br />

Hätte einer nur den 100. Theil gesagt, so verdiente<br />

er(1522), als Anarchist, den Untergang.<br />

Pilatus die einzige honnete Person, sein dédain<br />

vor diesem Juden-Geschwätz von „Wahrheit“, als ob<br />

solch Volk mitreden dürfte, wenn es sich um Wahrheit<br />

handelt, sein ha gegrapha, sein wohlwollender Versuch,<br />

diesen absurden Attentäter los zu geben, in dem er schwerlich<br />

etwas anderes sehen konnte als einen Narren …<br />

sein Ekel in Hinsicht auf jenes nie genug zu<br />

verurtheilende Wort „ich bin die Wahrheit“<br />

Page Break KGW='VIII-2.46' KSA='12.382'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11422 id='VIII.9[89]' kgw='VIII-2.46' ksa='12.382'


(64) die Annahme des Seienden ist nöthig, um<br />

denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur<br />

Formeln für Gleichbleibendes<br />

deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft<br />

für die Realität: „das Seiende“ gehört zu unserer Optik.<br />

das „Ich“ als seiend ( — durch Werden und<br />

Entwicklung nicht berührt)<br />

die fingirte Welt von Subjekt, Substanz,<br />

„Vernunft, usw. ist nöthig —: eine ordnende,<br />

vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in<br />

uns. „Wahrheit“. — Wille, Herr zu werden über das<br />

Vielerlei der Sensationen.<br />

— die Phänomene aufreihen auf bestimmte<br />

Kategorien<br />

— hierbei gehen wir vom Glauben an das „An sich“<br />

der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene als<br />

wirklich)<br />

Der Charakter der werdenden Welt als unformulirbar,<br />

als „falsch“, als „sich-widersprechend“<br />

Erkenntniß und Werden schließt sich aus.<br />

Folglich muß „Erkenntniß“ etwas anderes sein:<br />

es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehn, eine<br />

Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden<br />

schaffen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11423 id='VIII.9[90]' kgw='VIII-2.46' ksa='12.382'<br />

In diesen streitbaren Abhandlungen, mit denen ich meinen<br />

Feldzug gegen die eben so unphilosophische als verhängnißvolle<br />

Gesamt-Überschätzung der Moral fortsetze — — —<br />

Page Break KGW='VIII-2.47' KSA='12.383'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11424 id='VIII.9[91]' kgw='VIII-2.47' ksa='12.383'<br />

(65) Zur Bekämpfung des Determinismus.<br />

Daraus, daß Etwas regelmäßig erfolgt und berechenbar<br />

erfolgt, ergiebt sich nicht, daß es nothwendig<br />

erfolgt. Daß ein Quantum Kraft sich in jedem bestimmten<br />

Falle auf eine einzige Art und Weise bestimmt und<br />

benimmt, macht ihn nicht zum „unfreien Willen“. Die<br />

„mechanische Nothwendigkeit“ ist kein Thatbestand:<br />

wir erst haben sie in das Geschehn hinein interpretirt.<br />

Wir haben die Formulirbarkeit des Geschehens<br />

ausgedeutet als Folge einer über dem Geschehen waltenden<br />

Necessität. Aber daraus, daß ich etwas Bestimmtes


thue, folgt keineswegs, daß ich es gezwungen thue. Der<br />

Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die<br />

Regel beweist nur, daß ein und dasselbe Geschehn nicht<br />

auch ein anderes Geschehn ist. Erst dadurch, daß wir<br />

Subjekte „Thäter“ in die Dinge hineingedeutet haben,<br />

entsteht der Anschein, daß alles Geschehn die Folge von<br />

einem auf Subjekte ausgeübten Zwang ist — ausgeübt<br />

von wem? wiederum von einem „Thäter“. Ursache und<br />

Wirkung — ein gefährlicher Begriff, solange man ein<br />

Etwas denkt, das verursacht und ein Etwas, auf<br />

das gewirkt wird.<br />

A) die Nothwendigkeit ist kein Thatbestand, sondern<br />

eine Interpretation.<br />

B) Hat man begriffen, daß das „Subjekt“ nichts ist,<br />

was wirkt, sondern nur eine Fiktion, so folgt Vielerlei.<br />

Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjektes die<br />

Dinglichkeit erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr<br />

hineininterpretirt. Glauben wir nicht mehr an<br />

das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an<br />

wirkende Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung<br />

zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen.<br />

Es fällt damit natürlich auch die Welt der wirkenden<br />

Page Break KGW='VIII-2.48' KSA='12.384'<br />

Atome: deren Annahme immer unter der Voraussetzung<br />

gemacht ist, daß man Subjekte braucht.<br />

Es fällt endlich auch das „Ding an sich“: weil dies im<br />

Grunde die Conception eines „Subjekts an sich“ ist. Aber<br />

wir begriffen, daß das Subjekt fingirt ist. Der Gegensatz<br />

„Ding an sich“ und „Erscheinung“ ist unhaltbar; damit<br />

aber fällt auch der Begriff „Erscheinung“ dahin.<br />

C) Geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch<br />

das Objekt, auf das gewirkt wird. Die Dauer, die<br />

Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhärirt weder dem,<br />

was Subjekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind<br />

Complexe des Geschehens, in Hinsicht auf andere Complexe<br />

scheinbar dauerhaft — also z.B. durch eine Verschiedenheit<br />

im tempo des Geschehens, (Ruhe-Bewegung,<br />

fest-locker: alles Gegensätze, die nicht an sich existiren<br />

und mit denen thatsächlich nur Gradverschiedenheiten<br />

ausgedrückt werden, die für ein gewisses<br />

Maaß von Optik sich als Gegensätze ausnehmen.<br />

Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik<br />

her haben wir den Begriff des Gegensatzes — und von<br />

denen aus fälschlich in die Dinge übertragen.<br />

D) Geben wir den Begriff „Subjekt“ und „Objekt“<br />

auf, dann auch den Begriff „Substanz“ — und folglich<br />

auch dessen verschiedene Modificationen z.B. „Materie“<br />

„Geist“ und andere hypothetische Wesen „Ewigkeit<br />

und Unveränderlichkeit des Stoffes“ usw. Wir sind die


Stofflichkeit los.<br />

Moralisch ausgedrückt: ist die Welt falsch.<br />

Aber, insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist,<br />

so ist die Moral falsch<br />

Der Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein<br />

Wahr-Dauerhaft-Machen, ein Aus-dem-Auge-schaffen<br />

jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben<br />

ins Seiende.<br />

Page Break KGW='VIII-2.49' KSA='12.385'<br />

Wahrheit ist somit nicht etwas, was da wäre und was<br />

aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, das<br />

zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß<br />

abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung,<br />

der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen,<br />

als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen,<br />

nicht ein Bewußtwerden von etwas, das(1523)<br />

„an sich“ fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den<br />

„Willen zur Macht“<br />

Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens<br />

an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet;<br />

je mächtiger das Leben, um so breiter muß die errathbare,<br />

gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisirung,<br />

Rationalisirung, Systematisirung als Hülfsmittel des Lebens.<br />

Der Mensch projicirt seinen Trieb zur Wahrheit, sein<br />

„Ziel“ in einem gewissen Sinn außer sich als seiende<br />

Welt, als metaphysische Welt, als „Ding an sich“, als<br />

bereits vorhandene Welt.<br />

Sein Bedürfniß als Schaffender erdichtet bereits die<br />

Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg: diese Vorwegnahme<br />

(„dieser Glaube“ an die Wahrheit) ist seine Stütze.<br />

Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als<br />

ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein<br />

Kampf …<br />

Das „Wohl des Individuums“ ist eben so imaginär als<br />

das „Wohl der Gattung“: das erstere wird nicht dem<br />

letzteren geopfert, Gattung ist, aus der Ferne betrachtet,<br />

etwas eben so Flüssiges wie Individuum. „Erhaltung<br />

der Gattung“ ist nur eine Folge des Wachsthums<br />

der Gattung, d.h. der Überwindung der Gattung<br />

auf dem Wege zu einer stärkeren Art<br />

Sobald wir uns Jemanden imaginiren, der<br />

Page Break KGW='VIII-2.50' KSA='12.386'<br />

verantwortlich ist dafür, daß wir so und so sind usw.<br />

(Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück und<br />

Elend als Absicht zulegen, verderben wir uns die<br />

Unschuld des Werdens. Wir haben dann Jemanden,


der durch uns und mit uns etwas erreichen will.<br />

Daß die anscheinende „Zweckmäßigkeit“<br />

(„die aller menschlichen Kunst<br />

unendlich überlegene Zweckmäßigkeit“) bloß die<br />

Folge jenes in allem Geschehen sich(1524) abspielenden<br />

Willens zur Macht ist<br />

daß das Stärkerwerden Ordnungen mit sich<br />

bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurfe ähnlich<br />

sehen<br />

daß die anscheinenden Zwecke nicht beabsichtigt<br />

sind, aber, sobald die Übermacht über eine geringere<br />

Macht erreicht ist und letztere als Funktion der größeren<br />

arbeitet, eine Ordnung des Rangs, der Organisation<br />

den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck<br />

erwecken muß.<br />

Gegen die anscheinende „Nothwendigkeit“<br />

— diese nur ein Ausdruck dafür, daß<br />

eine Kraft nicht auch etwas Anderes ist.<br />

Gegen die anscheinende „Zweckmäßigkeit“<br />

— letztere nur ein Ausdruck für eine<br />

Ordnung von Machtsphären und deren<br />

Zusammenspiel.<br />

Die logische Bestimmtheit Durchsichtigkeit als Kriterium<br />

der Wahrheit („omne illud verum est, quod clare<br />

et distincte percipitur“ Descartes): damit ist<br />

die mechanische Welthypothese erwünscht und glaublich.<br />

Aber das ist eine grobe Verwechslung: wie simplex<br />

sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre<br />

Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältniß zu<br />

unserem Intellekt steht? — Wäre es nicht anders? daß die ihm<br />

Page Break KGW='VIII-2.51' KSA='12.387'<br />

am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende<br />

Hypothese am meisten von ihm bevorzugt,<br />

geschätzt, und folglich als wahr bezeichnet<br />

wird? — Der Intellekt setzt sein freiestes und stärkstes<br />

Vermögen und Können als Kriterium<br />

des Werthvollsten, folglich Wahren …<br />

„wahr“: von Seiten des Gefühls aus —: was das<br />

Gefühl am Stärksten erregt („Ich“)<br />

von Seiten des Denkens aus — : was dem<br />

Denken das größte Gefühl von Kraft<br />

giebt<br />

von Seiten des Tastens, Sehens, Hörens<br />

aus: wobei am Stärksten Widerstand zu<br />

leisten ist<br />

Also die höchsten Grade in der Leistung<br />

erwecken für das Objekt den Glauben an<br />

dessen „Wahrheit“ d.h. Wirklichkeit. Das Gefühl<br />

der Kraft, des Kampfes, des Widerstand es(1525) überredet


dazu, daß es etwas giebt, dem hier widerstanden wird.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11425 id='VIII.9[92]' kgw='VIII-2.51' ksa='12.387'<br />

Liebmann(1526) p. 11<br />

Dynamis „reale Tendenz zur Aktion“, noch gehemmt, die<br />

sich zu aktualisiren versucht<br />

— „Wille zur Macht“ „Spannkraft“<br />

„aufgesammelte und aufgespeicherte Bewegungstendenz“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11426 id='VIII.9[93]' kgw='VIII-2.51' ksa='12.387'<br />

(66) Ich will auch die Asketik wieder vernatürlichen;<br />

an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht<br />

auf Verstärkung; eine Gymnastik des Willens; eine<br />

Entbehrung und eingelegte Fastenzeiten jeder Art, auch<br />

im Geistigsten (Dîners chez Magny: lauter geistige Schlecker<br />

mit verdorbenem Magen); eine Casuistik der That in<br />

Page Break KGW='VIII-2.52' KSA='12.388'<br />

Bezug auf unsere Meinung die wir von unseren Kräften<br />

haben: ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen<br />

Gefahren. — Man sollte Prüfungen erfinden auch für<br />

die Stärke im Worthalten-können.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11427 id='VIII.9[94]' kgw='VIII-2.52' ksa='12.388'<br />

Zur Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich nichts<br />

vormachen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11428 id='VIII.9[95]' kgw='VIII-2.52' ksa='12.388'<br />

Abhandlungen.<br />

Woraus man bisher die „wahre Welt“ gezimmert hat.<br />

Die Entnatürlichung der Moral auch des Gewissens (auch der<br />

Asketik) (auch der Vernunft, Scholastik, Staat<br />

Die Zweckmäßigkeit.<br />

Die Nothwendigkeit.<br />

Der Heerdeninstinkt in der Moral.<br />

Die Circe der Philosophen.<br />

Die Starken der Zukunft.


Das tragische Zeitalter: Lehre von der ewigen Wiederkunft.<br />

Die psychologische Falschmünzerei.<br />

Logik unter der Herrschaft von Werthurtheilen.<br />

Die Schönheit. Der Nihilism als Kunst.<br />

Giebt es eine Metaphysik? …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11429 id='VIII.9[96]' kgw='VIII-2.52' ksa='12.388'<br />

Die drei Scheinbarkeiten:<br />

die Ursächlichkeit<br />

die Zweckmäßigkeit<br />

die Nothwendigkeit<br />

Entnatürlichung der Werthe<br />

Gegensätze an Stelle der Rangordnung<br />

Die verworfene Welt<br />

Page Break KGW='VIII-2.53' KSA='12.389'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11430 id='VIII.9[97]' kgw='VIII-2.53' ksa='12.389'<br />

(67) Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen<br />

mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin<br />

drückt sich keine „Nothwendigkeit“ aus, sondern nur<br />

ein Nicht-vermögen.<br />

Wenn, nach Aristoteles der Satz vom Widerspruch<br />

der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der<br />

letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen(1527)<br />

zurückgehn, wenn in ihm das Princip aller anderen<br />

Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er<br />

im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt.<br />

Entweder wird mit ihm etwas in Betreff des Wirklichen,<br />

Seienden behauptet, wie als ob er dasselbe anderswoher<br />

bereits kennte: nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte<br />

Prädikate zugesprochen werden können. Oder der<br />

Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate<br />

nicht zugesprochen werden sollen? Dann wäre<br />

Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntniß des Wahren,<br />

sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt,<br />

die uns wahr heißen soll.<br />

Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome<br />

dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maaßstäbe und<br />

Mittel, um Wirkliches den Begriff „Wirklichkeit“ für<br />

uns erst zu schaffen?… Um das Erste bejahen zu<br />

können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits<br />

kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz<br />

enthält also kein Kriterium der Wahrheit,<br />

sondern einen Imperativ über das, was als wahr


gelten soll.<br />

Gesetzt, es gäbe ein solches Sich-selbst-identisches A<br />

gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik(1528))<br />

voraussetzt, das A wäre bereits eine Scheinbarkeit,<br />

so hätte die Logik eine bloß scheinbare<br />

Welt zur Voraussetzung. In der That glauben wir an jenen<br />

Page Break KGW='VIII-2.54' KSA='12.390'<br />

Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche<br />

ihn fortwährend zu bestätigen scheint. Das „Ding“<br />

— das ist das eigentliche Substrat zu A : unser<br />

Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den<br />

Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom<br />

eine Nachconstruktion des „Dings“ … Indem wir das<br />

nicht begreifen, und aus der Logik ein Kriterium des<br />

wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem<br />

Wege, alle jene Hypostasen, Substanz Prädicat Object<br />

Subject Action usw., als Realitäten zu setzen: d.h.<br />

eine metaphysische Welt zu concipiren, d.h. „wahre<br />

Welt“ ( — diese ist aber die scheinbare<br />

Welt noch einmal …)<br />

Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und<br />

Verneinen das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahr-halten,<br />

sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit sondern<br />

ein Recht voraussetzen, überhaupt Für-wahr-zu<br />

halten oder für-unwahr zu halten, bereits von einem<br />

Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntniß<br />

giebt, daß Urtheilen wirklich die Wahrheit<br />

treffen könne: — kurz, die Logik zweifelt<br />

nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können<br />

(nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate<br />

zukommen können)<br />

Hier regiert das sensualistische grobe Vorurtheil,<br />

daß die Empfindungen uns Wahrheiten über die<br />

Dinge lehren, — daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein<br />

und demselben Ding sagen kann, es ist hart und es ist<br />

weich (der instinktive Beweis „ich kann nicht 2<br />

entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben“ — ganz<br />

grob und falsch). Das begriffliche Widerspruchs-Verbot<br />

geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden<br />

können, daß ein Begriff das Wahre eines Dinges nicht<br />

nur bezeichnet, sondern faßt … Thatsächlich gilt die<br />

Page Break KGW='VIII-2.55' KSA='12.391'<br />

Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von<br />

fingirten Wahrheiten, die wir geschaffen<br />

haben. Logik ist der Versuch, nach einem von<br />

uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche<br />

Welt zu begreifen, richtiger, uns formulirbar,


erechenbar zu machen…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11431 id='VIII.9[98]' kgw='VIII-2.55' ksa='12.391'<br />

(68) Psychologische Ableitung unseres<br />

Glaubens an die Vernunft.<br />

Der Begriff „Realität“ „Sein“ ist von unserem<br />

„Subjekt“-Gefühle entnommen.<br />

„Subjekt“: von uns aus interpretirt, so daß das Ich als<br />

Subjekt gilt, als Ursache alles Thuns, als Thäter.<br />

Die logisch-metaphysischen Postulate, der Glaube<br />

an Substanz, Accidens, Attribut usw. hat seine<br />

Überzeugungskraft in der Gewohnheit, all unser Thun als Folge<br />

unseres Willens zu betrachten: — so daß das Ich, als<br />

Substanz, nicht eingeht in die Vielheit der Veränderung.<br />

— Aber es giebt keinen Willen. —<br />

Wir haben gar keine Kategorien, um eine „Welt an<br />

sich“ von einer Welt als Erscheinung scheiden zu dürfen.<br />

Alle unsere Vernunft-Kategorien sind sensualistischer<br />

Herkunft: abgelesen von der empirischen Welt.<br />

„Die Seele“, „das Ich“ — die(1529) Geschichte dieses<br />

Begriffes zeigt, daß auch hier die älteste Scheidung<br />

(„Athem“, „Leben“) — — —<br />

Wenn es nichts Materielles giebt, giebt es auch nichts<br />

Immaterielles. Der Begriff enthält nichts mehr …<br />

Keine Subjekt- „Atome“. Die Sphäre eines<br />

Subjektes beständig wachsend oder sich<br />

vermindernd — der Mittelpunkt des Systems sich beständig<br />

verschiebend —; im Falle es die angeeignete<br />

Page Break KGW='VIII-2.56' KSA='12.392'<br />

Masse nicht organisiren kann, zerfällt es in 2.<br />

Andererseits kann es sich ein schwächeres Subjekt, ohne es zu<br />

vernichten, zu seinem Funktionär umbilden und bis zu einem<br />

gewissen Grad mit ihm zusammen eine neue Einheit bilden.<br />

Keine „Substanz“, vielmehr Etwas, das an sich nach<br />

Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt „erhalten“<br />

will (es will sich überbieten — )<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11432 id='VIII.9[99]' kgw='VIII-2.56' ksa='12.392'<br />

NB. Nicht klug sein wollen, als Psycholog; wir dürfen nicht<br />

einmal klug sein … Wer aus seinem Wissen, aus seiner<br />

Menschenkenntniß kleine Vortheile erschnappen will ( — oder große,<br />

gleich dem Politiker — ) geht vom Allgemeinen zum einzelnsten


Fall zurück; aber diese Art Optik ist jener anderen<br />

entgegengesetzt, die wir allein brauchen können: wir sehen vom<br />

Einzelnsten hinaus —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11433 id='VIII.9[100]' kgw='VIII-2.56' ksa='12.392'<br />

(69) „Gattung“ — — —<br />

Der Fortgang zu höherer Macht: die Gattungen sind<br />

nur relative Verlangsamungen des tempos,<br />

Anzeichen, daß die Möglichkeiten Vorbedingungen<br />

zu schneller Verstärkung zu mangeln anfangen (Gattungen<br />

sind nicht Ziele: das letzte, was „der Natur“ am<br />

Herzen liegt, wäre die Erhaltung der Gattungen!!)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11434 id='VIII.9[101]' kgw='VIII-2.56' ksa='12.392'<br />

NB. Dieser lernte die Menschen kennen, — er will dergestalt<br />

kleine Vortheile über sie erschnappen (oder große wie der<br />

Politiker). Jener lernte die Menschen kennen, — er will einen noch<br />

größeren Vortheil, sich ihnen überlegen zu fühlen, er<br />

wünscht zu verachten.<br />

Page Break KGW='VIII-2.57' KSA='12.393'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11435 id='VIII.9[102]' kgw='VIII-2.57' ksa='12.393'<br />

(70) Aesthetica.<br />

Die Zustände, in denen wir eine Verklärung<br />

und Fülle in die Dinge legen und an ihnen dichten,<br />

bis sie unsere eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln:<br />

der Geschlechtstrieb<br />

der Rausch<br />

die Mahlzeit<br />

der Frühling<br />

der Sieg über den Feind, der Hohn<br />

das Bravourstück; die Grausamkeit; die Ekstase des<br />

religiösen Gefühls.<br />

Drei Elemente vornehmlich:<br />

der Geschlechtstrieb, der Rausch, die Grausamkeit: alle<br />

zur ältesten Festfreude des Menschen gehörend: alle<br />

insgleichen im anfänglichen „Künstler“ überwiegend.<br />

Umgekehrt: treten uns Dinge entgegen, welche diese<br />

Verklärung und Fülle zeigen, so antwortet das<br />

animalische Dasein mit einer Erregung jener Sphären,<br />

wo alle jene Lustzustände ihren Sitz haben: — und


eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von<br />

animalischen Wohlgefühlen und Begierden ist der aesthetische<br />

Zustand. Letzterer tritt nur bei solchen<br />

Naturen ein, welche jener abgebenden(1530) und überströmenden<br />

Fülle des leiblichen vigor überhaupt fähig sind; in<br />

ihm ist immer das primum mobile. Der Nüchterne, der<br />

Müde, der Erschöpfte, der Vertrocknete (z.B. ein Gelehrter)<br />

kann absolut nichts von der Kunst empfangen, weil<br />

er die künstlerische Urkraft, die Nöthigung des Reichthums<br />

nicht hat: wer nicht geben kann, empfängt auch<br />

nichts.<br />

„Vollkommenheit“: in jenen Zuständen (bei<br />

der Geschlechtsliebe in Sonderheit usw.) verräth sich naiv,<br />

was der tiefste Instinkt als das Höhere, Wünschbarere,<br />

Page Break KGW='VIII-2.58' KSA='12.394'<br />

Werthvollere überhaupt anerkennt, die Aufwärtsbewegung<br />

seines Typus; insgleichen nach welchem Status<br />

er eigentlich strebt. Die Vollkommenheit: das ist die<br />

außerordentliche Erweiterung seines Machtgefühls, der<br />

Reichthum, das nothwendige Überschäumen über alle<br />

Ränder …<br />

Die Kunst erinnert uns an Zustände des animalischen<br />

vigor; sie ist einmal ein Überschuß und Ausströmen von<br />

blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche;<br />

andererseits eine Anregung der animalischen Funktion<br />

durch Bilder und Wünsche des gesteigerten Lebens; — eine<br />

Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben.<br />

In wiefern kann auch das Häßliche noch diese Gewalt<br />

haben? Insofern es noch von der siegreichen Energie des<br />

Künstlers etwas mittheilt, der über dies Häßliche und<br />

Furchtbare Herr geworden ist; oder insofern es die Lust<br />

der Grausamkeit in uns leise anregt (unter Umständen<br />

selbst die Lust, uns wehe zu thun, die Selbstvergewaltigung:<br />

und damit das Gefühl der Macht über uns.)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11436 id='VIII.9[103]' kgw='VIII-2.58' ksa='12.394'<br />

NB. Wenn man krank ist, so soll man sich verkriechen, in<br />

irgend eine „Höhle“: so hat es die Vernunft für sich, so allein<br />

ist es thierisch.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11437 id='VIII.9[104]' kgw='VIII-2.58' ksa='12.394'


„ich will das und das“; „ich möchte, daß das und das so<br />

wäre“; „ich weiß, daß das und das so ist“. — die Kraftgrade:<br />

der Mensch des Willens, der Mensch des Verlangens,<br />

der Mensch des Glaubens<br />

Page Break KGW='VIII-2.59' KSA='12.395'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11438 id='VIII.9[105]' kgw='VIII-2.59' ksa='12.395'<br />

(71) Zum Plan.<br />

NB. 1) über alle wesentlichen Zeiten, Völker,<br />

Menschen und Probleme ein Wort.<br />

2) hundert gute Anekdoten, womöglich historisch.<br />

3) kriegerisch, abenteuerlich, verfänglich —<br />

4) einige Stellen von schwermüthiger Heiterkeit —<br />

5) des Verkannten und Verleumdeten Fürsprecher<br />

( — des Verrufenen …)<br />

6) langsam, irreführend, Labyrinth<br />

7) Minotauros, Katastrophe (der Gedanke,<br />

dem man Menschenopfer bringen müsse — je<br />

mehr, desto besser!)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11439 id='VIII.9[106]' kgw='VIII-2.59' ksa='12.395'<br />

(71) Unsre psychologische Optik ist dadurch bestimmt<br />

1) daß Mittheilung nöthig ist, und daß zur<br />

Mittheilung etwas fest, vereinfacht, präcisirbar sein muß<br />

(vor allem im identischen Fall …) Damit es aber<br />

mittheilbar sein kann, muß es zurechtgemacht<br />

empfunden werden, als „wieder erkennbar“.<br />

Das Material der Sinne vom Verstande zurechtgemacht,<br />

reduzirt auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht,<br />

subsumirt unter Verwandtes. Also: die undeutlichkeit und<br />

das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam logisirt<br />

2) die Welt der „Phänomene“ ist die zurechtgemachte<br />

Welt, die wir als real empfinden. Die<br />

„Realität“ liegt in dem beständigen Wiederkommen gleicher,<br />

bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisirten<br />

Page Break KGW='VIII-2.60' KSA='12.396'<br />

Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen.<br />

berechnen können.<br />

3) der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht<br />

„die wahre Welt“, sondern die formlos-unformulirbare<br />

Welt des Sensationen-Chaos, — also eine andere<br />

Art Phänomenal-Welt, eine für uns „unerkennbare“.


4) Fragen, wie die „Dinge an sich“ sein mögen, ganz<br />

abgesehn von unserer Sinnen-Receptivität und<br />

Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen:<br />

woher könnten wir wissen, daß es Dinge giebt?<br />

Die „Dingheit“ ist erst von uns geschaffen. Die Frage<br />

ist, ob es nicht noch viele Arten(1531) geben könnte, eine solche<br />

scheinbare Welt zu schaffen — und ob nicht dieses<br />

Schaffen, Logisiren, Zurechtmachen, Fälschen die<br />

bestgarantirte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was<br />

„Dinge setzt“, allein real ist; und ob nicht die, „Wirkung<br />

der äußeren Welt auf uns“ auch nur die Folge solcher<br />

wollenden Subjekte ist …<br />

„Ursache und Wirkung“ falsche Auslegung eines<br />

Kriegs und eines relativen Siegs<br />

die anderen „Wesen“ agiren auf uns; unsere<br />

zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmachung<br />

und Überwältigung von deren Aktionen; eine<br />

Art Defensiv-Maaßregel.<br />

Das Subjekt allein ist beweisbar:<br />

Hypothese, daß es nur Subjekte giebt — daß<br />

„Objekt“ nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt<br />

ist … ein modus des Subjekts<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11440 id='VIII.9[107]' kgw='VIII-2.60' ksa='12.396'<br />

(72) Entwicklung des Pessimismus<br />

zum Nihilism.<br />

Entnatürlichung der Werthe. Scholastik der<br />

Werthe. Die Werthe, lösgelöst, idealistisch, statt das Thun<br />

Page Break KGW='VIII-2.61' KSA='12.397'<br />

zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend<br />

gegen das Thun.<br />

Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade<br />

und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze<br />

sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter<br />

faßlich<br />

Die verworfene Welt, Angesichts einer künstlich<br />

erbauten, „wahren, werthvollen“<br />

Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die<br />

„wahre Welt“ gebaut hat: und nun hat man nur die<br />

verworfene übrig und rechnet jene höchste<br />

Enttäuschung mit ein auf das Conto<br />

ihrer Verwerflichkeit<br />

Damit ist der Nihilism da: man hat die richtenden<br />

Werthe übrig behalten — und nichts weiter!<br />

Hier entsteht das Problem der Stärke und<br />

der Schwäche:


1) die Schwachen zerbrechen daran<br />

2) die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht<br />

3) die Stärksten überwinden die richtenden Werthe.<br />

— das zusammen macht das tragische Zeitalter<br />

aus<br />

Zur Kritik des Pessimism.<br />

Das „Übergewicht von Leid über Lust“ oder<br />

das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren<br />

sind selbst schon Wegweiser zu (3), nihilistisch …<br />

denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter<br />

Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung.<br />

Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt,<br />

einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: — für<br />

jede gesunde Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens<br />

schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebellsachen. Und<br />

ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem<br />

Page Break KGW='VIII-2.62' KSA='12.398'<br />

ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben;<br />

ein Nöthig-haben dieses Übergewichts<br />

„Das Leben lohnt sich nicht“; „Resignation“ „warum<br />

sind die Thränen? …“ — eine schwächliche und sentimentale<br />

Denkweise. „un monstre gai vaut mieux qu'un sentimental<br />

ennuyeux.“<br />

Der Pessimismus der Thatkräftigen:<br />

das „wozu?“ nach einem furchtbaren Ringen, selbst<br />

Siegen. Daß irgend Etwas hundert Mal wichtiger ist,<br />

als die Frage, ob wir uns wohl oder schlecht befinden:<br />

Grundinstinkt aller starken Naturen — und folglich auch,<br />

ob sich die Anderen gut oder schlecht befinden. Kurz,<br />

daß wir ein Ziel haben, um dessentwillen man nicht<br />

zögert, Menschenopfer zu bringen, jede Gefahr<br />

zu laufen, jedes Schlimme und Schlimmste auf sich zu<br />

nehmen: die große Leidenschaft.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11441 id='VIII.9[108]' kgw='VIII-2.62' ksa='12.398'<br />

Das „Subjekt“ ist ja nur eine Fiktion; es giebt das Ego<br />

gar nicht, von dem geredet wird, wenn man den Egoism tadelt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11442 id='VIII.9[109]' kgw='VIII-2.62' ksa='12.398'<br />

(73) NB. den Juden Muth zu machen zu neuen Eigenschaften,<br />

nachdem sie in neue Daseinsbedingungen<br />

übergetreten sind: so wie es meinem Instinkt allein gemäß,


und auf diesem Wege habe ich mich auch durch eine<br />

giftträgerische Gegenbewegung, die jetzt gerade obenauf<br />

ist, nicht irre machen lassen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11443 id='VIII.9[110]' kgw='VIII-2.62' ksa='12.398'<br />

(74) Das Beschreibende, das Pittoreske als Symptome<br />

des Nihilism (in Künsten und in der Psychologie)<br />

Keine Colportage-Psychologie treiben!<br />

Nie beobachten, um zu beobachten! Das giebt eine falsche<br />

Page Break KGW='VIII-2.63' KSA='12.399'<br />

Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertriebenes.<br />

Erleben als Erlebenwollen; es geräth nicht,<br />

wenn man nach sich selbst dabei hinblickt; der geborene<br />

Psycholog hütet sich, wie der geborene Maler, zu sehn, um<br />

zu sehn; er arbeitet nie „nach der Natur“ — er überläßt<br />

das Durchsieben und Ausdrücken des Erlebten, des „Falls“,<br />

der „Natur“ seinem Instinkt, — das Allgemeine<br />

kommt ihm als solches zum Bewußtsein, nicht das<br />

willkürliche Abstrahiren von bestimmten Fällen. Wer es<br />

anders macht, wie die beutegierigen romanciers in Paris,<br />

welche gleichsam der Wirklichkeit auflauern und jeden<br />

Tag eine Handvoll Kuriositäten nach Hause bringen: was<br />

wird schließlich daraus? Ein Mosaik besten Falls, etwas<br />

Zusammenaddirtes, Farbenschreiendes, Unruhiges<br />

(wie bei den Frères de Goncourt). — Die „Natur“,<br />

im künstlerischen Sinne gesprochen, ist niemals „wahr“;<br />

sie übertreibt, sie verzerrt, sie läßt Lücken. Das „Studium<br />

nach der Natur“ ist ein Zeichen von Unterwerfung, von<br />

Schwäche, eine Art Fatalism, die eines Künstlers unwürdig<br />

ist. Sehen, was ist — das gehört einer spezifisch<br />

anderen Art von Geistern zu, den Thatsächlichen, den<br />

Feststellern: hat man diesen Sinn in aller Stärke<br />

entwickelt, so ist er anti-künstlerisch an sich.<br />

Die descriptive Musik; der Wirklichkeit es<br />

überlassen, zu wirken …<br />

Alle diese Arten(1532) Kunst sind leichter,<br />

nachmachbarer; nach ihnen greifen die Gering-Begabten.<br />

Appell an die Instinkte; suggestive Kunst.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11444 id='VIII.9[111]' kgw='VIII-2.63' ksa='12.399'<br />

Wagner, ein Stück Aberglaube schon bei Lebzeiten, hat<br />

sich inzwischen so in die Wolken(1533) des unwahrscheinlichen<br />

eingewickelt, daß in Bezug auf ihn nur das Paradoxe noch Glaube


findet<br />

Page Break KGW='VIII-2.64' KSA='12.400'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11445 id='VIII.9[112]' kgw='VIII-2.64' ksa='12.400'<br />

(75) Ob nicht der Gegensatz der Aktiven und<br />

Reaktiven hinter jenem Gegensatz von Classisch und<br />

Romantisch verborgen liegt? …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11446 id='VIII.9[113]' kgw='VIII-2.64' ksa='12.400'<br />

NB manche Schicksale muß man hinuntertrinken, ohne sie<br />

anzusehn: das verbessert, wie beim Maté-Trinken, ihren<br />

Geschmack.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11447 id='VIII.9[114]' kgw='VIII-2.64' ksa='12.400'<br />

NB jene Art des Egoismus, welche uns treibt, etwas<br />

um des Nächsten willen zu thun und zu lassen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11448 id='VIII.9[115]' kgw='VIII-2.64' ksa='12.400'<br />

(76) Zu erwägen:<br />

Das vollkommene Buch. —<br />

1) die Form, der Stil<br />

Ein idealer Monolog. Alles Gelehrtenhafte<br />

aufgesaugt in die Tiefe<br />

alle Accente der tiefen Leidenschaft, Sorge, auch der<br />

Schwächen, Milderungen, Sonnenstellen, — das<br />

kurze Glück, die sublime Heiterkeit —<br />

Überwindung der Demonstration; absolut persönlich.<br />

Kein „ich“ …<br />

eine Art mémoires; die abstraktesten Dinge am<br />

leibhaftesten und blutigsten<br />

die ganze Geschichte wie persönlich erlebt<br />

und erlitten ( — so allein wird's wahr)<br />

gleichsam ein Geistergespräch; eine Vorforderung,<br />

Herausforderung, Todtenbeschwörung<br />

möglichst viel Sichtbares, Bestimmtes, Beispielsweises,<br />

Vorsicht vor Gegenwärtigem.<br />

alles Zeitgemäße


Page Break KGW='VIII-2.65' KSA='12.401'<br />

Vermeiden der Worte „vornehm“ und überhaupt aller<br />

Worte, worin eine Selbst-In-Scenesetzung liegen<br />

könnte.<br />

Nicht „Beschreibung“; alle Probleme ins Gefühl,<br />

übersetzt, bis zur Passion —<br />

2) Sammlung ausdrücklicher Worte. Vorzug<br />

für militärische Worte(1534).<br />

Ersatzworte für die philosophischen Termini:<br />

womöglich deutsch und zur Formel ausgeprägt.<br />

sämmtliche Zustände der geistigsten<br />

Menschen darstellen; so daß ihre Reihe im<br />

ganzen Werke umfaßt ist.<br />

( — Zustände des Legislators(1535)<br />

des Versuchers<br />

des zur Opferung Gezwungenen, Zögernden —<br />

der großen Verantwortlichkeit<br />

des Leidens an der Unerkennbarkeit<br />

des Leidens am Scheinen-Müssen<br />

des Leidens am Wehthun-Müssen,<br />

der Wollust am Zerstören<br />

3) Das Werk auf eine Katastrophe hin bauen<br />

Einleitung herzunehmen von dem Willen zum Pessimismus.<br />

Nicht als Leidender, Enttäuschter reden.<br />

„Wir, die wir nicht an die Tugend und die schönen<br />

Schwellungen glauben.“<br />

Satyrspiel<br />

am Schluß<br />

Einmischen: kurze Gespräche zwischen Theseus<br />

Dionysos und Ariadne.<br />

Page Break KGW='VIII-2.66' KSA='12.402'<br />

— Theseus wird absurd, sagte Ariadne, Theseus wird<br />

tugendhaft —<br />

Eifersucht des Theseus auf Ariadne's Traum.<br />

Der Held sich selbst bewundernd, absurd werdend.<br />

Klage der Ariadne<br />

Dionysos ohne Eifersucht: „Was ich an Dir liebe, wie<br />

könnte das ein Theseus lieben?“ …<br />

Letzter Akt. Hochzeit des Dionysos und der Ariadne<br />

„man ist nicht eifersüchtig, wenn man Gott ist, sagte<br />

Dionysos: es sei denn auf Götter.“<br />

„Ariadne, sagte Dionysos, du bist ein Labyrinth:<br />

Theseus hat sich in dich verirrt, er hat keinen Faden mehr;


was nützt es ihm nun, daß er nicht vom Minotauros<br />

gefressen wurde? Was ihn frißt, ist schlimmer als ein<br />

Minotauros.“ Du schmeichelst mir, antwortete Ariadne, aber<br />

ich bin meines Mitleidens müde, an mir sollen alle Helden<br />

zu Grunde gehen: das ist meine letzte Liebe zu Theseus:<br />

„ich richte ihn zu Grunde“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11449 id='VIII.9[116]' kgw='VIII-2.66' ksa='12.402'<br />

(77) Rousseau, dieser typische „moderne Mensch“, Idealist<br />

und Canaille in Einer Person, und das Erste um des Zweiten<br />

willen, ein Wesen, das die „moralische Würde“ und<br />

deren Attitüde nöthig hatte, um sich selber auszuhalten,<br />

krank zugleich vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser<br />

Selbstverachtung: diese Mißgeburt, welche sich an<br />

die Schwelle unserer neuen Zeit gelagert hat, hat die<br />

„Rückkehr zur Natur“ gepredigt — wohin wollte er<br />

eigentlich zurück?<br />

Auch ich rede von „Rückkehr zur Natur“: obwohl es<br />

eigentlich nicht ein „Zurückkehren“ ist, sondern ein<br />

„Hinaufkommen“ — in die starke sonnenreine furchtbare<br />

Natur und Natürlichkeit des Menschen, welche mit großen<br />

Page Break KGW='VIII-2.67' KSA='12.403'<br />

Aufgaben spielen darf, weil sie an Kleinem müde würde<br />

und Ekel empfände. — Napoleon war „Rückkehr zur<br />

Natur“ in rebus tacticis und vor allem im Strategischen.<br />

Das 18. Jahrhundert, dem man Alles verdankt, worin<br />

unser 19. Jahrhundert gearbeitet und gelitten hat: den<br />

Moral-Fanatism, die Verweichlichung des Gefühls zu<br />

Gunsten des Schwachen, Unterdrückten, Leidenden, die<br />

Rancüne gegen alle Art Privilegirte, den Glauben an den<br />

„Fortschritt“, den Glauben an den Fetisch „Menschheit“,<br />

den unsinnigen Plebejer-Stolz und die Begierde nach<br />

voller Leidenschaft — beides romantisch —<br />

Unsere Feindschaft gegen die révolution bezieht sich<br />

nicht auf die blutige farce, ihre „Immoralität“, mit der sie<br />

sich abspielte; vielmehr auf ihre Heerden-Moralität,<br />

auf ihre „Wahrheiten“, mit denen sie immer noch wirkt<br />

und wirkt, auf ihre contagiöse Vorstellung von „Gerechtigkeit,<br />

Freiheit“, mit der sie alle mittelmäßigen Seelen<br />

bestrickt, auf ihre Niederwerfung der Autoritäten höherer<br />

Stände. Daß es um sie herum so schrecklich und<br />

blutig zugieng, hat dieser Orgie der Mittelmäßigkeit<br />

einen Anschein von Größe gegeben, so daß<br />

sie als Schauspiel auch die stolzesten Geister verführt hat.


<strong>Aphorism</strong> n=11450 id='VIII.9[117]' kgw='VIII-2.67' ksa='12.403'<br />

man giebt nach, wo das Nachgeben ein Vergeben ist: also<br />

wenn man reich genug ist um nicht nehmen zu müssen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11451 id='VIII.9[118]' kgw='VIII-2.67' ksa='12.403'<br />

er liebte es, so lange Recht zu behalten bis ein Zufall ihm<br />

zu Hülfe kam, — und bis er Recht hatte<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11452 id='VIII.9[119]' kgw='VIII-2.67' ksa='12.403'<br />

(78) Die „Reinigung des Geschmacks“ kann nur<br />

die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsere<br />

Page Break KGW='VIII-2.68' KSA='12.404'<br />

Gesellschaft von heute repräsentirt nur die Bildung;<br />

der Gebildete fehlt. Der große synthetische<br />

Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu<br />

Einem Ziele unbedenklich in's Joch gespannt sind. Was wir<br />

haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste<br />

Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht<br />

das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter<br />

ihr, der vielfache Mensch — Goethe als schönster<br />

Ausdruck des Typus ( — ganz und gar kein Olympier!)<br />

Das Recht auf den großen Affekt — für den<br />

Erkennenden wieder zurückzugewinnen! nachdem die<br />

Entselbstung und der Cultus des „Objektiven“ eine<br />

falsche Rangordnung auch in dieser Sphäre geschaffen haben.<br />

Der Irrthum kam auf die Spitze, als Schopenhauer lehrte:<br />

eben im Loskommen vom Affekt, vom<br />

Willen liege der einzige Zugang zum „Wahren“, zur<br />

Erkenntniß; der willensfreie Intellekt könne gar<br />

nicht anders, als das wahre eigentliche Wesen der<br />

Dinge sehn.<br />

Derselbe Irrthum in arte: als ob Alles schön wäre,<br />

sobald es ohne Willen angeschaut wird.<br />

Der Kampf gegen den „Zweck“ in der Kunst ist<br />

immer der Kampf gegen die moralisirende Tendenz<br />

der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die<br />

Moral: l'art pour l'art heißt: „der Teufel hole die<br />

Moral!“ — Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die<br />

Übergewalt des Vorurtheils; wenn man den Affekt


des Moralpredigens und „Menschenverbesserns“<br />

von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus noch<br />

lange nicht, daß die Kunst überhaupt ohne „Affekt“, ohne<br />

„Zweck“, ohne ein außeraesthetisches Bedürfniß möglich<br />

Page Break KGW='VIII-2.69' KSA='12.405'<br />

ist. „Wiederspiegeln“, „nachahmen“: gut, aber wie? alle<br />

Kunst lobt, verherrlicht, zieht heraus, verklärt — sie<br />

stärkt irgend welche Werthschätzungen: sollte man das<br />

nur als ein Nebenbei, als einen Zufall der Wirkung nehmen<br />

dürfen? Oder liegt es dem „Können“ des<br />

Künstlers schon zu Grunde? Bezieht sich<br />

der Affekt des Künstlers auf die Kunst selbst? Oder nicht<br />

vielmehr auf das Leben? auf eine Wünschbarkeit<br />

des Lebens?<br />

Und das viele Häßliche, Harte, Schreckliche, das<br />

die Kunst darstellt? Will sie damit vom Leben entleiden?<br />

zur Resignation stimmen, wie Schopenhauer meint?<br />

— Aber der Künstler theilt vor allem seinen Zustand<br />

in Hinsicht auf dieses Furchtbare des Lebens mit: dieser<br />

Zustand selbst ist eine Wünschbarkeit, wer ihn<br />

erlebt hat, hält ihn in höchsten Ehren und theilt ihn mit,<br />

gesetzt daß er ein mittheilsames Wesen d.h. ein Künstler<br />

ist. Die Tapferkeit vor einem mächtigen Feinde,<br />

einem erhabenen Ungemach, einem grauenhaften<br />

Problem — sie selbst ist der höhere Zustand des<br />

Lebens, den alle Kunst der Erhabenheit verherrlicht. Die<br />

kriegerische Seele feiert ihre Saturnalien in der Tragödie;<br />

das Glück des Krieges und Sieges, der herben Grausamkeit<br />

angesichts leidender und kämpfender Menschen, wie<br />

alles das dem leidgewohnten, und leidaufsuchenden<br />

Menschen zu eigen ist.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11453 id='VIII.9[120]' kgw='VIII-2.69' ksa='12.405'<br />

(79) Wir lernen in unserer civilisirten Welt fast nur den<br />

verkümmerten Verbrecher kennen, erdrückt unter dem<br />

Fluch und der Verachtung der Gesellschaft, sich selbst<br />

mißtrauend, oftmals seine That verkleinernd und<br />

verleumdend, einen mißglückten Typus von<br />

Verbrecher; und wir widerstreben der Vorstellung,<br />

Page Break KGW='VIII-2.70' KSA='12.406'<br />

daß alle großen Menschen Verbrecher<br />

waren, nur im großen Stile, und nicht im erbärmlichen,<br />

daß das Verbrechen zur Größe gehört ( — so nämlich<br />

geredet aus dem Bewußtsein der Nierenprüfer und


aller derer, die am tiefsten in große Seelen hinuntergestiegen<br />

sind) Die „Vogelfreiheit“ von dem Herkommen,<br />

dem Gewissen, der Pflicht — jeder große Mensch<br />

kennt diese seine Gefahr. Aber er will sie auch: er<br />

will das große Ziel und darum auch dessen Mittel.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11454 id='VIII.9[121]' kgw='VIII-2.70' ksa='12.406'<br />

(80) Daß man den Menschen den Muth zu ihren Naturtreiben<br />

wiedergiebt<br />

Daß man ihrer Selbstunterschätzung<br />

steuert (nicht der des Menschen als Individuums,<br />

sondern der des Menschen als Natur …)<br />

Daß man die Gegensätze herausnimmt aus den<br />

Dingen, nachdem man begreift, daß wir sie hineingelegt<br />

haben.<br />

Daß man die Gesellschafts-Idiosynkrasie<br />

aus dem Dasein überhaupt herausnimmt (Schuld, Strafe,<br />

Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Freiheit, Liebe usw.)<br />

Das Problem der Civilisation hinstellen.<br />

Fortschritt zur „Natürlichkeit“ : in allen<br />

politischen Fragen, auch im Verhältniß von Parteien,<br />

selbst von merkantilen oder Arbeiter- oder Unternehmer-Parteien<br />

handelt es sich um Machtfragen — „was<br />

man kann?“ und erst daraufhin, „was man soll?“<br />

Daß dabei, mitten unter der Mechanik der großen<br />

Politik, noch die christliche Fanfare geblasen (z.B. in<br />

Siegesbulletins oder in kaiserlichen Anreden an das Volk)<br />

gehört immer mehr zu dem, was unmöglich wird: weil es<br />

wider den Geschmack geht. „Die Gurgel des Kronprinzen“<br />

ist keine Angelegenheit Gottes.<br />

Page Break KGW='VIII-2.71' KSA='12.407'<br />

Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts gegen das 18.<br />

— im Grunde führen wir guten Europäer<br />

einen Krieg gegen das 18. Jahrhundert. —<br />

1. „Rückkehr zur Natur“ immer entschiedener im<br />

umgekehrten Sinne verstanden als es Rousseau verstand.<br />

Weg vom Idyll und der Oper!<br />

2. immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher,<br />

furchtloser, arbeitsamer, maaßvoller, mißtrauischer<br />

gegen plötzliche Veränderungen, antirevolutionär<br />

3. immer entschiedener die Frage der Gesundheit<br />

des Leibes der „der Seele“ voranstellend: letzteres<br />

als einen Zustand in Folge der ersteren begreifend,<br />

mindestens als die Vorbedingung — — —


<strong>Aphorism</strong> n=11455 id='VIII.9[122]' kgw='VIII-2.71' ksa='12.407'<br />

(80a) Zur Genealogie des Christenthums<br />

— der Fanatism der Schüchternen, welche nicht<br />

wieder zurückzukehren wagen, nachdem sie einmal ihr<br />

Land verlassen haben: bis sie, aus Furcht und Marter der<br />

Furcht, dazu kommen, es zu vernichten.<br />

— es gehört mehr Muth und Stärke des Charakters<br />

dazu, halt zu machen oder gar umzukehren als<br />

weiterzugehn. Umzukehren ohne Feigheit ist<br />

schwerer als weiterzugehen ohne Feigheit.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11456 id='VIII.9[123]' kgw='VIII-2.71' ksa='12.407'<br />

(81) Zur Genesis des Nihilisten.<br />

Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich<br />

weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen<br />

bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden:<br />

die Energie, die Nonchalance, mit der ich als Nihilist<br />

Page Break KGW='VIII-2.72' KSA='12.408'<br />

vorwärts gieng, täuschte mich über diese Grundthatsache.<br />

Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es<br />

unmöglich, daß „die Ziellosigkeit an sich“ unser<br />

Glaubensgrundsatz ist.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11457 id='VIII.9[124]' kgw='VIII-2.72' ksa='12.408'<br />

(82) Moral als Verführungs-mittel.<br />

„Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott<br />

ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für<br />

die „Verderbniß des Menschen“ zu? Ihren Tyrannen und<br />

Verführern, den herrschenden Ständen — man muß sie<br />

vernichten.“<br />

: die Logik Rousseaus (vgl. die Logik Pascals,<br />

welcher den Schluß auf die Erbsünde macht)<br />

Man vergleiche die verwandte Logik Luthers<br />

: in beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein<br />

unersättliches Rachebedürfniß als moralisch-religiöse<br />

Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden<br />

Stand sucht sich zu heiligen …<br />

(die „Sündhaftigkeit Israels“: Grundlage für die<br />

Machtstellung der Priester)<br />

Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus


: immer ist es die Sache Gottes, unter der diese<br />

Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der<br />

Menschlichkeit usw.<br />

(bei Christus scheint der Jubel des Volkes als<br />

Ursache seiner Hinrichtung; eine antipriesterliche<br />

Bewegung von vornherein)<br />

( — selbst bei den Antisemiten ist es immer<br />

das gleiche Kunststück: den Gegner mit moralischen<br />

Verwerfungsurtheilen heimzusuchen und sich die Rolle der<br />

strafenden Gerechtigkeit vorzubehalten.)<br />

NB Die moralische(1536) Verurtheilung als Mittel zur<br />

Macht.<br />

Page Break KGW='VIII-2.73' KSA='12.409'<br />

A. „die Erregung des schlechten Gewissens“ um<br />

Heilande, Priester und dergleichen nöthig zu machen<br />

oder:<br />

B. die Erregung des guten Gewissens: um seine<br />

Gegner als die Schlechten behandeln und<br />

niederwerfen zu können<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11458 id='VIII.9[125]' kgw='VIII-2.73' ksa='12.409'<br />

(83) gegen Rousseau: der Zustand der Natur ist furchtbar,<br />

der Mensch ist Raubthier, unsre Civilisation ist ein<br />

unerhörter Triumph über diese Raubthier-Natur: — so<br />

schloß Voltaire. Er empfand die Milderung, die<br />

Raffinements, die geistigen Freuden des civilisirten<br />

Zustandes; er verachtete die Bornirtheit, auch in der Form<br />

der Tugend; den Mangel an Delikatesse auch bei den<br />

Asketen und Mönchen.<br />

Die moralische Verwerflichkeit des<br />

Menschen schien Rousseau zu präoccupiren; man kann<br />

mit den Worten „ungerecht“ „grausam“, am meisten die<br />

Instinkte der Unterdrückten aufreizen, die sich sonst<br />

unter dem Bann des vetitum und der Ungnade befinden:<br />

so daß ihr Gewissen ihnen die aufrührerischen<br />

Begierden widerräth. Diese Emancipatoren<br />

suchen vor allem Eins: ihrer Partei die großen<br />

Accente und Attitüden der höheren Natur zu<br />

geben.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11459 id='VIII.9[126]' kgw='VIII-2.73' ksa='12.409'<br />

(84) Hauptsymptome des Pessimism.<br />

die dîners chez Magny.


der russische Pessimism. Tolstoi Dostoiewsky<br />

der aesthetische Pessimismus l'art pour l'art „Description“<br />

der romantische und der antiromantische Pessimism<br />

Page Break KGW='VIII-2.74' KSA='12.410'<br />

der erkenntnißtheoretische Pessimismus.<br />

Schopenhauer. Der „Phänomenalismus“.<br />

der anarchistische Pessimismus.<br />

die „Religion des Mitleids“, buddhistische Vorbewegung.<br />

der Cultur-Pessimismus (Exotism. Kosmopolitismus)<br />

der moralistische Pessimismus: ich selber<br />

Die Distraktionen, die zeitweiligen<br />

Erlösungen vom Pessimismus.<br />

die großen Kriege, die starken Militär-Organisationen,<br />

der Nationalismus<br />

die Industrie-Concurrenz<br />

die Wissenschaft<br />

das Vergnügen<br />

Scheiden wir hier aus:<br />

der Pessimismus als Stärke — worin?<br />

in der Energie seiner Logik, als Anarchismus und Nihilism,<br />

als Analytik.<br />

Pessimismus als Niedergang — worin?<br />

als Verzärtlichung, als kosmopolitische Anfühlerei, als<br />

„tout comprendre“ und Historismus.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11460 id='VIII.9[127]' kgw='VIII-2.74' ksa='12.410'<br />

Die Heraufkunft des Nihilismus.<br />

Die Logik des Nihilismus<br />

Die Selbstüberwindung<br />

des Nihilismus.<br />

Überwinder und Überwundene.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11461 id='VIII.9[128]' kgw='VIII-2.74' ksa='12.410'<br />

(85) die kritische Spannung: die Extreme kommen<br />

zum Vorschein und Übergewicht.<br />

Page Break KGW='VIII-2.75' KSA='12.411'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11462 id='VIII.9[129]' kgw='VIII-2.75' ksa='12.411'


Niedergang des Protestantism: theoretisch und<br />

historisch als Halbheit begriffen. Thatsächliches Übergewicht des<br />

Katholicism; das Gefühl des Protestantismus(1537) so erloschen,<br />

daß die stärksten antiprotestantischen Bewegungen<br />

nicht mehr als solche empfunden werden (z.B. Wagners<br />

Parsifal) Die ganze höhere Geistigkeit in Frankreich ist<br />

katholisch im Instinkt; Bismarck hat begriffen, daß es einen<br />

Protestantismus gar nicht mehr giebt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11463 id='VIII.9[130]' kgw='VIII-2.75' ksa='12.411'<br />

(86) Kritik des modernen Menschen<br />

(seine moralistische Verlogenheit)<br />

„der gute Mensch“, nur verdorben und verführt durch<br />

schlechte Institutionen (Tyrannen und Priester)<br />

die Vernunft als Autorität; die Geschichte als Überwindung<br />

von Irrthümern; die Zukunft als Fortschritt.<br />

der christliche Staat „der Gott der Heerscharen“<br />

der christliche Geschlechtsbetrieb oder die Ehe<br />

das Reich der „Gerechtigkeit“ der Cultus der „Menschheit“<br />

die „Freiheit“<br />

die romantische Attitüde des modernen Menschen:<br />

der edle Mensch (Byron, V. Hugo, G. Sand<br />

die edle Entrüstung<br />

die Heiligung durch die Leidenschaft (als wahre „Natur“<br />

die Parteinahme für die Unterdrückten und<br />

Schlechtweggekommenen: Motto der Historiker und<br />

romanciers.<br />

die Stoiker der Pflicht<br />

die „Selbstlosigkeit“ als Kunst und Erkenntniß<br />

der Altruism (als verlogenste Form des Egoism<br />

(Utilitarism) gefühlsamster Egoism.<br />

Page Break KGW='VIII-2.76' KSA='12.412'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11464 id='VIII.9[131]' kgw='VIII-2.76' ksa='12.412'<br />

(87) dies Alles ist 18. Jahrhundert. Was dagegen nicht<br />

sich aus ihm vererbt hat: die insouciance, die Heiterkeit,<br />

die Eleganz, die geistige Helligkeit; das tempo des Geistes<br />

hat sich verändert; der Genuß an der geistigen Feinheit<br />

und Klarheit ist dem Genuß an den Farben, Harmonie,<br />

Masse, Realität, usw. gewichen. Sensualism im Geistigen.<br />

Kurz, es ist das 18. Jahrhundert Rousseaus.


<strong>Aphorism</strong> n=11465 id='VIII.9[132]' kgw='VIII-2.76' ksa='12.412'<br />

die Virtuosi und die Tugendhaften<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11466 id='VIII.9[133]' kgw='VIII-2.76' ksa='12.412'<br />

Science sans conscience n'est que ruine de l'âme. Rabelais.<br />

conscience sans science c'est le salut —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11467 id='VIII.9[134]' kgw='VIII-2.76' ksa='12.412'<br />

(88) Augustin Thierry las 1814 das, was de Montlosier<br />

in seinem Werke De la monarchie française gesagt hatte:<br />

er antwortete mit einem Schrei der Entrüstung und machte<br />

sich an sein Werk. Jener Emigrant hatte gesagt: Race<br />

d'affranchis, race d'esclaves arrachés de nos mains, peuple<br />

tributaire, peuple nouveau, licence vous fut octroyée<br />

d'être libres, et non pas à nous d'être nobles; pour nous<br />

tout est de droit, pour vous tout est de grâce, nous ne<br />

sommes point de votre communauté; nous sommes un<br />

tout par nous-mêmes.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11468 id='VIII.9[135]' kgw='VIII-2.76' ksa='12.412'<br />

(90) die „evangelische Freiheit“. „Verantwortlichkeit vor<br />

dem eignen Gewissen“, diese schöne Tartüfferie<br />

Luthers: im Grunde der „Wille zur Macht“ in seiner<br />

schüchternsten Form. Denn dies sind seine drei Grade: a)<br />

Freiheit, b) Gerechtigkeit, c) Liebe<br />

Page Break KGW='VIII-2.77' KSA='12.413'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11469 id='VIII.9[136]' kgw='VIII-2.77' ksa='12.413'<br />

der Glaube ist eine „heilige Krankheit“, hiera nosos:<br />

das hat schon Heraklit gewußt: der Glaube, eine blödsinnig<br />

machende innere Nöthigung, daß etwas wahr sein soll …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11470 id='VIII.9[137]' kgw='VIII-2.77' ksa='12.413'<br />

(91) Der Kampf gegen die großen Menschen, aus


ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind<br />

gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug,<br />

um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu<br />

stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich zu entladen,<br />

sondern womöglich seiner Entstehung vorbeugen …<br />

Grundinstinkt der civilisirten Gesellschaft.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11471 id='VIII.9[138]' kgw='VIII-2.77' ksa='12.413'<br />

(92) NB alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln,<br />

schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe<br />

der Cultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muß<br />

sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst<br />

verfluchen …<br />

— überall, wo eine Cultur das Böse ansetzt,<br />

bringt sie damit ein Furchtverhältniß zum Ausdruck<br />

also eine Schwäche …<br />

These: alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse<br />

von Ehedem.<br />

Maaßstab: je furchtbarer und größer die Leidenschaften<br />

sind, die eine Zeit, ein Volk, ein Einzelner sich<br />

gestatten kann, weil er sie als Mittel zu brauchen<br />

vermag, um so höher steht seine Cultur.<br />

( — das Reich des Bösen wird immer kleiner …)<br />

— je mittelmäßiger, schwächer, unterwürfiger und<br />

feiger ein Mensch ist, um so mehr wird er als böse<br />

ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten,<br />

Page Break KGW='VIII-2.78' KSA='12.414'<br />

der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen<br />

(d.h. des ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11472 id='VIII.9[139]' kgw='VIII-2.78' ksa='12.414'<br />

(89) Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften,<br />

nicht deren Schwächung oder Ausrottung!<br />

je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um so<br />

viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben<br />

werden.<br />

der „große Mensch“ ist groß durch den Freiheits-Spielraum<br />

seiner Begierden und durch die noch größere<br />

Macht, welche diese prachtvollen Unthiere in Dienst zu<br />

nehmen weiß.<br />

— der „gute Mensch“ ist auf jeder Stufe der<br />

Civilisation der Ungefährliche und Nützliche<br />

zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im


gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich<br />

nicht zu fürchten hat und wen man<br />

trotzdem nicht verachten darf …<br />

Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme eine<br />

Ablenkung, Verführung, Ankränkelung zu ruiniren<br />

zu Gunsten der Regel.<br />

Das ist hart: aber ökonomisch betrachtet, vollkommen<br />

vernünftig. Mindestens für jene lange Zeit, — — —<br />

Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen<br />

die Ausnahme zu richten zu Gunsten des Mittleren.<br />

Eine Cultur der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr,<br />

der Nüance als Folge eines großen Kräfte-Reichthums:<br />

jede aristokratische Cultur tendirt dahin.<br />

Erst wenn eine Cultur über einen Überschuß von<br />

Kräften zu gebieten hat, kann auf ihrem Boden auch ein<br />

Treibhaus der Luxus-Cultur — — —<br />

Page Break KGW='VIII-2.79' KSA='12.415'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11473 id='VIII.9[140]' kgw='VIII-2.79' ksa='12.415'<br />

(93) Versuch meinerseits, die absolute Vernünftigkeit<br />

des gesellschaftlichen Urtheilens und Werthschätzens<br />

zu begreifen: natürlich frei von dem Willen,<br />

dabei moralische Resultate herauszurechnen.<br />

: der Grad von psychologischer Falschheit<br />

und Undurchsichtigkeit, um die zur Erhaltung und<br />

Machtsteigerung wesentlichen Affekte zu heiligen (um<br />

sich für sie das gute Gewissen zu schaffen)<br />

: der Grad von Dummheit, damit eine gemeinsame<br />

Regulirung und Werthung möglich bleibt (dazu<br />

Erziehung, Überwachung der Bildungselemente, Dressur)<br />

: der Grad von Inquisition, Mißtrauen<br />

und Unduldsamkeit, um die Ausnahmen als<br />

Verbrecher zu behandeln und zu unterdrücken, — um<br />

ihnen selbst das schlechte Gewissen zu geben, so daß diese<br />

innerlich an ihrer Ausnahmhaftigkeit krank sind.<br />

Moral wesentlich als Wehr, als Vertheidigungsmittel:<br />

insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen p. 123<br />

(verpanzert; stoisch;<br />

der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen,<br />

er ist angreifend<br />

Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt<br />

(aus Schuppen und Platten, Federn und Haare)<br />

Summa: die Moral ist gerade so „unmoralisch“, wie<br />

jedwedes andre Ding auf Erden; die Moralität selbst ist


eine Form der Unmoralität.<br />

Große Befreiung, welche diese Einsicht bringt,<br />

der Gegensatz ist aus den Dingen entfernt, die Einartigkeit<br />

in allem Geschehen ist gerettet — —<br />

Page Break KGW='VIII-2.80' KSA='12.416'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11474 id='VIII.9[141]' kgw='VIII-2.80' ksa='12.416'<br />

(94) Überarbeitung, Neugierde und Mitgefühl — unsre<br />

modernen Laster<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11475 id='VIII.9[142]' kgw='VIII-2.80' ksa='12.416'<br />

(95) Die Höhepunkte der Cultur und der Civilisation<br />

liegen auseinander, man soll sich über den Antagonismus<br />

dieser beiden Begriffe nicht irreführen lassen.<br />

Die großen Momente der Cultur sind die Zeiten<br />

der Corruption, moralisch ausgedrückt; die<br />

Epochen der gewollten und erzwungenen Zähmung<br />

(„Civilisation.“) des Menschen sind Zeiten der<br />

Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen und<br />

deren tiefste Widersacher.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11476 id='VIII.9[143]' kgw='VIII-2.80' ksa='12.416'<br />

(96) Wie wenig liegt am Gegenstand! Der Geist ist es, der<br />

lebendig macht! Welche kranke und verstockte Luft<br />

mitten aus all dem aufgeregten Gerede von „Erlösung“, Liebe,<br />

„Seligkeit“, Glaube, Wahrheit, „ewigem Leben“! Man<br />

nehme einmal ein eigentlich heidnisches Buch<br />

dagegen, z.B. Petronius, wo im Grunde Nichts gethan,<br />

gesagt, gewollt und geschätzt wird, was nicht, nach einem<br />

christlich-muckerischen Werthmaaß, Sünde, selbst Todsünde<br />

ist. Und trotzdem: welches Wohlgefühl der reineren<br />

Luft, der überlegenen Geistigkeit des schnelleren<br />

Schrittes, der freigewordenen und überschüssigen<br />

zukunftsgewissen Kraft! Im ganzen neuen Testament kommt<br />

keine einzige Bouffonnerie vor: aber damit ist ein Buch<br />

widerlegt … Mit ihm verglichen bleibt das neue Testament<br />

ein Symptom der Niedergangs-Cultur und der Corruption<br />

— und als solches hat es gewirkt, als Ferment<br />

der Verwesung


Page Break KGW='VIII-2.81' KSA='12.417'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11477 id='VIII.9[144]' kgw='VIII-2.81' ksa='12.417'<br />

(97) Zur „logischen Scheinbarkeit“.<br />

Der Begriff „Individuum“ und „Gattung“<br />

gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. „Gattung“<br />

drückt nur die Thatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher<br />

Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das tempo<br />

im Weiterwachsen und Sich-Verändern eine lange Zeit<br />

verlangsamt ist: so daß die thatsächlichen kleinen<br />

Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen<br />

( — eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-Entwickeln<br />

nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht<br />

erreicht scheint, und die falsche Vorstellung ermöglicht<br />

wird, hier sei ein Ziel erreicht — und<br />

es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben …)<br />

Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb<br />

Werthvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden;<br />

und wenn noch so oft „dieselbe Form erreicht wird“, so<br />

bedeutet das nicht, daß es dieselbe Form ist,<br />

— sondern es erscheint immer etwas<br />

Neues — und nur wir, die wir vergleichen, rechnen<br />

dies Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die<br />

Einheit der „Form“. Als ob ein Typus erreicht werden<br />

sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und<br />

innewohne.<br />

Die Form, die Gattung, das Gesetz, die<br />

Idee, der Zweck — hier wird überall der gleiche<br />

Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität<br />

untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen<br />

Gehorsam in sich trage, — eine künstliche Scheidung<br />

im Geschehen wird da gemacht zwischen dem, was<br />

thut und dem, wonach dies Thun sich richtet (aber<br />

das was und das wonach sind nur angesetzt von<br />

uns aus Gehorsam gegen unsere metaphysisch-logische<br />

Dogmatik: kein „ Thatbestand“)<br />

Page Break KGW='VIII-2.82' KSA='12.418'<br />

Man soll diese Nöthigung, Begriffe, Gattungen,<br />

Formen, Zwecke, Gesetze — „eine Welt der<br />

identischen Fälle“ — zu bilden, nicht so verstehn, als<br />

ob wir damit die wahre Welt zu fixiren im Stande<br />

wären; sondern als Nöthigung, uns eine Welt<br />

zurechtzumachen, bei der unsre Existenz ermöglicht<br />

wird — wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar,<br />

vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.<br />

Diese selbe Nöthigung besteht in der Sinnen-Aktivität,<br />

welche der Verstand unterstützt, — dieses


Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten,<br />

auf dem alles „Wiedererkennen“, alles<br />

Sich-verständlich-machen-können beruht. Unsre<br />

Bedürfnisse haben unsre Sinne so präcisirt, daß die „gleiche<br />

Erscheinungswelt“ immer wieder kehrt und dadurch den<br />

Anschein der Wirklichkeit bekommen hat.<br />

Unsre subjektive Nöthigung, an die Logik zu glauben,<br />

drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik<br />

selber zum Bewußtsein kam, nichts gethan haben als ihre<br />

Postulate in das Geschehen hineinlegen:<br />

jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor — wir können<br />

nicht mehr anders — und vermeinen nun, diese Nöthigung<br />

verbürge etwas über die „Wahrheit“. Wir sind es,<br />

die „das Ding“, das „gleiche Ding“, das Subjekt, das<br />

Prädikat, das Thun, das Objekt, die Substanz, die Form<br />

geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen,<br />

das Grob- und Einfachmachen am längsten getrieben<br />

haben.<br />

Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie<br />

erst logisirt haben<br />

Page Break KGW='VIII-2.83' KSA='12.419'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11478 id='VIII.9[145]' kgw='VIII-2.83' ksa='12.419'<br />

(98) Zum „Macchiavellismus“ der Macht.<br />

(unbewußter Macchiavellismus)<br />

Der Wille zur Macht erscheint<br />

a) bei den Unterdrückten, bei Sklaven jeder Art als<br />

Wille zur „Freiheit“: bloß das Loskommen<br />

scheint das Ziel (moralisch-religiös: „vor seinem eignen<br />

Gewissen verantwortlich“ „evangelische Freiheit“ usw.)<br />

b) bei einer stärkeren und zur Macht heranwachsenden<br />

Art als Wille zur Übermacht; wenn zunächst erfolglos,<br />

dann sich einschränkend auf den Willen zur<br />

„Gerechtigkeit“ d.h. zu dem gleichen Maß<br />

von Rechten, wie die andere herrschende Art<br />

sie hat (Kampf um Rechte …)<br />

c) bei den Stärksten, Reichsten, Unabhängigsten,<br />

Muthigsten als „Liebe zur Menschheit“, zum<br />

„Volke“, zum Evangelium, zur Wahrheit, Gott; als<br />

Mitleid; „Selbstopferung“ usw. als Überwältigen,<br />

Mit-sich-fortreißen, in-seinen-Dienst-nehmen; als<br />

instinktives Sich-in-Eins-rechnen mit einem großen<br />

Quantum Macht, dem man Richtung zu geben<br />

vermag: der Held, der Prophet, der Cäsar, der<br />

Heiland, der Hirt ( — auch die Geschlechtsliebe<br />

gehört hierher: sie will die Überwältigung, das<br />

in-Besitz-nehmen und sie erscheint als Sich-hin-geben …)


im Grunde nur die Liebe zu seinem „Werkzeug“,<br />

zu seinem „Pferd …, seine Überzeugung davon,<br />

daß ihm das und das zugehört, als Einem, der<br />

im Stande ist, es zu benutzen.<br />

„Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Liebe“!!!<br />

Das Unvermögen zur Macht: seine Hypokrisie<br />

und Klugheit:<br />

als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit …)<br />

Page Break KGW='VIII-2.84' KSA='12.420'<br />

als Ergebung, Hingebung, Liebe (Idealisirung,<br />

Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und<br />

indirekte Selbstverklärung)<br />

als Fatalism, Resignation<br />

als „Objektivität“<br />

als Selbsttyrannisirung (Stoicism, Askese, „Entselbstung“,<br />

„Heiligung“)<br />

( — überall drückt sich das Bedürfniß aus, irgend eine<br />

Macht doch noch auszuüben oder sich selbst den<br />

Anschein einer Macht zeitweilig zu schaffen (als<br />

Rausch)<br />

als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei<br />

als „schöne Seele“, „Tugend“, „Selbstvergötterung“,<br />

„Abseits“, „Reinheit von der Welt“ usw. ( — die<br />

Einsicht in das Unvermögen zur Macht(1538) als dédain<br />

verkleidend)<br />

Die Menschen, welche die Macht wollen um der<br />

Glücks-Vortheile willen, die die Macht gewährt (politische<br />

Parteien)<br />

andere Menschen, welche die Macht wollen, selbst mit<br />

sichtbaren Nachtheilen und Opfern an<br />

Glück und Wohlbefinden: die Ambitiosi<br />

andere Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie<br />

sonst in andere Hände fiele, von denen sie nicht<br />

abhängig sein wollen<br />

Zum Problem: ob die Macht im „Willen zur Macht“ bloss<br />

Mittel ist: Das Protoplasma sich etwas aneignend<br />

und anorganisirend, also sich verstärkend<br />

und Macht ausübend, um sich zu verstärken.<br />

In wiefern das Verhalten des Protoplasma beim<br />

Aneignen und Anorganisiren den Schlüssel giebt zum<br />

chemischen Verhalten jener Stoffe zu einander (Kampf<br />

und Machtfeststellung)<br />

Page Break KGW='VIII-2.85' KSA='12.421'


<strong>Aphorism</strong> n=11479 id='VIII.9[146]' kgw='VIII-2.85' ksa='12.421'<br />

(99) Gegen Rousseau: der Mensch ist leider<br />

nicht mehr böse genug; die Gegner Rousseaus, welche<br />

sagen: „der Mensch ist ein Raubthier“ haben leider nicht<br />

Recht: nicht die Verderbniß des Menschen, sondern seine<br />

Verzärtlichung und Vermoralisirung ist der Fluch; in der<br />

Sphäre, welche von Rousseau am heftigsten bekämpft<br />

wurde, war gerade die relativ noch starke und<br />

wohlgerathene Art Mensch ( — die welche noch die großen<br />

Affekte ungebrochen hatte, Wille zur Macht, Wille zum<br />

Genuß, Willen und Vermögen zu commandiren) Man<br />

muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen<br />

der Renaissance vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts<br />

in Frankreich), um zu spüren, worum es sich<br />

handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung<br />

und der erhitzten Eitelkeit — beides Anzeichen, daß es<br />

am dominirenden Willen fehlt: er moralisirt und sucht<br />

die Ursache seiner Miserabilität als Rancüne-Mensch<br />

in den herrschenden Ständen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11480 id='VIII.9[147]' kgw='VIII-2.85' ksa='12.421'<br />

(100) Mit welchen Mitteln eine Tugend<br />

zur Macht kommt?<br />

Genau mit den Mitteln einer politischen Partei:<br />

Verleumdung, Verdächtigung, Unterminirung der<br />

entgegenstrebenden Tugenden, die schon in der Macht sind,<br />

Umtaufung ihres Namens, systematische Verfolgung und<br />

Verhöhnung: Also durch lauter „Immoralitäten“.<br />

Was eine Begierde mit sich selber macht, um zur<br />

Tugend zu werden? die Umtaufung; die principielle<br />

Verleugnung ihrer Absichten; die Übung in Sich-Mißverstehn;<br />

die Alliance mit bestehenden und anerkannten<br />

Tugenden; die affichirte Feindschaft gegen deren Gegner.<br />

Page Break KGW='VIII-2.86' KSA='12.422'<br />

Womöglich den Schutz heiligender Mächte erkaufen;<br />

berauschen, begeistern, die Tartüfferie des Idealismus; eine<br />

Partei gewinnen, die entweder mit ihr obenauf<br />

kommt oder zu Grunde geht …, unbewußt, naiv werden …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11481 id='VIII.9[148]' kgw='VIII-2.86' ksa='12.422'<br />

(101) Metamorphosen-Lehre:


Metamorphosen der Geschlechtlichkeit<br />

" der Grausamkeit<br />

" der Feigheit<br />

" der Rachsucht, Zorn<br />

" der Faulheit<br />

" der Herrschsucht<br />

" der Tollkühnheit<br />

" der Lüge, des Neids<br />

" der Verleumdung<br />

" der Habsucht<br />

" des Haßes<br />

Das, was eine Zeit verachtet oder haßt als die<br />

rudimentären Tugenden, als Überbleibsel vom Ideal<br />

einer früheren Zeit, aber in der Form der Verkümmerung<br />

(„der Verbrecher“ …)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11482 id='VIII.9[149]' kgw='VIII-2.86' ksa='12.422'<br />

(102) Wie man es macht, um lebensfeindliche<br />

Tendenzen zu Ehren zu bringen?<br />

z.B. die Keuschheit<br />

die Armut und Bettelei<br />

die Dummheit und Unkultur<br />

die Selbstverachtung<br />

die Daseins-Verachtung<br />

Page Break KGW='VIII-2.87' KSA='12.423'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11483 id='VIII.9[150]' kgw='VIII-2.87' ksa='12.423'<br />

(103) Zur Optik der Werthschätzung:<br />

Einfluß der Quantität (groß, klein) des Zweckes.<br />

Einfluß der Geistigkeit in den Mitteln.<br />

Einfluß der Manieren in der Aktion.<br />

Einfluß des Gelingens oder Mißlingens<br />

Einfluß der gegnerischen Kräfte und deren Werth<br />

Einfluß des Erlaubten und Verbotenen<br />

Die Quantität im Ziele in ihrer Wirkung auf<br />

die Optik der Werthschätzung: der große Verbrecher<br />

und der kleine. Die Quantität im Ziele des Gewollten<br />

entscheidet auch bei dem Wollenden selbst, ob er<br />

vor sich dabei Achtung hat oder kleinmüthig und<br />

miserabel empfindet. —<br />

Sodann der Grad der Geistigkeit in den Mitteln<br />

in ihrer Wirkung auf die Optik der Werthschätzung. Wie<br />

anders nimmt sich der philosophische Neuerer Versucher<br />

und Gewaltmensch aus gegen den Räuber, Barbaren und


Abenteurer! — Anschein des „Uneigennützigen“.<br />

Endlich vornehme Manieren, Haltung, Tapferkeit,<br />

Selbstvertrauen — wie verändern sie die Werthung dessen,<br />

was auf diese Art erreicht wird!<br />

Wirkung des Verbots: jede Macht, die verbietet,<br />

die Furcht zu erregen weiß bei dem, dem etwas<br />

verboten wird, erzeugt das „schlechte Gewissen“ (d.h. die<br />

Begierde nach etwas mit dem Bewußtsein der Gefährlichkeit<br />

ihrer Befriedigung, mit der Nöthigung zur<br />

Heimlichkeit, zum Schleichweg, zur Vorsicht; jedes Verbot<br />

verschlechtert den Charakter bei denen, die sich ihm nicht<br />

willentlich unterwerfen, sondern nur gezwungen)<br />

Page Break KGW='VIII-2.88' KSA='12.424'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11484 id='VIII.9[151]' kgw='VIII-2.88' ksa='12.424'<br />

(104) Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen<br />

äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, —<br />

dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma,<br />

wenn es Pseudopodien ausschickt und um sich tastet. Die<br />

Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen,<br />

ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich<br />

das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen<br />

ist und denselben vermehrt hat. — Gelingt diese<br />

Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die<br />

Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht:<br />

um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille<br />

zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen<br />

ohne seine Verbindung unter einander völlig aufzugeben)<br />

„Hunger“ ist nur eine engere Anpassung, nachdem der<br />

Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11485 id='VIII.9[152]' kgw='VIII-2.88' ksa='12.424'<br />

Die moralische Präoccupation stellt einen Geist<br />

tief in der Rangordnung: damit fehlt ihm der Instinkt des<br />

Sonderrechts, des a parte, das Freiheits-Gefühl der schöpferischen<br />

Naturen, der „Kinder Gottes“ (oder des Teufels — ) Und<br />

gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal<br />

zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit<br />

zur Heerde — und sei es auch als deren oberster Nothbedarf,<br />

als „Hirt“ …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11486 id='VIII.9[153]' kgw='VIII-2.88' ksa='12.424'


(105) Die Starken der Zukunft.<br />

Was theils die Noth, theils der Zufall hier und da<br />

erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer<br />

stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und<br />

wissentlich wollen: wir können die Bedingungen<br />

schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist.<br />

Page Break KGW='VIII-2.89' KSA='12.425'<br />

Bis jetzt hatte die „Erziehung“ den Nutzen der<br />

Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der<br />

Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden<br />

Gesellschaft. „Werkzeuge“ für sie wollte man. Gesetzt,<br />

der Reichthum an Kraft wäre größer,<br />

so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel<br />

nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem<br />

zukünftigen Nutzen, —<br />

Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man<br />

begriffe, in wiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft<br />

in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann<br />

einmal nicht mehr um ihrer selber willen<br />

existiren zu können: sondern nur noch als<br />

Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse.<br />

Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist<br />

gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer<br />

stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren<br />

Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte species<br />

schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit,<br />

Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können)<br />

Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt:<br />

die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen<br />

als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in<br />

umgekehrten Werthschätzungen; die Distanz als Pathos;<br />

das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und<br />

Verbotensten.<br />

Die Ausgleichung des europäischen Menschen<br />

ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte<br />

ihn noch beschleunigen.<br />

Die Nothwendigkeit für eine Kluftaufreißung,<br />

Distanz, Rangordnung ist damit gegeben:<br />

nicht, die Nothwendigkeit, jenen Prozeß zu<br />

verlangsamen<br />

Diese ausgeglichene Species bedarf einer<br />

Page Break KGW='VIII-2.90' KSA='12.426'<br />

Rechtfertigung, sobald sie erreicht ist: sie liegt<br />

im Dienste einer höheren, souveränen Art, welche auf ihr<br />

steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann.<br />

Nicht nur eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich


damit erschöpfte, zu regieren; sondern eine Rasse mit<br />

eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß<br />

von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur, Manier bis<br />

ins Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich<br />

jeden großen Luxus gönnen darf …, stark genug, um die<br />

Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben,<br />

reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht<br />

nöthig zu haben, jenseits von gut und böse; ein Treibhaus<br />

für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11487 id='VIII.9[154]' kgw='VIII-2.90' ksa='12.426'<br />

(106) Der Mensch ist das Unthier und Überthier;<br />

der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so<br />

gehört es zusammen. Mit jedem Wachsthum des Menschen<br />

in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und<br />

Furchtbare: man soll das Eine nicht wollen, ohne das<br />

andere — oder vielmehr: je gründlicher man das Eine<br />

will, um so gründlicher erreicht man gerade das Andere.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11488 id='VIII.9[155]' kgw='VIII-2.90' ksa='12.426'<br />

(107) Die Tugend findet jetzt keinen Glauben mehr,<br />

ihre Anziehungskraft ist dahin; es müßte sie denn Einer<br />

etwa als eine ungewöhnliche Form des Abenteuers und<br />

der Ausschweifung von Neuem auf den Markt zu bringen<br />

verstehn. Sie verlangt zu viel Extravaganz und Bornirtheit<br />

von ihren Gläubigen, als daß sie heute nicht das<br />

Gewissen gegen sich hätte. Freilich, für Gewissenlose und<br />

gänzlich Unbedenkliche mag eben das ihr neuer Zauber<br />

sein — sie ist nunmehr, was sie bisher noch niemals<br />

gewesen ist, ein Laster.<br />

Page Break KGW='VIII-2.91' KSA='12.427'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11489 id='VIII.9[156]' kgw='VIII-2.91' ksa='12.427'<br />

(108) Fälschung in der Psychologie<br />

Die großen Verbrechen in der Psychologie:<br />

1) daß alle Unlust, alles Unglück, mit<br />

dem Unrecht (der Schuld) gefälscht worden ist (man hat<br />

dem Schmerz die Unschuld genommen)<br />

2) daß alle starken Lustgefühle (Übermuth,<br />

Wollust, Triumph, Stolz, Verwegenheit, Erkenntniß,<br />

Selbstgewißheit und Glück an sich) als sündlich, als


Verführung, als verdächtig gebrandmarkt worden sind.<br />

3) daß die Schwächegefühle, die innerlichsten<br />

Feigheiten, der Mangel an Muth zu sich selbst<br />

mit heiligenden Namen belegt und als wünschenswerth<br />

im höchsten Sinn gelehrt worden sind.<br />

4) daß alles Große am Menschen umgedeutet<br />

worden ist als Entselbstung, als Sich-opfern für etwas<br />

Anderes, für Andere; daß selbst am Erkennenden, selbst<br />

am Künstler die Entpersönlichung als die<br />

Ursache seines höchsten Erkennens und Könnens vorgespiegelt<br />

worden ist.<br />

5) daß die Liebe gefälscht worden ist als Hingebung<br />

(und Altruism), während sie ein Hinzu-Nehmen<br />

ist oder ein Abgeben in Folge eines Überreichthums von<br />

Persönlichkeit. Nur die ganzesten Personen können<br />

lieben; die Entpersönlichten, die „Objektiven“ sind die<br />

schlechtesten Liebhaber ( — man frage die Weibchen!).<br />

Das gilt auch von der Liebe zu Gott, oder zum „Vaterland“:<br />

man muß fest auf sich selber sitzen,<br />

Der Egoismus als die Ver-Ichlichung, der Altruismus<br />

als die Ver-Änderung<br />

6) das Leben als Strafe, das Glück als Versuchung;<br />

die Leidenschaften als teuflisch, das Vertrauen zu sich als<br />

gottlos<br />

Page Break KGW='VIII-2.92' KSA='12.428'<br />

NB Diese ganze Psychologie ist eine<br />

Psychologie der Verhinderung, eine Art<br />

Vermauerung aus Furcht; einmal will sich die große<br />

Menge (die Schlechtweggekommenen und Mittelmäßigen)<br />

damit wehren gegen die Stärkeren ( — und sie in der<br />

Entwicklung zerstören …), andererseits alle die<br />

Triebe, mit denen sie selbst am besten gedeiht, heiligen<br />

und allein in Ehren gehalten wissen. Vergl. die jüdische<br />

Priesterschaft.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11490 id='VIII.9[157]' kgw='VIII-2.92' ksa='12.428'<br />

(109) I. Die principielle Fälschung der<br />

Geschichte, damit sie den Beweis für die moralische<br />

Werthung abgiebt.<br />

a) Niedergang eines Volkes und die Corruption<br />

b) Aufschwung eines Volkes und die Tugend<br />

c) Höhepunkt eines Volkes („seine Cultur“) als<br />

Folge der moralischen Höhe<br />

II. Die principielle Fälschung der großen Menschen,<br />

der großen Schaffenden, der großen Zeiten


a) man will, daß der Glaube das Auszeichnende<br />

der Großen ist: aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis,<br />

die Erlaubniß sich eines Glaubens entschlagen zu können,<br />

die „Unmoralität“ gehört zur Größe (Caesar, Friedrich<br />

der Große, Napoleon, aber auch Homer, Aristophanes,<br />

Lionardo, Goethe — man unterschlägt immer die Hauptsache<br />

ihre „Freiheit des Willens“ — )<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11491 id='VIII.9[158]' kgw='VIII-2.92' ksa='12.428'<br />

Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel<br />

den Krieg macht, statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der<br />

Regel die Voraussetzung für den Werth der Ausnahme ist. Z.B.<br />

Page Break KGW='VIII-2.93' KSA='12.429'<br />

die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen<br />

Bedürfnisse zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt<br />

verrücken möchten …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11492 id='VIII.9[159]' kgw='VIII-2.93' ksa='12.429'<br />

(110) Wessen Wille zur Macht ist die Moral?<br />

Das Gemeinsame in der Geschichte Europas<br />

seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen<br />

Werthe zur Herrschaft über alle anderen Werthe zu<br />

bringen: so daß sie nicht nur Führer und Richter des<br />

Lebens sein sollen, sondern auch<br />

1. der Erkenntniß<br />

2. der Künste<br />

3. der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen<br />

„besser-werden“ als einzige Aufgabe, alles Übrige<br />

dazu Mittel (oder Störung, Hemmung, Gefahr: folglich<br />

bis zur Vernichtung zu bekämpfen …)<br />

Eine ähnliche Bewegung in China<br />

Eine ähnliche Bewegung in Indien.<br />

Was bedeutet dieser Wille zur Macht seitens<br />

der moralischen Mächte, der in den<br />

ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der Erde<br />

abgespielt hat?<br />

Antwort: — drei Mächte sind hinter ihm<br />

versteckt: 1) der Instinkt der Heerde gegen die<br />

Starken Unabhängigen 2) der Instinkt der Leidenden<br />

und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen<br />

3) der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die<br />

Ausnahmen. — Ungeheurer Vortheil dieser<br />

Bewegung, wie viel Grausamkeit, Falschheit und


Bornirtheit auch in ihr mitgeholfen hat: (denn die<br />

Geschichte vom Kampf der Moral mit den<br />

Grundinstinkten des Lebens ist selbst die<br />

größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen ist…)<br />

Page Break KGW='VIII-2.94' KSA='12.430'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11493 id='VIII.9[160]' kgw='VIII-2.94' ksa='12.430'<br />

(111) Die moralischen Werthe in der Theorie<br />

der Erkenntniß selbst<br />

das Vertrauen zur Vernunft — warum nicht Mißtrauen?<br />

die „wahre Welt“ soll die gute sein — warum?<br />

die Scheinbarkeit, der Wechsel, der Widerspruch, der<br />

Kampf als unmoralisch abgeschätzt: Verlangen in eine<br />

Welt, wo dies Alles fehlt.<br />

die transcendente Welt erfunden, damit ein Platz<br />

bleibt für „moralische Freiheit“ (bei Kant)<br />

die Dialektik als der Weg zur Tugend (bei Plato und<br />

Sokrates: augenscheinlich, weil die Sophistik als Weg<br />

zur Unmoralität galt<br />

Zeit und Raum ideal: folglich „Einheit“ im Wesen der<br />

Dinge, folglich keine „Sünde“, kein Übel, keine<br />

Unvollkommenheit, — eine Rechtfertigung Gottes.<br />

Epikur leugnet die Möglichkeit der Erkenntniß: um<br />

die moralischen (resp. hedonistischen) Werthe als die<br />

obersten zu behalten. Dasselbe thut Augustin; später<br />

Pascal („die verdorbene Vernunft“) zu Gunsten der<br />

christlichen Werthe.<br />

die Verachtung des Descartes gegen alles Wechselnde;<br />

insgleichen die des Spinoza.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11494 id='VIII.9[161]' kgw='VIII-2.94' ksa='12.430'<br />

(112) die moralischen(1539) Werthe in ihrer<br />

Herrschaft über die ästhetischen (oder<br />

Vorrang oder Gegensatz und Todfeindschaft<br />

gegen sie)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11495 id='VIII.9[162]' kgw='VIII-2.94' ksa='12.430'<br />

(113) Ursachen für die Heraufkunft des Pessimismus<br />

1) daß die mächtigsten und zukunftsvollsten Triebe<br />

des Lebens bisher verleumdet sind, so daß das<br />

Leben einen Fluch über sich hat


Page Break KGW='VIII-2.95' KSA='12.431'<br />

2) daß die wachsende Tapferkeit und Redlichkeit und<br />

das kühnere Mißtrauen des Menschen die<br />

Unablösbarkeit dieser Instinkte vom Leben<br />

begreift und dem Leben sich entgegenwendet<br />

3) daß nur die Mittelmäßigsten, die jenen<br />

Conflikt gar nicht fühlen, gedeihen, die höhere<br />

Art mißräth und als Gebilde der Entartung gegen<br />

sich einnimmt, — daß, andererseits, das Mittelmäßige,<br />

sich als Ziel und Sinn gebend, indignirt<br />

( — daß Niemand ein Wozu? mehr beantworten<br />

kann: — )<br />

4) daß die Verkleinerung, die Schmerzhaftigkeit, die<br />

Unruhe, die Hast, das Gewimmel beständig zunimmt,<br />

— daß die Vergegenwärtigung dieses ganzen<br />

Treibens und der sogenannten „Civilisation“ immer<br />

leichter wird, daß der Einzelne Angesichts dieser<br />

ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11496 id='VIII.9[163]' kgw='VIII-2.95' ksa='12.431'<br />

(114) Die großen Fälschungen unter der Herrschaft der<br />

moralischen Werthe.<br />

1) in der Geschichte (Politik eingerechnet)<br />

2) in der Erkenntnißtheorie<br />

3) in der Beurtheilung von Kunst und Künstlern<br />

4) in der Werthabschätzung von Mensch und Handlung<br />

(von Volk und Rasse)<br />

5) in der Psychologie<br />

6) im Bau der Philosophien („sittliche Weltordnung“<br />

und dergleichen)<br />

7) in der Physiologie, Entwicklungslehre („Vervollkommnung“<br />

„Socialisirung“ „Selektion“)<br />

Page Break KGW='VIII-2.96' KSA='12.432'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11497 id='VIII.9[164]' kgw='VIII-2.96' ksa='12.432'<br />

Der Wille zur Macht.<br />

Versuch einer Umwerthung aller Werthe.<br />

Erstes Buch:<br />

der Nihilismus<br />

als Schlußfolgerung der höchsten bisherigen Werthe.<br />

Zweites Buch:<br />

Kritik der höchsten bisherigen Werthe,


Einsicht in das, was durch sie Ja und Nein sagte.<br />

Drittes Buch:<br />

Die Selbstüberwindung des Nihilismus,<br />

Versuch, Ja zu sagen zu Allem, was bisher verneint wurde.<br />

Viertes Buch:<br />

Die Überwinder und die Überwundenen.<br />

Eine Wahrsagung.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11498 id='VIII.9[165]' kgw='VIII-2.96' ksa='12.432'<br />

(115) Die Zuchtlosigkeit des modernen Geistes<br />

unter allerhand moralischem(1540) Aufputz:<br />

Die Prunkworte sind:<br />

die Toleranz (für „Unfähigkeit zu Ja und Nein“)<br />

la largeur de sympathie = ein Drittel Indifferenz, ein<br />

Drittel Neugierde, ein Drittel krankhafte Erregbarkeit<br />

die Objektivität = Mangel an Person, Mangel an Willen,<br />

Unfähigkeit zur Liebe<br />

die „Freiheit“ gegen die Regel (Romantik)<br />

die „Wahrheit“ gegen die Fälscherei und Lügnerei<br />

(naturalisme)<br />

die „Wissenschaftlichkeit“ (das „document humain“), auf<br />

deutsch der Colportage-Roman und die Addition<br />

statt der Composition<br />

die „Leidenschaft“ an Stelle der Unordnung und der<br />

Unmäßigkeit<br />

die „Tiefe“ an Stelle der Verworrenheit, des<br />

Symbolen-Wirrwarrs<br />

Page Break KGW='VIII-2.97' KSA='12.433'<br />

Zur „Modernität“<br />

a) die Zuchtlosigkeit des Geistes<br />

b) die Schauspielerei<br />

c) die krankhafte Irritabilität (das milieu als „Fatum“)<br />

d) die Buntheit<br />

e) die Überarbeitung<br />

Die günstigsten Hemmungen und Remeduren<br />

der „Modernität“<br />

1. die allgemeine Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen,<br />

bei denen der Spaaß aufhört<br />

2. die nationale Bornirtheit (vereinfachend,<br />

concentrirend, allerdings einstweilen auch durch<br />

Überarbeitung ausdrückend und erschöpfend)<br />

3. die verbesserte Ernährung (Fleisch)<br />

4. die zunehmende Reinlichkeit und Gesundheit<br />

der Wohnstätten<br />

5. die Vorherrschaft der Physiologie über Theologie,<br />

Moralistik, Ökonomie und Politik


6. die militärische Strenge in der Forderung und<br />

Handhabung seiner „Schuldigkeit“ (man lobt nicht<br />

mehr …)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11499 id='VIII.9[166]' kgw='VIII-2.97' ksa='12.433'<br />

(116) Aesthetica.<br />

Um Classiker zu sein, muß man<br />

alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben<br />

und Begierden haben: aber so daß sie mit einander unter<br />

Einem Joche gehn<br />

zur rechten Zeit kommen, um ein Genus von<br />

Litteratur oder Kunst oder Politik auf seine Höhe und<br />

Spitze zu bringen (: nicht nachdem dies schon<br />

geschehn ist …)<br />

einen Gesamtzustand (sei es Volk, sei es eine<br />

Cultur) in seiner tiefsten und innersten Seele widerspiegeln,<br />

Page Break KGW='VIII-2.98' KSA='12.434'<br />

zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch nicht<br />

überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder<br />

noch abhängig ist …)<br />

kein reaktiver, sondern ein schließender und<br />

vorwärts führender Geist, Ja sagend in allen Fällen,<br />

selbst mit seinem Haß<br />

„Es gehört dazu nicht der höchste persönliche<br />

Werth?“ … Vielleicht zu erwägen, ob die moralischen<br />

Vorurtheile hier nicht ihr Spiel spielen, und ob große<br />

moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch<br />

gegen das Classische ist? …<br />

die Musik „mediterranisiren“: das ist meine<br />

Losung …<br />

Ob nicht die moralischen Monstra nothwendig<br />

Romantiker sein müssen, in Wort und That? … Ein<br />

solches Übergewicht Eines Zuges über die anderen (wie<br />

beim moralischen(1541) Monstrum) steht eben der klassischen<br />

Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man<br />

hätte diese Höhe, und wäre trotzdem Classiker, so dürfte<br />

dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität<br />

auf gleicher Höhe: dies vielleicht der Fall Shakespeare<br />

(gesetzt, daß er wirklich Lord Bacon ist: — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11500 id='VIII.9[167]' kgw='VIII-2.98' ksa='12.434'<br />

(117) Das Übergewicht der Händler und Zwischenpersonen,<br />

auch im Geistigsten


der Litterat<br />

der „Vertreter“<br />

der Historiker (als Verquicker des Vergangenen<br />

und des Gegenwärtigen)<br />

die Exoteriker und Kosmopoliten<br />

die Zwischenpersonen zwischen Naturwissenschaft<br />

und Philosophie<br />

die Semi-Theologen.<br />

Page Break KGW='VIII-2.99' KSA='12.435'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11501 id='VIII.9[168]' kgw='VIII-2.99' ksa='12.435'<br />

(118) Zur Charakteristik der „Modernität“.<br />

überreichliche Entwicklung der Zwischengebilde<br />

Verkümmerung der Typen<br />

Abbruch der Traditionen, Schulen,<br />

die Überherrschaft der Instinkte (nach<br />

eingetretener Schwächung der Willenskraft,<br />

des Wollens von Zweck und Mittel …) (philosophisch<br />

vorbereitet: das Unbewußte mehr werth)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11502 id='VIII.9[169]' kgw='VIII-2.99' ksa='12.435'<br />

(119) Schopenhauer als Nachschlag: Zustand<br />

vor der Revolution.<br />

… Mitleid, Sinnlichkeit, Kunst, Schwäche des Willens,<br />

Katholicismus der geistigsten Begierden — das ist<br />

gutes 18. Jahrhundert au fond. Schopenhauers<br />

Grundmißverständniß des Willens (wie als ob Begierde,<br />

Instinkt, Trieb das Wesentliche am Willen sei) ist typisch:<br />

Wertherniedrigung des Willens bis zur Verkümmerung.<br />

Insgleichen Haß gegen das Wollen; Versuch, in dem<br />

Nicht-mehr-wollen, im „Subjekt sein ohne Ziel und Absicht“<br />

(„im reinen willensfreien Subjekt“) etwas Höheres, ja<br />

das Höhere, das Werthvolle zu sehen. Großes Symptom<br />

der Ermüdung, oder der Schwäche des Willens:<br />

denn dieser ist ganz eigentlich das, was die<br />

Begierde als Herr behandelt, ihr Weg und Maaß weist…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11503 id='VIII.9[170]' kgw='VIII-2.99' ksa='12.435'<br />

(120) Aesthetica.<br />

die moderne Falschmünzerei in den Künsten:<br />

begriffen als nothwendig, nämlich dem eigentlichsten


Bedürfniß der modernen Seele gemäß<br />

man stopft die Lücken der Begabung, noch mehr<br />

Page Break KGW='VIII-2.100' KSA='12.436'<br />

die Lücken der Erziehung, der Tradition, der Schulung aus<br />

erstens: man sucht sich ein weniger artistisches<br />

Publikum, welches unbedingt ist in seiner Liebe<br />

( — und alsbald vor der Person niederkniet …) Dazu<br />

dient die Superstition unseres Jahrhunderts, der<br />

Aberglaube vom Genie …<br />

zweitens: man haranguirt die dunklen Instinkte der<br />

Unbefriedigten, Ehrgeizigen, Sich-selbst-Verhüllten eines<br />

demokratischen Zeitalters: Wichtigkeit der Attitüde<br />

drittens: man nimmt die Prozeduren der einen Kunst<br />

in die andere, vermischt die Absichten der Kunst mit denen<br />

der Erkenntniß oder der Kirche oder des Rassen-Interesses<br />

(Nationalismus) oder der Philosophie — man schlägt<br />

an alle Glocken auf einmal und erregt den dunklen<br />

Verdacht, daß man ein „Gott“ sei<br />

viertens: man schmeichelt dem Weibe, den Leidenden,<br />

den Empörten; man bringt auch in der Kunst narcotica<br />

und opiatica zum Übergewicht. Man kitzelt die „Gebildeten“,<br />

die Leser von Dichtern und alten Geschichten<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11504 id='VIII.9[171]' kgw='VIII-2.100' ksa='12.436'<br />

(121) NB. Die Scheidung in „Publikum“ und „Coenakel“:<br />

im ersten muß man heute Charlatan sein, im zweiten<br />

will man Virtuose sein und nichts weiter! Übergreifend<br />

über diese Scheidung unsere spezifischen „Genies“ des<br />

Jahrhunderts, groß für Beides; große Charlatanerie Victor<br />

Hugo's und R. Wagners, aber gepaart mit so viel ächtem<br />

Virtuosenthum, daß sie auch den Raffinirtesten im<br />

Sinne der Kunst selbst genug thäten<br />

Daher der Mangel an Größe 1) sie haben eine<br />

wechselnde Optik, bald in Hinsicht auf die gröbsten<br />

Bedürfnisse, bald in Hinsicht auf die raffinirtesten<br />

Page Break KGW='VIII-2.101' KSA='12.437'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11505 id='VIII.9[172]' kgw='VIII-2.101' ksa='12.437'<br />

(122) Auf Fort Gonzaga, außerhalb von Messina.<br />

Zur Vorrede. Zustand tiefster Besinnung. Alles<br />

gethan, um mich fern zu stellen; weder durch Liebe, noch<br />

durch Haß mehr gebunden. Wie an einer alten Festung.


Spuren von Kriegen: auch von Erdbeben. Vergessen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11506 id='VIII.9[173]' kgw='VIII-2.101' ksa='12.437'<br />

(123) Die Moral in der Werthung<br />

von Rassen und Ständen.<br />

In Anbetracht, daß Affekte und Grundtriebe<br />

bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas von ihren<br />

Existenzbedingungen ausdrücken ( — zum Mindesten von<br />

den Bedingungen, unter denen sie die längste Zeit sich<br />

durchgesetzt haben:)<br />

: heißt verlangen, daß sie „tugendhaft“ sind: daß sie<br />

ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren und ihre<br />

Vergangenheit auswischen<br />

: heißt, daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden<br />

: heißt, daß sie in Bedürfnissen und Ansprüchen sich<br />

anähnlichen sollen — deutlicher: daß sie zu Grunde<br />

gehen …<br />

Der Wille zu Einer Moral erweist sich somit als<br />

die Tyrannei jener Art, der diese Eine Moral auf den<br />

Leib geschnitten ist, über andere Arten(1542): es ist die Vernichtung<br />

oder die Uniformirung zu Gunsten der herrschenden<br />

(sei es, um ihr nicht mehr furchtbar zu sein, sei es, um von<br />

ihr ausgenutzt zu werden)<br />

„Aufhebung der Sklaverei“ — angeblich ein Tribut an<br />

die „Menschenwürde“, in Wahrheit eine Vernichtung<br />

einer grundverschiedenen species ( — Untergrabung ihrer<br />

Werthe und ihres Glücks — )<br />

Worin eine gegnerische Rasse oder ein gegnerischer<br />

Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes,<br />

Page Break KGW='VIII-2.102' KSA='12.438'<br />

Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns<br />

( — seine „Tugenden“ werden verleumdet und umgetauft)<br />

Es gilt als Einwand gegen Mensch und Volk, wenn<br />

er uns schadet: aber von seinem Gesichtspunkt aus<br />

sind wir ihm erwünscht, weil wir solche sind, an denen<br />

man sich nützen kann.<br />

Die Forderung der „Vermenschlichung“ (welche ganz<br />

naiv sich im Besitz der Formel „was ist menschlich?“<br />

glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der sich eine ganz<br />

bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht:<br />

genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der Heerdeninstinkt.<br />

„Gleichheit der Menschen“: was sich verbirgt<br />

unter der Tendenz, immer mehr Menschen als Menschen<br />

gleich zu setzen.<br />

Die „Interessirtheit“ in Hinsicht auf<br />

die gemeine Moral (Kunstgriff: die großen


Begierden Herrschsucht und Habsucht zu Protectoren der<br />

Tugend zu machen)<br />

In wiefern alle Art Geschäftsmänner und Habsüchtige,<br />

alles, was Credit geben und in Anspruch nehmen<br />

muß, es nöthig hat, auf gleichen Charakter und<br />

gleichen Werthbegriff zu dringen: der Welthandel und<br />

-Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich<br />

gleichsam die Tugend.<br />

Insgleichen der Staat und jede Art Herrschsucht in<br />

Hinsicht auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft,<br />

um mit Vertrauen und Sparsamkeit der Kräfte zu<br />

arbeiten<br />

Insgleichen die Priesterschaft.<br />

— Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil<br />

mit ihr ein Vortheil errungen wird; und um sie zum Sieg<br />

zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die<br />

Unmoralität — nach welchem „Rechte“? Nach gar keinem<br />

Page Break KGW='VIII-2.103' KSA='12.439'<br />

Rechte: sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt.<br />

Dieselben Classen bedienen sich der Immoralität, wo sie<br />

ihnen nützt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11507 id='VIII.9[174]' kgw='VIII-2.103' ksa='12.439'<br />

(124) die Vermehrung der Kraft trotz des zeitweiligen<br />

Niedergehens des Individuums<br />

— ein neues Niveau zu begründen<br />

— eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur<br />

Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu<br />

unökonomischer Verschwendung<br />

— die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum<br />

Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik<br />

— die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure<br />

Masse kleiner Arbeit gethan werden muß<br />

— die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und<br />

Leidenden die Existenz noch möglich ist<br />

— die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den<br />

Instinkt der Furcht und der Servilität<br />

— der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des<br />

„großen Menschen“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11508 id='VIII.9[175]' kgw='VIII-2.103' ksa='12.439'<br />

(125) Das Patronat der Tugend.<br />

Habsucht


Herrschsucht alle haben ein Interesse an der Sache<br />

Faulheit<br />

der Tugend: darum steht sie so fest.<br />

Einfalt<br />

Furcht<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11509 id='VIII.9[176]' kgw='VIII-2.103' ksa='12.439'<br />

(126) Spinoza, von dem Goethe sagte „ich fühle mich ihm<br />

sehr nahe, obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als<br />

der meinige“, — den er gelegentlich seinen Heiligen nennt.<br />

Page Break KGW='VIII-2.104' KSA='12.440'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11510 id='VIII.9[177]' kgw='VIII-2.104' ksa='12.440'<br />

(127) Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen,<br />

in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben — mein Ehrgeiz,<br />

meine Tortur und mein Glück<br />

Wirklich den Pessimismus überwinden —; ein<br />

Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.<br />

NB. Mein Werk soll enthalten einen Gesamtüberblick<br />

über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität,<br />

über die erreichte „Civilisation“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11511 id='VIII.9[178]' kgw='VIII-2.104' ksa='12.440'<br />

(128) Die drei Jahrhunderte.<br />

Ihre verschiedene Sensibilität drückt sich am besten so aus:<br />

Aristokratism Descartes, Herrschaft der Vernunft,<br />

Zeugniß von<br />

der Souverainetät des<br />

Willens<br />

Feminism Rousseau, Herrschaft des Gefühls,<br />

Zeugniß von der<br />

Souverainetät der Sinne<br />

(verlogen)<br />

Animalism Schopenhauer, Herrschaft der Begierde,<br />

Zeugniß von der<br />

Souverainetät der Animalität<br />

(redlicher, aber düster)<br />

Das 17. Jahrhundert ist aristokratisch,<br />

ordnend, hochmüthig gegen das Animalische, streng gegen<br />

das Herz, „ungemüthlich“, sogar ohne Gemüth,<br />

„undeutsch“, dem Burlesken und dem Natürlichen abhold,


generalisirend und souverain gegen Vergangenheit: denn<br />

es glaubt an sich. Viel Raubthier au fond, viel asketische<br />

Page Break KGW='VIII-2.105' KSA='12.441'<br />

Gewöhnung, um Herr zu bleiben. Das willensstarke<br />

Jahrhundert; auch das der starken Leidenschaft.<br />

Das 18. Jahrhundert ist vom Weibe beherrscht,<br />

schwärmerisch, geistreich, flach, aber mit einem Geiste im<br />

Dienste der Wünschbarkeit, des Herzens, libertin im<br />

Genusse des Geistigsten, alle Autoritäten unterminirend;<br />

berauscht, heiter, klar, human, falsch vor sich, viel Canaille<br />

au fond, gesellschaftlich …<br />

Das 19. Jahrhundert ist animalischer,<br />

unterirdischer, häßlicher, realistischer, pöbelhafter, und<br />

ebendeshalb „besser“ „ehrlicher“, vor der „Wirklichkeit“<br />

jeder Art unterwürfiger, wahrer, es ist kein Zweifel:<br />

natürlicher; aber willensschwach, aber traurig und<br />

dunkel-begehrlich, aber fatalistisch. Weder vor der<br />

„Vernunft“, noch vor dem „Herzen“ in Scheu und Hochachtung;<br />

tief überzeugt von der Herrschaft der Begierde<br />

(Schopenhauer sagte „Wille“; aber nichts ist charakteristischer<br />

für seine Philosophie, als daß der Wille in ihr fehlt,<br />

die absolute Verleugnung des eigentlichen Wollens)<br />

Selbst die Moral auf einen Instinkt reduzirt („Mitleid“)<br />

A. Comte ist Fortsetzung des 18. Jahrhunderts<br />

(Herrschaft von coeur über la tête, Sensualism<br />

in der Erkenntnißtheorie, altruistische Schwärmerei)<br />

Daß die Wissenschaft in dem Grade souverain<br />

geworden ist, das beweist, wie das 19. Jahrhundert sich<br />

von der Domination der Ideale losgemacht hat.<br />

Eine gewisse „Bedürfnißlosigkeit“ im Wünschen ermöglicht<br />

uns erst unsere wissenschaftliche Neugierde und<br />

Strenge — diese unsre Art Tugend …<br />

Die Romantik ist Nachschlag des 18. Jahrhunderts;<br />

eine Art aufgethürmtes Verlangen nach dessen<br />

Schwärmerei großen Stils ( — thatsächlich ein gut Stück<br />

Schauspielerei und Selbstbetrügerei: man wollte die<br />

Page Break KGW='VIII-2.106' KSA='12.442'<br />

starke Natur, die große Leidenschaft darstellen)<br />

Das neunzehnte Jahrhundert sucht instinktiv nach<br />

Theorien, mit denen es seine fatalistische<br />

Unterwerfung unter das Thatsächliche<br />

gerechtfertigt fühlt. Schon Hegels Erfolg gegen die<br />

„Empfindsamkeit“ und den romantischen Idealismus lag<br />

im Fatalistischen seiner Denkweise, in seinem Glauben an<br />

die größere Vernunft auf Seiten des Siegreichen, in seiner<br />

Rechtfertigung des wirklichen „Staates“ (an Stelle von<br />

„Menschheit“ usw.) Schopenhauer: wir sind etwas Dummes


und, besten Falls, sogar etwas Sich-selbst-aufhebendes.<br />

Erfolg des Determinismus, der genealogischen Ableitung<br />

der früher als absolut geltenden Verbindlichkeiten,<br />

die Lehre vom milieu und der Anpassung, die<br />

Reduktion des Willens auf Reflexbewegungen, die Leugnung<br />

des Willens als „wirkende Ursache“; endlich — eine<br />

wirkliche Umtaufung: man sieht so wenig Wille, daß das Wort<br />

frei wird, um etwas Anderes zu bezeichnen.<br />

Weitere Theorien: die Lehre von der objektiven,<br />

„willenslosen“ Betrachtung, als einzigem Wege zur Wahrheit;<br />

auch zur Schönheit; der Mechanismus, die<br />

ausrechenbare Starrheit des mechanischen Prozesses; der<br />

angebliche „naturalisme“. Elimination des wählenden<br />

richtenden, interpretirenden Subjekts als Princip — Auch<br />

der Glaube an das „Genie“, um ein Recht auf<br />

Unterwerfung zu haben<br />

Kant, mit seiner „praktischen Vernunft“, mit seinem<br />

Moral-Fanatism ist ganz 18. Jahrhundert; noch<br />

völlig außerhalb der historischen Bewegung; ohne jeden<br />

Blick für die Wirklichkeit seiner Zeit z.B. Revolution;<br />

unberührt von der griechischen Philosophie; Phantast des<br />

Pflichtbegriffs; Sensualist, mit dem Hinterhang der<br />

dogmatischen Verwöhnung — die Rückbewegung auf<br />

Page Break KGW='VIII-2.107' KSA='12.443'<br />

Kant in unserem Jahrhundert ist eine Rückbewegung<br />

zum 18. Jahrhundert: man will sich ein<br />

Recht wieder auf die alten Ideale und die alte<br />

Schwärmerei verschaffen, — darum eine Erkenntnißtheorie,<br />

welche „Grenzen setzt“, d.h. erlaubt, ein Jenseits<br />

der Vernunft nach Belieben anzusetzen …<br />

Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen<br />

nicht sehr entfernt: man höre Goethe über<br />

Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des<br />

Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe<br />

und Glück zu finden; Hegel sieht Vernunft überall, —<br />

vor der Vernunft darf man sich ergeben und<br />

bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem<br />

und vertrauendem Fatalismus, der nicht<br />

revoltirt, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu<br />

bilden sucht, ein Glauben, daß erst in der Totalität Alles<br />

sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.<br />

Goethe sein 18. Jahrhundert in sich fördernd und<br />

bekämpfend: die Gefühlsamkeit, die Naturschwärmerei,<br />

das Unhistorische, das Idealistische, das Unpraktische<br />

und Unreale des Revolutionären; er nimmt die<br />

Historie, die Naturwissenschaft, die Antike zu Hülfe,<br />

insgleichen Spinoza (als höchsten Realisten); vor allem die<br />

praktische Thätigkeit mit lauter ganz festen Horizonten;<br />

er separirt sich nicht vom Leben; er ist nicht zaghaft und


nimmt soviel als möglich auf sich, über sich, in sich, — er<br />

will Totalität, er bekämpft das Auseinander von<br />

Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille, er disciplinirt sich,<br />

er bildet sich… er sagt Ja zu allen großen Realisten<br />

(Napoleon — Goethes höchstes Erlebniß)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11512 id='VIII.9[179]' kgw='VIII-2.107' ksa='12.443'<br />

(129) Goethe: ein großartiger Versuch, das 18. Jahrhundert<br />

zu überwinden (Rückkehr zu einer<br />

Page Break KGW='VIII-2.108' KSA='12.444'<br />

Art Renaissance-Mensch), eine Art Selbstüberwindung<br />

von Seiten dieses Jahrhunderts: er hat dessen<br />

stärkste Triebe in sich entfesselt und zur Consequenz<br />

getrieben. Aber was er für seine Person erreichte, war nicht<br />

unser 19. Jahrhundert …<br />

— er concipirt einen hoch gebildeten, sich selbst im<br />

Zaum haltenden, vor sich selbst ehrfürchtigen Menschen,<br />

der sich den ganzen Reichthum der Seele und<br />

der Natürlichkeit (bis zum Burlesken und Buffonesken)<br />

zu gönnen wagen darf, weil er stark genug dazu<br />

ist; den Menschen der Toleranz nicht aus Schwäche,<br />

sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche<br />

Natur zu Grunde geht, zu seiner Förderung zu gebrauchen<br />

weiß, den umfänglichsten, aber darum<br />

nicht chaotischen Menschen. Sein Complement<br />

ist Napoleon (in kleinerem Maaß Friedrich der<br />

Grosse), der ebenfalls den Kampf gegen das<br />

18. Jahrhundert übernimmt.<br />

NB In einem gewissen Sinn hat das 19. Jahrhundert alles<br />

das auch erstrebt, was Goethe für sich gethan<br />

hat: eine Universalität des Verstehens, Gutheißens,<br />

An-sich-herankommen-lassens ist ihm zu eigen; ein verwegener<br />

Realismus, eine Ehrfurcht vor den Thatsachen — wie<br />

kommt es, daß das Gesamtresultat kein Goethe sondern<br />

ein Chaos ist, ein Nihilismus, eine<br />

Erfolglosigkeit, welche fortwährend wieder<br />

zum 18. Jahrhundert zurückgreifen läßt (z.B. als<br />

Romantik, als Altruismus, als Femininismus, als<br />

Naturalismus)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11513 id='VIII.9[180]' kgw='VIII-2.108' ksa='12.444'<br />

(130) Händel, Leibnitz, Goethe, Bismarck — für die deutsche<br />

starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen


Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke,<br />

Page Break KGW='VIII-2.109' KSA='12.445'<br />

welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet,<br />

indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die<br />

Freiheit vorbehält.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11514 id='VIII.9[181]' kgw='VIII-2.109' ksa='12.445'<br />

(131) ein Systematiker, ein Philosoph, der seinem<br />

Geiste nicht länger mehr zugestehen will, daß er lebt,<br />

daß er wie ein Baum mächtig in Breite und unersättlich<br />

um sich greift, der schlechterdings keine Ruhe kennt, bis er<br />

aus ihm etwas Lebloses, etwas Hölzernes, eine viereckige<br />

Dürrheit, ein „System“ herausgeschnitzt hat. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11515 id='VIII.9[182]' kgw='VIII-2.109' ksa='12.445'<br />

(132) „ohne den christlichen Glauben, meinte<br />

Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und<br />

die Geschichte, un monstre et un chaos“. Diese<br />

Prophezeiung haben wir erfüllt: nachdem das<br />

schwächlich-optimistische 18. Jahrhundert den Menschen<br />

verhübscht und verrationalisirt hatte<br />

Schopenhauer und Pascal: in einem wesentlichen<br />

Sinn ist Schopenhauer der Erste, der die<br />

Bewegung Pascals wieder aufnimmt: un monstre<br />

et un chaos, folglich etwas, das zu verneinen ist …<br />

Geschichte, Natur, der Mensch selbst!<br />

unsre Unfähigkeit, die Wahrheit zu<br />

erkennen, ist die Folge unsrer Verderbniß,<br />

unsres moralischen Verfalls: so Pascal. Und so im<br />

Grunde Schopenhauer. „Um so tiefer die Verderbniß der<br />

Vernunft, um so nothwendiger die Heilslehre“ — oder,<br />

schopenhauerisch gesprochen, die Verneinung<br />

Page Break KGW='VIII-2.110' KSA='12.446'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11516 id='VIII.9[183]' kgw='VIII-2.110' ksa='12.446'<br />

(133) das 17. Jahrhundert leidet am Menschen wie an<br />

einer Summe von Widersprüchen, „l'amas de


contradictions“, der wir sind, sucht den Menschen zu<br />

entdecken, zu ordnen, auszugraben: während das<br />

18. Jahrhundert zu vergessen sucht, was man von der<br />

Natur des Menschen weiß, um ihn an seine Utopie<br />

anzupassen. „oberflächlich, weich, human“ — schwärmt für<br />

„den Menschen“ —<br />

Das 17. Jahrhundert sucht die Spuren des Individuums<br />

auszuwischen, damit das Werk dem Leben so ähnlich als<br />

möglich sehe. Das 18. sucht durch das Werk für den<br />

Autor zu interessiren.<br />

Das 17. Jahrhundert sucht in der Kunst Kunst, ein<br />

Stück Cultur; das 18. treibt mit der Kunst Propaganda<br />

für Reformen socialer und politischer Natur.<br />

Die „Utopie“, der „ideale Mensch“, die<br />

Natur-Angöttlichung, die Eitelkeit des Sich-in-Scene-setzens,<br />

die Unterordnung unter die Propaganda socialer Ziele, die<br />

Charlatanerie — das haben wir vom 18. Jahrhundert.<br />

Der Stil des 17. Jahrhunderts: propre, exact et libre<br />

das starke Individuum, sich selbst genügend oder vor<br />

Gott in eifriger Bemühung — und jene moderne<br />

Autoren-Zudringlichkeit und Zuspringlichkeit, — das sind<br />

Gegensätze. „Sich-produziren“ — damit vergleiche man<br />

die Gelehrten von Port-Royal.<br />

Alfieri hatte einen Sinn für großen Styl<br />

der Haß gegen das Burleske (Würdelose), der<br />

Mangel an Natursinn gehört zum 17. Jahrhundert.<br />

Page Break KGW='VIII-2.111' KSA='12.447'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11517 id='VIII.9[184]' kgw='VIII-2.111' ksa='12.447'<br />

(134) Rousseau: die Regel gründend auf das Gefühl<br />

die Natur als Quelle der Gerechtigkeit<br />

der Mensch vervollkommnet sich in dem<br />

Maaße, in dem er sich der Natur nähert<br />

(nach Voltaire, in dem Maaße, in dem er sich von der<br />

Natur entfernt<br />

dieselben Epochen für den Einen die des Fortschritts,<br />

der Humanität, für den Anderen Zeiten der<br />

Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit<br />

Voltaire noch die humanità im Sinne der Renaissance<br />

begreifend, insgleichen die virtù (als „hohe Cultur“),<br />

er kämpft für die Sache der honnêtes gens und de la bonne<br />

compagnie, die Sache des Geschmacks, der Wissenschaft,


der Künste, die Sache des Fortschritts selbst und der<br />

Civilisation.<br />

Der Kampf gegen 1760 entbrannt: der<br />

Genfer Bürger und le seigneur de Tourney. Erst von da an<br />

wird Voltaire der Mann seines Jahrhunderts, der Philosoph,<br />

der Vertreter der Toleranz und der Pfeifer des<br />

Unlaubens (bis dahin nur un bel esprit) Der Neid<br />

und der Haß auf Rousseaus Erfolg trieb ihn vorwärts,<br />

„in die Höhe“ —<br />

— Pour „la canaille“, un dieu rémunérateur et<br />

vengeur — Voltaire.<br />

Kritik beider Standpunkte in Hinsicht auf den<br />

Werth der Civilisation.<br />

die sociale(1543) Erfindung die schönste, die es<br />

giebt für Voltaire, es giebt kein höheres Ziel als sie zu<br />

unterhalten und zu vervollkommnen; eben das ist die<br />

honnêteté, die socialen Gebräuche zu achten; Tugend ein<br />

Gehorsam gegen gewisse nothwendige „Vorurtheile“ zu<br />

Gunsten der Erhaltung der „Gesellschaft“.<br />

Page Break KGW='VIII-2.112' KSA='12.448'<br />

Cultur-Missionär, Aristokrat, Vertreter der<br />

siegreichen herrschenden Stände und ihrer Werthungen.<br />

Aber Rousseau blieb Plebejer, auch als homme de<br />

lettres, das war unerhört; seine unverschämte<br />

Verachtung alles dessen, was nicht er selbst war.<br />

Das Krankhafte an Rousseau am meisten bewundert<br />

und nachgeahmt. (Lord Byron verwandt: auch sich zu<br />

erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rancunösen<br />

Groll; Zeichen der „Gemeinheit“; später, durch Venedig<br />

ins Gleichgewicht gebracht, begriff er, was mehr<br />

erleichtert und wohlthut,… l'insouciance)<br />

er ist stolz in Hinsicht auf das, was er ist, trotz seiner<br />

Herkunft; aber er geräth außer sich, wenn man ihn daran<br />

erinnert …<br />

Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung,<br />

bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit.<br />

Die Rancune des Kranken; die Zeiten seines<br />

Irrsinns auch die seiner Menschenverachtung, und<br />

seines Mißtrauens.<br />

Die Vertheidigung der Providenz durch Rousseau<br />

(gegen den Pessismismus Voltaires): er brauchte Gott,<br />

um den Fluch auf die Gesellschaft und die Civilisation<br />

werfen zu können; alles mußte an sich gut sein, da Gott<br />

es geschaffen; nur der Mensch hat den Menschen<br />

verdorben. Der „gute Mensch“ als Naturmensch<br />

war eine reine Phantasie; aber mit dem Dogma<br />

der Autorschaft Gottes etwas Wahrscheinliches und<br />

Begründetes.


Wirkung Rousseaus:<br />

die Narrheit zur Größe gerechnet, Romantik (erstes<br />

Beispiel nicht stärkstes)<br />

„das souveräne Recht der Passion“<br />

„die monstruose Erweiterung des „ich“<br />

Page Break KGW='VIII-2.113' KSA='12.449'<br />

„das Naturgefühl“<br />

„in der Politik hat man seit 100 Jahren einen Kranken<br />

als Führer genommen“<br />

Romantik à la Rousseau<br />

die Leidenschaft,<br />

die „Natürlichkeit“<br />

die Fascination der Verrücktheit<br />

die Pöbel-Rancune als Richterin<br />

die unsinnige Eitelkeit des Schwachen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11518 id='VIII.9[185]' kgw='VIII-2.113' ksa='12.449'<br />

(135) Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle:<br />

das Problem der Civilisation, der Kampf<br />

zwischen Rousseau und Voltaire um 1760<br />

der Mensch wird tiefer, mißtrauischer, „unmoralischer“,<br />

stärker, sich-selbst-vertrauender — und insofern<br />

„natürlicher“ — das ist „Fortschritt“<br />

(dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitstheilung,<br />

die verböserten Schichten und die gemilderten, gezähmten<br />

aus einander: so daß die Gesamtthatsache nicht<br />

ohne Weiteres in die Augen springt.) … Es gehört zur<br />

Stärke, zur Selbstbeherrschung und Fascination der<br />

Stärke, daß diese stärkeren Schichten die Kunst besitzen,<br />

ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden zu<br />

machen. Zu jedem „Fortschritt“ gehört eine Umdeutung<br />

der verstärkten Elemente ins „Gute“ (d.h. — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11519 id='VIII.9[186]' kgw='VIII-2.113' ksa='12.449'<br />

(136) Das Problem des 19. Jahrhunderts. Ob<br />

seine starke und schwache Seite zu einander gehören? Ob<br />

es aus Einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit<br />

seiner Ideale, deren Widerspruch in einem höheren Zwecke<br />

Page Break KGW='VIII-2.114' KSA='12.450'<br />

bedingt sind, als etwas Höheres? — Denn es könnte die


Vorbestimmung zur Größe sein, in diesem<br />

Maaße, in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit,<br />

der Nihilism könnte ein gutes Zeichen sein.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11520 id='VIII.9[187]' kgw='VIII-2.114' ksa='12.450'<br />

Beyle geboren 23 Januar 1783<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11521 id='VIII.9[188]' kgw='VIII-2.114' ksa='12.450'<br />

Ein Buch zum Denken, nichts weiter: es gehört Denen,<br />

welchen Denken Vergnügen macht, nichts weiter …<br />

Daß es deutsch geschrieben ist, ist zum Mindesten<br />

unzeitgemäß: ich wünschte es französisch geschrieben zu haben, damit<br />

es nicht als Befürwortung irgend welcher reichsdeutschen<br />

Aspirationen erscheint.<br />

Bücher zum Denken, — sie gehören denen, welchen Denken<br />

Vergnügen macht, nichts weiter … Die Deutschen von Heute<br />

sind keine Denker mehr: ihnen macht etwas Anderes Vergnügen<br />

und Bedenken(1544). Der Wille zur Macht als Princip wäre<br />

ihnen schwer(1545) verständlich … Ebendarum wünschte ich<br />

meinen Zarathustra(1546) nicht deutsch geschrieben zu haben<br />

Ich mißtraue allen Systemen und Systematikern und gehe<br />

ihnen aus dem Weg: vielleicht entdeckt man noch hinter diesem<br />

Buche das System, dem ich ausgewichen bin …<br />

Der Wille zum System: bei einem Philosophen moralisch<br />

ausgedrückt eine feinere Verdorbenheit, eine Charakter-Krankheit,<br />

unmoralisch ausgedrückt, sein Wille, sich dümmer zu stellen<br />

als man ist — Dümmer, das heißt: stärker, einfacher,<br />

gebietender, ungebildeter, commandirender, tyrannischer …<br />

Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser<br />

schreiben? … Aber ich notire mich, für mich.<br />

Page Break KGW='VIII-2.115' KSA='12.451'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11522 id='VIII.9[189]' kgw='VIII-2.115' ksa='12.451'<br />

gerade unter Deutschen wird heute am wenigsten gedacht.<br />

Aber wer weiß! schon in zwei Geschlechtern wird man das<br />

Opfer der nationalen Macht-Vergeudung, die Verdummung nicht<br />

mehr nöthig haben.


<strong>Aphorism</strong> n=11523 id='VIII.9[190]' kgw='VIII-2.115' ksa='12.451'<br />

Ich lese Zarathustra: aber wie konnte ich dergestalt meine<br />

Perlen vor die Deutschen werfen!<br />

Page Break KGW='VIII-2.116' KSA='12.452'<br />

Page Break KGW='VIII-2.117' KSA='12.453'<br />

[ 10 = W II 2. Herbst 1887 ]<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11524 id='VIII.10[1]' kgw='VIII-2.117' ksa='12.453'<br />

Halkyonia.<br />

Nachmittage eines Glücklichen.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11525 id='VIII.10[2]' kgw='VIII-2.117' ksa='12.453'<br />

(137) Meine fünf „Neins“.<br />

1. Mein Kampf gegen das Schuldgefühl und die<br />

Einmischung des Strafbegriffs in die physische und<br />

metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die<br />

Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die Vermoralisirung<br />

aller bisherigen Philosophie und Werthschätzung.<br />

2. Mein Wiedererkennen und Herausziehn des<br />

überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo man<br />

mit der dogmatischen Form des Christenthums<br />

abgewirthschaftet hat. Die Gefährlichkeit des christlichen<br />

Ideals steckt in seinen Werthgefühlen, in dem,<br />

was des begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein<br />

Kampf gegen das latente Christenthum (z.B.<br />

in der Musik, im Socialismus)<br />

3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert Rousseaus,<br />

gegen seine „Natur“, seinen „guten Menschen“,<br />

seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls — gegen die<br />

Page Break KGW='VIII-2.120' KSA='12.454'<br />

Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisirung des Menschen:<br />

ein Ideal, das aus dem Haß gegen die<br />

aristokratische Cultur geboren ist und in praxi die<br />

Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist,<br />

erfunden als Standarte für den Kampf.


— die Schuldgefühls-Moralität des Christen<br />

die Ressentiments-Moralität (eine Attitüde des Pöbels)<br />

4. Mein Kampf gegen die Romantik, in der christliche<br />

Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen, zugleich<br />

aber mit einer Sehnsucht nach den alten Zeiten<br />

der priesterlich-aristokratischen Cultur, nach(1547) virtù, nach<br />

dem „starken Menschen“ — etwas äußerst Hybrides; eine<br />

falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschenthums,<br />

welches die extremen Zustände überhaupt schätzt<br />

und in ihnen das Symptom der Stärke sieht („Cultus der<br />

Leidenschaft“)<br />

— das Verlangen nach stärkeren Menschen, extremen<br />

Zuständen<br />

ein Nachmachen der expressivsten Formen, furore<br />

espressivo nicht aus der Fülle, sondern dem Mangel<br />

(unter Dichtern ist z.B. Stifter und G. Keller Zeichen<br />

von mehr Stärke, innerem Wohlsein, als — — — )<br />

5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft der<br />

Heerden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit<br />

ihnen gemeinsame Sache macht; gegen den innerlichen<br />

Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt<br />

wird.<br />

— was relativ aus der Fülle geboren ist im<br />

19. Jahrhundert, mit Behagen …<br />

Technik heitere Musik usw. die relative Erzeugnisse<br />

große Technik und Erfindsamkeit der Stärke,<br />

die Naturwissenschaften des Selbstzutrauens<br />

die Historie (?)<br />

des 19. Jhs.<br />

Page Break KGW='VIII-2.121' KSA='12.455'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11526 id='VIII.10[3]' kgw='VIII-2.121' ksa='12.455'<br />

(138) Mein neuer Weg zum „Ja“.<br />

Meine neue Fassung des Pessimismus als ein<br />

freiwilliges Aufsuchen der furchtbaren und fragwürdigen<br />

Seiten des Daseins: womit mir verwandte Erscheinungen der<br />

Vergangenheit deutlich wurden. „Wie viel ‚Wahrheit‘<br />

erträgt und wagt ein Geist?“ Frage seiner Stärke. Ein solcher<br />

Pessimism könnte münden in jene Form eines<br />

dionysischen Jasagens zur Welt, wie sie ist: bis zum<br />

Wunsche ihrer absoluten Wiederkunft und Ewigkeit: womit<br />

ein neues Ideal von Philosophie und Sensibilität<br />

gegeben wäre.<br />

Die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht<br />

nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth;<br />

und nicht nur wünschenswerth in Hinsicht auf die<br />

bisher bejahten Seiten (etwa als deren Complement und<br />

Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als die


mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins,<br />

in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht<br />

Die bisher allein bejahten Seiten des Daseins<br />

abzuschätzen; das, was hier eingentlich Ja sagt,<br />

herauszuziehn (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt<br />

der Heerde andrerseits und jener dritte Instinkt: der Instinkt<br />

der Meisten gegen die Ausnahme)<br />

Conception einer höheren Art Wesen als eine<br />

„unmoralische“ nach den bisherigen Begriffen: die Ansätze<br />

dazu in der Geschichte (die heidnischen Götter, die Ideale<br />

der Renaissance)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11527 id='VIII.10[4]' kgw='VIII-2.121' ksa='12.455'<br />

(139) Wie man Herr geworden ist über das Ideal der<br />

Renaissance? Der Mensch des 17. Jahrhunderts, der<br />

Mensch des 18. Jahrhunderts, der Mensch des 19.<br />

Jahrhunderts. Recrudescenz des Christenthums<br />

Page Break KGW='VIII-2.122' KSA='12.456'<br />

( = Reformation) der Jesuitismus und die Monarchie<br />

im Bunde<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11528 id='VIII.10[5]' kgw='VIII-2.122' ksa='12.456'<br />

(140) Statt des „Naturmenschen“ Rousseau's hat das 19.<br />

Jahrhundert ein wahreres Bild vom „Menschen“<br />

entdeckt, — es hat dazu den Muth gehabt … Im Ganzen<br />

ist damit dem christlichen Begriff „Mensch“ eine<br />

Wiederherstellung zu Theil geworden. Wozu man nicht den<br />

Muth gehabt hat, das ist, gerade diesen „Mensch an<br />

sich“ gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen<br />

garantirt zu sehn. Insgleichen hat man nicht gewagt,<br />

das Wachsthum der Furchtbarkeit des Menschen<br />

als Begleiterscheinung jedes Wachsthums der Cultur<br />

zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen<br />

Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das<br />

Heidenthum, insgleichen gegen den Renaissance-Begriff<br />

der virtù. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Cultur:<br />

und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der<br />

Geschichte zu Gunsten des „guten Menschen“ (wie als ob er<br />

allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim<br />

socialistischen Ideal (d.h. dem Residuum<br />

des Christenthums und Rousseaus in der entchristlichten<br />

Welt)<br />

Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert:


dessen höchste Überwindung durch Goethe<br />

und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen<br />

dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17.<br />

Jahrhundert, — er ist ein moderner Pascal, mit Pascalischen<br />

Werthurtheilen ohne Christenthum … Schopenhauer<br />

war nicht stark genug zu einem neuen Ja.<br />

Napoleon: die nothwendige Zusammengehörigkeit<br />

des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen.<br />

Der „Mann“ wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige<br />

Page Break KGW='VIII-2.123' KSA='12.457'<br />

Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die<br />

„Totalität“ als Gesundheit und höchste Aktivität; die<br />

gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der<br />

mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die<br />

Herrschsucht, bejaht.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11529 id='VIII.10[6]' kgw='VIII-2.123' ksa='12.457'<br />

(141) NB Man gehört nicht zu uns, so lange man sich nicht<br />

schämt, bei sich irgend eine übrige(1548) Christlichkeit des<br />

Gefühls zu ertappen: bei uns hat das alte Ideal<br />

das Gewissen gegen sich …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11530 id='VIII.10[7]' kgw='VIII-2.123' ksa='12.457'<br />

(142) Nachzudenken: In wiefern immer noch der<br />

verhängnißvolle Glaube an die göttliche Providenz<br />

— dieser für Hand und Vernunft lähmendste<br />

Glaube, den es gegeben hat — fortbesteht; in wiefern unter<br />

den Formeln „Natur“, „Fortschritt“, „Vervollkommnung“,<br />

„Darwinismus“, unter dem Aberglauben einer<br />

gewissen Zusammengehörigkeit von Glück und Tugend,<br />

von Unglück und Schuld immer noch die christliche<br />

Voraussetzung und Interpretation ihr Nachleben hat. Jenes<br />

absurde Vertrauen zum Gang der Dinge, zum „Leben“,<br />

zum „Instinkt des Lebens“, jene biedermännische<br />

Resignation, die des Glaubens ist, Jedermann habe<br />

nur seine Pflicht zu thun, damit Alles gut gehe —<br />

dergleichen hat nur Sinn unter der Annahme einer Leitung<br />

der Dinge sub specie boni. Selbst noch der Fatalism,<br />

unsere jetzige Form der philosophischen Sensibilität, ist<br />

eine Folge jenes längsten Glaubens an göttliche Fügung,<br />

eine unbewußte Folge: nämlich als ob es eben nicht<br />

auf uns ankomme, wie Alles geht ( — als ob wir es<br />

laufen lassen dürften, wie es läuft: jeder Einzelne


selbst nur ein modus der absoluten Realität — )<br />

Page Break KGW='VIII-2.124' KSA='12.458'<br />

Man verdankt dem Christenthum:<br />

die Einmischung des Schuld- und Strafbegriffs in alle<br />

Begriffe<br />

die Feigheit vor der Moral<br />

das dumme Vertrauen in den Gang der Dinge (zum<br />

„Besseren“)<br />

die psychologische Falschheit gegen sich.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11531 id='VIII.10[8]' kgw='VIII-2.124' ksa='12.458'<br />

(143) Eine Arbeitstheilung der Affekte innerhalb der<br />

Gesellschaft: so daß die Einzelnen und die Stände die<br />

unvollständige, aber eben damit nützlichere Art<br />

von Seele heranzüchten. In wiefern bei jedem Typus<br />

innerhalb der Gesellschaft einige Affekte fast rudimentär<br />

geworden sind (auf die stärkere Ausbildung eines andern<br />

Affekts hin)<br />

Zur Rechtfertigung der Moral:<br />

die ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung<br />

von Individual-Kraft gegen die Verschwendung<br />

alles Ausnahmsweisen)<br />

die aesthetische (die Ausgestaltung fester Typen samt<br />

der Lust am eignen Typus)<br />

die politische (als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse<br />

von verschiedenen Machtgraden auszuhalten —<br />

die physiologische (als imaginäres Übergewicht der<br />

Schätzung zu Gunsten derer, die schlecht oder<br />

mittelmäßig weggekommen sind — zur Erhaltung der<br />

Schwachen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11532 id='VIII.10[9]' kgw='VIII-2.124' ksa='12.458'<br />

(144) Jedes Ideal setzt Liebe und Haß, Verehrung und<br />

Verachtung voraus. Entweder ist das positive Gefühl das<br />

primum mobile oder das negative Gefühl. Haß und<br />

Page Break KGW='VIII-2.125' KSA='12.459'<br />

Verachtung sind z.B. bei allen Ressentiments-Idealen<br />

das primum mobile.


<strong>Aphorism</strong> n=11533 id='VIII.10[10]' kgw='VIII-2.125' ksa='12.459'<br />

(145) Die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale<br />

Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft)<br />

wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren<br />

Thätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein<br />

Machinalismus, als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen<br />

jener Affekte und Zustände)<br />

Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzien<br />

des Peinlichen anschlagen, so muß ein Mittel gefunden<br />

werden, dieses Peinliche durch eine Werthvorstellung zu<br />

überwinden, die Unlust als werthvoll, also in höherem<br />

Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt:<br />

„wie wird etwas Unangenehmes angenehm?“<br />

Zum Beispiel, wenn es als Beweis für Kraft,<br />

Macht, Selbstüberwindung dienen kann. Oder wenn in<br />

ihm unser Gehorsam, unsere Einordnung in das Gesetz, zu<br />

Ehren kommt. Insgleichen als Beweis für Gemeinsinn,<br />

Nächstensinn, Vaterlandssinn, für unsere „Vermenschlichung“,<br />

„Altruismus“, „Heroismus“<br />

Daß man die unangenehmen Dinge gern thut — Absicht<br />

der Ideale.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11534 id='VIII.10[11]' kgw='VIII-2.125' ksa='12.459'<br />

(146) Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der<br />

Tugend. — Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar<br />

zu machen, und ihn soweit es irgendwie angeht der<br />

unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er<br />

mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden<br />

( — er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar<br />

arbeitet, als die höchstwerthigen empfinden lernen: dazu<br />

Page Break KGW='VIII-2.126' KSA='12.460'<br />

thut noth, daß ihm die anderen möglichst verleidet,<br />

möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden …)<br />

Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile,<br />

die Einförmigkeit, welche alle machinale<br />

Thätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen<br />

und nicht nur ertragen, die Langeweile von einem höheren<br />

Reize umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe<br />

alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, was uns nichts<br />

angeht; und eben darin, in diesem „objektiven“ Thätigsein<br />

seine „Pflicht“ empfinden; die Lust und die Pflicht<br />

von einander getrennt abschätzen lernen — das ist die<br />

unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens.<br />

Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher<br />

an sich: weil seine Thätigkeit selber das Muster einer


is zum Großartigen gehenden Monotonie der Thätigkeit<br />

abgiebt: unter seiner Fahne lernt der Jüngling „ochsen“:<br />

erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler<br />

Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte,<br />

Bureauschreiberling, Zeitungsleser und Soldat) Eine solche<br />

Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen<br />

Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die<br />

angenehmen Gefühle müssen von irgend einer unfehlbaren<br />

Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges<br />

abgewerthet werden; die „Pflicht an sich“, vielleicht sogar<br />

das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was<br />

unangenehm ist — und diese Forderung als jenseits aller<br />

Nützlichkeit, Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend,<br />

imperativisch … Die machinale Existenzform als höchste<br />

ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend. ( —<br />

Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs „du sollst“)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11535 id='VIII.10[12]' kgw='VIII-2.126' ksa='12.460'<br />

die Philosophen und andere höhere Ammen, an deren Busen<br />

die Jugend die Milch der Weisheit trinkt<br />

Page Break KGW='VIII-2.127' KSA='12.461'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11536 id='VIII.10[13]' kgw='VIII-2.127' ksa='12.461'<br />

(147) Spott über den falschen „Altruism“ bei den Biologen:<br />

die Fortpflanzung bei den Amöben erscheint als Abwerfen<br />

des Ballastes, als purer Vortheil. Die Ausstoßung<br />

der unbrauchbaren Stoffe<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11537 id='VIII.10[14]' kgw='VIII-2.127' ksa='12.461'<br />

Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft.<br />

Ein tractatus politicus.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11538 id='VIII.10[15]' kgw='VIII-2.127' ksa='12.461'<br />

(148) Das continuum: „Ehe, Eigenthum, Sprache,<br />

Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat“ sind Continuen<br />

niederer und höherer Ordnung. Die Oekonomik derselben


esteht in dem Überschusse der Vortheile der<br />

ununterbrochenen Arbeit sowie der Vervielfachung über die<br />

Nachtheile: die größeren Kosten der Auswechslung<br />

der Theile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung<br />

der wirkenden Theile, welche doch vielfach unbeschäftigt<br />

bleiben, also größere Anschaffungskosten und<br />

nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung) Der Vortheil<br />

besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und<br />

die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden.<br />

Nichts ist kostspieliger als neue Anfänge.<br />

„Je größer die Daseinsvortheile, desto größer auch die<br />

Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und<br />

Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die<br />

Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe des Lebens zu<br />

Grunde zu gehn.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11539 id='VIII.10[16]' kgw='VIII-2.127' ksa='12.461'<br />

(149) „Die Unterscheidung zwischen niederer und höherer<br />

Existenz ist technisch unhaltbar, denn jedes Thier,<br />

Page Break KGW='VIII-2.128' KSA='12.462'<br />

jede Pflanze entspricht seiner Aufgabe in möglichst<br />

vollkommener Weise; der Flug des schwerfälligen Käfers ist<br />

kein weniger vollkommener als das Schweben des Schmetterlings<br />

für Schmetterlingsaufgaben. Die Unterscheidung<br />

ist eine ökonomische; denn die complicirten Organismen<br />

vermögen mehr und vollkommenere Arbeit zu leisten, und<br />

die Vortheile aus diesen Leistungen sind so groß, daß<br />

damit die wesentlich erhöhten Erhaltungs- und Schaffungs-kosten<br />

übertroffen werden.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11540 id='VIII.10[17]' kgw='VIII-2.128' ksa='12.462'<br />

(150) Die Nothwendigkeit zu erweisen, daß zu einem<br />

immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und<br />

Menschheit, zu einer immer fester in einander verschlungenen<br />

„Maschinerie“ der Interessen und Leistungen eine<br />

Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe<br />

als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses<br />

der Menschheit: in ihr soll eine stärkere<br />

Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre<br />

Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der<br />

Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichniß<br />

für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort<br />

„Übermensch“.


Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt<br />

überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das<br />

höhere Chinesenthum, die Instinkt-Bescheidenheit, die<br />

Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen — eine Art<br />

Stillstand im Niveau des Menschen. Haben<br />

wir erst jene unvermeidlich bevorstehende<br />

Wirthschafts-Gesammtverwaltung der Erde, dann kann die<br />

Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn<br />

finden: als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren,<br />

immer feiner „angepaßten“ Rädern; als ein immer<br />

wachsendes Überflüssig-werden aller dominirenden und<br />

Page Break KGW='VIII-2.129' KSA='12.463'<br />

commandirenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer<br />

Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte,<br />

Minimal-Werthe darstellen. Im Gegensatz zu dieser<br />

Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine<br />

spezialisirtere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten<br />

Bewegung — der Erzeugung des synthetischen, des<br />

summirenden, des rechtfertigenden Menschen,<br />

für den jene Machinalisirung der Menschheit eine<br />

Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem<br />

er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann …<br />

Er braucht ebensosehr die Gegnerschaft der<br />

Menge, der „Nivellirten“, das Distanz-Gefühl im Vergleich<br />

zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese<br />

höhere Form des Aristokratism ist die der<br />

Zukunft. — Moralisch geredet, stellt jene Gesammt-Maschinerie,<br />

die Solidarität aller Räder, ein maximum in der<br />

Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt<br />

solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat.<br />

Im anderen Falle wäre sie thatsächlich bloß die<br />

Gesammt-Verringerung, Werth-Verringerung des Typus<br />

Mensch, — ein Rückgangs-Phänomen im größten<br />

Stile.<br />

— Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische<br />

Optimismus: wie als ob mit den wachsenden<br />

Unkosten Aller auch der Nutzen Aller nothwendig<br />

wachsen müßte. Das Gegentheil scheint mir der Fall: die<br />

Unkosten Aller summiren sich zu einem<br />

Gesammt-Verlust: der Mensch wird geringer:<br />

— so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser<br />

ungeheure Prozeß gedient hat. Ein wozu? ein neues<br />

„Wozu?“ — das ist es, was die Menschheit nöthig hat …<br />

Page Break KGW='VIII-2.130' KSA='12.464'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11541 id='VIII.10[18]' kgw='VIII-2.130' ksa='12.464'


(151) Die „Modernität“ unter dem Gleichniß von<br />

Ernährung und Verdauung.<br />

Die Sensibilität unsäglich reizbarer ( — unter<br />

moralistischem Aufputz als die Vermehrung des Mitleids — )<br />

die Fülle disparater Eindrücke größer als je: — der<br />

Kosmopolitism der Speisen, der Litteraturen, Zeitungen,<br />

Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften usw.<br />

das tempo dieser Einströmung ein prestissimo;<br />

die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv,<br />

etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu<br />

„verdauen“<br />

— Schwächung der Verdauungs-Kraft resultirt<br />

daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung<br />

mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agiren;<br />

er reagirt nur noch auf Erregungen von außen her.<br />

Er giebt seine Kraft aus theils in der Aneignung,<br />

theils in der Vertheidigung, theils in der<br />

Entgegnung.<br />

Tiefe Schwächung der Spontaneität:<br />

— der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der<br />

Beobachter, der Sammler, der Leser — alles reaktive<br />

Talente: alle Wissenschaft!<br />

Künstliche Zurechtmachung seiner Natur zum „Spiegel“;<br />

interessirt, aber gleichsam bloß epidermal-interessirt;<br />

eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine<br />

festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der<br />

dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, „Sturm“,<br />

Wellenspiel giebt<br />

Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer<br />

gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit.<br />

Page Break KGW='VIII-2.131' KSA='12.465'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11542 id='VIII.10[19]' kgw='VIII-2.131' ksa='12.465'<br />

(152) Der Substanzbegriff eine Folge des Subjektsbegriffs:<br />

nicht umgekehrt! Geben wir die Seele, „das<br />

Subjekt“ preis, so fehlt die Voraussetzung für eine<br />

„Substanz“ überhaupt. Man bekommt Grade des Seienden,<br />

man verliert das Seiende.<br />

Kritik der „Wirklichkeit“: worauf führt das<br />

„Mehr oder Weniger Wirklichkeit“, die<br />

Gradation des Seins, an die wir glauben?<br />

Unser Grad von Lebens- und Machtgefühl<br />

(Logik und Zusammenhang des Erlebten) giebt uns das<br />

Maaß von „Sein“, „Realität“, Nicht-Schein.<br />

Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens<br />

an eine Einheit unter all den verschiedenen Momenten


höchsten Realitätsgefühls: wir verstehn diesen Glauben als<br />

Wirkung Einer Ursache, — wir glauben an unseren<br />

Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die „Wahrheit“,<br />

„Wirklichkeit“, „Substanzialität“ überhaupt imaginiren.<br />

„Subjekt“ ist die Fiktion, als ob viele gleiche<br />

Zustände an uns die Wirkung Eines Substrats wären: aber<br />

wir haben erst die „Gleichheit“ dieser Zustände geschaffen;<br />

das Gleichsetzen und Zurechtmachen derselben<br />

ist der Thatbestand, nicht die Gleichheit ( — diese<br />

ist vielmehr zu leugnen — )<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11543 id='VIII.10[20]' kgw='VIII-2.131' ksa='12.465'<br />

(153) Es giebt Fälle, wo eine uns bezeugte Sympathie<br />

indignirt: z.B. unmittelbar nach einer außerordentlichen<br />

Handlung, die ihren Werth an sich hat. Aber man gratulirt<br />

uns, „daß wir mit ihr fertig sind“ usw.<br />

Ich habe bei meinen Kritikern häufig den Eindruck von<br />

Canaille gehabt: Nicht, was man sagt, sondern daß<br />

ich es sage und inwiefern gerade ich dazu gekommen<br />

sein mag, dies zu sagen — das scheint ihr einziges<br />

Page Break KGW='VIII-2.132' KSA='12.466'<br />

Interesse, eine Juden-Zudringlichkeit, gegen die man in praxi<br />

den Fußtritt als Antwort hat. Man beurtheilt mich, um<br />

nichts mit meinem Werke zu thun zu(1549) haben: man erklärt<br />

dessen Genesis — damit gilt es hinreichend für —<br />

abgethan.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11544 id='VIII.10[21]' kgw='VIII-2.132' ksa='12.466'<br />

(154) Religion<br />

In dem inneren Seelen-Haushalt des primitiven<br />

Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was<br />

ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das<br />

Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse?<br />

— Er concipirt es als Vernunft, als Macht, als Person<br />

selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine<br />

Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus<br />

einzuwirken, — zu präveniren.<br />

— Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit<br />

ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man<br />

legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen<br />

als wohlgemeint, als sinnvoll aus …<br />

— man interpretirt vor allem das Schlimme als<br />

„verdient“: man rechtfertigt das Böse als Strafe …


— In summa: man unterwirft sich ihm: die<br />

ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form<br />

der Unterwerfung unter das Böse.<br />

— der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt<br />

verzichtleisten, es zu bekämpfen.<br />

Nun stellt die ganze Geschichte der Cultur eine<br />

Abnahme jener Furcht vor dem Zufall, vor dem<br />

Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Cultur, das heißt<br />

eben berechnen lernen, causal denken lernen, präveniren<br />

lernen, an Nothwendigkeit glauben lernen. Mit<br />

dem Wachsthum der Cultur wird dem Menschen jene<br />

primitive Unterwerfungsform unter das Übel<br />

Page Break KGW='VIII-2.133' KSA='12.467'<br />

(Religion oder Moral genannt), jene „Rechtfertigung des<br />

Übels“ entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das „Übel“<br />

— er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von<br />

Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit<br />

möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt, — wo<br />

Lust am Zufall, am Ungewissen und am<br />

Plötzlichen als Kitzel hervorspringt …<br />

Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom<br />

höchster Cultur — ich nenne ihn den Pessimismus<br />

der Stärke.<br />

Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine „Rechtfertigung<br />

des Übels“, er perhorreszirt gerade das „Rechtfertigen“:<br />

er genießt das Übel pur, cru, er findet das<br />

sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher<br />

einen Gott nöthig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine<br />

Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das<br />

Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum<br />

Wesen gehört …<br />

In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute<br />

einer „Rechtfertigung“ d.h. es muß einen bösen und<br />

gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit<br />

in sich schließen: dann gefällt es noch.<br />

Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein<br />

geistreicher und glücklicher Übermuth zu Gunsten des<br />

Thiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphirendste<br />

Form der Geistigkeit.<br />

Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich<br />

eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen: — er<br />

darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen.<br />

Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend<br />

befürwortet, so thut er es um der Gründe willen, welche in<br />

der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-,<br />

Machtsuchstform erkennen lassen.<br />

Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit<br />

Page Break KGW='VIII-2.134' KSA='12.468'


einer Theodicee d.h. mit einem absoluten Jasagen<br />

zu der Welt, aber um der Gründe willen, auf die hin man<br />

zu ihr ehemals Nein gesagt hat: und dergestalt zur<br />

Conception dieser Welt als des thatsächlich erreichten<br />

höchstmöglichen Ideals …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11545 id='VIII.10[22]' kgw='VIII-2.134' ksa='12.468'<br />

(155) Gesammt-Einsicht.<br />

Thatsächlich bringt jedes große Wachsthum auch ein<br />

ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich:<br />

das Leiden, die Symptome des Niedergangs gehören<br />

in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens.<br />

jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit<br />

hat zugleich eine nihilistische Bewegung<br />

mitgeschaffen.<br />

es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein<br />

einschneidendes und allerwesentlichstes Wachsthum, für den<br />

Übergang in neue Daseinsbedingungen, daß die<br />

extremste Form des Pessimismus, der eigentliche<br />

Nihilism, zur Welt käme.<br />

Dies habe ich begriffen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11546 id='VIII.10[23]' kgw='VIII-2.134' ksa='12.468'<br />

(156) Gesammt-Einsicht: der zweideutige<br />

Charakter unserer modernen Welt, — eben dieselben<br />

Symptome könnten auf Niedergang und auf<br />

Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der<br />

errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter<br />

(zurückgebliebener) Gefühls-Abwerthung als<br />

Schwäche mißverstanden werden. Kurz, das<br />

Gefühl, als Werthgefühl ist nicht auf der<br />

Höhe der Zeit<br />

Verallgemeinert: das Werthgefühl ist immer<br />

rückständig, es drückt Erhaltungs- Wachsthums-Bedingungen<br />

Page Break KGW='VIII-2.135' KSA='12.469'<br />

einer viel früheren Zeit aus: es kämpft gegen<br />

neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen<br />

ist und die es nothwendig mißversteht, mißtrauisch<br />

ansehen lehrt usw.: es hemmt, es weckt Argwohn gegen<br />

das Neue …<br />

Beispiele: — — —


<strong>Aphorism</strong> n=11547 id='VIII.10[24]' kgw='VIII-2.135' ksa='12.469'<br />

(157) Die Vermoralisirung der Künste. Kunst<br />

als Freiheit von der moralischen(1550) Verengung und Winkel-Optik;<br />

oder als Spott über sie. Die Flucht in die Natur,<br />

wo ihre Schönheit mit der Furchtbarkeit sich<br />

paart. Conception des großen Menschen.<br />

— zerbrechliche, unnütze Luxus-Seelen, welche ein<br />

Hauch schon trübe macht „die schönen Seelen“<br />

— die verblichenen Ideale aufwecken in<br />

ihrer schonungslosen Härte und Brutalität, als die<br />

prachtvollsten Ungeheuer, die sie sind<br />

— ein frohlockender Genuß an der psychologischen<br />

Einsicht in die Sinuosität und Schauspielerei wider Wissen<br />

bei allen vermoralisirten Künstlern.<br />

— die Falschheit der Kunst, — ihre Immoralität<br />

ans Licht ziehn<br />

— die „idealisirenden Grundmächte“ (Sinnlichkeit,<br />

Rausch, überreiche Animalität) ans Licht ziehn<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11548 id='VIII.10[25]' kgw='VIII-2.135' ksa='12.469'<br />

(158) Die falsche „Verstärkung“<br />

im romantisme: dies beständige espressivo ist<br />

kein Zeichen von Stärke, sondern von einem Mangelgefühl<br />

die pittoreske Musik, die sogenannte dramatische,<br />

ist vor allem leichter (ebenso wie die brutale<br />

Colportage und Nebeneinanderstellung von faits und<br />

traits im Roman des naturalisme)<br />

Page Break KGW='VIII-2.136' KSA='12.470'<br />

die „Leidenschaft“ eine Sache der Nerven und<br />

der ermüdeten Seelen; so wie der Genuß an Hochgebirgen,<br />

Wüsten, Unwettern, Orgien und Scheußlichkeiten, — am<br />

Massenhaften und Massiven (bei Historikern z.B.<br />

Thatsächlich giebt es einen Cultus der<br />

Ausschweifung des Gefühls. Wie kommt es,<br />

daß die starken Zeiten ein umgekehrtes Bedürfniß in der<br />

Kunst haben — nach einem Jenseits der Leidenschaft(1551)?<br />

die Farben, die Harmonie, die nervöse Brutalität des<br />

Orchester-Klangs; die schreienden Farben im Roman<br />

die Bevorzugung der aufregenden Stoffe (Erotica<br />

oder Socialistica oder Pathologica: alles Zeichen, für<br />

wen heute gearbeitet wird, für Überarbeitete und<br />

Zerstreute oder Geschwächte.<br />

— man muß tyrannisiren, um überhaupt zu wirken.


<strong>Aphorism</strong> n=11549 id='VIII.10[26]' kgw='VIII-2.136' ksa='12.470'<br />

(159) Schluß. — Endlich wagen wir es, die Regel zu<br />

rechtfertigen!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11550 id='VIII.10[27]' kgw='VIII-2.136' ksa='12.470'<br />

(160) Die Wissenschaft, ihre zwei Seiten:<br />

hinsichtlich des Individuums<br />

hinsichtlich des Cultur-Complexes („Niveaus“)<br />

— entgegengesetzte Werthung nach dieser und nach jener<br />

Seite.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11551 id='VIII.10[28]' kgw='VIII-2.136' ksa='12.470'<br />

(161) an Stelle der „Gesellschaft“ der Cultur-Complex<br />

als mein Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes,<br />

bezüglich in seinen Theilen)<br />

Page Break KGW='VIII-2.137' KSA='12.471'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11552 id='VIII.10[29]' kgw='VIII-2.137' ksa='12.471'<br />

(162) Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln<br />

hat, und daß die „Barbarei“ der Mittel nichts Willkürliches<br />

und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen<br />

greifen, wenn man mit aller seiner europäischen<br />

Verzärtelung einmal in die Nothwendigkeit versetzt wird, am<br />

Congo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu<br />

müssen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11553 id='VIII.10[30]' kgw='VIII-2.137' ksa='12.471'<br />

(163) Einsicht in die Zunahme der Gesamt-Macht:<br />

ausrechnen, inwiefern auch die Würdigung von Einzelnen,<br />

von Ständen, von Zeiten, Völkern, einbegriffen ist<br />

in diesem Wachsthum.<br />

Verschiebung des Schwergewichts einer Cultur.<br />

Die Unkosten jedes großen Wachsthums: wer sie trägt!<br />

Inwiefern sie jetzt ungeheuer sein müssen.


<strong>Aphorism</strong> n=11554 id='VIII.10[31]' kgw='VIII-2.137' ksa='12.471'<br />

Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung.<br />

Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen<br />

Einsturz unserer ganzen Civilisation wünschen müssen.<br />

Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen<br />

Einschränkung.<br />

Abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn<br />

mit diesen Begriffen wird der Werth eines Menschen noch<br />

nicht einmal berührt.<br />

Man fängt an — — —<br />

Der Werth eines Menschen liegt nicht in seiner Nützlichkeit:<br />

denn er bestünde fort, selbst wenn es Niemanden gäbe, dem er<br />

zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch,<br />

von dem die verderblichsten Wirkungen ausgiengen, die Spitze<br />

der ganzen Species Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an<br />

ihm Alles vor Neid zu Grunde gienge<br />

Page Break KGW='VIII-2.138' KSA='12.472'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11555 id='VIII.10[32]' kgw='VIII-2.138' ksa='12.472'<br />

(164) A. Die Wege zur Macht: die neue Tugend<br />

unter dem Namen einer alten einführen<br />

: für sie das „Interesse“ aufregen („Glück“ als ihre<br />

Folge und umgekehrt)<br />

: die Kunst der Verleumdung gegen ihre Widerstände<br />

: die Vortheile und Zufälle ausnützen zu ihrer<br />

Verherrlichung<br />

: ihre Anhänger durch Opfer, Separation zu ihren<br />

Fanatikern machen<br />

: die grosse Symbolik<br />

B. Die erreichte Macht<br />

1) Zwangsmittel der Tugend<br />

2) Verführungsmittel der Tugend<br />

3) die Etiquette (der Hofstaat) der Tugend<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11556 id='VIII.10[33]' kgw='VIII-2.138' ksa='12.472'<br />

(165) — Künstler sind nicht die Menschen der großen<br />

Leidenschaft, was sie uns und sich auch vorreden mögen.<br />

Und das aus zwei Gründen: es fehlt ihnen die Scham vor<br />

sich selber (sie sehen sich zu, indem sie leben; sie<br />

lauern sich auf, sie sind zu neugierig …) und es fehlt ihnen


auch die Scham vor der großen Leidenschaft (sie beuten<br />

sie als Artisten aus, Habsucht ihres Talents …)<br />

Zweitens aber: 1) ihr Vampyr, ihr Talent mißgönnt<br />

ihnen meist solche Verschwendung von Kraft, welche<br />

Leidenschaft heißt 2) ihr Künstler-Geiz behütet sie vor der<br />

Leidenschaft.<br />

Mit einem Talent ist man auch das Opfer eines<br />

Talents: man lebt unter dem Vampyrism seines Talents, —<br />

man lebt — — —<br />

Man wird nicht dadurch mit seinen Leidenschaften<br />

fertig, daß man sie darstellt: vielmehr, man ist mit ihnen<br />

fertig, wenn man sie darstellt. (Goethe lehrt es anders:<br />

Page Break KGW='VIII-2.139' KSA='12.473'<br />

er wollte sich hier mißverstehn: ein Goethe(1552) empfand<br />

die Undelikatesse<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11557 id='VIII.10[34]' kgw='VIII-2.139' ksa='12.473'<br />

— ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11558 id='VIII.10[35]' kgw='VIII-2.139' ksa='12.473'<br />

(166) — das Laster mit etwas entschieden Peinlichem so<br />

verknüpfen, daß zuletzt man vor dem Laster flieht, um von<br />

dem loszukommen, was mit ihm verknüpft ist. Das ist der<br />

berühmte Fall Tannhäusers. Tannhäuser, durch Wagnersche<br />

Musik um seine Geduld gebracht, hält es selbst bei<br />

Frau Venus nicht mehr aus: mit Einem Male gewinnt die<br />

Tugend Reiz; eine thüringische Jungfrau steigt im Preise;<br />

und um das Stärkste zu sagen, er goutirt sogar die Weise<br />

Wolfram von Eschenbachs …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11559 id='VIII.10[36]' kgw='VIII-2.139' ksa='12.473'<br />

(167) — uns Fatalisten von Heute möchte zuletzt die lascive<br />

Schwermuth eines maurischen Tanzes eher noch zu Herzen<br />

gehn, als die Wienerische Sinnlichkeit des deutschen<br />

Walzers, — eine zu blonde, zu stupide Sinnlichkeit.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11560 id='VIII.10[37]' kgw='VIII-2.139' ksa='12.473'


(168) Die moderne Kunst als eine Kunst zu tyrannisiren.<br />

— Eine grobe und stark herausgetriebene Logik<br />

des Lineaments; das Motiv vereinfacht bis zur<br />

Formel, — die Formel tyrannisirt. Innerhalb der Linien<br />

eine wilde Vielheit, eine überwältigende Masse, vor der<br />

die Sinne sich verwirren; die Brutalität der Farben, des<br />

Stoffes, der Begierden. Beispiel: Zola, Wagner; in<br />

geistigerer Ordnung Taine. Also Logik, Masse und<br />

Brutalität …<br />

Page Break KGW='VIII-2.140' KSA='12.474'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11561 id='VIII.10[38]' kgw='VIII-2.140' ksa='12.474'<br />

(169) Die Menschen schätzen ein Ding nach dem Aufwand,<br />

den sie um seinetwillen gemacht haben. Um eine Tugend<br />

ihnen schätzenswerth zu machen, muß man sie nöthigen<br />

— oder verführen — viel für sie aufzuwenden<br />

Wie verleidet man den Menschen ein angenehmes<br />

Laster? Nicht anders als indem man es ihnen unangenehm<br />

macht. Wie überredet man den Trunkenbold, daß der<br />

Alkohol widerlich ist? Man macht ihn widerlich, man<br />

mischt Enzian. Man muß das Laster mit — mischen: erster<br />

Kunstgriff des Moralisten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11562 id='VIII.10[39]' kgw='VIII-2.140' ksa='12.474'<br />

(170) Der Instinkt der Heerde schätzt die Mitte und das<br />

Mittlere als das Höchste und Werthvollste ab: die<br />

Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; die Art und<br />

Weise, in der sie sich daselbst befindet; damit ist er<br />

Gegner aller Rangordnung, der ein Aufsteigen von Unten<br />

nach Oben zugleich als ein Hinabsteigen von der Überzahl<br />

zur kleinsten Zahl ansieht. Die Heerde empfindet die<br />

Ausnahme, sowohl das Unter-ihr als das Über-ihr<br />

als etwas, das zu ihr sich gegnerisch und schädlich verhält.<br />

Ihr Kunstgriff in Hinsicht auf die Ausnahmen nach Oben,<br />

die Stärkeren, Mächtigeren, Weiseren, Fruchtbareren ist,<br />

sie zur Rolle der Hüter, Hirten, Wächter zu überreden —<br />

zu ihren ersten Dienern: damit hat sie eine Gefahr<br />

in einen Nutzen umgewandelt. In der Mitte hört die<br />

Furcht auf; hier ist man mit nichts allein; hier ist wenig<br />

Raum für das Mißverständniß; hier giebt es Gleichheit;<br />

hier wird das eigne Sein nicht als Vorwurf empfunden,<br />

sondern als das rechte Sein; hier herrscht die Zufriedenheit.<br />

Das Mißtrauen gilt den Ausnahmen; Ausnahme


sein gilt als Schuld.<br />

Page Break KGW='VIII-2.141' KSA='12.475'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11563 id='VIII.10[40]' kgw='VIII-2.141' ksa='12.475'<br />

(171) Würde irgend ein Ring in der ganzen Kette von Kunst<br />

und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das Werk<br />

des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu<br />

— sie beweist die Regel — das Weib bringt es in Allem<br />

zur Vollkommenheit, was nicht ein Werk ist, in Brief,<br />

in Memoiren(1553) selbst in der delikatesten Handarbeit, die<br />

es giebt, kurz in allem, was nicht ein Metier ist, genau<br />

deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit<br />

jenem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den es besitzt, —<br />

es will gefallen … Aber was hat das Weib mit der<br />

leidenschaftlichen Indifferenz des ächten Künstlers zu<br />

schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsasa<br />

mehr Wichtigkeit zugesteht als sich selbst? der mit allen<br />

fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift?<br />

der keinem Dinge einen Werth zugesteht, es sei denn, daß<br />

es Form zu werden weiß ( — daß es sich preisgiebt, daß es<br />

sich öffentlich macht — ) Die Kunst, so wie der Künstler<br />

sie übt — begreift ihr's denn nicht, was sie ist: ein<br />

Attentat auf alle pudeurs? … Erst mit diesem Jahrhundert<br />

hat das Weib jene Schwenkung zur Litteratur gewagt<br />

( — vers la canaille plumière écrivassière, mit dem alten<br />

Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es<br />

verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11564 id='VIII.10[41]' kgw='VIII-2.141' ksa='12.475'<br />

der Gipfel der modernen Lyrik, von zwei Bruder-Genies<br />

erstiegen, von Heinrich Heine und Alfred de Musset<br />

unsre Unsterblichen — wir haben nicht zuviel: Alfred de<br />

Musset, Heinrich Heine, p. 267.<br />

Schiller war ein Theater-Maestro: aber was geht uns das<br />

Theater an!<br />

Page Break KGW='VIII-2.142' KSA='12.476'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11565 id='VIII.10[42]' kgw='VIII-2.142' ksa='12.476'<br />

(172) Hauptsatz. In wiefern der vollkommene<br />

Nihilism die nothwendige Folge der bisherigen Ideale


ist.<br />

— der unvollständige Nihilism, seine Formen:<br />

wir leben mitten drin<br />

— die Versuche, dem Nihilismus(1554) zu<br />

entgehn, ohne jene Werthe umzuwerthen: bringen das<br />

Gegentheil hervor, verschärfen das Problem.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11566 id='VIII.10[43]' kgw='VIII-2.142' ksa='12.476'<br />

(173) Der vollkommene Nihilist — das Auge des<br />

Nihilisten(1555), das ins Häßliche idealisirt, das<br />

Untreue übt gegen seine Erinnerungen ( — es läßt sie fallen,<br />

sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse<br />

Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und<br />

Vergangenes gießt; und was er gegen sich nicht übt, das übt<br />

er auch gegen die ganze Vergangenheit des Menschen(1556)<br />

nicht, — er läßt sie fallen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11567 id='VIII.10[44]' kgw='VIII-2.142' ksa='12.476'<br />

(174) Was wird aus dem Menschen, der keine Gründe mehr<br />

hat, sich zu wehren und anzugreifen? Was bleibt von<br />

seinen Affekten übrig, wenn die ihm abhanden kommen,<br />

in denen er seine Wehr und seine Waffe hat?<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11568 id='VIII.10[45]' kgw='VIII-2.142' ksa='12.476'<br />

(175) Man soll das Reich der Moralität Schritt für Schritt<br />

verkleinern und eingrenzen; man soll die Namen für die<br />

eigentlichen hier arbeitenden Instinkte an's Licht ziehen<br />

und zu Ehren bringen, nachdem sie die längste Zeit unter<br />

heuchlerischen Tugendnamen versteckt wurden; man soll<br />

aus Scham vor seiner immer gebieterischer redenden<br />

„Redlichkeit“ die Scham verlernen, welche die natürlichen<br />

Page Break KGW='VIII-2.143' KSA='12.477'<br />

Instinkte verleugnen und weglügen möchte. Es ist ein Maaß<br />

der Kraft, wie weit man sich der Tugend entschlagen kann;<br />

und es wäre eine Höhe zu denken, wo der Begriff<br />

„Tugend“ so umempfunden wäre, daß er wie virtù klänge,<br />

Renaissance-Tugend, moralinfreie Tugend. Aber einstweilen<br />

— wie fern sind wir noch von diesem Ideale!<br />

Die Gebiets-Verkleinerung der Moral:<br />

ein Zeichen ihres Fortschritts. Überall, wo man noch nicht


causal zu denken vermocht hat, dachte man moralisch.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11569 id='VIII.10[46]' kgw='VIII-2.143' ksa='12.477'<br />

(176) Zur Entnatürlichung der Moral. Daß man<br />

die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den<br />

Haß oder die Verachtung gegen die „Sünde“ wendet; daß<br />

man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder<br />

schlecht sind.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11570 id='VIII.10[47]' kgw='VIII-2.143' ksa='12.477'<br />

(177) Wiederherstellung der „Natur“: eine<br />

Handlung an sich ist vollkommen leer an Werth: es kommt<br />

Alles darauf an, wer sie thut. Ein und dasselbe „Verbrechen“<br />

kann im einen Fall das höchste Vorrecht, im andern<br />

das Brandmal sein. Thatsächlich ist es die Selbstsucht der<br />

Urtheilenden, welche eine Handlung resp. ihren Thäter<br />

auslegt im Verhältniß zum eigenen Nutzen oder Schaden<br />

( — oder im Verhältniß zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft<br />

mit sich.)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11571 id='VIII.10[48]' kgw='VIII-2.143' ksa='12.477'<br />

Welche Zeit, wo man den Regen von der Gottheit verlangt,<br />

wo man mit dem Gebet auf sie nach Art eines diuretischen<br />

Mittels zu wirken glaubt!<br />

Page Break KGW='VIII-2.144' KSA='12.478'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11572 id='VIII.10[49]' kgw='VIII-2.144' ksa='12.478'<br />

(178) Zum Idealism der Selbstverächter.<br />

„Glaube“ oder „Werke“? — Aber daß zum<br />

„Werke“, zur Gewohnheit bestimmter Werke sich eine<br />

bestimmte Werthschätzung und endlich Gesinnung<br />

hinzuerzeugt, ist ebenso natürlich, als es unnatürlich ist,<br />

daß aus einer bloßen Werthschätzung „Werke“ hervorgehn.<br />

Man muß sich üben, nicht in der Verstärkung<br />

von Werthgefühlen, sondern im Thun; man muß erst<br />

etwas können … Der christliche Dilettantismus<br />

Luthers. Der Glaube ist eine Eselsbrücke. Der Hintergrund<br />

ist eine tiefe Überzeugung, das instinktive Bewußtsein


ebenso, Luthers und seines Gleichen von ihrer Unfähigkeit<br />

zu christlichen Werken, eine persönliche Thatsache,<br />

verhüllt unter einem extremen Mißtrauen darüber, ob nicht<br />

überhaupt jedwedes Thun Sünde und vom Teufel ist:<br />

so daß der Werth der Existenz auf einzelne hochgespannte<br />

Zustände der Unthätigkeit fällt (Gebet, Effusion<br />

usw.) — Zuletzt hätte er Recht: die Instinkte, welche sich<br />

im ganzen Thun der Reformatoren ausdrücken, sind die<br />

brutalsten, die es giebt. Nur in der absoluten Wegwendung<br />

von sich, in der Versenkung in den Gegensatz,<br />

nur als Illusion („Glaube“) war ihnen das Dasein<br />

auszuhalten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11573 id='VIII.10[50]' kgw='VIII-2.144' ksa='12.478'<br />

(179) Das Verbrechen gehört unter den Begriff: „Aufstand<br />

wider die gesellschaftliche Ordnung“. Man „bestraft“<br />

einen Aufständischen nicht: man unterdrückt ihn.<br />

Ein Aufständischer kann ein erbärmlicher und verächtlicher<br />

Mensch sein: an sich ist an einem Aufstande nichts<br />

zu verachten — und in Hinsicht auf unsere Art Gesellschaft<br />

aufständisch zu sein, erniedrigt an sich noch nicht<br />

den Werth eines Menschen. Es giebt Fälle, wo man einen<br />

Page Break KGW='VIII-2.145' KSA='12.479'<br />

solchen Aufständischen darum selbst zu ehren hätte, weil<br />

er an unsrer Gesellschaft Etwas empfindet, gegen das der<br />

Krieg noth thut: wo er uns aus dem Schlummer weckt.<br />

Damit, daß der Verbrecher etwas Einzelnes thut an<br />

einem Einzelnen, ist nicht widerlegt, daß sein ganzer<br />

Instinkt gegen die ganze Ordnung im Kriegszustande ist:<br />

die That als bloßes Symptom<br />

Man soll den Begriff der Strafe reduziren auf den<br />

Begriff: Niederwerfung eines Aufstandes, Sicherheitsmaaßregeln<br />

gegen den Niedergeworfenen (ganze oder halbe<br />

Gefangenschaft) Aber man soll nicht Verachtung durch<br />

die Strafe ausdrücken: ein Verbrecher ist jedenfalls ein<br />

Mensch, der sein Leben, seine Ehre, seine Freiheit risquirt<br />

— ein Mann des Muths. Man soll insgleichen nicht die<br />

Strafe als Buße nehmen; oder als eine Abzahlung, wie als<br />

ob es ein Tauschverhältniß gäbe zwischen Schuld und<br />

Strafe, — die Strafe reinigt nicht, denn das Verbrechen<br />

beschmutzt nicht.<br />

Man soll dem Verbrecher die Möglichkeit nicht<br />

abschließen, seinen Frieden mit der Gesellschaft zu machen:<br />

gesetzt, daß er nicht zur Rasse des Verbrecherthums<br />

gehört. In letzterem Falle soll man ihm den<br />

Krieg machen, noch bevor er etwas Feindseliges gethan


hat (erste Operation, sobald man ihn in der Gewalt hat:<br />

ihn kastriren).<br />

Man soll dem Verbrecher nicht seine schlechten<br />

Manieren, noch den niedrigen Stand seiner Intelligenz zum<br />

Nachtheil anrechnen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß er<br />

sich selbst mißversteht: namentlich ist sein revoltirter<br />

Instinkt, die rancune des déclassé oft nicht sich zum<br />

Bewußtsein gelangt, faute de lecture; daß er unter dem Eindruck<br />

der Furcht, des Mißerfolgs seine That verleumdet und<br />

verunehrt: von jenen Fällen noch ganz abgesehn, wo,<br />

psychologisch nachgerechnet, der Verbrecher einem unverstandnen<br />

Page Break KGW='VIII-2.146' KSA='12.480'<br />

Triebe nachgiebt und seiner That durch eine Nebenhandlung<br />

ein falsches Motiv unterschiebt (etwa durch eine<br />

Beraubung, während es ihm am Blute lag …)<br />

Man soll sich hüten, den Werth eines Menschen nach<br />

einer einzelnen That zu behandeln. Davor hat Napoleon<br />

gewarnt. Namentlich sind die Hautrelief-Thaten ganz<br />

besonders insignificant. Wenn unser Einer kein Verbrechen<br />

z.B. keinen Mord auf dem Gewissen hat — woran liegt<br />

es? Daß uns ein Paar begünstigende Umstände dafür<br />

gefehlt haben. Und thäten wir es, was wäre damit an unserm<br />

Werthe bezeichnet? Wäre unser Werth verringert, wenn<br />

wir ein paar Verbrechen begiengen? Im Gegentheil: es ist<br />

nicht Jeder im Stande, ein paar Verbrechen zu begehen. An<br />

sich würde man uns verachten, wenn man uns nicht die<br />

Kraft zutraute, unter Umständen einen Menschen zu<br />

tödten. Fast in allen Verbrechen drücken sich zugleich<br />

Eigenschaften aus, welche an einem Manne nicht fehlen<br />

sollen. Nicht mit Unrecht hat Dostoiewsky von den<br />

Insassen jener sibirischen Zuchthäuser gesagt, sie bildeten<br />

den stärksten und werthvollsten Bestandtheil des russischen<br />

Volkes. Wenn bei uns der Verbrecher eine schlecht<br />

ernährte und verkümmerte Pflanze ist, so gereicht dies<br />

unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zur Unehre; in der<br />

Zeit der Renaissance gedieh der Verbrecher und erwarb<br />

sich seine eigne Art von Tugend, — Tugend im Renaissancestile<br />

freilich, virtù, moralinfreie Tugend.<br />

Man vermag nur solche Menschen in die Höhe zu(1557)<br />

bringen, die man nicht mit Verachtung behandelt; die<br />

moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und<br />

Schädigung als irgend ein Verbrechen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11574 id='VIII.10[51]' kgw='VIII-2.146' ksa='12.480'<br />

(180) die großen Erotiker des Ideals, die Heiligen der<br />

transfigurirten und unverstandenen Sinnlichkeit, jene typischen


Page Break KGW='VIII-2.147' KSA='12.481'<br />

Apostel der „Liebe“ (wie Jesus von Nazareth, der heilige<br />

Franz von Assisi, der heilige François de Paule): bei ihnen<br />

geht der fehlgreifende Geschlechtstrieb aus Unwissenheit<br />

gleichsam in die Irre, bis er sich endlich noch an Phantomen<br />

befriedigen muß: an „Gott“, am „Menschen“, an der<br />

„Natur“. (Diese Befriedigung selbst ist nicht bloß eine<br />

scheinbare: sie vollzieht sich bei den Ekstatikern der „unio<br />

mystica“, wie sehr auch immer außerhalb ihres Wollens<br />

und „Verstehens“, nicht ohne die physiologischen<br />

Begleitsymptome der sinnlichsten und naturgemäßesten<br />

Geschlechtsbefriedigung.)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11575 id='VIII.10[52]' kgw='VIII-2.147' ksa='12.481'<br />

(181) Der Nihilism der Artisten<br />

Die Natur grausam durch ihre Heiterkeit; cynisch mit<br />

ihren Sonnenaufgängen<br />

wir sind feindselig gegen Rührungen<br />

man flüchtet dorthin, wo die Natur unsere Sinne und<br />

unsere Einbildungskraft bewegt; wo wir nichts zu lieben<br />

haben, wo wir nicht an die moralischen Scheinbarkeiten<br />

und Delikatessen dieser nordischen Natur erinnert werden;<br />

— und so auch in den Künsten. Wir ziehen vor, was nicht<br />

mehr uns an „gut und böse“ erinnert. Unsere moralistische<br />

Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit ist wie erlöst in einer<br />

furchtbaren und glücklichen Natur, im Fatalism der Sinne<br />

und der Kräfte. Das Leben ohne Güte<br />

die Wohlthat besteht im Anblick der großartigen<br />

Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse<br />

keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in<br />

der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist,<br />

dorthin in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit<br />

selber noch mit großartiger Naivetät sich zeigt, wo gerade<br />

die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt …<br />

und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse<br />

Page Break KGW='VIII-2.148' KSA='12.482'<br />

und indifferente Charakter sich nicht verhehlt, wo sie den<br />

Charakter der Vollkommenheit darstellt …<br />

Der nihilistische Künstler verräth sich<br />

im Willen und Vorzuge der cynischen Geschichte,<br />

der cynischen Natur.


<strong>Aphorism</strong> n=11576 id='VIII.10[53]' kgw='VIII-2.148' ksa='12.482'<br />

(182) Die Vernatürlichung des Menschen<br />

im 19. Jahrhundert<br />

(das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit<br />

und der généreux sentiments)<br />

Nicht „Rückkehr zur Natur“: denn es gab noch<br />

niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und<br />

wider-natürlicher Werthe ist die Regel, ist der Anfang;<br />

zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe — er<br />

kehrt nie „zurück“ … Die Natur: d.h. es wagen,<br />

unmoralisch zu sein wie die Natur.<br />

Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse<br />

Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.<br />

Natürlicher ist unsere erste Gesellschaft, die<br />

der Reichen, der Müssigen: man macht Jagd auf einander,<br />

die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe<br />

ein Hinderniß und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich<br />

und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die<br />

körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und<br />

gewagt<br />

Natürlicher ist unsere Stellung zur Erkenntniß:<br />

wir haben den libertinage des Geistes in aller Unschuld,<br />

wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir<br />

ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein<br />

Interesse der Erkenntniß, wenn wir uns auf dem Wege zu<br />

ihr zu langweilen hätten.<br />

Natürlicher ist unsere Stellung zur Moral. Principien<br />

sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne<br />

Page Break KGW='VIII-2.149' KSA='12.483'<br />

Ironie mehr von seiner „Pflicht“ zu reden. Aber man<br />

schätzt eine hülfreiche wohlwollende Gesinnung ( — man<br />

sieht im Instinkt die Moral und dedaignirt den<br />

Rest — ) Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe.<br />

Natürlicher ist unsere Stellung in politicis: wir<br />

sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen<br />

ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das<br />

nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden<br />

alle Rechte als Eroberungen.<br />

Natürlicher ist unsere Schätzung großer Menschen<br />

und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als<br />

ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes<br />

Verbrechen einbegriffen ist; wir concipiren alles Groß-sein<br />

als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.<br />

Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir<br />

lieben sie nicht mehr um ihrer „Unschuld“ „Vernunft“<br />

„Schönheit“ willen, wir haben sie hübsch „verteufelt“<br />

und „verdummt“. Aber statt sie darum zu verachten,<br />

fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr.


Sie aspirirt nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.<br />

Natürlicher ist unsere Stellung zur Kunst: wir<br />

verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es<br />

herrscht der brutale Positivismus, welcher constatirt, ohne<br />

sich zu erregen.<br />

In summa: es giebt Anzeichen dafür, daß der<br />

Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner<br />

Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht,<br />

sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine<br />

Unmoralität einzugestehn, ohne Erbitterung: im<br />

Gegentheil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch<br />

auszuhalten.<br />

Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die<br />

Corruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der<br />

Mensch sich nicht der „Natur“ angenähert hat, von der<br />

Page Break KGW='VIII-2.150' KSA='12.484'<br />

Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der<br />

Civilisation gemacht hat(1558), welche er perhorreszirte. Wir<br />

haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert<br />

wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes<br />

namentlich (Dancourt Le Sage Regnard).<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11577 id='VIII.10[54]' kgw='VIII-2.150' ksa='12.484'<br />

(183) Der Protestantism, jene geistig unreinliche und langweilige<br />

Form der décadence, in der das Christenthum sich<br />

bisher im mediokren Norden zu conserviren gewußt hat:<br />

als etwas Halbes und Complexes werthvoll für die<br />

Erkenntniß, insofern es Erfahrungen verschiedener Ordnung<br />

und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbrachte<br />

Werth der complexen Gebilde, des seelischen<br />

Mosaiks, selbst des ungeordneten und vernachlässigten<br />

Haushalts der Intelligenz<br />

das homöopathische Christenthum, das<br />

der protestantischen Landpfarrer<br />

der unbescheidene Protestantismus, der<br />

der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11578 id='VIII.10[55]' kgw='VIII-2.150' ksa='12.484'<br />

(184) — Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein Philosoph<br />

schweigt; es kann Liebe sein, wenn er sich selbst<br />

widerspricht; es ist eine Göttlichkeit des Erkennenden<br />

möglich, welche lügt …<br />

Man hat einmal nicht ohne Feinheit gesagt: „il est


indigne de grands coeurs de répandre le trouble, qu'ils<br />

ressentent“: nur muß man hinzufügen, daß vor dem<br />

Unwürdigsten sich nicht zu fürchten ebenfalls<br />

Größe des Herzens sein kann … Ein Weib, das liebt,<br />

opfert seine Ehre …; ein Erkennender, welcher „liebt“,<br />

opfert seine Rechtschaffenheit; ein Gott welcher liebt,<br />

wird Jude…<br />

Page Break KGW='VIII-2.151' KSA='12.485'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11579 id='VIII.10[56]' kgw='VIII-2.151' ksa='12.485'<br />

Wie viel verdrießliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit,<br />

Schlafrock, wie viel „Bier“ in der deutschen Intelligenz! Der<br />

Alkoholism der deutschen gelehrten Jugend ist beinahe eine<br />

Schändung und jedenfalls ein gründliches Fragezeichen in Hinsicht<br />

der Geistigkeit; die sanfte Entartung, welche das Bier<br />

hervorbringt: ich habe einmal in einem berühmt berüchtigt<br />

gewordenen Falle den Finger darauf geführt (die Entartung Straußens<br />

zum Verfasser des „alten und neuen Glaubens“) Man hat jederzeit<br />

die deutschen Gelehrten, die „Geist“ haben, an den Fingern<br />

abzählen können ( — und es genügt nicht, ihn zu haben, man<br />

muß ihn erst noch sich nehmen, von sich Geist herausnehmen …):<br />

die übrigen Gelehrten haben Verstand und Einige von<br />

ihnen, glücklicher Weise, jenes berühmte „kindliche Gemüth“,<br />

welches ahnt … Es ist unser Vorrecht: mit der „Ahnung“ hat<br />

die deutsche Wissenschaft Dinge entdeckt, welche man schwer<br />

greifen kann und die überhaupt vielleicht nicht existiren. Man<br />

muß beinahe Jude sein, um als Deutscher nicht zu ahnen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11580 id='VIII.10[57]' kgw='VIII-2.151' ksa='12.485'<br />

(185) Geschichte der Vermoralisirung<br />

und Entmoralisirung.<br />

Erster Satz: es giebt gar keine moralischen<br />

Handlungen: sie sind vollkommen eingebildet.<br />

Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind<br />

(was z.B. Kant zugab und das Christenthum insgleichen)<br />

— sondern sie sind gar nicht möglich. Man hat<br />

einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden,<br />

durch ein psychologisches Mißverständniß, und glaubt eine<br />

andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein<br />

primum mobile fingirt, das gar nicht existirt. Nach der<br />

Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz „moralisch“<br />

und „unmoralisch“ aufgebracht hat, muß man sagen:<br />

Page Break KGW='VIII-2.152' KSA='12.486'


es giebt nur unmoralische Absichten<br />

und Handlungen.<br />

Zweiter Satz. Diese ganze Unterscheidung „moralisch“<br />

und „unmoralisch“ geht davon aus, daß sowohl die<br />

moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien<br />

Spontaneität sind, — kurz daß es eine solche giebt, oder<br />

anders ausgedrückt: daß die moralische Beurtheilung<br />

überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und<br />

Handlungen bezieht, die freien.<br />

Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen<br />

ist rein imaginär; die Welt, auf welche der moralische<br />

Maaßstab allein anlegbar ist, existirt gar nicht<br />

es giebt weder moralische, noch unmoralische<br />

Handlungen.<br />

Der psychologische Irrthum, aus dem der<br />

Gegensatz-Begriff „moralisch“ und „unmoralisch“<br />

entstanden ist.<br />

„selbstlos“, „unegoistisch“, „selbstverleugnend“ —<br />

alles unreal, fingirt.<br />

Fehlerhafter Dogmatism in Betreff des „ego“: dasselbe<br />

als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz<br />

zum „Nicht-ich“; insgleichen aus dem Werden herausgelöst,<br />

als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisirung<br />

des Ich: diese (in dem Glauben an die<br />

individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck<br />

religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel<br />

gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und<br />

An-und-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen<br />

Werth-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das<br />

Einzel-ego und das ungeheure Nicht-ich. Es<br />

schien handgreiflich, daß der Werth des Einzel-ego nur<br />

darin liegen könne, sich auf das ungeheure „Nicht-ich“ zu<br />

beziehn resp. sich ihm unterzuordnen und um seinetwillen<br />

Page Break KGW='VIII-2.153' KSA='12.487'<br />

zu existiren. — Hier waren die Heerden-Instinkte<br />

bestimmend: nichts geht so sehr wider diese<br />

Instinkte als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber,<br />

das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein<br />

Werth in der Selbst-Verneinung liegen.<br />

Also: 1) die falsche Verselbständigung des<br />

„Individuums“ als Atom<br />

2) die Heerden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen<br />

perhorrescirt und als feindlich empfindet<br />

3) als Folgerung: Überwindung des Individuums durch<br />

Verlegung seines Ziels<br />

4) Nun schien es Handlungen zu geben, welche<br />

selbstverneinend waren: man phantasirte um sie


eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum.<br />

5) man fragte: in welchen Handlungen bejaht<br />

sich der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit,<br />

Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde<br />

der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man<br />

glaubte, daß es unselbstische Triebe giebt, man<br />

verwarf alle selbstischen man verlangte die unselbstischen<br />

6) Folge davon: was hatte man gethan? Man hatte die<br />

stärksten natürlichsten, mehr noch die einzig realen<br />

Triebe in Bann gethan — man mußte, um eine Handlung<br />

fürderhin lobenswerth zu finden, in ihr die Anwesenheit<br />

solcher Triebe leugnen<br />

ungeheure Fälscherei in psychologicis.<br />

Selbst jede Art „Selbstzufriedenheit“ hatte sich erst<br />

dadurch wieder möglich zu machen, daß man sie sub specie<br />

boni mißverstand und zurecht legte.<br />

Umgekehrt: jene species, welche ihren Vortheil davon<br />

hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen<br />

(die Repräsentanten des Heerden-Instinkts z.B. die Priester<br />

und Philosophen) wurde fein und psychologisch-scharfsichtig,<br />

Page Break KGW='VIII-2.154' KSA='12.488'<br />

zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht<br />

herrsche. Christlicher Schluß: „Alles ist Sünde; auch<br />

unsere Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen.<br />

Die selbstlose Handlung ist nicht möglich“. Erbsünde.<br />

Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz<br />

zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht<br />

hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig,<br />

Handlungen zu thun, welche „gut“ sind.<br />

NB. Das Christenthum bezeichnet damit einen Fortschritt<br />

in der psychologischen Verschärfung des Blicks:<br />

La Rochefoucauld und Pascal. Es begriff die<br />

Wesensgleichheit der menschlichen Handlungen<br />

und ihre Werth-Gleichheit in der Hauptsache ( — alle<br />

unmoralisch)<br />

Nun machte man Ernst, Menschen zu bilden, in<br />

denen die Selbstsucht getödtet ist — die Priester, die<br />

Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit,<br />

„vollkommen“ zu werden, man zweifelte nicht,<br />

zu wissen, was vollkommen ist.<br />

Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des „guten<br />

Menschen“ mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen.<br />

Man hatte die wirklichen Motive des Handelns<br />

für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt noch<br />

handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können,<br />

Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich<br />

beschreiben und gleichsam heiligen. Mit derselben<br />

Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man<br />

nunmehr verehrt und veridealisirt.


Das Wüthen gegen die Instinkte des Lebens als<br />

„heilig“, verehrungswürdig.<br />

Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die<br />

absolute Armut: priesterliches Ideal.<br />

Almosen, Mitleiden; Aufopferung, Ritterthum;<br />

Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit;<br />

Page Break KGW='VIII-2.155' KSA='12.489'<br />

moroser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat:<br />

Laien-Ideal.<br />

Man kommt vorwärts: die verleumdeten<br />

Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z.B.<br />

Luthers Reformation: gröbste Form der moralischen(1559)<br />

Verlogenheit unter der „Freiheit des Evangeliums“) —<br />

man tauft sie um auf heilige Namen.<br />

: die verleumdeten Instinkte suchen sich<br />

als nothwendig zu beweisen, damit die Tugendhaften<br />

überhaupt möglich sind: man muß vivre, pour<br />

vivre pour autrui. Egoismus als Mittel zum Zweck…<br />

: man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen<br />

als den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu<br />

geben: Gleichheit der Rechte für die einen, wie für die<br />

anderen (vom Gesichtspunkt des Nutzens)<br />

: man geht weiter, man sucht die höhere Nützlichkeit<br />

in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes<br />

gegenüber dem altruistischen, nutzlosen in Hinsicht<br />

auf das Glück der Meisten, oder die Förderung der<br />

Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des<br />

Ego, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive<br />

(„Gesammt-Nutzen der Menschheit“)<br />

: man sucht die altruistische Handlungsweise<br />

mit der Natürlichkeit zu versöhnen, man sucht das<br />

Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man sucht das<br />

Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im<br />

Wesen des Lebens und der Natur.<br />

: man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes<br />

in irgend einer Zukunft, wo, durch fortgesetzte<br />

Anpassung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische<br />

ist …<br />

: endlich, man begreift, daß die altruistischen<br />

Handlungen nur eine species der egoistischen sind, — und<br />

daß der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein<br />

Page Break KGW='VIII-2.156' KSA='12.490'<br />

Beweis ist für den Grad einer individuellen Macht und<br />

Personalität. Kurz, daß man, indem man<br />

den Menschen böser macht, ihn besser<br />

macht, — und daß man das Eine, nicht ohne das Andere<br />

ist … Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren


Fälschung der Psychologie der bisherigen<br />

Moralen(1560).<br />

Folgerungen: es giebt nur unmoralische Absichten<br />

und Handlungen<br />

die sogenannten moralischen sind also als<br />

Unmoralitäten nachzuweisen.<br />

( — dies die Aufgabe vom Tractatus politicus)<br />

( — die Ableitung aller Affekte aus dem Einen Willen<br />

zur Macht: wesensgleich<br />

( — der Begriff des Lebens — es drücken sich in dem<br />

anscheinenden Gegensatz (von „gut und böse“) Machtgrade<br />

von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung,<br />

unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden<br />

oder in Dienst genommen werden<br />

( — Rechtfertigung der Moral: ökonomisch usw.<br />

Gegen den zweiten Satz. Der Determinismus:<br />

Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch, daß<br />

man sie translocirt — ins Unbekannte. Der Determinismus<br />

ist nur ein modus, unsere Werthschätzungen eskamotiren<br />

zu dürfen, nachdem sie in der mechanistischgedachten<br />

Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den<br />

Determinismus angreifen und unterminiren:<br />

insgleichen unser Recht zu einer Scheidung einer<br />

An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11581 id='VIII.10[58]' kgw='VIII-2.156' ksa='12.490'<br />

(186) Im ersten Buch: der Nihilism als Consequenz<br />

der idealen Werthe<br />

Problem der Civilisation<br />

Page Break KGW='VIII-2.157' KSA='12.491'<br />

das 19. Jahrhundert, seine<br />

Zweideutigkeit:<br />

Es fehlt bisher die Freiheit<br />

von der Moral. Pessimisten<br />

sind Revolter des<br />

moralischen Pathos<br />

Die Moral als Ursache des Pessimismus<br />

der Pessimismus als Vorform des Nihilism<br />

Im zweiten Buch: Geschichte der Vermoralisirung wie man die Tugend zur<br />

Herrschaft bringt<br />

Moral als Circe der Philosophen<br />

Im dritten Buch: Das Problem der Wahrheit<br />

Im vierten Buch: Geschichte der höheren<br />

Typen, nachdem wir die Welt<br />

entgottet haben<br />

die Mittel, um eine Kluft auf


zu reißen: Rangordnung<br />

Ideal der weltbejahendsten Lehre<br />

das tragische Zeitalter.<br />

die psychologische Naivität in dem Ideale Gott<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11582 id='VIII.10[59]' kgw='VIII-2.157' ksa='12.491'<br />

(187) Die Rangordnung der Menschen-Werthe.<br />

a) man soll einen Menschen nicht nach einzelnen<br />

Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts<br />

ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand,<br />

ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall —<br />

Alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Thun<br />

aus, als eine „Person“.<br />

b) man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele<br />

Menschen „Personen“ sind. Und dann sind Manche auch<br />

Page Break KGW='VIII-2.158' KSA='12.492'<br />

mehrere Personen, die Meisten sind keine. Überall,<br />

wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf<br />

die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein<br />

eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn,<br />

nach einer „Person“ zu verlangen. Es sind Träger,<br />

Transmissions-Werkzeuge.<br />

c) die „Person“ ein relativ isolirtes Faktum; in<br />

Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses<br />

und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas<br />

Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört<br />

eine zeitige Isolirung, ein Zwang zu einer Wehr- und<br />

Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere<br />

Kraft des Abschlusses; und, vor Allem, eine viel<br />

geringere Impressionabilität, als sie der mittlere<br />

Mensch, dessen Menschlichkeit contagiös ist, hat<br />

Erste Frage in Betreff der Rangordnung:<br />

wie solitär oder wie heerdenhaft Jemand ist<br />

(im letzteren Falle liegt sein Werth in den Eigenschaften,<br />

die den Bestand seiner Heerde, seines Typus sichern,<br />

im anderen Falle in dem, was ihn abhebt, isolirt,<br />

vertheidigt und solitär ermöglicht.<br />

Folgerung: man soll den solitären Typus nicht<br />

abschätzen nach dem heerdenhaften, und den heerdenhaften<br />

nicht nach dem solitären<br />

Aus der Höhe betrachtet: sind beide nothwendig;<br />

insgleichen ist ihr Antagonism nothwendig, — und nichts<br />

ist mehr zu verbannen als jene „Wünschbarkeit“, es möchte<br />

sich etwas Drittes aus Beiden entwickeln („Tugend“<br />

als Hermaphroditismus). Das ist so wenig „wünschbar“,<br />

als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das


Typische fortentwickeln die Kluft immer<br />

tiefer aufreißen …<br />

Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn<br />

die Heerde den Eigenschaften der solitären Wesen sich<br />

Page Break KGW='VIII-2.159' KSA='12.493'<br />

nähert, und diese den Eigenschaften der Heerde, — kurz,<br />

wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung<br />

ist abseits von der moralischen(1561) Beurtheilung.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11583 id='VIII.10[60]' kgw='VIII-2.159' ksa='12.493'<br />

(188) Im Verhältniß zur Musik ist alle Mittheilung<br />

durch Worte von schamloser Art; das Wort verdünnt<br />

und verdummt; das Wort entpersönlicht: das Wort macht<br />

das Ungemeine gemein.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11584 id='VIII.10[61]' kgw='VIII-2.159' ksa='12.493'<br />

(189) Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat.<br />

Das Zugrundegehen und Entarten der solitären<br />

Species ist viel größer und furchtbarer: sie haben den<br />

Instinkt der Heerde, die Tradition der Werthe gegen sich;<br />

ihre Werkzeuge zur Vertheidigung, ihre Schutz-Instinkte<br />

sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug, — es<br />

gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen.<br />

( — sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich<br />

preisgegebensten Elementen am häufigsten: wenn man nach<br />

Person sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer<br />

als in den mittleren Classen!)<br />

der Stände- und Classenkampf, der auf „Gleichheit<br />

der Rechte“ abzielt. Ist er ungefähr erledigt, so geht der<br />

Kampf los gegen die Solitär-Person. In einem<br />

gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten<br />

in einer demokratischen Gesellschaft<br />

erhalten und entwickeln: dann,<br />

wenn die gröberen Vertheidigungs-Mittel nicht mehr<br />

nöthig sind, und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung,<br />

Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den<br />

Durchschnittsbedingungen gehört.<br />

Die Stärksten müssen am festesten gebunden,<br />

beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so<br />

Page Break KGW='VIII-2.160' KSA='12.494'<br />

will es der Instinkt der Heerde. Für sie ein Regime der


Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits, oder der<br />

„Pflicht“ in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr<br />

zu sich selber kommt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11585 id='VIII.10[62]' kgw='VIII-2.160' ksa='12.494'<br />

seinen Neid gegen die Geschäfts-Klugheit der Juden unter<br />

Moralitäts-Formeln zu verstecken ist antisemitisch, ist gemein,<br />

ist plump canaille<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11586 id='VIII.10[63]' kgw='VIII-2.160' ksa='12.494'<br />

Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine<br />

Gegensätze schaffen.<br />

die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern:<br />

Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11587 id='VIII.10[64]' kgw='VIII-2.160' ksa='12.494'<br />

(190) Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche<br />

die Mediokrität nicht medioker haben will und,<br />

statt an einem Ausnahme-Sein einen Trumpf zu fühlen,<br />

entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und<br />

Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen!<br />

Und die Kluft größer aufreißen! — Man soll<br />

die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch<br />

die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11588 id='VIII.10[65]' kgw='VIII-2.160' ksa='12.494'<br />

(191) NB. In wiefern die christlichen Jahrhunderte mit<br />

ihrem Pessimismus stärkere Jahrhunderte waren als das<br />

18. Jahrhundert<br />

— entsprechend das tragische Zeitalter der Griechen —<br />

schwächer, wissenschaftlicher und — — —<br />

— das 19. Jahrhundert gegen das 18. Jahrhundert —<br />

worin Erbe<br />

Page Break KGW='VIII-2.161' KSA='12.495'<br />

worin Rückgang gegen dasselbe „geist“loser


geschmackloser<br />

worin Fortschritt über dasselbe<br />

(düsterer, realistischer, stärker — )<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11589 id='VIII.10[66]' kgw='VIII-2.161' ksa='12.495'<br />

(192) Ihr Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit<br />

all seinem „Willen zur Wahrheit“ hat er sich nicht von dem<br />

Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher „Freiheit“<br />

sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist:<br />

die zweite Stufe in der Metamorphose des „Willens zur<br />

Macht“ seitens derer, denen sie fehlt. In der ersten verlangt<br />

man Gerechtigkeit von Seiten derer, welche die Macht<br />

haben. Auf der zweiten sagt man „Freiheit“ d.h. man will<br />

loskommen von denen, welche die Macht haben. Auf<br />

der dritten sagt man „gleiche Rechte“ d.h. man will,<br />

so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die<br />

Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11590 id='VIII.10[67]' kgw='VIII-2.161' ksa='12.495'<br />

ich habe nie einen Augenblick die compromittirende<br />

Mittelmäßigkeit des Protestantismus, seiner Theologen und<br />

Prediger verkannt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11591 id='VIII.10[68]' kgw='VIII-2.161' ksa='12.495'<br />

(193) Nicht die Menschen „besser“ machen, nicht zu<br />

ihnen auf irgend eine Art Moral reden, als ob „Moralität<br />

an sich“, oder eine ideale Art Mensch überhaupt gegeben<br />

sei: sondern Zustände schaffen, unter denen stärkere<br />

Menschen nöthig sind, welche ihrerseits eine<br />

Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disciplin),<br />

welche stark macht, brauchen und<br />

folglich haben werden!<br />

Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen<br />

verführen lassen: die Größe der Seele hat<br />

Page Break KGW='VIII-2.162' KSA='12.496'<br />

nichts Romantisches an sich. Und leider gar<br />

nichts Liebenswürdiges!


<strong>Aphorism</strong> n=11592 id='VIII.10[69]' kgw='VIII-2.162' ksa='12.496'<br />

(194) Sehen wir, was „der echte Christ“ mit alledem anfängt,<br />

was seinem Instinkte sich widerräth: die Beschmutzung<br />

und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden,<br />

des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des<br />

Erkennenden, des Mächtigen — in summa der ganzen<br />

Cultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute<br />

Gewissen zu nehmen …<br />

Man lese doch einmal Petronius unmittelbar nach dem<br />

neuen Testament: wie man aufathmet, wie man die verfluchte<br />

Muckerluft von sich bläst!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11593 id='VIII.10[70]' kgw='VIII-2.162' ksa='12.496'<br />

(195) eine Gesinnung, die sich „Idealismus“ nennt und die<br />

der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu<br />

sein und dem Weibe nicht, Weib zu sein. Nicht uniformiren!<br />

Uns klar machen, wie theuer eine Tugend zu stehen kommt:<br />

und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswerthes,<br />

sondern eine noble Tollheit, eine<br />

schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, stark gestimmt<br />

zu werden …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11594 id='VIII.10[71]' kgw='VIII-2.162' ksa='12.496'<br />

(196) die Weiblein, die darauf warten, bis der Priester oder<br />

der Bürgermeister ihnen die Erlaubniß giebt, ihren<br />

Geschlechtstrieb zu befriedigen und dabei das Versprechen<br />

abgeben, ihn immer nur an Einem Manne zu befriedigen<br />

daß die Befriedigung des Geschlechtstriebs<br />

und die Frage der Nachkommenschaft grundverschiedene<br />

Dinge und Interesse sind und „die Ehe“ wie<br />

alle Institutionen etwas Grundverlogenes …<br />

Page Break KGW='VIII-2.163' KSA='12.497'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11595 id='VIII.10[72]' kgw='VIII-2.163' ksa='12.497'<br />

(197) Die raffinirte Juden-Klugheit der ersten<br />

Christen<br />

Man muß sich nicht irreführen lassen: „richtet nicht“,<br />

sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was nicht<br />

ihres Glaubens ist. Indem sie Gott richten lassen, richten<br />

sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie


sich selbst: indem sie die Tugenden fordern, deren sie<br />

fähig sind, — mehr noch, die sie nöthig haben, um es<br />

auszuhalten — geben sie sich den großen Schein des<br />

Krieges und Kampfes für das Gute: während sie nur<br />

für ihre Art-Erhaltung kämpfen. Indem sie friedfertig,<br />

sanftmüthig, milde, freundlich, fröhlich mit einander sind,<br />

so gehorchen sie ihren innersten Heerdenthier-Bedürfnissen:<br />

aber die Klugheit will, daß sie das auch noch von sich<br />

fordern. So erscheint selbst das Unvermeidlichste noch<br />

als Gehorsam, Verdienst, — es mehrt das Selbstgefühl …<br />

— sich beständig verherrlichen, aber<br />

es nie sich eingestehen. Die absolute Partei-Tartüfferie,<br />

welche sich die Tugend und den Wettbewerb<br />

um die Tugend vorbehält: auch die Erkenntniß,<br />

die „Wahrheit“: auch die einstmalige Herrschaft und<br />

die Rache an allen Feinden<br />

— ach diese demüthige, keusche, milde Verlogenheit!<br />

Wer hält sie aus! … „Für uns soll unsere Tugend,<br />

unser Glück, unsere Anspruchslosigkeit zeugen!“<br />

— sich innerhalb der Welt möglich machen, sich<br />

durchsetzen: man merkt, daß sie das jüdische Blut<br />

und die Klugheit in sich haben. 1) man muß sich abscheiden,<br />

sichtbarlich 2) man muß sich als das „auserwählte<br />

Volk“ behandeln, heimlich 3) man muß nicht eine<br />

Page Break KGW='VIII-2.164' KSA='12.498'<br />

Rangordnung der Werthe ansetzen, sondern Gegensätze:<br />

„wir“ und „die Welt“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11596 id='VIII.10[73]' kgw='VIII-2.164' ksa='12.498'<br />

(198) Man lese einmal das neue Testament als Verführungs-Buch:<br />

die Tugend wird in Beschlag genommen, im<br />

Instinkt, daß man mit ihr die öffentliche Meinung für sich<br />

einnimmt<br />

und zwar die allerbescheidenste Tugend, welche das<br />

ideale Heerdenschaf anerkennt und nichts weiter (den<br />

Schafhirten eingerechnet — ): eine kleine zärtliche<br />

wohlwollende hülfreiche und schwärmerisch-vergnügte Art<br />

Tugend, welche nach außen hin absolut anspruchslos ist, —<br />

welche „die Welt“ gegen sich abgrenzt<br />

der unsinnigste Dünkel, als ob sich das Schicksal<br />

der Menschheit dergestalt um sie drehe, daß die<br />

Gemeinde auf der einen Seite das Rechte und die Welt auf<br />

der anderen das Falsche, das ewig-Verwerfliche und<br />

Verworfene sei.<br />

der unsinnigste Haß gegen Alles, was in der<br />

Macht ist: aber ohne daran zu rühren! Eine Art von


innerlicher Loslösung, welche äußerlich Alles beim<br />

Alten läßt (Dienstbarkeit und Sklaverei; aus Allem sich<br />

ein Mittel zum Dienste Gottes und der Tugend zu machen<br />

wissen)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11597 id='VIII.10[74]' kgw='VIII-2.164' ksa='12.498'<br />

das Weib: ein kleiner Feuer-Herd zwischen viel Rauch und<br />

Lüge.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11598 id='VIII.10[75]' kgw='VIII-2.164' ksa='12.498'<br />

Das Christenthum als Heerdenthier-Züchtung;<br />

die kleinen Heerdenthier-Tugenden als die Tugend ( —<br />

Zustände und Mittel der Selbsterhaltung der kleinsten Art Mensch<br />

Page Break KGW='VIII-2.165' KSA='12.499'<br />

zu Tugenden umgestempelt; das neue Testament das beste<br />

Verführungsbuch)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11599 id='VIII.10[76]' kgw='VIII-2.165' ksa='12.499'<br />

Die Ehe ist genau so viel werth, als die, welche sie schließen:<br />

also ist sie, durchschnittlich, wenig werth —; die „Ehe an sich“<br />

hat noch gar keinen Werth, — wie übrigens jede Institution.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11600 id='VIII.10[77]' kgw='VIII-2.165' ksa='12.499'<br />

(199) das Christenthum als eine Entnatürlichung<br />

der Heerden-Thier-Moral: unter absolutem Mißverständniß<br />

und Selbstverblendung<br />

die Demokratisirung ist eine natürlichere Gestalt<br />

derselben, eine weniger verlogene<br />

Thatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganz<br />

große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen<br />

zur Macht<br />

Erste Stufe: sie machen sich frei, — sie lösen sich aus,<br />

imaginär zunächst, sie erkennen sich unter einander<br />

an, sie setzen sich durch<br />

Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung,<br />

gleiche Rechte, „Gerechtigkeit“<br />

Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte ( — sie ziehen die


Vertreter der Macht auf sich hinüber)<br />

Vierte Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie<br />

haben sie …<br />

Im Christenthum sind drei Elemente zu unterscheiden:<br />

a) die Unterdrückten aller Art<br />

b) die Mittelmäßigen aller Art<br />

c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art<br />

mit dem ersten Element kämpft es gegen die politisch<br />

Vornehmen und deren Ideal<br />

mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen<br />

und Privilegirten (geistig, sinnlich — ) jeder Art<br />

Page Break KGW='VIII-2.166' KSA='12.500'<br />

mit dem dritten Element gegen den Natur-Instinkt<br />

der Gesunden und Glücklichen.<br />

wenn es zum Siege kommt, so tritt das zweite<br />

Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christenthum<br />

die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als<br />

Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als<br />

interessirt wegen der Überwältigung der Menge), — und<br />

jetzt ist es der Heerden-Instinkt, die in jedem<br />

Betracht werthvolle Mittelmaß-Natur, die ihre<br />

höchste Sanktion durch das Christenthum bekommt. Diese<br />

Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit sich zum<br />

Bewußtsein ( — gewinnt den Muth zu sich — ), daß sie auch<br />

politisch sich die Macht zugesteht …<br />

— die Demokratie ist das vernatürlichte<br />

Christenthum: eine Art „Rückkehr zur Natur“, nachdem nur<br />

durch eine extreme Antinatürlichkeit die entgegengesetzte<br />

Werthung überwunden werden konnte. — Folge:<br />

das aristokratische Ideal entnatürlichte sich<br />

nunmehr („der höhere Mensch“ „vornehm“ „Künstler“<br />

„Leidenschaft“ „Erkenntniß“ usw.) Romantik als<br />

Cultus der Ausnahme, Genie usw.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11601 id='VIII.10[78]' kgw='VIII-2.166' ksa='12.500'<br />

„méfiez-vous du premier mouvement; il est toujours généreux.“<br />

Talleyrand zu den jungen Gesandtschafts-Sekretären.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11602 id='VIII.10[79]' kgw='VIII-2.166' ksa='12.500'<br />

(200) Die jüdische Priesterschaft hatte verstanden, alles, was<br />

sie beanspruchte, als eine göttliche Satzung, als<br />

Folgeleistung gegen ein Gebot Gottes zu präsentiren …<br />

insgleichen, was dazu diente, Israel zu erhalten,


seine Existenz-Ermöglichung (z.B. eine Summe von<br />

Werken: Beschneidung, Opferkult als Centrum des<br />

nationalen Bewußtseins) nicht als Natur, sondern als „Gott“<br />

einzuführen. — Dieser Prozeß setzt sich fort;<br />

Page Break KGW='VIII-2.167' KSA='12.501'<br />

innerhalb des Judenthums, wo die Nothwendigkeit<br />

der „Werke“ nicht empfunden wurde (nämlich als<br />

Abscheidung gegen Außen) konnte eine priesterliche Art<br />

Mensch concipirt werden, die sich verhält wie die<br />

„vornehme Natur“ zum Aristokraten; eine kastenlose und<br />

gleichsam spontane Priesterhaftigkeit der Seele, welche<br />

nun, um ihren Gegensatz scharf von sich abzuheben, nicht<br />

auf die „Werke“, sondern die „Gesinnung“ den Werth<br />

legte …<br />

Im Grunde handelte es sich wieder darum, eine<br />

bestimmte Art von Seele durchzusetzen, gleichsam<br />

ein Volks-Aufstand innerhalb eines priesterlichen<br />

Volkes, — eine pietistische Bewegung von Unten<br />

(Sünder Zöllner Weiber Kranke). Jesus von Nazareth war<br />

das Zeichen, an dem sie sich erkannten. Und wieder,<br />

um an sich glauben zu können, brauchen sie eine<br />

theologische Transfiguration: nichts Geringeres als<br />

„der Sohn Gottes“ thut ihnen Noth, um sich Glauben zu<br />

schaffen … Und genau so, wie die Priesterschaft die ganze<br />

Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der<br />

Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit<br />

hier umzufälschen, damit das Christenthum als<br />

sein cardinalstes Ereigniß erscheinen könne. Diese<br />

Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judenthums entstehn:<br />

dessen Hauptthat war, Schuld und Unglück zu<br />

verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu<br />

reduziren: davon ist das Christenthum die<br />

zweite Potenz.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11603 id='VIII.10[80]' kgw='VIII-2.167' ksa='12.501'<br />

(201) diese kleinen Heerdenthier-Tugenden führen ganz und<br />

gar nicht zum „ewigen Leben“: sie dergestalt in Scene setzen,<br />

und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den,<br />

der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotzalledem<br />

Page Break KGW='VIII-2.168' KSA='12.502'<br />

das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und<br />

gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn<br />

man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit<br />

gebracht hat; man bleibt damit, günstigen Falls,


immer bloß ein kleines liebes absurdes Schaf mit Hörnern<br />

— vorausgesetzt daß man nicht vor Eitelkeit platzt nach<br />

Art der Hofprediger und durch richterliche Attitüden<br />

skandalisirt.<br />

die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die<br />

kleinen Tugenden illuminirt werden — wie als Widerglanz<br />

göttlicher Qualitäten<br />

die natürliche Absicht und Nützlichkeit jeder<br />

Tugend grundsätzlich verschwiegen; sie ist nur in<br />

Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches<br />

Vorbild werthvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und<br />

geistliche Güter (Prachtvoll: als ob sich's um's „Heil der<br />

Seele“ handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit<br />

möglichst viel schönen Gefühlen „auszuhalten“.)<br />

Zur Entnatürlichung der Moral.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11604 id='VIII.10[81]' kgw='VIII-2.168' ksa='12.502'<br />

Ersichtlich fehlt es im neuen Deutschland an Scham; selbst der<br />

kaiserliche Hof hat bis jetzt einen schlechten Willen gezeigt, sich<br />

von der Befleckung mit der verächtlichsten und compromittirendsten<br />

Ausgeburt des christlichen Muckerthums freizuhalten:<br />

wozu doch Alles auffordern dürfte — der Anstand, der gute<br />

Geschmack, die Klugheit.<br />

(Was hat mehr dem Hofe geschadet, als die Hofprediger?)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11605 id='VIII.10[82]' kgw='VIII-2.168' ksa='12.502'<br />

(202) Der Individualism ist eine bescheidene und noch<br />

unbewußte Art des „Willens zur Macht“; hier scheint<br />

es dem Einzelnen schon genug, freizukommen von<br />

einer Übermacht der Gesellschaft (sei diese die des Staates<br />

oder der Kirche …) Er setzt sich nicht als Person<br />

Page Break KGW='VIII-2.169' KSA='12.503'<br />

in Gegensatz, sondern bloß als Einzelner; er vertritt alle<br />

Einzelnen gegen die Gesammtheit. Das heißt: er setzt sich<br />

instinktiv gleich an mit jedem Einzelnen; was<br />

er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern<br />

sich als Einzelner gegen die Gesammtheit.<br />

Der Socialism ist bloß ein Agitationsmittel<br />

des Individualisten: er begreift, daß man<br />

sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesammtaktion<br />

organisiren muß, zu einer „Macht“. Aber was er will, ist<br />

nicht die Societät als Zweck des Einzelnen, sondern die<br />

Societät als Mittel zur Ermöglichung vieler


Einzelnen: — Das ist der Instinkt der Socialisten,<br />

über den sie sich häufig betrügen ( — abgesehn, daß sie,<br />

um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen) Die<br />

altruistische Moral-predigt im Dienste des Individual-Egoism:<br />

eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten<br />

Jahrhunderts.<br />

Der Anarchism ist wiederum bloß ein<br />

Agitationsmittel des Socialism; mit ihm erregt er<br />

Furcht, mit der Furcht beginnt er zu fasciniren und zu<br />

terrorisiren: vor allem — er zieht die Muthigen, die<br />

Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geiste.<br />

Trotzalledem: Der Individualismus(1562) ist die<br />

bescheidenste Stufe des Willens(1563) zur(1564) Macht(1565).<br />

Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will<br />

man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem<br />

Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne<br />

Weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seines Gleichen,<br />

— er hebt Andere von sich ab. Auf den Individualism<br />

folgt die Glieder- und(1566) Organbildung:<br />

die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend<br />

und sich als Macht bethätigend, zwischen diesen<br />

Machtcentren Reibung, Krieg, Erkenntniß beiderseitiger Kräfte,<br />

Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von<br />

Page Break KGW='VIII-2.170' KSA='12.504'<br />

Austausch der Leistungen. Am Schluß: eine Rangordnung.<br />

NB. 1. die Individuen machen sich frei<br />

2. sie treten in Kampf, sie kommen über „Gleichheit<br />

der Rechte“ überein ( — Gerechtigkeit — )<br />

als Ziel<br />

3. ist das erreicht, so treten die thatsächlichen<br />

Ungleichheiten der Kraft in eine<br />

vergrößerte Wirkung (weil im Großen Ganzen<br />

der Friede herrscht und viel kleine Kraft-Quanta<br />

schon Differenzen ausmachen, solche, die früher<br />

fast gleich null waren). Jetzt organisiren sich die<br />

Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben<br />

nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der<br />

Kampf, in milderer Form, tobt von Neuem.<br />

NB. man will Freiheit, so lange man noch nicht die<br />

Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man<br />

sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man<br />

„Gerechtigkeit“ d.h. gleiche Macht<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11606 id='VIII.10[83]' kgw='VIII-2.170' ksa='12.504'<br />

(203) Vor allem, meine Herren Tugendhaften, habt ihr keinen<br />

Vorrang vor uns: wir wollen euch die Bescheidenheit


hübsch zu Gemüthe führen: es ist ein erbärmlicher<br />

Eigennutz und Klugheit, welche euch eure Tugend<br />

anräth. Und hättet ihr mehr Kraft und Muth im Leibe,<br />

würdet ihr euch nicht dergestalt zu tugendhafter Nullität<br />

herabdrücken. Ihr macht aus euch, was ihr könnt: theils<br />

was ihr müßt — wozu euch eure Umstände zwingen —,<br />

theils was euch Vergnügen macht, theils was euch nützlich<br />

scheint. Aber, wenn ihr thut, was nur euren Neigungen<br />

gemäß ist oder was eure Nothwendigkeit von euch will<br />

oder was euch nützt, so sollt ihr euch darin weder<br />

loben dürfen, noch loben lassen! … Man<br />

Page Break KGW='VIII-2.171' KSA='12.505'<br />

ist eine gründlich kleine Art Mensch, wenn man<br />

nur tugendhaft ist: darüber soll nichts in die Irre<br />

führen! Menschen, die irgendworin in Betracht kommen,<br />

waren noch niemals solche Tugend-esel: ihr innerster<br />

Instinkt, der ihres Quantums Macht, fand dabei nicht seine<br />

Rechnung: während eure Minimalität an Macht nichts<br />

weiser erscheinen läßt als Tugend. Aber ihr habt die Zahl<br />

für euch: und insofern ihr tyrannisirt, wollen wir<br />

euch den Krieg machen …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11607 id='VIII.10[84]' kgw='VIII-2.171' ksa='12.505'<br />

(204) Der heuchlerische Anschein, mit dem alle<br />

bürgerlichen Ordnungen übertüncht sind, wie als ob sie<br />

Ausgeburten der Moralität wären … z.B. die<br />

Ehe; die Arbeit; der Beruf; das Vaterland; die Familie;<br />

die Ordnung; das Recht. Aber da sie insgesammt auf die<br />

mittelmäßigste Art Mensch hin begründet sind, zum<br />

Schutz gegen Ausnahmen und Ausnahme-Bedürfnisse, so<br />

muß man es billig finden, wenn hier viel gelogen wird.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11608 id='VIII.10[85]' kgw='VIII-2.171' ksa='12.505'<br />

(205) Ein tugendhafter Mensch ist schon deshalb<br />

eine niedrigere species, weil er keine „Person“ ist,<br />

sondern seinen Werth dadurch erhält, einem Schema<br />

Mensch gemäß zu sein, das ein-für-alle Mal aufgestellt ist.<br />

Er hat nicht seinen Werth a parte: er kann verglichen<br />

werden, er hat seines Gleichen, er soll nicht einzeln sein …<br />

Rechnet die Eigenschaften des guten Menschen nach,<br />

weshalb thun sie uns wohl? Weil wir keinen Krieg nöthig<br />

haben, weil er kein Mißtrauen, keine Vorsicht, keine<br />

Sammlung und Strenge uns auferlegt: unsere Faulheit,


Gutmüthigkeit, Leichtsinnigkeit macht sich einen guten<br />

Tag. Dieses unser Wohlgefühl ist es, das wir aus<br />

uns heraus projiziren und dem guten Menschen<br />

als Eigenschaft, als Werth zurechnen.<br />

Page Break KGW='VIII-2.172' KSA='12.506'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11609 id='VIII.10[86]' kgw='VIII-2.172' ksa='12.506'<br />

(206) Ich liebe es durchaus nicht an jenem Jesus von Nazareth<br />

oder an seinem Apostel Paulus, daß sie den kleinen<br />

Leuten so viel in den Kopf gesetzt haben,<br />

als ob es etwas auf sich habe mit ihren bescheidenen<br />

Tugenden. Man hat es zu theuer bezahlen müssen: denn sie<br />

haben die werthvolleren Qualitäten von Tugend und<br />

Mensch in Verruf gebracht, sie haben das schlechte<br />

Gewissen und das Selbstgefühl der vornehmen Seele gegen<br />

einander gesetzt, sie haben die tapfern, großmüthigen,<br />

verwegenen, excessiven Neigungen der<br />

starken Seele irregeleitet, bis zur Selbstzerstörung …<br />

rührend, kindlich, hingebend, weiblich-verliebt und<br />

schüchtern; der Reiz der jungfraulich-schwärmerischen<br />

Vorsinnlichkeit — denn Keuschheit ist nur eine(1567) Form<br />

der Sinnlichkeit ( — ihre Präexistenzform)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11610 id='VIII.10[87]' kgw='VIII-2.172' ksa='12.506'<br />

(207) Lauter Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen<br />

gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft<br />

und deren Vorurtheile? — wie weit seine furchtbaren<br />

Eigenschaften entfesseln, an denen die<br />

Meisten zu Grunde gehn? — wie weit der Wahrheit<br />

entgegengehn und sich die fragwürdigsten Seiten derselben<br />

zu Gemüthe führen? — wie weit dem Leiden, der<br />

Selbstverachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem<br />

Laster entgegengehn, mit dem Fragezeichen, ob man darüber<br />

Herr werden wird?… (was uns nicht umbringt, macht uns<br />

stärker …) — endlich: wie weit der Regel, dem<br />

Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen der<br />

Durchschnitts-Natur Recht geben bei sich, ohne sich damit<br />

vulgarisiren zu lassen? … stärkste Probe des Charakters:<br />

sich nicht durch die Verführung des Guten ruiniren zu<br />

Page Break KGW='VIII-2.173' KSA='12.507'<br />

lassen. Das Gute als Luxus, als Raffinement, als<br />

Laster …


<strong>Aphorism</strong> n=11611 id='VIII.10[88]' kgw='VIII-2.173' ksa='12.507'<br />

(208) Die Ehe ist eine Form des Concubinats, zu der die<br />

bürgerliche Gesellschaft ihre Erlaubniß giebt, aus<br />

Eigennutz, wie sich von selbst versteht, nicht aus<br />

Moralität … Die Ehe ist die von ihr vorgezogene Art des<br />

Concubinats, weil hier der Instinkt nicht ohne Rücksicht<br />

und Vorsicht handelt, sondern erst um einen Erlaubnißschein<br />

einkommt … Für diesen Mangel an Muth und<br />

Selbstvertrauen ist die Gesellschaft erkenntlich, sie ehrt<br />

die Ehe, weil sie eine Form der Unterwerfung vor<br />

der Gesellschaft darstellt … Die Ehe ist eine Form des<br />

Concubinats, bei der grundsätzlich sehr Viel versprochen<br />

wird: hier wird etwas versprochen, was man nicht<br />

versprechen kann, nämlich „Liebe immerdar“, — hier wird<br />

die geschlechtliche Funktion als „Pflicht“ angesetzt, die<br />

man fordern kann … Aber das ist die „moderne Ehe“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11612 id='VIII.10[89]' kgw='VIII-2.173' ksa='12.507'<br />

(209) Die moralischen Werthe waren bis jetzt die obersten<br />

Werthe: will das Jemand in Zweifel ziehen? … Entfernen<br />

wir diese Werthe von jener Stelle, so verändern wir alle<br />

Werthe: das Princip ihrer bisherigen Rangordnung<br />

ist damit umgeworfen …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11613 id='VIII.10[90]' kgw='VIII-2.173' ksa='12.507'<br />

(210) Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes:<br />

sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir insgleichen<br />

die höchste Weisheit: — es ist die Eitelkeit der<br />

Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums<br />

von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst<br />

gleich sehen. Nein! Gott die höchste Macht — das<br />

Page Break KGW='VIII-2.174' KSA='12.508'<br />

genügt! Aus ihr folgt Alles, aus ihr folgt — „die Welt“!<br />

Symbolice, um ein Erkennungszeichen zu haben<br />

D.O.<br />

omnipotens<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11614 id='VIII.10[91]' kgw='VIII-2.174' ksa='12.508'


(211) Das Christenthum als emancipirtes Judenthum<br />

(in gleicher Weise wie eine lokal und rassenmäßig<br />

bedingte Vornehmheit endlich sich von diesen Bedingungen<br />

emancipirt und nach verwandten Elementen suchen<br />

geht …)<br />

1) als Kirche (Gemeinde) auf dem Boden des Staates,<br />

als unpolitisches Gebilde<br />

2) als Leben, Zucht, Praxis, Lebenskunst<br />

3) als Religion der Sünde (des Vergehens an<br />

Gott als einziger Art der Vergehung, als einziger<br />

Ursache alles Leidens überhaupt), mit einem<br />

Universalmittel gegen sie. Es giebt nur an Gott<br />

Sünde; was gegen die Menschen gefehlt ist, darüber<br />

soll der Mensch nicht richten, noch Rechenschaft<br />

fordern, es sei denn im Namen Gottes. Insgleichen<br />

alle Gebote (Liebe) alles ist angeknüpft an Gott,<br />

und um Gottes willen wird es am Menschen gethan.<br />

Darin steckt eine hohe Klugheit ( — das Leben in<br />

großer Enge, wie bei den Eskimos, ist nur erträglich<br />

bei der friedfertigsten und nachsichtigsten Gesinnung:<br />

das jüdisch-christliche Dogma wendete sich<br />

gegen die Sünde, zum Besten des „Sünders“ — )<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11615 id='VIII.10[92]' kgw='VIII-2.174' ksa='12.508'<br />

(212) Das christliche Leben, wie es als Ideal dem<br />

Paulus vorschwebt und von ihm gepredigt wird, ist das<br />

jüdische Leben, nicht vielleicht das der herrschenden<br />

Familien, aber das der kleinen Leute, namentlich der in<br />

der Diaspora lebenden Juden. Es ist erlebt, gesehn, aus<br />

Page Break KGW='VIII-2.175' KSA='12.509'<br />

dem Verehrtesten und Geliebtesten heraus — dieses Ideal:<br />

es ist erkannt als vorbildlich für Menschen anderer Rasse,<br />

vorausgesetzt, daß sie unter ähnlichen Bedingungen leben.<br />

Dies ist die That des Paulus: er erkannte die<br />

Anwendbarkeit des jüdischen Privatlebens auf das<br />

Privatleben der kleinen Leute von Überall. Vom Judenthum<br />

her wußte er, wie eine Art Mensch sich durchsetzt,<br />

ohne die Macht zu haben und ohne auch nur die Absicht<br />

auf Macht haben zu dürfen. Ein Glaube an ein absolutes<br />

Vorrecht, das Glück der Auserwählten, welches jede<br />

Erbärmlichkeit und Entbehrung adelt — nämlich als<br />

Gegenzahlung und Sporn, die Tugenden der Familie, der kleinen<br />

Congregation, der unbedingte Ernst in Einem, in der<br />

Unantastbarkeit ihres Lebens durch die Gegner, zwischen<br />

denen sie leben — und alles Besänftigende, Mildernde,


Erquickende, Gebet, Musik, gemeinsame Mahlzeiten und<br />

Herzensergießungen, Geduld, Nachsicht, Hülfe und<br />

Dienstbarkeit gegen einander, vor Allem jenes Stillehalten<br />

der Seele, damit die Affekte Zorn, Verdacht,<br />

Haß, Neid, Rache nicht obenauf kommen … Der Asketism<br />

ist nicht das Wesen dieses Lebens; die Sünde<br />

ist nur in dem Sinn im Vordergrund des Bewußtseins, als<br />

sie die beständige Nähe ihrer Erlöstheit und Zurückgekauftheit<br />

bedeutet ( — so ist sie schon jüdisch: mit der<br />

Sünde aber wird ein Jude völlig fertig, dazu eben hatte er<br />

seinen Glauben; es ist das, womit man allein ganz fertig<br />

wird; und gesetzt, daß alles Unglück im Verhältniß zur<br />

Sünde steht (oder zur Sündhaftigkeit), so giebt es ein<br />

remedium gegen alles Unglück selbst — und das Unglück ist<br />

außerdem gerechtfertigt, nicht sinnlos …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11616 id='VIII.10[93]' kgw='VIII-2.175' ksa='12.509'<br />

(213) Welch Erquicken, nach dem neuen Testament etwa<br />

den Petronius in die Hand zu nehmen! Wie ist man sofort<br />

Page Break KGW='VIII-2.176' KSA='12.510'<br />

wieder hergestellt! wie fühlt man die Nähe der gesunden,<br />

übermüthigen, selbstgewissen und boshaften Geistigkeit!<br />

— und schließlich bleibt man vor der Frage stehn: „ist<br />

nicht der antike Schmutz noch mehr werth als diese ganze<br />

kleine anmaaßliche Christen-Weisheit und -Muckerei?“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11617 id='VIII.10[94]' kgw='VIII-2.176' ksa='12.510'<br />

(214) die europäischen Fürsten sollten sich in der That besinnen,<br />

ob sie unserer Unterstützung entbehren können.<br />

Wir Immoralisten — wir sind heute die einzige Macht, die<br />

keine Bundesgenossen braucht, um zum Siege zu kommen:<br />

damit sind wir bei weitem die Stärksten unter den Starken.<br />

Wir bedürfen nicht einmal der Lüge: welche Macht<br />

könnte sonst ihrer entrathen? Eine starke Verführung<br />

kämpft für uns, die stärkste vielleicht, die es giebt — die<br />

Verführung der Wahrheit … Der Wahrheit? Wer legte das<br />

Wort mir in den Mund? Aber ich nehme es wieder heraus;<br />

aber ich verschmähe das stolze Wort: nein, wir haben auch<br />

sie nicht nöthig, wir würden auch noch ohne die Wahrheit<br />

zur Macht und zum Siege kommen. Der Zauber, der für<br />

uns kämpft, das Auge der Venus, das unsere Gegner selbst<br />

bestrickt und blind macht, das ist die Magie des<br />

Extrems, die Verführung, die alles Äußerste übt: wir


Immoralisten — wir sind die Äußersten …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11618 id='VIII.10[95]' kgw='VIII-2.176' ksa='12.510'<br />

„Oh Ariadne, du selbst bist das Labyrinth: man kommt nicht<br />

aus dir wieder heraus“ …<br />

„Dionysos, du schmeichelst mir, du bist göttlich“ …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11619 id='VIII.10[96]' kgw='VIII-2.176' ksa='12.510'<br />

(215) Das christlich-jüdische Leben: hier überwog<br />

nicht das ressentiment. Erst die großen Verfolgungen<br />

mögen die Leidenschaft dergestalt herausgetrieben haben<br />

Page Break KGW='VIII-2.177' KSA='12.511'<br />

— sowohl die Gluth der Liebe als die des Hasses.<br />

Wenn man für seinen Glauben seine Liebsten geopfert<br />

sieht, dann wird man aggressiv; man verdankt den<br />

Sieg des Christenthums seinen Verfolgern.<br />

NB Die Asketik im Christenthum ist nicht spezifisch:<br />

das hat Schopenhauer mißverstanden: sie wächst nur in das<br />

Christenthum hinein: überall dort, wo es auch ohne<br />

Christenthum Asketik gab.<br />

NB Das hypochondrische Christenthum, die<br />

Gewissens-Thierquälerei und -Folterung ist insgleichen nur<br />

einem gewissen Boden zugehörig, auf dem christliche<br />

Werthe Wurzel geschlagen haben: es ist nicht das Christenthum<br />

selbst. Das Christenthum hat alle Art Krankheiten<br />

morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm<br />

einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine<br />

Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben das ist sein Wesen:<br />

Christenthum ist ein Typus der décadence.<br />

Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in<br />

der vornehm-gebliebenen antiken Welt behandelt wurde,<br />

gehört eben dahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung<br />

gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien<br />

und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich<br />

durchdrücken und schüchterne linkische Gebärden<br />

mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden.<br />

Das neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich<br />

unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Werth<br />

zu haben, ja allen Werth zu haben, hat in der That etwas<br />

Empörendes, — auch heute noch.


<strong>Aphorism</strong> n=11620 id='VIII.10[97]' kgw='VIII-2.177' ksa='12.511'<br />

(216) Wenn man, bei vollkommener Einordnung in die<br />

bürgerliche Rechtschaffenheit, doch wieder den<br />

Bedürfnissen seiner Unmoralität Luft macht:<br />

in wiefern wir heute als Erkennende alle unsere<br />

Page Break KGW='VIII-2.178' KSA='12.512'<br />

bösen Triebe in Dienst genommen haben und fern davon<br />

sind, zwischen Tugend und Erkenntniß eine Wünschbarkeit<br />

von Bund zu schließen<br />

alle bösen Triebe sind intelligent und neugierig,<br />

wissenschaftlich geworden<br />

Wem die Tugend leicht fällt, der macht sich auch noch<br />

über sie lustig. Der Ernst in der Tugend ist nicht aufrecht<br />

zu erhalten: er erreicht sie und hüpft über sie hinaus —<br />

wohin? in die Teufelei.<br />

— indem er sie erreicht, überspringt er sie, — und<br />

macht sich aus ihr eine kleine Teufelei zurecht dabei und<br />

ehrt seinen Gott nicht anders als der Hanswurst Gottes<br />

Wie intelligent sind inzwischen alle unsere schlimmen<br />

Hänge und Dränge geworden! wie viel wissenschaftliche<br />

Neugierde plagt sie! Lauter Angelhaken der Erkenntniß!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11621 id='VIII.10[98]' kgw='VIII-2.178' ksa='12.512'<br />

(217) Wogegen ich protestire? Daß man nicht diese kleine<br />

friedliche Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer<br />

Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen<br />

Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar<br />

als Maaß des Menschen.<br />

NB. Bako von Verulam: „infimarum virtutum<br />

apud vulgus laus est, mediarum admiratio, supremarum<br />

sensus nullus.“ Das Christenthum aber gehört, als Religion,<br />

zum vulgus; es hat für die höchste Gattung virtus keinen<br />

Sinn<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11622 id='VIII.10[99]' kgw='VIII-2.178' ksa='12.512'<br />

(218) Die Schopenhauersche Entnatürlichung des<br />

Genies: „ein seiner Bestimmung untreu gewordener<br />

Intellekt“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11623 id='VIII.10[100]' kgw='VIII-2.178' ksa='12.512'


man könnte die Castration einführen im Kampf mit dem<br />

Page Break KGW='VIII-2.179' KSA='12.513'<br />

Verbrecher- und Krankenthum (so in Hinsicht auf alle Syphilitiker):<br />

aber wozu! man soll ökonomischer denken!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11624 id='VIII.10[101]' kgw='VIII-2.179' ksa='12.513'<br />

(219) das Dasein als Strafe und Buße: „der Mythus vom<br />

Sündenfall ist es allein, was mich mit dem alten<br />

Testament aussöhnt“ Schopenhauer<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11625 id='VIII.10[102]' kgw='VIII-2.179' ksa='12.513'<br />

(220) NB. meine positiven Hauptsachen — welche sind sie?<br />

— und meine hauptsächlichsten negativa —<br />

welche sind sie?<br />

— und das Reich meiner neuen Fragen und<br />

Fragezeichen — welche sind sie?<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11626 id='VIII.10[103]' kgw='VIII-2.179' ksa='12.513'<br />

(221) Solchen Menschen, welche mich etwas angehn,<br />

wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit,<br />

Mißhandlung, Entwürdigung, — ich wünsche daß ihnen die<br />

tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen<br />

sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt:<br />

ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige<br />

wünsche, was heute beweisen kann, ob Einer Werth hat<br />

oder nicht, — daß er Stand hält …<br />

Ich habe noch keinen Idealisten, aber viele Lügner<br />

kennengelernt — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11627 id='VIII.10[104]' kgw='VIII-2.179' ksa='12.513'<br />

(222) Schopenhauer wünscht, daß man die Schurken castrirt<br />

und die Gänse ins Kloster sperrt: von welchem<br />

Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar sein? Der<br />

Schurke hat das vor den Mittelmäßigen voraus, daß er nicht<br />

mittelmäßig ist; und der Dumme das vor uns, daß er<br />

nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit leidet …


Page Break KGW='VIII-2.180' KSA='12.514'<br />

Wunschbarer wäre es, daß die Kluft größer würde, — also die<br />

Schurkerei und die Dummheit wüchse … Dergestalt<br />

erweiterte sich die menschliche Natur … Aber zuletzt ist<br />

eben das auch das Nothwendige; es geschieht und wartet<br />

nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die<br />

Dummheit, die Schurkerei wachsen: das gehört zum<br />

„Fortschritt“.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11628 id='VIII.10[105]' kgw='VIII-2.180' ksa='12.514'<br />

(223) Zur Stärke des 19. Jahrhunderts.<br />

Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert;<br />

nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltenes.<br />

Wir haben gegen die Revolution revoltirt …<br />

Wir haben uns von der Furcht vor der raison,<br />

dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emancipirt: wir wagen<br />

wieder lyrisch, absurd und kindisch zu sein … mit einem<br />

Wort: „wir sind Musiker“<br />

— ebensowenig fürchten wir uns vor dem<br />

Lächerlichen wie vor dem Absurden<br />

— der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen<br />

Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse, als der<br />

Verkannte, Verleumdete von Alters her, — wir sind die<br />

Ehrenretter des Teufels<br />

— wir trennen das Große nicht mehr von dem<br />

Furchtbaren<br />

— wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer<br />

Complexität mit den schlimmsten: wir haben die<br />

absurde „Wünschbarkeit“ von Ehedem überwunden<br />

(das das Wachsthum des Guten wollte ohne das Wachsthum(1568)<br />

des Bösen — )<br />

— die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat<br />

nachgelassen — wir wagen es, zu ihren Sitten selbst<br />

zu aspiriren —<br />

— die Intoleranz gegen die Priester und die<br />

Page Break KGW='VIII-2.181' KSA='12.515'<br />

Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen: „es ist<br />

unmoralisch, an Gott zu glauben“, aber gerade das gilt<br />

uns als die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens.<br />

Wir haben alledem ein Recht bei uns gegeben. Wir<br />

fürchten uns nicht vor der Kehrseite der „guten<br />

Dinge“ ( — wir suchen sie… wir sind tapfer und neugierig<br />

genug dazu) z.B. am Griechenthum, an der Moral, an der<br />

Vernunft, am guten Geschmack ( — wir rechnen die Einbuße


nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten macht:<br />

man macht sich beinahe arm mit einer solchen<br />

Kostbarkeit — ) Ebenso wenig verhehlen wir uns die<br />

Kehrseite der schlimmen Dinge…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11629 id='VIII.10[106]' kgw='VIII-2.181' ksa='12.515'<br />

„die Meinung ist die Hälfte der Menschlichkeit“ hat Napoleon<br />

gesagt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11630 id='VIII.10[107]' kgw='VIII-2.181' ksa='12.515'<br />

(224) Ob ich damit der Tugend geschadet habe? … Eben so<br />

wenig, als die Anarchisten den Fürsten: erst seitdem sie<br />

angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem<br />

Thron … Denn so stand es immer und wird es stehen: man<br />

kann einer Sache nicht besser nützen als indem man sie<br />

verfolgt und mit allen Hunden hetzt … Dies — habe ich<br />

gethan.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11631 id='VIII.10[108]' kgw='VIII-2.181' ksa='12.515'<br />

(225) Gegen die Reue. Ich liebe diese Art Feigheit gegen<br />

die eigene That nicht; man soll sich selbst nicht im Stich<br />

lassen, unter dem Ansturz unerwarteter Schande und<br />

Bedrängniß. Ein extremer Stolz ist da eher am Platz. Zuletzt<br />

was hilft es! Keine That wird dadurch, daß sie bereut wird,<br />

ungethan; ebensowenig dadurch, daß sie „vergeben“ oder<br />

daß sie „gesühnt“ wird. Man müßte Theologe sein, um an<br />

eine schuldentilgende Macht zu glauben: wir Immoralisten<br />

Page Break KGW='VIII-2.182' KSA='12.516'<br />

ziehen es vor, nicht an „Schuld“ zu glauben. Wir halten<br />

dafür, daß jedwederlei Handlung in der Wurzel werthidentisch<br />

ist, — insgleichen, daß Handlungen, welche sich<br />

gegen uns wenden, ebendarum immer noch, ökonomisch<br />

gerechnet, nützliche, allgemein-wünschbare<br />

Handlungen sein können. — Im einzelnen Fall werden wir<br />

zugestehen, daß eine That uns leicht hätte erspart bleiben<br />

können, — nur die Umstände haben uns zu ihr<br />

begünstigt. — Wer von uns hätte nicht, von den Umständen<br />

begünstigt, schon die ganze Skala der Verbrechen<br />

durchgemacht? … Man soll deshalb nie sagen: „das und<br />

das hättest du nicht thun sollen“, sondern immer nur: „wie


seltsam, daß ich das nicht schon hundert Mal gethan<br />

habe.“ — Zuletzt sind die wenigsten Handlungen typische<br />

Handlungen, und wirklich Abbreviaturen einer Person;<br />

und in Anbetracht, wie wenig Person die meisten sind,<br />

wird selten ein Mensch durch eine einzelne That<br />

charakterisirt. That der Umstände, bloß epidermal, bloß<br />

reflexmäßig als Auslösung auf einen Reiz erfolgend:<br />

bevor die Tiefe unseres Seins davon berührt, darüber<br />

befragt worden ist. Ein Zorn, ein Griff, ein Messerstich: was<br />

ist daran von Person! — Die That bringt häufig eine Art<br />

Starrblick und Unfreiheit mit sich: so daß der Thäter<br />

durch ihre Erinnerung wie gebannt ist und sich selbst bloß<br />

als Zubehör zu ihr noch fühlt. Diese geistige Störung,<br />

eine Form von Hypnotisirung, hat man vor allem zu<br />

bekämpfen: eine einzelne That, sie sei welche sie sei, ist doch<br />

im Vergleich mit allem, was man that, gleich Null und<br />

darf weggerechnet werden, ohne daß die Rechnung falsch<br />

würde. Das billige Interesse, welches die Gesellschaft haben<br />

kann, unsere ganze Existenz nur in Einer Richtung hin<br />

nachzurechnen, wie als ob ihr Sinn sei, eine einzelne That<br />

herauszutreiben, sollte den Thäter selbst nicht anstecken:<br />

leider geschieht es fast beständig. Das hängt daran, daß<br />

Page Break KGW='VIII-2.183' KSA='12.517'<br />

jeder That mit ungewöhnlichen Folgen eine geistige Störung<br />

folgt: gleichgültig selbst, ob diese Folgen gut oder<br />

schlimm sind. Man sehe einen Verliebten an, dem ein<br />

Versprechen zu Theil geworden; einen Dichter, dem ein Theater<br />

Beifall klatscht: sie unterscheiden sich, was den torpor<br />

intellectualis betrifft, in nichts von dem Anarchisten, den<br />

man mit einer Haussuchung überfällt. — Es giebt<br />

Handlungen die unser unwürdig sind: Handlungen die, als<br />

typisch genommen, uns in eine niedrigere Gattung<br />

herabdrücken würden. Hier hat man allein diesen Fehler zu<br />

vermeiden, daß man sie typisch nimmt. Es giebt die<br />

umgekehrte Art Handlungen, deren wir nicht würdig sind:<br />

Ausnahmen, aus einer besonderen Fülle von Glück und<br />

Gesundheit geboren, unsere höchsten Fluthwellen, die ein<br />

Sturm, ein Zufall einmal so hoch trieb: solche Handlungen<br />

und „Werke“ ( — ) sind nicht typisch. Man soll einen<br />

Künstler nie nach dem Maaße seiner Werke messen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11632 id='VIII.10[109]' kgw='VIII-2.183' ksa='12.517'<br />

(226) Man soll die Tugend gegen die Tugendprediger<br />

vertheidigen: das sind ihre schlimmsten Feinde. Denn sie<br />

lehren die Tugend als ein Ideal für Alle; sie nehmen<br />

der Tugend ihren Reiz des Seltenen, des Unnachahmlichen,


des Ausnahmsweisen und Undurchschnittlichen, — ihren<br />

aristokratischen Zauber. Man soll insgleichen<br />

Front machen gegen die verstockten Idealisten, welche<br />

eifrig an alle Töpfe klopfen und ihre Genugthuung haben,<br />

wenn es hohl klingt: welche Naivetät, Großes und Seltenes<br />

zu fordern und seine Abwesenheit mit Ingrimm und<br />

Menschenverachtung feststellen! — Es liegt z.B. auf<br />

der Hand, daß eine Ehe so viel werth ist als die, welche<br />

sie schließen, d.h. daß sie im Großen Ganzen etwas<br />

Erbärmliches und Unschickliches sein wird: kein Pfarrer, kein<br />

Bürgermeister kann etwas Anderes draus machen.<br />

Page Break KGW='VIII-2.184' KSA='12.518'<br />

Die Tugend hat alle Instinkte des Durchschnittsmenschen<br />

gegen sich: sie ist unvortheilhaft, unklug, sie isolirt,<br />

sie ist der Leidenschaft verwandt und der Vernunft<br />

schlecht zugänglich; sie verdirbt den Charakter, den Kopf,<br />

den Sinn — immer gemessen mit dem Maaß des Mittelguts<br />

von Mensch; sie setzt in Feindschaft gegen die Ordnung,<br />

gegen die Lüge, welche in jeder Ordnung, Institution,<br />

Wirklichkeit versteckt liegt, — sie ist das schlimmste<br />

Laster, gesetzt daß man sie nach der Schädlichkeit<br />

ihrer Wirkung auf die Anderen beurtheilt.<br />

— Ich erkenne die Tugend daran, daß sie 1) nicht<br />

verlangt, erkannt zu werden 2) daß sie nicht Tugend überall<br />

voraussetzt, sondern gerade etwas Anderes 3) daß sie an<br />

der Abwesenheit der Tugend nicht leidet, sondern<br />

umgekehrt dies als das Distanzverhältniß betrachtet, auf<br />

Grund dessen etwas an der Tugend zu ehren ist: sie theilt<br />

sich nicht mit 4) daß sie nicht Propaganda macht… 5) daß<br />

sie Niemandem erlaubt, den Richter zu machen, weil sie<br />

immer eine Tugend für sich ist 6) daß sie gerade alles<br />

das thut, was sonst verboten ist: Tugend, wie ich sie<br />

verstehe, ist das eigentliche vetitum innerhalb aller<br />

Heerden-Legislatur 7) kurz, daß sie Tugend im Renaissancestil<br />

ist, virtù, moralinfreie Tugend …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11633 id='VIII.10[110]' kgw='VIII-2.184' ksa='12.518'<br />

(227) Zuletzt, was habe ich erreicht? Verbergen wir uns dies<br />

wunderlichste Resultat nicht: ich habe der Tugend einen<br />

neuen Reiz ertheilt, — sie wirkt als etwas Verbotenes.<br />

Sie hat unsere feinste Redlichkeit gegen sich, sie ist<br />

eingesalzen in das „cum grano salis, des wissenschaftlichen<br />

Gewissensbisses; sie ist altmodisch im Geruch und antikisirend,<br />

so daß sie nunmehr endlich die Raffinirten anlockt<br />

und neugierig macht; — kurz, sie wirkt als Laster. Erst<br />

nachdem wir Alles als Lüge, Schein erkannt haben, haben


Page Break KGW='VIII-2.185' KSA='12.519'<br />

wir auch die Erlaubniß wieder zu dieser schönsten Falschheit,<br />

der der Tugend, erhalten. Es giebt keine Instanz<br />

mehr, die uns dieselbe verbieten dürfte: erst indem wir<br />

die Tugend als eine Form der Immoralität aufgezeigt<br />

haben, ist sie wieder gerechtfertigt, — sie<br />

ist eingeordnet und gleichgeordnet in Hinsicht auf ihre<br />

Grundbedeutung, sie nimmt Theil an der Grund-Immoralität<br />

alles Daseins, — als eine Luxus-form ersten Ranges,<br />

die hochnäsigste, theuerste und seltenste Form des<br />

Lasters. Wir haben sie entrunzelt und entkuttet, wir<br />

haben sie von der Zudringlichkeit der Vielen erlöst, wir<br />

haben ihr die blödsinnige Starrheit, das leere Auge, die steife<br />

Haartour, die hieratische Muskulatur genommen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11634 id='VIII.10[111]' kgw='VIII-2.185' ksa='12.519'<br />

(228) Zur Rangordnung<br />

Was ist am typischen Menschen mittelmäßig?<br />

Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als nothwendig<br />

versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als<br />

ob man ihrer entrathen könnte; daß er das Eine nicht mit<br />

dem Anderen hinnehmen will, — daß er den typischen<br />

Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer<br />

Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte,<br />

indem er nur einen Theil ihrer Eigenschaften gutheißt und<br />

die anderen abschaffen möchte. Die „Wünschbarkeit“<br />

der Mittelmäßigen ist das, was von uns Anderen<br />

bekämpft wird: das Ideal gefaßt als etwas, an dem nichts<br />

Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes<br />

übrig bleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte:<br />

daß mit jedem Wachsthum des Menschen auch seine<br />

Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch,<br />

gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre,<br />

welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins<br />

am stärksten darstellte, als dessen Glorie und<br />

Page Break KGW='VIII-2.186' KSA='12.520'<br />

einzige Rechtfertigung … Die gewöhnlichen Menschen dürfen<br />

nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses<br />

Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zu Grunde,<br />

wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der<br />

Gegensätze wächst d.h. die Vorbedingung für die<br />

Größe des Menschen. Daß der Mensch besser<br />

und böser werden muß, das ist meine Formel für diese<br />

Unvermeidlichkeit …


Die Meisten stellen den Menschen als Stücke und<br />

Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so<br />

kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker<br />

haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört<br />

vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß<br />

der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man<br />

durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um<br />

das Zustandekommen des synthetischen Menschen handelt,<br />

daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß<br />

Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel<br />

hier und da der ganze Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch,<br />

welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit<br />

vorwärts gekommen. Sie geht nicht in Einem Striche<br />

vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder<br />

verloren …<br />

— — wir haben z.B. mit aller Anspannung von 3<br />

Jahrhunderten noch nicht den Menschen der<br />

Renaissance wieder erreicht; und hinwiederum blieb der<br />

Mensch(1569) der Renaissance(1570) hinter dem antiken Menschen<br />

zurück …<br />

— — man muß einen Maaßstab haben: ich unterscheide<br />

den großen Stil; ich unterscheide Aktivität und<br />

Reaktivität; ich unterscheide die Überschüssigen<br />

Verschwenderischen und die Leidend-Leidenschaftlichen<br />

( — die „Idealisten“)<br />

Page Break KGW='VIII-2.187' KSA='12.521'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11635 id='VIII.10[112]' kgw='VIII-2.187' ksa='12.521'<br />

(229) Jede Gesellschaft hat die Tendenz, ihre Gegner bis zur<br />

Carikatur herunterzubringen und gleichsam auszuhungern,<br />

— zum Mindesten in ihrer Vorstellung.<br />

Eine solche Carikatur ist z.B. unser „Verbrecher“.<br />

In Mitten der römisch-aristokratischen Ordnung der<br />

Werthe war der Jude zur Carikatur reduzirt. Unter Künstlern<br />

wird der „Biedermann und bourgeois“ zur Carikatur;<br />

unter Frommen der Gottlose; unter Aristokraten der<br />

Volksmann. Unter Immoralisten wird es der Moralist:<br />

Plato zum Beispiel wird bei mir zur Carikatur.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11636 id='VIII.10[113]' kgw='VIII-2.187' ksa='12.521'<br />

(230) Propaganda machen ist unanständig: aber klug! aber<br />

klug!<br />

Welcher Art von bizarrem Ideal man auch folgt (z.B.<br />

als „Christ“ oder als „freier Geist“ oder als „Immoralist“


oder als Reichsdeutscher — ), man soll nicht fordern, daß<br />

es das Ideal sei: denn damit nähme man ihm den<br />

Charakter des Privilegiums, des Vorrechts. Man soll es<br />

haben, um sich auszuzeichnen, nicht um sich<br />

gleichzusetzen<br />

Wie kommt es trotzdem, daß die meisten Idealisten<br />

sofort für ihr Ideal Propaganda machen, wie als ob sie kein<br />

Recht haben könnten auf das Ideal, falls nicht Alle es<br />

anerkennten? … Das thun z.B. alle jene muthigen Weiblein,<br />

die sich die Erlaubniß nehmen, Latein und Mathematik<br />

zu lernen. Was zwingt sie dazu? Ich fürchte, der<br />

Instinkt der Heerde, die Furchtsamkeit vor der Heerde:<br />

sie kämpfen für die „Emancipation des Weibes“, weil sie<br />

unter der Form einer genereusen Thätigkeit, unter<br />

der Flagge des „Für Andere“ ihren kleinen Privat-Separatismus<br />

am klügsten durchsetzen …<br />

Klugheit der Idealisten, nur Missionäre und Vertreter<br />

Page Break KGW='VIII-2.188' KSA='12.522'<br />

eines Ideals zu sein: sie „verklären“ sich damit in<br />

den Augen derer, welche an Uneigennützigkeit und Heroism<br />

glauben. Indeß: der wirkliche Heroism besteht darin,<br />

daß man nicht unter der Fahne der Aufopferung,<br />

Hingebung, Uneigennützigkeit kämpft, sondern gar<br />

nicht kämpft … „So bin ich; so will ich's: —<br />

hol' euch der Teufel!“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11637 id='VIII.10[114]' kgw='VIII-2.188' ksa='12.522'<br />

(231) Krieg gegen die weichliche Auffassung der „Vornehmheit“<br />

— ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen;<br />

so wenig als eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch<br />

die „Selbstzufriedenheit“ ist nicht darin; man muß<br />

abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch<br />

— nichts von „schöner Seel“-Salbaderei — Ich will<br />

einem robusteren Ideale Luft machen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11638 id='VIII.10[115]' kgw='VIII-2.188' ksa='12.522'<br />

Gelegentliches über die Griechen<br />

über das Heidnische<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11639 id='VIII.10[116]' kgw='VIII-2.188' ksa='12.522'


(232) Aesthetica.<br />

über unsere moderne Musik: die Verkümmerung<br />

der Melodie ist das Gleiche, wie die Verkümmerung<br />

der „Idee“, der Dialektik, der Freiheit geistigster<br />

Bewegung, — eine Plumpheit und Gestopftheit, welche sich zu<br />

neuen Wagnissen und selbst zu Principien entwickelt —<br />

man hat schließlich nur die Principien seiner Begabung,<br />

seiner Bornirtheit von Begabung<br />

was die elementaren Bedingungen zu einem Genie<br />

betrifft, so war Offenbach(1571) genialer als Wagner …<br />

„dramatische Musik“ Unsinn! Das ist einfach schlechte<br />

Musik, so gewiß als — — —<br />

Page Break KGW='VIII-2.189' KSA='12.523'<br />

die Ersatzmittel der Hohn tanzenden und spöttischen<br />

Geistigkeit<br />

das „Gefühl“, die „Leidenschaft“ als Surrogate, wenn<br />

man die hohe Geistigkeit und das Glück derselben (z.B.<br />

Voltaire's) nicht mehr zu erreichen weiß. Technisch<br />

ausgedrückt, ist das „Gefühl“, die „Leidenschaft“ leichter<br />

— es setzt viel ärmere Künstler voraus. Die Wendung zum<br />

Drama verräth, daß ein Künstler über die Scheinmittel<br />

noch mehr sich Herr weiß als über die ächten Mittel. Wir<br />

haben dramatische Malerei, dramatische Lyrik usw.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11640 id='VIII.10[117]' kgw='VIII-2.189' ksa='12.523'<br />

(233) Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg<br />

erklärt (sammt dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in<br />

der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner<br />

Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen<br />

für neue Ideale, für robustere Ideale … Die Fortdauer<br />

des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswerthesten<br />

Dingen, die es giebt: und schon um der Ideale<br />

willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend<br />

machen wollen — sie müssen Gegner starke Gegner<br />

haben, um stark zu werden. — So brauchen wir Immoralisten<br />

die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb<br />

will, daß unsere Gegner bei Kräften bleiben,<br />

— will nur Herr über sie werden. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11641 id='VIII.10[118]' kgw='VIII-2.189' ksa='12.523'<br />

(234) Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als<br />

Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden<br />

von den Moral-Vorurtheilen, welches in der Entfesselung


des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität<br />

des Genies, nicht sehen wollen; er hat künstlich das,<br />

was er allein ehrte, den moralischen Werth der „Entselbstung“,<br />

auch als Bedingung der geistigsten Thätigkeit,<br />

Page Break KGW='VIII-2.190' KSA='12.524'<br />

des „Objektiv“-Blickens, angesetzt. „Wahrheit“, auch in<br />

der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens…<br />

Quer durch alle moralische(1572) Idiosynkrasie hindurch<br />

sehe ich eine grundverschiedene Werthung:<br />

solche absurde Auseinandertrennung von „Genie“ und<br />

Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht.<br />

Der moralische Mensch ist eine niedrigere species als der<br />

unmoralische, eine schwächere; ja — er ist der Moral(1573)<br />

nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Copie,<br />

eine gute Copie jedenfalls, — das Maaß seines Werthes liegt<br />

außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum<br />

Macht und Fülle seines Willens: nicht<br />

nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte<br />

eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens<br />

lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der<br />

Verleumdung…<br />

— ich schätze die Macht eines Willens darnach,<br />

wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und<br />

sich zum Vortheil umzuwandeln weiß; nach diesem Maaße<br />

muß es mir fern liegen, dem Dasein seinen bösen und<br />

schmerzhaften Charakter zum Vorwurf anzurechnen,<br />

sondern ich(1574) ergreife die Hoffnung, daß es einst böser und<br />

schmerzhafter sein wird als bisher…<br />

Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginirte,<br />

war, zur Erkenntniß zu kommen, daß Alles keinen<br />

Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute<br />

Mensch schon thut… er leugnet, daß es höhere Arten<br />

Intellekt geben könne — er nahm seine Einsicht als ein<br />

non plus ultra… Hier ist die Geistigkeit tief unter die<br />

Güte geordnet; ihr höchster Werth (als Kunst z.B.)<br />

wäre es, die moralische Umkehr anzurathen, vorzubereiten:<br />

absolute Herrschaft der Moralwerthe. —<br />

neben Schopenhauer will ich Kant charakterisiren<br />

(Goethes Stelle über das Radikal-Böse): nichts Griechisches,<br />

Page Break KGW='VIII-2.191' KSA='12.525'<br />

absolut widerhistorisch (Stelle über die französische<br />

Revolution) und Moral-Fanatiker. Auch bei ihm im<br />

Hintergrund die Heiligkeit…<br />

ich brauche eine Kritik des Heiligen…<br />

Hegels Werth „Leidenschaft“<br />

Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene<br />

Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren


Menschen.<br />

Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker<br />

und Psychologen: es muß alles, was werthvoll ist in<br />

Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion,<br />

Technik bewiesen werden als moralisch-werthvoll,<br />

moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat.<br />

Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Werth: z.B.<br />

Rousseaus Frage in Betreff der Civilisation „wird durch<br />

sie der Mensch besser?“ — eine komische Frage, da das<br />

Gegentheil auf der Hand liegt und eben das ist was zu<br />

Gunsten der Civilisation redet<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11642 id='VIII.10[119]' kgw='VIII-2.191' ksa='12.525'<br />

(235) Wir „Objektiven“. —<br />

Das ist nicht das „Mitleid“, was uns die Thore zu<br />

den fernsten und fremdesten Arten Sein und Cultur aufmacht;<br />

sondern unsere Zugänglichkeit und Unbefangenheit,<br />

welche gerade nicht „mit leidet“, sondern im<br />

Gegentheil sich bei hundert Dingen ergötzt, wo man ehedem<br />

litt (empört oder ergriffen war, oder feindselig und kalt<br />

blickte — ) Das Leiden in allen Nüancen ist uns jetzt<br />

interessant: damit sind wir gewiß nicht die Mitleidigeren,<br />

selbst wenn der Anblick des Leidens uns durch und durch<br />

erschüttert und die Thräne fließt: — wir sind schlechterdings<br />

deshalb nicht hülfreicher gestimmt.<br />

In diesem freiwilligen Anschauen-wollen von<br />

aller Art Noth und Vergehen sind wir stärker und kräftiger<br />

Page Break KGW='VIII-2.192' KSA='12.526'<br />

geworden, als es das 18. Jahrhundert war; es ist ein<br />

Beweis unseres Wachsthums an Kraft ( — wir haben uns<br />

dem 17. und 16. Jahrhundert genähert …) Aber<br />

es ist ein tiefes Mißverständniß, unsere „Romantik“ als<br />

Beweis unserer „verschönerten Seele“ aufzufassen …<br />

Wir wollen starke sensations, wie alle gröberen<br />

Zeiten und Volksschichten sie wollen… Dies hat man<br />

wohl auseinander zu halten vom Bedürfniß der Nervenschwachen<br />

und décadents: bei denen ist das Bedürfniß<br />

nach Pfeffer da, selbst nach Grausamkeit…<br />

Wir Alle suchen Zustände, in denen die bürgerliche<br />

Moral nicht mehr mitredet, noch weniger die priesterliche<br />

( — wir haben bei jedem Buche, an dem etwas<br />

Pfarrer- und Theologenluft hängen geblieben ist, den<br />

Eindruck einer bemitleidenswerthen niaiserie und Armut …)<br />

Die „gute Gesellschaft“ ist die, wo im Grunde nichts<br />

interessirt, als was bei der bürgerlichen Gesellschaft<br />

verboten ist und üblen Ruf macht: ebenso steht es mit


Büchern, mit Musik, mit Politik, mit der Schätzung des<br />

Weibes<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11643 id='VIII.10[120]' kgw='VIII-2.192' ksa='12.526'<br />

Zu befragen auf ihre Werthe hin:<br />

Plato. Epictet. Marc Aurel. Epicur.<br />

Augustin. Pascal.<br />

Bentham Comte. Hegel.<br />

Bücher:<br />

Reuters Augustin und religiöse Aufklärung des Mittelalters<br />

Sainte-Beuve Port-Royal<br />

Teichmüller, Griechische Philosophie.<br />

Page Break KGW='VIII-2.193' KSA='12.527'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11644 id='VIII.10[121]' kgw='VIII-2.193' ksa='12.527'<br />

(236) Wie ist es möglich, daß Jemand vor sich gerade in<br />

Hinsicht auf die moralischen Werthe allein Respekt hat, daß<br />

er alles Andere unterordnet und gering nimmt im<br />

Vergleich mit Gut, Böse, Besserung, Heil der Seele usw.?<br />

z.B. Amiel. Was bedeutet die Moral-Idiosynkrasie?<br />

— ich frage psychologisch, auch physiologisch,<br />

z.B. Pascal. Also in Fällen, wo große andere Qualitäten<br />

nicht fehlen; auch im Falle Schopenhauers, der ersichtlich<br />

das schätzte, was er nicht hatte und haben konnte…<br />

— ist es nicht die Folge einer bloß gewohnheitsmäßigen<br />

Moral-Interpretation von thatsächlichen Schmerz- und<br />

Unlust-Zuständen? ist es nicht eine bestimmte Art von<br />

Sensibilität, welche die Ursache ihrer vielen<br />

Unlustgefühle nicht versteht, aber mit moralischen(1575)<br />

Hypothesen sich zu erklären glaubt? So<br />

daß auch ein gelegentliches Wohlbefinden und Kraftgefühl<br />

immer sofort gleich wieder unter der Optik vom<br />

„guten Gewissen“, von der Nähe Gottes, vom Bewußtsein<br />

der Erlösung überleuchtet erscheint?… Also der<br />

Moral-Idiosynkratiker hat<br />

1) entweder wirklich in der Annäherung an den<br />

Tugend-Typus der Gesellschaft seinen eigenen Werth: „der<br />

Brave“, „Rechtschaffene“, — ein mittlerer Zustand<br />

hoher Achtbarkeit: in allem Können mittelmäßig,<br />

aber in allem Wollen honnett, gewissenhaft, fest, geachtet,<br />

bewährt<br />

2) oder er glaubt ihn zu haben, weil er alle seine<br />

Zustände überhaupt nicht anders zu verstehen glaubt …, er


ist sich unbekannt, er legt sich dergestalt aus.<br />

Moral als das einzige Interpretationsschema,<br />

bei dem der Mensch sich aushält… eine Art Stolz?…<br />

Page Break KGW='VIII-2.194' KSA='12.528'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11645 id='VIII.10[122]' kgw='VIII-2.194' ksa='12.528'<br />

(237) Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit<br />

verleiden! Ich thue, wie man sieht, das Gegentheil:<br />

denn jeder Schritt weg von ihr — so lehre ich — führt<br />

ins Unmoralische…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11646 id='VIII.10[123]' kgw='VIII-2.194' ksa='12.528'<br />

(238) Die längste Dauer der Scholastik — das Gute, das<br />

Böse, das Gewissen, die Tugend lauter Entitäten<br />

imaginärer Herkunft<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11647 id='VIII.10[124]' kgw='VIII-2.194' ksa='12.528'<br />

(239) das Nachdenken über das Allgemeinste ist immer<br />

rückständig: die letzten „Wünschbarkeiten“ über den<br />

Menschen z.B. sind von den Philosophen eigentlich niemals<br />

als Problem genommen worden. Die „Verbesserung“<br />

des Menschen wird von ihnen allen naiv angesetzt, wie als<br />

ob wir durch irgend eine Intuition über das Fragezeichen<br />

hinausgehoben wären, warum gerade „verbessern“? In<br />

wiefern ist es wünschbar, daß der Mensch tugendhafter<br />

wird? oder klüger? oder glücklicher?<br />

Gesetzt, daß man nicht schon das „Warum?“ des Menschen<br />

überhaupt kennt, so hat jede solche Absicht keinen<br />

Sinn; und wenn man das Eine will, wer weiß? vielleicht<br />

darf man dann das Andere nicht wollen?… Ist die<br />

Vermehrung der Tugendhaftigkeit zugleich verträglich mit<br />

einer Vermehrung der Klugheit und Einsicht? Dubito: ich<br />

werde nur zu viel Gelegenheit haben, das Gegentheil zu<br />

beweisen. Ist die Tugendhaftigkeit als Ziel im rigorösen<br />

Sinne nicht thatsächlich bisher im Widerspruch mit dem<br />

Glücklichwerden gewesen? braucht sie andererseits nicht<br />

das Unglück, die Entbehrung und Selbstmißhandlung als<br />

nothwendiges Mittel? Und wenn die höchste Einsicht<br />

das Ziel wäre, müßte man nicht eben damit die<br />

Page Break KGW='VIII-2.195' KSA='12.529'


Steigerung des Glücks ablehnen? und die Gefahr, das<br />

Abenteuer, das Mißtrauen, die Verführung als Weg zur<br />

Einsicht wählen? …<br />

und will man Glück, nun, so muß man vielleicht<br />

zu den „Armen des Geistes“ sich gesellen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11648 id='VIII.10[125]' kgw='VIII-2.195' ksa='12.529'<br />

(240) Die wohlwollenden hulfreichen gutigen Gesinnungen<br />

sind schlechterdings nicht um des Nutzens willen, der<br />

von ihnen ausgeht, zu Ehren gekommen: sondern weil sie<br />

Zustände reicher Seelen sind, welche abgeben können<br />

und ihren Werth als Füllegefühl des Lebens tragen.<br />

Man sehe die Augen des Wohlthäters an! Das ist das<br />

Gegenstück der Selbstverneinung, des Hasses auf das moi,<br />

des „Pascalisme“. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11649 id='VIII.10[126]' kgw='VIII-2.195' ksa='12.529'<br />

(241) Alles, was aus der Schwäche kommt, aus der Selbstanzweiflung<br />

und Kränkelei der Seele, taugt nichts: und<br />

wenn es in der größten Wegwerfung von Hab und Gut<br />

sich äußerte. Denn es vergiftet als Beispiel das Leben…<br />

Der Blick eines Priesters, sein bleiches Abseits hat<br />

dem Leben mehr Schaden gestiftet als alle seine Hingebung<br />

Nutzen stiftet: solch Abseits verleumdet das Leben …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11650 id='VIII.10[127]' kgw='VIII-2.195' ksa='12.529'<br />

(242) Die Präoccupation mit sich und seinem „ewigen Heile“<br />

ist nicht der Ausdruck einer reichen und selbstgewissen<br />

Natur: denn diese fragt den Teufel danach, ob sie selig<br />

wird, — sie hat kein solches Interesse am Glück irgend<br />

welcher Gestalt, sie ist Kraft, That, Begierde, — sie drückt<br />

sich den Dingen auf, sie vergreift sich an den Dingen<br />

… Christenthum ist eine romantische Hypochondrie<br />

solcher, die nicht auf festen Beinen stehn. — Überall, wo<br />

Page Break KGW='VIII-2.196' KSA='12.530'<br />

die hedonistische Perspektive in den Vordergrund<br />

tritt, darf man auf Leiden und eine gewisse<br />

Mißrathenheit schließen.


<strong>Aphorism</strong> n=11651 id='VIII.10[128]' kgw='VIII-2.196' ksa='12.530'<br />

(243) Wie unter dem Druck der asketischen Entselbstungs-Moral<br />

gerade die Affekte der Liebe, der Güte,<br />

des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit, der Großmuth, des<br />

Heroism mißverstanden werden mußten:<br />

Hauptcapitel.<br />

Es ist der Reichthum an Person, die Fülle in<br />

sich, das Überströmen und Abgeben, das instinktive Wohlsein<br />

und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die<br />

große Liebe macht: es ist die starke und göttliche<br />

Selbstigkeit, aus der diese Affekte wachsen, so gewiß wie<br />

auch das Herr-werden-wollen, Übergreifen, die innere Sicherheit,<br />

ein Recht auf Alles zu haben. Die nach gemeiner Auffassung<br />

entgegengesetzten Gesinnungen sind vielmehr<br />

Eine Gesinnung; und wenn man nicht fest und<br />

wacker in seiner Haut sitzt, so hat man nichts abzugeben,<br />

und Hand auszustrecken(1576), und Schutz und Stab zu(1577)<br />

sein…<br />

Wie hat man diese Instinkte so umdeuten können,<br />

daß der Mensch als werthvoll empfindet, was seinem Selbst<br />

entgegengeht? wenn er sein Selbst einem andern Selbst<br />

preisgiebt!<br />

Oh über die psychologische Erbärmlichkeit und Lügnerei,<br />

welche bisher in Kirche und kirchlich angekränkelter<br />

Philosophie das große Wort geführt hat!<br />

Wenn der Mensch sündhaft ist, durch und durch, so<br />

darf er sich nur hassen. Im Grunde dürfte er auch seine<br />

Mitmenschen mit keiner anderen Empfindung behandeln<br />

wie sich selbst; Menschenliebe bedarf einer Rechtfertigung,<br />

— sie liegt darin, daß Gott sie befohlen hat. —<br />

Page Break KGW='VIII-2.197' KSA='12.531'<br />

Hieraus folgt, daß alle die natürlichen Instinkte des<br />

Menschen (zur Liebe usw.) ihm an sich unerlaubt scheinen und<br />

erst, nach ihrer Verleugnung, auf Grund eines<br />

Gehorsams gegen Gott wieder zu Recht kommen… Pascal,<br />

der bewunderungswürdige Logiker des Christenthums,<br />

gieng so weit! man erwäge sein Verhältniß zu seiner<br />

Schwester, p. 162: „sich nicht lieben machen“ schien ihm<br />

christlich.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11652 id='VIII.10[129]' kgw='VIII-2.197' ksa='12.531'<br />

NB. Beweis der Hypothese und Erklärung auf Grund der<br />

Hypothese — nicht zu verwechseln!


<strong>Aphorism</strong> n=11653 id='VIII.10[130]' kgw='VIII-2.197' ksa='12.531'<br />

„Schlachtgemeinschaft ist noch im Islam Sakralgemeinschaft:<br />

wer an unserem Gottesdienst theilnimmt und unser Schlachtfleisch<br />

ißt, der ist ein Muslim.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11654 id='VIII.10[131]' kgw='VIII-2.197' ksa='12.531'<br />

(244) „Ein Gebot des Cultus verwandelt sich in ein Gebot<br />

der Cultur.“ Muhammed verbot das Blutessen (die<br />

Heiden ließen Thiere zur Ader, um in Hungersnöthen eine<br />

Art Blutwurst zu machen)<br />

Hauptritus: das Blut ungenützt fließen lassen<br />

Wein und Oel unarabisch (beim Opfer)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11655 id='VIII.10[132]' kgw='VIII-2.197' ksa='12.531'<br />

— — — denn unsere bisherigen Werthe sind es, aus denen der<br />

Nihilismus(1578) die Schlußfolgerung ist<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11656 id='VIII.10[133]' kgw='VIII-2.197' ksa='12.531'<br />

(245) Nützlich sind die Affekte allesammt, die einen direkt,<br />

die anderen indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen<br />

ist es schlechterdings unmöglich, irgend eine Werthabfolge<br />

Page Break KGW='VIII-2.198' KSA='12.532'<br />

festzusetzen, — so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte<br />

in der Natur allesammt gut d.h. nützlich sind, so viel<br />

furchtbares und unwiderrufliches Verhängniß auch von<br />

ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die<br />

mächtigsten Affekte die werthvollsten sind: insofern es keine<br />

größeren Kraftquellen giebt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11657 id='VIII.10[134]' kgw='VIII-2.198' ksa='12.532'<br />

(246) Die Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen<br />

Abwerthung und ihres „nützlich“ und „schädlich“ hat<br />

ihren guten Sinn; es ist die nothwendige Perspektive der


Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in Hinsicht<br />

der Folgen zu übersehen vermag. — Der Staat<br />

und der Politiker hat schon eine mehr übermoralische<br />

Denkweise nöthig: weil er viel größere Complexe<br />

von Wirkungen zu berechnen hat. Insgleichen wäre eine<br />

Weltwirthschaft möglich, die so ferne Perspektiven hat,<br />

daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick<br />

als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11658 id='VIII.10[135]' kgw='VIII-2.198' ksa='12.532'<br />

(247) Das Christenthum ist möglich als privateste Daseinsform;<br />

es setzt eine enge, abgezogene, vollkommen unpolitische<br />

Gesellschaft voraus, — es gehört ins Conventikel.<br />

Ein „christlicher Staat“ dagegen, eine „christliche<br />

Politik“, — das sind bloß Dank-Gebets-Worte im Munde<br />

solcher, welche Gründe haben, Dank-Gebets-Worte zu<br />

machen. Daß diese auch von einem „Gott der Heerscharen“<br />

als Generalstabschef reden: sie täuschen Niemanden damit.<br />

In praxi treibt auch der christliche Fürst die Politik<br />

Macchiavells: vorausgesetzt nämlich daß er nicht schlechte<br />

Politik treibt.<br />

Page Break KGW='VIII-2.199' KSA='12.533'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11659 id='VIII.10[136]' kgw='VIII-2.199' ksa='12.533'<br />

(248) Mit der moralischen(1579) Herabwürdigung des ego geht<br />

auch noch in der Naturwissenschaft eine Überschätzung der<br />

Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas<br />

ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche<br />

Distinktion gemacht. Das ego ist hundert Mal mehr als bloß<br />

eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette<br />

selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße<br />

Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren<br />

partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist,<br />

das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus<br />

kein Thatbestand: vielmehr nur das Muster einer<br />

fehlerhaften Interpretation.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11660 id='VIII.10[137]' kgw='VIII-2.199' ksa='12.533'<br />

(249) Nothwendigkeit einer objektiven Werthsetzung.<br />

In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und<br />

Gegeneinander-arbeitens, wie es das Gesammtleben


jedes Organism darstellt, ist dessen bewußte Welt<br />

von Gefühlen, Absichten, Werthschätzungen ein kleiner<br />

Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum?<br />

für jenes Gesammt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt<br />

uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein<br />

Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des<br />

Lebens. Deshalb ist es eine Naivetät, Lust oder Geistigkeit<br />

oder Sittlichkeit oder irgend eine Einzelheit der Sphäre<br />

des Bewußtseins als höchsten Werth anzusetzen: und vielleicht<br />

gar „die Welt“ aus ihnen zu rechtfertigen. — Das ist<br />

mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen(1580)<br />

Kosmo- und Theodiceen, gegen alle Warum's<br />

und höchsten Werthe in der bisherigen Philosophie<br />

und Religionsphilosophie. Eine Art der Mittel ist<br />

als Zweck mißverstanden worden: das Leben<br />

Page Break KGW='VIII-2.200' KSA='12.534'<br />

und seine Machtsteigerung wurde<br />

umgekehrt zum Mittel erniedrigt.<br />

Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen<br />

wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten<br />

Lebens zusammenfallen; er müßte vielmehr jede noch<br />

erklären als Mittel zu sich…<br />

die „Verneinung des Lebens“ als Ziel des Lebens, Ziel<br />

der Entwicklung, das Dasein als große Dummheit: eine<br />

solche Wahnwitz-Interpretation ist nur die<br />

Ausgeburt einer Messung des Lebens mit Faktoren des<br />

Bewußtseins (Lust und Unlust, Gut und Böse) Hier<br />

werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck;<br />

die „unheiligen“, absurden, vor allem unangenehmen<br />

Mittel — wie kann der Zweck etwas taugen, der<br />

solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler steckt darin, daß<br />

wir, statt nach dem Zweck zu suchen, der die<br />

Nothwendigkeit solcher Mittel erklärt, von vornherein<br />

einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade<br />

ausschließt: d.h. daß wir eine Wünschbarkeit in<br />

Bezug auf gewisse Mittel (nämlich angenehme, rationelle,<br />

tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst<br />

ansetzen, welcher Gesammtzweck wünschbar ist…<br />

Der Grundfehler steckt immer darin, daß wir die<br />

Bewußtheit, statt sie als Werkzeug und Einzelheit im<br />

Gesammt-Leben, als Maaßstab, als höchsten Werthzustand<br />

des Lebens ansetzen: kurz, die fehlerhafte Perspektive<br />

des a parte ad totum. Weshalb instinktiv alle<br />

Philosophen(1581) darauf aus sind, ein Gesammtbewußtsein,<br />

ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was<br />

geschieht, einen „Geist“ „Gott“ zu imaginiren. Man muß<br />

ihnen aber sagen, daß eben damit das Dasein zum<br />

Monstrum wird; daß ein „Gott“ und Gesammtsensorium<br />

schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein


verurtheilt werden müßte… Gerade daß wir das<br />

Page Break KGW='VIII-2.201' KSA='12.535'<br />

zweck- und mittelsetzende Gesammt-Bewußtsein<br />

eliminirt haben: das ist unsere große Erleichterung,<br />

— damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen…<br />

Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die<br />

Existenz Gottes…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11661 id='VIII.10[138]' kgw='VIII-2.201' ksa='12.535'<br />

(250) Die einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Begriff<br />

„Gott“ aufrecht zu erhalten, wäre: Gott, nicht als<br />

treibende Kraft, sondern Gott als Maximal-zustand,<br />

als eine Epoche… Ein Punkt in der Entwicklung des<br />

Willens zur Macht, aus dem sich ebenso sehr die<br />

Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm<br />

erklärte…<br />

— mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des<br />

Gesammt-werdens constant; ökonomisch betrachtet, steigt sie<br />

bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab<br />

in einem ewigen Kreislauf; dieser „Wille zur Macht“<br />

drückt sich in der Ausdeutung, in der Art des<br />

Kraftverbrauchs aus — Verwandlung der Energie<br />

in Leben und Leben in höchster Potenz erscheint demnach<br />

als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den<br />

verschiedenen Stufen der Entwicklung Verschiedenes:<br />

— das, was das Wachsthum im Leben ausmacht, ist die<br />

immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche<br />

mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht… Als Ideal<br />

das Princip des kleinsten Aufwandes…<br />

— daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand<br />

hinauswill, ist das Einzige, was bewiesen ist. Folglich<br />

muß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein<br />

Gleichgewichtszustand ist…<br />

— die absolute Necessität des gleichen Geschehens in<br />

einem Weltlauf wie in allen übrigen in Ewigkeit, nicht<br />

ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der<br />

Page Break KGW='VIII-2.202' KSA='12.536'<br />

Ausdruck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich ist …<br />

daß eine bestimmte Kraft eben nichts anderes sein kann<br />

als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem<br />

Quantum Kraft-Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer<br />

Stärke gemäß ist — Geschehen und Nothwendig-Geschehen<br />

ist eine Tautologie.


<strong>Aphorism</strong> n=11662 id='VIII.10[139]' kgw='VIII-2.202' ksa='12.536'<br />

Lieber der letzte in Rom als der erste in der Provinz: auch<br />

so ist es noch cäsarisch.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11663 id='VIII.10[140]' kgw='VIII-2.202' ksa='12.536'<br />

Das Leben in seiner kleinsten Form kann am ersten<br />

zur Vollkommenheit gebracht werden: Goethe sagt z.B. …<br />

aber im Kleinsten die Ersten sein — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11664 id='VIII.10[141]' kgw='VIII-2.202' ksa='12.536'<br />

(251) Ich liebe die Unglücklichen, welche sich schämen;<br />

die nicht ihre Nachttöpfe voll Elend auf die Gasse<br />

schütten; denen so viel guter Geschmack auf Herz und Zunge<br />

zurück blieb, sich zu sagen „man muß sein Unglück in<br />

Ehren halten, man muß es verbergen“…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11665 id='VIII.10[142]' kgw='VIII-2.202' ksa='12.536'<br />

— man muß Schlimmeres, Tieferes erlebt haben als die Herren<br />

Pessimisten von Heute, diese mageren Affen, denen nicht<br />

Schlimmes und Tiefes zustoßen wird, um vor deren Pessimism<br />

Achtung haben zu dürfen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11666 id='VIII.10[143]' kgw='VIII-2.202' ksa='12.536'<br />

(252) Nichts fällt uns leichter als weise, geduldig, überlegen,<br />

voll Nachsicht, Geduld und Mitgefühl zu sein; wir sind<br />

auf eine absurde Weise in Allem und Jedem unmenschlichgerecht,<br />

wir verzeihen Alles. Verzeihen, das gerade ist<br />

Page Break KGW='VIII-2.203' KSA='12.537'<br />

unser Element. Ebendarum sollten wir uns etwas strenger<br />

halten und an uns wenigstens von Zeit zu Zeit einen<br />

kleinen Affekt, ein kleines Laster von Affekt, heraufzüchten.<br />

Es mag uns sauer angehn — und, unter uns, wir lachen<br />

über den Aspekt, den wir dabei geben —: aber was hilft<br />

es! wir haben keine andere Art mehr von Selbstüberwindung…


<strong>Aphorism</strong> n=11667 id='VIII.10[144]' kgw='VIII-2.203' ksa='12.537'<br />

(253) Man(1582) hat die Grausamkeit zum tragischen Mitleiden<br />

verfeinert, sodaß sie als solche geleugnet wird.<br />

Desgleichen die Geschlechtsliebe in der Form amour-passion;<br />

die Sklavengesinnung als christlicher Gehorsam; die<br />

Erbärmlichkeit als Demuth; die Erkrankung des nervus<br />

sympathicus z.B. als Pessimismus, Pascalismus oder<br />

Carlylismus usw.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11668 id='VIII.10[145]' kgw='VIII-2.203' ksa='12.537'<br />

(254) Gesichtspunkte für meine Werthe: ob aus der Fülle<br />

oder aus dem Verlangen… ob man zusieht oder Hand<br />

anlegt… oder wegsieht, bei Seite geht… ob aus der<br />

aufgestauten Kraft „spontan“ oder bloß reaktiv angeregt,<br />

angereizt… ob einfach aus Wenigkeit der Elemente<br />

oder aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß<br />

sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie sie braucht… ob<br />

man Problem oder Lösung ist… ob vollkommen<br />

bei der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen<br />

bei dem Außerordentlichen eines Ziels… ob man<br />

ächt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler<br />

ächt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob<br />

man „Vertreter“ oder das Vertretene selbst ist — ob<br />

„Person“ oder bloß ein Rendez-vous von Personen… ob<br />

krank aus Krankheit oder aus überschüssiger<br />

Gesundheit… ob man vorangeht als Hirt oder als<br />

Page Break KGW='VIII-2.204' KSA='12.538'<br />

„Ausnahme“ (dritte Species: als Entlaufener) … ob man<br />

Würde nöthig hat — oder den „Hanswurst“? ob man<br />

den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob<br />

man unvollkommen ist als „zu früh“ oder als „zu spät“<br />

… ob man von Natur Ja sagt oder Nein sagt oder ein<br />

Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug<br />

ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man<br />

eines Gewissensbisses noch fähig ist (die species wird<br />

selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es<br />

scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob<br />

man einer „Pflicht“ noch fähig ist? ( — es giebt solche, die<br />

sich den Rest Lebenslust rauben würden, wenn sie sich<br />

„die Pflicht“ rauben ließen … sonderlich die Weiblichen,<br />

die Unterthänig-Geborenen …)


<strong>Aphorism</strong> n=11669 id='VIII.10[146]' kgw='VIII-2.204' ksa='12.538'<br />

(255) NB. An dieser Stelle weiterzugehn überlasse ich einer<br />

andern Art von Geistern als die meine ist. Ich bin nicht<br />

bornirt genug zu einem System — und nicht einmal zu<br />

meinem System …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11670 id='VIII.10[147]' kgw='VIII-2.204' ksa='12.538'<br />

„Denknothwendigkeiten seien Moralnothwendigkeiten.“<br />

„Der letzte Prüfstein für die Wahrheit eines Satzes ist die<br />

Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung“ (Herbert Spencer) ist Unsinn.<br />

„ein geistiges Produkt zum Prüfstein der objektiven<br />

Wahrheit machen; der abstrakte Ausdruck eines Glaubenssatzes<br />

zum Beweis seiner Wahrheit, zur Rechtfertigung“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11671 id='VIII.10[148]' kgw='VIII-2.204' ksa='12.538'<br />

Es giebt zart und kränklich angelegte Naturen, sogenannte<br />

Idealisten, die es nicht höher treiben können als bis zu einem<br />

Verbrechen, cru, vert: es ist die große Rechtfertigung ihres<br />

kleinen und blassen Daseins, eine Abzahlung für eine lange Feigheit<br />

Page Break KGW='VIII-2.205' KSA='12.539'<br />

und Verlogenheit, ein Augenblick wenigstens von Stärke:<br />

hinterdrein gehen sie daran zu Grunde.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11672 id='VIII.10[149]' kgw='VIII-2.205' ksa='12.539'<br />

(früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt<br />

hat es nicht mehr Zähne genug dazu)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11673 id='VIII.10[150]' kgw='VIII-2.205' ksa='12.539'<br />

Moral als höchste Abwerthung<br />

Entweder ist unsere Welt das Werk und der Ausdruck<br />

(der modus) Gottes: dann muß sie höchst vollkommen<br />

sein (Schluß Leibnitzens …) — und man zweifelte<br />

nicht, was zur Vollkommenheit gehöre, zu wissen —<br />

dann kann das Böse, das Übel nur scheinbar sein


(radikaler bei Spinoza die Begriffe Gut und Böse)<br />

oder muß aus dem höchsten Zweck Gottes abgeleitet sein<br />

( — etwa als Folge einer besonderen Gunsterweisung<br />

Gottes, der zwischen Gut und Böse zu wählen erlaubt: das<br />

Privilegium, kein Automat zu sein; „Freiheit“ auf die<br />

Gefahr hin, sich zu vergreifen, falsch zu wählen… z.B. bei<br />

Simplicius im Commentar zu Epictet)<br />

Oder unsere Welt ist unvollkommen, das Übel und<br />

die Schuld sind real, sind determinirt, sind absolut ihrem<br />

Wesen inhärent; dann kann sie nicht die wahre Welt<br />

sein: dann ist Erkenntniß eben nur der Weg, sie zu<br />

verneinen, dann ist sie eine Verirrung, welche als<br />

Verirrung erkannt werden kann. Dies die Meinung<br />

Schopenhauers auf Kantischen Voraussetzungen. Naiv! Das wäre<br />

ja eben nur ein anderes miraculum! Noch desperater Pascal:<br />

er begriff daß dann auch die Erkenntniß corrupt,<br />

gefälscht sein müsse — daß Offenbarung noth thut, um<br />

die Welt auch nur als verneinenswerth zu begreifen …<br />

(256) Inwiefern der Schopenhauersche(1583) Nihilism<br />

immer noch die Folge des gleichen<br />

Page Break KGW='VIII-2.206' KSA='12.540'<br />

Ideals ist, welches den christlichen Theismus<br />

geschaffen hat<br />

Der Grad von Sicherheit in Betreff der höchsten<br />

Wünschbarkeit, der höchsten Werthe, der höchsten<br />

Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie<br />

von einer absoluten Gewißheit a priori ausgiengen:<br />

„Gott“ an der Spitze als gegebene Wahrheit.<br />

„Gott gleich zu werden“, „in Gott aufzugehn“ — dies<br />

waren Jahrtausende lang die naivsten und überzeugendsten<br />

Wünschbarkeiten ( — aber eine Sache, die überzeugt,<br />

ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend.<br />

Anmerkung für Esel)<br />

Man hat verlernt, jener Ansetzung von Ideal auch die<br />

Personen-Realität zuzugestehn: man ward atheistisch.<br />

Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? —<br />

Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in<br />

ihm die wirkliche „Realität“, das „Ding an sich“, im<br />

Verhältniß zu dem Alles Andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma<br />

ist daß, weil unsere Erscheinungswelt so ersichtlich nicht<br />

der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht „wahr“ ist, —<br />

und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt<br />

als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene<br />

höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund<br />

für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders<br />

wollte, hatte nöthig, jenen metaphysischen Grund sich als<br />

Gegensatz zum Ideale zu denken, als „bösen blinden Willen“:<br />

dergestalt konnte er dann „das Erscheinende“ sein,


das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst<br />

damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf — er<br />

schlich sich durch… (Kant schien die Hypothese der<br />

„intelligiblen Freiheit“ nöthig, um das ens perfectum von der<br />

Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt<br />

zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären:<br />

eine skandalöse Logik bei einem Philosophen …)<br />

Page Break KGW='VIII-2.207' KSA='12.541'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11674 id='VIII.10[151]' kgw='VIII-2.207' ksa='12.541'<br />

(257) Die Moral-Hypothese zum Zweck der Rechtfertigung<br />

Gottes, sehr gut dargestellt im Commentar<br />

des Simplicius zu Epictet, hieß: Das Böse muß freiwillig<br />

sein (bloß damit an die Freiwilligkeit des Guten<br />

geglaubt werden kann) und, andrerseits: in allem<br />

Übel und Leiden liegt ein Heilszweck<br />

Der Begriff Schuld als nicht bis auf die letzten<br />

Gründe des Daseins zurückreichend, und der Begriff Strafe<br />

als eine erzieherische Wohlthat, folglich als Akt eines<br />

guten Gottes.<br />

Absolute Herrschaft der Moral-Werthung über alle<br />

andern: man zweifelte nicht daran, daß Gott nicht böse<br />

sein könne und nichts Schädliches thun könne, d.h. man<br />

dachte sich bei Vollkommenheit bloß eine moralische<br />

Vollkommenheit<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11675 id='VIII.10[152]' kgw='VIII-2.207' ksa='12.541'<br />

(258) Man überlege sich die Einbuße, welche alle menschlichen<br />

Institutionen machen, falls überhaupt eine göttliche<br />

und jenseitige höhere Sphäre angesetzt wird, welche<br />

diese Institutionen erst sanktionirt. Indem man sich<br />

gewöhnt, den Werth dann in dieser Sanktion zu sehn (z.B.<br />

in der Ehe), hat man ihre natürliche Würdigkeit<br />

zurückgesetzt, unter Umständen geleugnet …<br />

Die Natur ist in dem Maaße mißgünstig beurtheilt als man<br />

die Widernatur eines Gottes zu Ehren gebracht hat.<br />

„Natur“ wurde so viel wie „verächtlich“ „schlecht“ …<br />

Das Verhängniß eines Glaubens an die Realität<br />

der höchsten moralischen Qualitäten als<br />

Gott: damit waren alle wirklichen Werthe geleugnet<br />

und grundsätzlich als Unwerthe gefaßt. So stieg das<br />

Widernatürliche auf den Thron. Mit einer


Page Break KGW='VIII-2.208' KSA='12.542'<br />

unerbittlichen Logik langte man bei der absoluten Forderung<br />

der Verneinung der Natur an.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11676 id='VIII.10[153]' kgw='VIII-2.208' ksa='12.542'<br />

(259) Die Überreste der Natur-Entwerthung durch<br />

Moral-Transscendenz:<br />

Werth der Entselbstung, Cultus des Altruismus<br />

Glaube an eine Vergeltung innerhalb des Spiels<br />

der Folgen<br />

Glaube an die „Güte“, an das „Genie“ selbst, wie als<br />

ob das Eine wie das Andere Folgen der Entselbstung<br />

wären.<br />

die Fortdauer der kirchlichen Sanktion des bürgerlichen<br />

Lebens<br />

absolutes Mißverstehen-Wollen der Historie (als<br />

Erziehungswerk zur Moralisirung) oder Pessimism im<br />

Anblick der Historie ( — letzterer so gut eine Folge der<br />

Naturentwerthung wie jene Pseudo-Rechtfertigung,<br />

jenes Nicht-Sehen-Wollen dessen, was der<br />

Pessimist sieht …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11677 id='VIII.10[154]' kgw='VIII-2.208' ksa='12.542'<br />

(260) Meine Absicht, die absolute Homogeneität in allem<br />

Geschehen zu zeigen und die Anwendung der moralischen(1584)<br />

Unterscheidung nur als perspektivisch bedingt;<br />

zu zeigen, wie alles das, was moralisch gelobt wird,<br />

wesensgleich mit allem Unmoralischen ist und nur, wie jede<br />

Entwicklung der Moral, mit unmoralischen Mitteln und<br />

zu unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist …; wie<br />

umgekehrt alles was als unmoralisch in Verruf ist,<br />

ökonomisch betrachtet, das Höhere und Principiellere ist und<br />

wie eine Entwicklung nach größerer Fülle des Lebens<br />

nothwendig auch den Fortschritt der Unmoralität<br />

bedingt… „Wahrheit“ der Grad, in dem wir uns die<br />

Einsicht in diese Thatsache gestatten …<br />

Page Break KGW='VIII-2.209' KSA='12.543'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11678 id='VIII.10[155]' kgw='VIII-2.209' ksa='12.543'<br />

(261) Es giebt heute auch einen Musiker-Pessimismus selbst


noch unter Nicht-Musikern. Wer hat ihn nicht erlebt, wer<br />

hat ihm nicht geflucht — dem unseligen Jüngling, der sein<br />

Clavier bis zum Verzweiflungsschrei martert, der eigenhändig<br />

den Schlamm der düstersten graubraunsten Harmonien<br />

vor sich herwälzt? Damit ist man erkannt, als<br />

Pessimist. — Ob man aber damit auch als musikalisch<br />

erkannt ist? Ich würde es nicht zu glauben wissen. Der<br />

Wagnerianer pur sang ist unmusikalisch; er unterliegt den<br />

Elementarkräften der Musik ungefähr wie das Weib dem<br />

Willen seines Hypnotiseurs unterliegt — und um dies zu<br />

können, darf er durch kein strenges und feines Gewissen<br />

in rebus musicis et musicantibus mißtrauisch gemacht<br />

sein. Ich sagte „ungefähr wie“ —: aber vielleicht handelt<br />

es sich hier um mehr als ein Gleichniß. Man erwäge die<br />

Mittel zur Wirkung, deren sich Wagner mit Vorliebe bedient<br />

( — die er zu einem guten Theile sich erst hat erfinden<br />

müssen): — Wahl der Bewegungen, der Klangfarben seines<br />

Orchesters, das abscheuliche Ausweichen von der Logik und<br />

Quadratur des Rhythmus, das Schleichende, Streichende,<br />

Geheimnißvolle, der Hysterismus seiner „unendlichen Melodie“:<br />

— sie ähneln in einer befremdlichen Weise den Mitteln,<br />

mit denen der Hypnotiseur es zur Wirkung bringt.<br />

Und ist der Zustand, in welchen zum Beispiel das<br />

Lohengrin-Vorspiel den Zuhörer und noch mehr die Zuhörerin<br />

versetzt, wesentlich verschieden von der somnambulischen<br />

Ekstase? — Ich hörte eine Italiänerin nach dem Anhören<br />

des genannten Vorspiels sagen, mit jenen hübsch verzückten<br />

Augen, auf welche sich die Wagnerianerin versteht:<br />

„come si dorme con questa musica!“ —<br />

Page Break KGW='VIII-2.210' KSA='12.544'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11679 id='VIII.10[156]' kgw='VIII-2.210' ksa='12.544'<br />

262 Die „freie Ehe“ ist ein Widersinn; die Erleichterung<br />

in der Ehescheidung ist ein(1585) Stück Wegs dahin: im<br />

Grunde nur als die gefährliche Folge davon, daß man<br />

beim Einrichten der Ehe den Individuen zu viel eingeräumt<br />

hat und(1586) die Gesellschaft nunmehr ihre Verantwortlichkeit<br />

für das Zustandekommen der Ehe hat fahren lassen.<br />

Die Ehe: eine tüchtige, vorurtheilsfreie Zwangs-Einrichtung<br />

mit viel bon sens und ohne Sentimentalität ausgedacht,<br />

grob, viereckig, auf jene Durchschnitts-Naturen(1587)<br />

und natürlichen Bedürfnisse angelegt, auf welche alle<br />

Haupt-Institutionen berechnet sein sollen. Aber ich denke,<br />

es giebt keinen Grund, ihretwegen den Ehebruch mit einem<br />

abergläubischen Entsetzen zu betrachten. Im Gegentheil:<br />

man sollte dafür dankbar sein, daß es in Hinsicht auf die


möglichste Dauer jener Institution ein natürliches Ventil<br />

giebt: damit sie nicht zum Platzen bringt. Eine gute Ehe<br />

verträgt überdieß eine kleine Ausnahme; es kann selbst<br />

die Probe für ihre Güte sein. Principiell geredet: so ist<br />

zwischen Ehebruch und Ehescheidung der Erstere — — —<br />

Die Ehe ist das Stück Natur, welches von der<br />

Gesellschaft mit dem höchsten Werthe ausgezeichnet wird:<br />

denn sie selbst wächst aus der von ihr gepflegten und sicher<br />

gestellten Institution. Nichts ist bei ihr(1588) weniger(1589) am<br />

Platz, als ein absurder Idealism: schon die zum Princip<br />

gemachte „Liebesheirath“ ist ein solcher Idealism.<br />

Die Verwandten sollen bei ihr mehr zu sagen<br />

haben als die berühmten „zwei Herzen“.<br />

Aus der Liebe macht man keine Institution: man macht<br />

sie aus dem Geschlechtstrieb und anderen Natur-Trieben,<br />

welche durch die Ehe befriedigt werden.<br />

Man sollte eben deshalb auch den Priester davonlassen:<br />

man entwürdigt die Natur in der Ehe, wenn man den<br />

Page Break KGW='VIII-2.211' KSA='12.545'<br />

geschworenen Antinaturalisten ermächtigt, etwas zum<br />

Segen der Ehe beitragen zu können — oder gar überhaupt<br />

ihn erst hin einlegen zu können.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11680 id='VIII.10[157]' kgw='VIII-2.211' ksa='12.545'<br />

(263) Moral-Castratismus. — Das Castraten-Ideal.<br />

1.<br />

Das Gesetz, die gründlich realistische Formulirung<br />

gewisser Erhaltungsbedingungen einer Gemeinde, verbietet<br />

gewisse Handlungen in einer bestimmten Richtung,<br />

namentlich insofern sie gegen die Gemeinde sich wenden: sie<br />

verbietet nicht die Gesinnung, aus der diese Handlungen<br />

fließen, — denn sie hat dieselben Handlungen in einer<br />

anderen Richtung nöthig — nämlich gegen die Feinde<br />

der Gemeinschaft. Nun tritt der Moral-Idealist auf und<br />

sagt „Gott siehet das Herz an: die Handlung selbst ist noch<br />

nichts; man muß die feindliche Gesinnung ausrotten, aus<br />

der sie fließt…“ Darüber lacht man in normalen Verhältnissen;<br />

nur in jenen Ausnahmefällen, wo eine Gemeinschaft<br />

absolut außerhalb der Nöthigung lebt, Krieg für ihre<br />

Existenz zu führen, hat man überhaupt das Ohr für solche<br />

Dinge. Man läßt eine Gesinnung fahren, deren Nützlichkeit<br />

nicht mehr abzusehn ist.<br />

Dies war z.B. beim Auftreten Buddhas der Fall,<br />

innerhalb einer sehr friedlichen und selbst geistig


übermüdeten Gesellschaft.<br />

Dies war insgleichen bei der ersten Christengemeinde<br />

(auch Judengemeinde) der Fall, deren Voraussetzung die<br />

absolut unpolitische jüdische Gesellschaft ist. Das<br />

Christenthum konnte nur auf dem Boden des Judenthums<br />

wachsen, d.h. innerhalb eines Volkes, das politisch schon<br />

Verzicht geleistet hatte und eine Art Parasiten-Dasein<br />

innerhalb der römischen Ordnung der Dinge lebte. Das<br />

Page Break KGW='VIII-2.212' KSA='12.546'<br />

Christenthum ist um einen Schritt weiter: man darf<br />

sich noch viel mehr „entmannen“, — die Umstände<br />

erlauben es.<br />

NB. man treibt die Natur aus der Moral heraus,<br />

wenn man sagt „liebet eure Feinde“: denn nun ist die<br />

Natur „du sollst deinen Nächsten lieben, deinen<br />

Feind hassen“ in dem Gesetz (im Instinkt) sinnlos<br />

geworden; nun muß auch die Liebe zu dem Nächsten<br />

sich erst neu begründen (als eine Art Liebe zu<br />

Gott). Überall Gott hinein gesteckt und die „Nützlichkeit“<br />

herausgezogen: überall geleugnet, woher<br />

eigentlich alle Moral stammt: die Naturwürdigung,<br />

welche eben in der Anerkennung einer Natur-Moral<br />

liegt, in Grund und Boden vernichtet …<br />

Woher kommt der Verführungsreiz eines solchen<br />

entmannten Menschheits-Ideals? Warum degoutirt<br />

es nicht, wie uns etwa die Vorstellung des Castraten<br />

degoutirt? … Eben hier liegt die Antwort: die Stimme des<br />

Castraten degoutirt uns auch nicht, trotz der grausamen<br />

Verstümmelung, welche die Bedingung ist: sie ist<br />

süßer geworden … Eben damit, daß der Tugend die<br />

„männlichen Glieder“ ausgeschnitten sind, ist ein<br />

femininischer Stimmklang in die Tugend gebracht, den sie vorher<br />

nicht hatte.<br />

Denken wir anderseits an die furchtbare Härte, Gefahr<br />

und Unberechenbarkeit, die ein Leben der männlichen<br />

Tugenden mit sich bringt — das Leben eines Corsen heute<br />

noch oder das der heidnischen Araber (welches bis auf die<br />

Einzelheiten dem Leben der Corsen gleich ist: die Lieder<br />

könnten von Corsen gedichtet sein) — so begreift man, wie<br />

gerade die robusteste Art Mensch von diesem wollüstigen<br />

Klang der „Güte“, der „Reinheit“ fascinirt und erschüttert<br />

wird… Eine Hirtenweise… ein Idyll… der „gute<br />

Mensch“: dergleichen wirkt am stärksten in Zeiten, wo der<br />

Page Break KGW='VIII-2.213' KSA='12.547'<br />

Gegensatz schauerlich ist(1590) ( — der Römer hat das idyllische<br />

Hirtenstück erfunden — d.h. nöthig gehabt)


2.<br />

Hiermit haben wir aber auch erkannt, in wiefern der<br />

„Idealist“ ( — Ideal-Castrat) auch aus einer<br />

ganz bestimmten Wirklichkeit heraus geht und nicht bloß ein<br />

Phantast ist… Er ist gerade zur Erkenntniß gekommen,<br />

daß für seine Art Realität eine solche grobe Vorschrift des<br />

Verbotes bestimmter Handlungen, in der groben<br />

Populär-Manier des Gesetzes, keinen Sinn hat (weil der<br />

Instinkt gerade zu diesen Handlungen geschwächt ist,<br />

durch langen Mangel an Übung, an Nöthigung zur Übung)<br />

Der Castratist formulirt eine Summe von neuen<br />

Erhaltungsbedingungen für Menschen einer ganz bestimmten<br />

species: darin ist er Realist. Die Mittel zu seiner<br />

Legislatur sind die gleichen, wie für die älteren Legislatoren: der<br />

Appell an alle Art Autorität, an „Gott“, die Benutzung<br />

des Begriffs „Schuld und Strafe“, d.h. er macht sich<br />

den ganzen Zubehör des älteren Ideals zu nutz: nur in<br />

einer neuen Ausdeutung, die Strafe z.B. innerlicher<br />

gemacht (etwa als Gewissensbiß)<br />

In praxi geht diese Species Mensch zu Grunde,<br />

sobald die Ausnahmebedingungen ihrer Existenz<br />

aufhören — eine Art Tahiti und Inselglück, wie es das Leben<br />

der kleinen Juden in der Provinz war. Ihre einzige<br />

natürliche Gegnerschaft ist der Boden, aus dem sie<br />

wuchsen: gegen ihn haben sie nöthig zu kämpfen, gegen ihn<br />

müssen sie die Offensiv- und Defensiv-Affekte<br />

wieder wachsen lassen: ihre Gegner sind die Anhänger des<br />

alten Ideals ( — diese Species Feindschaft ist großartig<br />

durch Paulus im Verhältniß zum jüdischen vertreten, durch<br />

Luther im Verhältniß zum priesterlich-asketischen Ideal)<br />

Page Break KGW='VIII-2.214' KSA='12.548'<br />

Der Buddhismus ist darum die mildmöglichste Form des<br />

Moral-Castratismus, weil er keine Gegnerschaft hat und er<br />

insofern seine ganze Kraft auf die(1591) Ausrottung der feindseligen<br />

Gefühle richten darf. Der Kampf gegen das<br />

ressentiment erscheint fast als erste Aufgabe des Buddhisten:<br />

erst damit ist der Frieden der Seele verbürgt.<br />

Sich loslösen, aber ohne Rancune: das setzt allerdings eine<br />

erstaunlich gemilderte und süß gewordene Menschlichkeit<br />

voraus — Heilige…<br />

3.<br />

Die Klugheit des Moral-Castratismus.<br />

Wie führt man Krieg gegen die männlichen Affekte und<br />

Werthungen? Man hat keine physischen Gewaltmittel,<br />

man kann nur einen Krieg der List, der Verzauberung, der<br />

Lüge, kurz „des Geistes“ führen.<br />

Erstes Recept: man nimmt die Tugend überhaupt für<br />

sein Ideal in Anspruch, man negirt das ältere Ideal bis


zum Gegensatz zu allem Ideal. Dazu gehört<br />

eine Kunst der Verleumdung.<br />

Zweites Recept: man setzt seinen Typus als Werthmaß<br />

überhaupt an; man projicirt ihn in die Dinge, hinter<br />

die Dinge, hinter das Geschick der Dinge — als Gott<br />

Drittes Recept: man setzt die Gegner seines Ideals als<br />

Gegner Gottes an, man erfindet sich das Recht zum<br />

großen Pathos, zur Macht, zu fluchen und zu segnen, —<br />

Viertes Recept: man leitet alles Leiden, alles Unheimliche,<br />

Furchtbare und Verhängnißvolle des Daseins aus der<br />

Gegnerschaft gegen sein Ideal ab: — alles Leiden folgt<br />

als Strafe: und selbst bei den Anhängern ( — es sei<br />

denn, daß es eine Prüfung ist usw.)<br />

Fünftes Recept: man geht so weit, die Natur als<br />

Gegensatz zum eignen Ideal zu entgöttern: man betrachtet<br />

Page Break KGW='VIII-2.215' KSA='12.549'<br />

es als eine große Geduldsprobe, als eine Art Martyrium,<br />

so lange im Natürlichen auszuhalten, man übt sich auf den<br />

dédain der Mienen und Manieren in Hinsicht auf alle<br />

„natürlichen Dinge“ ein<br />

Sechstes Recept: der Sieg der Widernatur, des idealen<br />

Castratismus, der Sieg der Welt des Reinen, Guten,<br />

Sündlosen, Seligen wird projicirt in die Zukunft, als Ende,<br />

Finale, große Hoffnung, als „Kommen des Reichs Gottes“<br />

— Ich hoffe, man kann über diese Emporschraubung<br />

einer kleinen Species zum absoluten Werthmaß der Dinge<br />

noch lachen?…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11681 id='VIII.10[158]' kgw='VIII-2.215' ksa='12.549'<br />

(264) „Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes“: darauf<br />

läuft die argumentatio des Cartesius hinaus. Aber das<br />

heißt, unsern Glauben an den Substanzbegriff schon als<br />

„wahr a priori“ ansetzen: — daß, wenn gedacht wird, es<br />

etwas geben muß, „das denkt“, ist aber einfach eine<br />

Formulirung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu<br />

einem Thun einen Thäter setzt. Kurz, es wird hier bereits<br />

ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht — und nicht<br />

nur constatirt… Auf dem Wege des Cartesius<br />

kommt man nicht zu etwas absolut Gewissem, sondern<br />

nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens<br />

Reduzirt man den Satz auf „es wird gedacht, folglich<br />

giebt es Gedanken“ so hat man eine bloße Tautologie: und<br />

gerade das, was in Frage steht die „Realität des<br />

Gedankens“ ist nicht berührt, — nämlich in dieser Form ist<br />

die „Scheinbarkeit“ des Gedankens nicht abzuweisen. Was


aber Cartesius wollte, ist, daß der Gedanke nicht nur<br />

eine scheinbare Realität hat, sondern an sich.<br />

Page Break KGW='VIII-2.216' KSA='12.550'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11682 id='VIII.10[159]' kgw='VIII-2.216' ksa='12.550'<br />

(265) Die Zunahme der „Verstellung“ gemäß der aufwärtssteigenden<br />

Rangordnung der Wesen. In der anorganischen<br />

Welt scheint sie zu fehlen, in der organischen beginnt<br />

die List: die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die<br />

höchsten Menschen wie Caesar, Napoleon (Stendhals Wort<br />

über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiäner), die<br />

Griechen (Odysseus); die Verschlagenheit gehört ins<br />

Wesen der Erhöhung des Menschen… Problem des<br />

Schauspielers. Mein Dionysos-Ideal… Die Optik aller<br />

organischen Funktionen, aller stärksten Lebensinstinkte: die<br />

irrthum wollende Kraft in allem Leben; der Irrthum<br />

als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor „gedacht“<br />

wird, muß schon „gedichtet“ worden sein; das<br />

Zurechtbilden zu identischen Fällen, zur Scheinbarkeit<br />

des Gleichen ist ursprünglicher als das Erkennen des<br />

Gleichen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11683 id='VIII.10[160]' kgw='VIII-2.216' ksa='12.550'<br />

Schreckgespenster, moralische Gurgeltöne, tragische Farce<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11684 id='VIII.10[161]' kgw='VIII-2.216' ksa='12.550'<br />

Wahrheiten, nach denen sich tanzen läßt, —<br />

Wahrheiten für unsere Füße…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11685 id='VIII.10[162]' kgw='VIII-2.216' ksa='12.550'<br />

Hier sind Wetterwolken: aber ist das ein Grund, daß wir<br />

freien luftigen lustigen Geister nicht uns einen guten Tag machen<br />

sollten?<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11686 id='VIII.10[163]' kgw='VIII-2.216' ksa='12.550'


(266) NB. — sie sind den christlichen Gott los — und<br />

glauben nun um so mehr das christliche Moral-Ideal festhalten<br />

Page Break KGW='VIII-2.217' KSA='12.551'<br />

zu müssen? Das ist eine englische Folgerichtigkeit; das<br />

wollen wir den Moralweiblein à la Eliot überlassen ( — in<br />

England muß man sich für jede kleine Emancipation von<br />

der Theologie auf eine furchtbare Weise als Moral-Fanatiker<br />

wieder zu Ehren bringen…) Das ist dort die<br />

Buße, die man zahlt…<br />

Wenn man den christlichen Glauben aufgiebt, zieht<br />

man sich das Recht zu den moralischen Werthurtheilen des<br />

Christenthums unter den Füßen weg. Diese verstehen sich<br />

schlechterdings nicht von selbst: das muß man heute der<br />

abgeschmackten Flachheit der englischen Freigeister zum<br />

Trotz ans Licht stellen. Das Christenthum ist eine wohl<br />

zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. Bricht<br />

man aus ihm den Glauben an den christlichen Gott heraus,<br />

so bricht man das ganze System seiner Werthungen<br />

zusammen: man hat nichts Festes mehr zwischen den Fingern!<br />

Das Christenthum setzt voraus, daß der Mensch<br />

nicht wisse, nicht wissen könne, was gut und böse<br />

für ihn ist: er glaubt an Gott, der allein es weiß; die<br />

christliche Moral ist ein Befehl aus dem Jenseits, und als solche<br />

jenseits der menschlichen Beurtheilung. — Daß die<br />

Engländer jetzt glauben, von sich aus zu wissen, was gut<br />

und böse ist und folglich das Christenthum nicht mehr<br />

nöthig zu haben, das ist selbst die Folge der Herrschaft<br />

der christlichen Werthurtheile — bis zum Vergessen ihres<br />

Ursprungs, ihres höchst bedingten Rechts auf Dasein.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11687 id='VIII.10[164]' kgw='VIII-2.217' ksa='12.551'<br />

(267) NB. Es giebt ganz naive Völker und Menschen, welche<br />

glauben, ein beständig gutes Wetter sei etwas<br />

Wünschbares: sie glauben noch heute in rebus moralibus,<br />

der „gute Mensch“ allein und nichts als der „gute Mensch“<br />

sei etwas Wünschbares — und eben dahin gehe der Gang<br />

der menschlichen Entwicklung, daß nur er übrig bleibe<br />

Page Break KGW='VIII-2.218' KSA='12.552'<br />

(und allein dahin müsse man alle Absicht richten — )<br />

Das ist im höchsten Grade unökonomisch gedacht<br />

und, wie gesagt, der Gipfel des Naiven. Man ist an die<br />

Annehmlichkeit, die der „gute Mensch“ macht<br />

( — er erweckt keine Furcht, er erlaubt die Ausspannung,<br />

er giebt, was man nehmen kann; — — —


<strong>Aphorism</strong> n=11688 id='VIII.10[165]' kgw='VIII-2.218' ksa='12.552'<br />

(268)(1592) Was verdorben ist durch den Mißbrauch, den die<br />

Kirche damit getrieben hat:<br />

1) die Askese: man hat kaum noch den Muth dazu,<br />

deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im<br />

Dienste der Willens-Erziehung ans Licht zu ziehen.<br />

Unsre absurde Erzieher-Welt (der der „brauchbare<br />

Staatsdiener“ als regulirendes Schema vorschwebt) glaubt<br />

mit „Unterricht“, mit Gehirn-Dressur auszukommen; ihr<br />

fehlt selbst der Begriff davon, daß etwas Anderes zuerst<br />

noth thut — Erziehung der Willenskraft; man legt<br />

Prüfungen für Alles ab, nur nicht für die Hauptsache: ob<br />

man wollen kann, ob man versprechen darf: der<br />

junge Mann wird fertig, ohne auch nur eine Frage,<br />

eine Neugierde für dieses oberste Werthproblem seiner<br />

Natur zu haben<br />

2) das Fasten: in jedem Sinne, auch als Mittel,<br />

die feine Genußfähigkeit aller guten Dinge aufrechtzuerhalten<br />

(z.B. zeitweilig(1593) nicht lesen; keine Musik mehr<br />

hören; nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage<br />

für seine Tugend haben)<br />

3) das „Kloster“, die zeitweilige Isolation mit<br />

strenger Abweisung z.B. der Briefe; eine Art tiefster<br />

Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht<br />

den „Versuchungen“ aus dem Wege gehen will, sondern<br />

den „Pflichten“: ein Heraustreten aus dem Cirkeltanz des<br />

milieu, ein Heraustreten aus der Tyrannei verderblicher<br />

Page Break KGW='VIII-2.219' KSA='12.553'<br />

kleiner Gewohnheiten und Regeln; ein Kampf gegen die<br />

Vergeudung unserer Kräfte in bloßen Reaktionen; ein<br />

Versuch, unserer Kraft Zeit zu geben, sich zu häufen,<br />

wieder spontan zu werden. Man sehe sich unsere Gelehrten<br />

aus der Nähe an: sie denken nur noch reaktiv d.h.<br />

sie müssen erst lesen, um zu denken<br />

4) die Feste. Man muß sehr grob sein, um nicht die<br />

Gegenwart von Christen und christlichen Werthen als<br />

einen Druck zu empfinden unter dem jede eigentliche<br />

Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen:<br />

Stolz, Übermuth, Ausgelassenheit; die Narrheit; der Hohn<br />

über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches<br />

Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit —<br />

lauter Zustände, zu denen der Christ nicht ehrlich Ja sagen<br />

darf.<br />

Das Fest ist Heidenthum par excellence.<br />

5) die Muthlosigkeit vor der eignen Natur:


die Kostümirung ins „Moralische“ —<br />

daß man keine Moral-Formel nöthig hat, um<br />

einen Affekt bei sich gutzuheißen<br />

Maßstab, wie weit Einer zur Natur bei sich Jasagen<br />

kann, — wie viel oder wie wenig er zur Moral rekurriren<br />

muß…<br />

6) der Tod<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11689 id='VIII.10[166]' kgw='VIII-2.219' ksa='12.553'<br />

(269) Proben moralistischer Verleumdungs-Kunst.<br />

Die Moral war bisher die größte Verleumderin und<br />

Giftmischerin des Lebens<br />

Man überlege, bis zu welchem Grade man durch sie<br />

verdorben sein muß, um folgenden Satz zu schreiben:<br />

„Jeder große Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt<br />

aus, was wir verdienen; denn er könnte nicht an uns kommen,<br />

wenn wir ihn nicht verdienten.“ Schopenhauer II, 666<br />

Page Break KGW='VIII-2.220' KSA='12.554'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11690 id='VIII.10[167]' kgw='VIII-2.220' ksa='12.554'<br />

(270) Aesthetica.<br />

Zur Entstehung des Schönen und des Häßlichen.<br />

Was uns instinktiv widersteht, aesthetisch,<br />

ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich,<br />

gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich<br />

redende aesthetische Instinkt (im Ekel z.B.) enthält ein<br />

Urtheil. Insofern steht das Schöne innerhalb der<br />

allgemeinen Kategorie der biologischen Werthe des Nützlichen,<br />

Wohlthätigen, Lebensteigernden: doch so, daß eine<br />

Menge Reize, die ganz von Ferne an nützliche Dinge und<br />

Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des<br />

Schönen d.h. der Vermehrung von Machtgefühl geben ( —<br />

nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen(1594)<br />

solcher Dinge oder ihre Symbole)<br />

Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt<br />

erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsere untersten<br />

Erhaltungswerthe. Davon abgesehn ein Schönes und<br />

ein Häßliches ansetzen wollen ist sinnlos. Das Schöne<br />

existirt so wenig als das Gute, das Wahre. Im Einzelnen<br />

handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingungen(1595)<br />

einer bestimmten Art von Mensch: so wird der<br />

Heerdenmensch bei anderen Dingen das<br />

Werthgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und<br />

Über-mensch.


Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten<br />

Folgen in Betracht zieht, aus der der Werth des<br />

Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt<br />

Alle Instinkt-Urtheile sind kurzsichtig in Hinsicht<br />

auf die Kette der Folgen: sie rathen an, was zunächst<br />

zu thun ist. Der Verstand ist wesentlich ein<br />

Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagiren auf<br />

das Instinkt-Urtheil: er hält auf, er überlegt weiter, er<br />

sieht die Folgenkette ferner und länger.<br />

Page Break KGW='VIII-2.221' KSA='12.555'<br />

Die Schönheits- und Hässlichkeits-Urtheile<br />

sind kurzsichtig — sie haben immer den<br />

Verstand gegen sich —: aber im höchsten Grade<br />

überredend; sie appelliren an unsere Instinkte, dort,<br />

wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein<br />

sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt…<br />

Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen<br />

sich gegenseitig auf und an; wenn der aesthetische<br />

Trieb einmal in Arbeit ist, krystallisirt sich um „das<br />

einzelne Schöne“ noch eine ganze Fülle anderer und<br />

anderswoher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht<br />

möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretirende,<br />

hinzugebende, ausfüllende dichtende Kraft auszuhängen<br />

( — letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen<br />

selber) Der Anblick eines „schönen Weibes“…<br />

Also: 1) das Schönheits-Urtheil ist kurzsichtig, es<br />

sieht nur die nächsten Folgen<br />

2) es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit<br />

einem Zauber, der durch die Association verschiedener<br />

Schönheits-Urtheile bedingt ist, — der aber dem Wesen<br />

jenes Gegenstandes ganz fremd ist.<br />

Ein Ding als schön empfinden heißt: es nothwendig<br />

falsch empfinden… ( — weshalb, beiläufig gesagt, die<br />

Liebesheirath die gesellschaftlich unvernünftigste Art der<br />

Heirath ist — )<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11691 id='VIII.10[168]' kgw='VIII-2.221' ksa='12.555'<br />

(271) Aesthetica.<br />

Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder<br />

eines Volkes), ob und wo das(1596) Urtheil „schön“ angesetzt<br />

wird. Das Gefühl der Fülle, der aufgestauten Kraft<br />

(aus dem es erlaubt ist Vieles muthig und wohlgemuth<br />

entgegenzunehmen, vor dem der Schwächling schaudert)<br />

— das Machtgefühl spricht das Urtheil „schön“ noch<br />

Page Break KGW='VIII-2.222' KSA='12.556'


über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der<br />

Ohnmacht nur als hassenswerth als „häßlich“<br />

abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr<br />

fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als<br />

Gefahr, Problem, Versuchung, — diese Witterung<br />

bestimmt auch noch unser aesthetisches Ja: („das ist schön“<br />

ist eine Bejahung)<br />

Daraus ergiebt sich, in's Große gerechnet, daß die<br />

Vorliebe für fragwürdige und furchtbare<br />

Dinge ein Symptom für Stärke ist: während der<br />

Geschmack am Hübschen und Zierlichen den<br />

Schwachen, den Delikaten zugehört. Die Lust an der<br />

Tragödie kennzeichnet starke Zeitalter und<br />

Charaktere: ihr non plus ultra ist vielleicht die divina(1597)<br />

commedia(1598). Es sind die heroischen Geister, welche zu sich selbst<br />

in der tragischen Grausamkeit Ja sagen: sie sind hart<br />

genug, um das Leiden als Lust zu empfinden… Gesetzt<br />

dagegen, daß die Schwachen von einer Kunst<br />

Genuß begehren, welche für sie nicht erdacht ist, was<br />

werden sie thun, um die Tragödie sich schmackhaft<br />

zu machen? Sie werden ihre eigenen Werthgefühle<br />

in sie hinein interpretiren: z.B. den „Triumph der<br />

sittlichen Weltordnung“ oder die Lehre vom „Unwerth<br />

des Daseins“ oder die Aufforderung zur Resignation<br />

( — oder auch halb medizinische, halb moralische<br />

Affekt-Ausladungen à la Aristoteles) Endlich: die Kunst des<br />

Furchtbaren, insofern sie die Nerven aufregt, kann<br />

als stimulans bei den Schwachen und Erschöpften in<br />

Schätzung kommen: das ist heute z.B. der Grund für die<br />

Schätzung der Wagnerschen(1599) Kunst.<br />

Es ist ein Zeichen von Wohl- und Machtgefühl,<br />

wie viel Einer den Dingen ihren furchtbaren, ihren<br />

fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und ob er<br />

überhaupt „Lösungen“ am Schluß braucht, —<br />

Page Break KGW='VIII-2.223' KSA='12.557'<br />

— diese Art Künstler-Pessimismus ist genau<br />

das Gegenstück zum moralisch-religiösen<br />

Pessimismus, welcher an der „Verderbniß“ des Menschen,<br />

am Räthsel des Daseins leidet. Dies will durchaus<br />

eine Lösung, wenigstens eine Hoffnung auf Lösung… Die<br />

Leidenden, Verzweifelten, An-sich-Mißtrauischen, die<br />

Kranken mit Einem Wort, haben zu allen Zeiten die<br />

entzückenden Visionen nöthig gehabt, um es auszuhalten<br />

(der Begriff „Seligkeit“ ist dieses Ursprungs)<br />

— Ein verwandter Fall: die Künstler der décadence,<br />

welche im Grunde nihilistisch zum Leben stehn,<br />

flüchten in die Schönheit der Form… in die<br />

ausgewählten Dinge wo die Natur vollkommen


ward, wo sie indifferent groß und schön ist…<br />

— die „Liebe zum Schönen“ kann somit etwas Anderes<br />

als das Vermögen sein, ein Schönes zu sehn, das<br />

Schöne zu schaffen: sie kann gerade der Ausdruck<br />

von Unvermögen dazu sein.<br />

— die überwältigenden Künstler, welche einen<br />

Consonanz-Ton aus jedem Conflikte erklingen lassen,<br />

sind die, welche ihre eigene Mächtigkeit und Selbsterlösung<br />

noch den Dingen zu Gute kommen lassen: sie sprechen<br />

ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerkes<br />

aus, — ihr Schaffen ist Dankbarkeit für ihr Sein.<br />

Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt<br />

darin, daß sein aesthetischer Instinkt die ferneren Folgen<br />

übersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nächsten stehen<br />

bleibt, daß er die Ökonomie im Großen bejaht,<br />

welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige<br />

rechtfertigt und nicht nur… rechtfertigt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11692 id='VIII.10[169]' kgw='VIII-2.223' ksa='12.557'<br />

Es giebt eine große Litteratur der Verleumdung<br />

(zu der das neue Testament gehört; die Kirchenväter;<br />

Page Break KGW='VIII-2.224' KSA='12.558'<br />

die imitatio; Pascal; Schopenhauer), der auch eine Kunst der<br />

Verleumdung sekundirt (zu letzterer gehört z.B. Wagners Parsifal)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11693 id='VIII.10[170]' kgw='VIII-2.224' ksa='12.558'<br />

(272) NB Verstecktere Formen des Cultus des<br />

christlichen Moral-Ideals. — Der weichliche und<br />

feige Begriff „Natur“, der von den Naturschwärmern<br />

aufgebracht ist ( — abseits von allen Instinkten für das<br />

Furchtbare, Unerbittliche und Cynische auch der „schönsten“<br />

Aspekte) eine Art Versuch, jene moralisch-christliche<br />

„Menschlichkeit“ aus der Natur herauszulesen,<br />

— der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob<br />

„Natur“ Freiheit, Güte Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit<br />

Idyll sei… immer Cultus der christlichen<br />

Moral im Grunde…<br />

— Stellen zu sammeln, was eigentlich die Dichter<br />

verehrt haben z.B. am Hochgebirge usw. — Was Goethe an<br />

ihr haben wollte, — warum er Spinoza verehrte —<br />

Vollkommene Unwissenheit der Voraussetzung dieses<br />

Cultus …<br />

— der weichliche und feige Begriff „Mensch“


à la Comte und nach Stuart Mill womöglich gar<br />

Cultus-Gegenstand… Es ist immer wieder der Cultus der<br />

christlichen Moral unter einem neuen Namen… die<br />

Freidenker z.B. Guyau<br />

— der weichliche und feige Begriff „Kunst“<br />

als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechtweggekommene<br />

(selbst die Historie z.B. Thierry's): es ist immer<br />

wieder der Cultus des christlichen Moral-Ideals<br />

— und nun gar das ganze socialistische Ideal: nichts<br />

als ein tölpelhaftes Mißverständniß jenes christlichen<br />

Moral-Ideals<br />

Page Break KGW='VIII-2.225' KSA='12.559'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11694 id='VIII.10[171]' kgw='VIII-2.225' ksa='12.559'<br />

Daß die Zahl der Irrthümer abgenommen hat: Naivetät<br />

des Glaubens bei den Freigeistern<br />

der Fortschritt als fühlbare Verbesserung des Lebens<br />

als Triumph der Logik<br />

als Triumph der Liebe (Guyau) Fouillée<br />

zur vollkommenen Kenntniß von sich und den Dingen,<br />

und von da zu einer größeren Consequenz des<br />

Gedankens mit sich<br />

ich finde absolute(1600) Monarchie, göttliches(1601) Recht, Kaste,<br />

Sklaverei als dicke Irrthümer behandelt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11695 id='VIII.10[172]' kgw='VIII-2.225' ksa='12.559'<br />

Bücher: imitatio, christliche Moral<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11696 id='VIII.10[173]' kgw='VIII-2.225' ksa='12.559'<br />

Schopenhauer sagt von den Verfassern der Upanischad<br />

„kaum als Menschen denkbar“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11697 id='VIII.10[174]' kgw='VIII-2.225' ksa='12.559'<br />

Die Begierde vergrößert das, was man haben will; sie<br />

wächst selbst durch Nichterfüllung, — die größten Ideen<br />

sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat.<br />

Wir legen den Dingen immer mehr Werth bei, je mehr<br />

unsere Begierde nach ihnen wächst: wenn die „moralischen


Werthe“ die höchsten Werthe geworden sind, so verräth dies,<br />

daß das moralische Ideal das unerfüllteste gewesen ist.<br />

Insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel der<br />

Seligkeit. Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst eine<br />

Wolke umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen<br />

„Gott“ genannt…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11698 id='VIII.10[175]' kgw='VIII-2.225' ksa='12.559'<br />

Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen<br />

unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem Recht auf<br />

Page Break KGW='VIII-2.226' KSA='12.560'<br />

„Philosophie“. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er<br />

die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten<br />

Muth zu sich selber zu erhalten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11699 id='VIII.10[176]' kgw='VIII-2.226' ksa='12.560'<br />

(273) Es ist heute in der Gesellschaft eine große Menge von<br />

Rücksicht, von Takt und Schonung, von gutwilligem<br />

Stehenbleiben vor fremden Rechten, selbst vor fremden<br />

Ansprüchen verbreitet; mehr noch gilt ein gewisser<br />

wohlwollender Instinkt des menschlichen Werthes überhaupt,<br />

welcher sich im Vertrauen und Credit jeder Art zu erkennen<br />

giebt; die Achtung vor den Menschen und zwar<br />

ganz und gar nicht bloß vor den tugendhaften Menschen —<br />

ist vielleicht das Element, welches uns am stärksten von<br />

einer christlichen Werthung abtrennt. Wir haben ein gut<br />

Theil Ironie, wenn wir überhaupt noch Moral predigen<br />

hören; man erniedrigt sich in unsern Augen und wird<br />

scherzhaft, falls man Moral predigt.<br />

Diese moralistische Liberalität gehört zu<br />

den besten Zeichen unserer Zeit. Finden wir Fälle, wo sie<br />

entschieden fehlt, so muthet uns das wie Krankheit an (der<br />

Fall Carlyle in England, der Fall Ibsen in Norwegen, der<br />

Fall des Schopenhauerschen(1602) Pessimismus in ganz Europa)<br />

Wenn irgend etwas mit unserer Zeit versöhnt, so ist es das<br />

große Quantum Immoralität welches sie sich gestattet,<br />

ohne darum von sich geringer zu denken. Im Gegentheil!<br />

— Was macht denn die Überlegenheit der Cultur<br />

gegen die Unkultur aus? Der Renaissance z.B. gegen das<br />

Mittelalter? — Immer nur Eins: das große Quantum<br />

zugestandener Immoralität. Daraus folgt, mit<br />

Nothwendigkeit, als was alle Höhen der menschlichen<br />

Entwicklung sich dem Auge der Moral-Fanatiker darstellen


müssen: als non plus ultra der Corruption ( — man denke<br />

an Platos Urtheil über das Perikleische Athen, an<br />

Page Break KGW='VIII-2.227' KSA='12.561'<br />

Savonarolas Urtheil über Florenz, an Luthers Urtheil über<br />

Rom, an Rousseaus Urtheil über die Gesellschaft Voltaires,<br />

an das deutsche Urtheil contra Goethe.)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11700 id='VIII.10[177]' kgw='VIII-2.227' ksa='12.561'<br />

(274) Man muß zusammenrechnen, was Alles sich gehäuft<br />

hatte, als Folge der höchsten moralischen Idealität:<br />

wie sich fast alle sonstigen Werthe um das<br />

Ideal krystallisirt hatten<br />

das beweist, daß es am längsten, am stärksten<br />

begehrt worden ist, — daß es nicht erreicht worden<br />

ist: sonst würde es enttäuscht haben (resp. eine<br />

mäßigere Werthung nach sich gezogen haben)<br />

die höchste Ehre und Macht bei Menschen: selbst von<br />

Seiten der Mächtigsten.<br />

die einzige ächte Art des Glücks<br />

ein Vorrecht zu Gott, zur Unsterblichkeit, unter<br />

Umständen zur unio<br />

die Macht über die Natur — der „Wunderthäter“<br />

(Parsifal)<br />

Macht über Gott, über Seligkeit und Verdammniß der<br />

Seele usw.<br />

der Heilige als die mächtigste Species Mensch —:<br />

diese Idee hat den Werth der moralischen Vollkommenheit<br />

so hoch gehoben.<br />

Man muß die gesammte Erkenntniß sich bemüht denken,<br />

zu beweisen, daß der moralischste Mensch der<br />

mächtigste, göttlichste ist<br />

— die Überwältigung der Sinne, der Begierden —<br />

alles erregte Furcht … das Widernatürliche erschien<br />

als das Übernatürliche, Jenseitige …<br />

Page Break KGW='VIII-2.228' KSA='12.562'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11701 id='VIII.10[178]' kgw='VIII-2.228' ksa='12.562'<br />

(275) „das christliche Ideal“: jüdisch klug in Scene gesetzt.<br />

die psychologischen Grundtriebe, seine<br />

„Natur“:<br />

: der Aufstand gegen die herrschende geistliche Macht


: Versuch, die Tugenden, unter denen das Glück der<br />

Niedrigsten möglich ist, zum richterlichen Ideal<br />

aller Werthe zu machen, — es Gott zu heißen: der<br />

Erhaltungs-Instinkt der lebensärmsten Schichten<br />

: die absolute Enthaltung von Krieg und Widerstand<br />

aus dem Ideal zu rechtfertigen, — insgleichen<br />

den Gehorsam<br />

: die Liebe unter einander, als Folge der Liebe zu Gott<br />

Kunstgriff: alle natürlichen mobilia<br />

ableugnen und umkehren ins Geistlich-Jenseitige … die<br />

Tugend und deren Verehrung ganz und gar für<br />

sich ausnützen, schrittweise sie allem Nicht-Christlichen<br />

absprechen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11702 id='VIII.10[179]' kgw='VIII-2.228' ksa='12.562'<br />

(276) Typus der Predigt des ressentiment<br />

Proben der heiligen Unverschämtheit.<br />

Paulus 1 Cor. 1, 20<br />

Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Thorheit<br />

gemacht?<br />

21 Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner<br />

Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch<br />

thörichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben.<br />

26 Nicht viel Weise nach dem Fleische, nicht viel Gewaltige,<br />

nicht viel Edle sind berufen.<br />

27 Sondern was thöricht ist vor der Welt, das hat Gott<br />

erwählet, daß er die Weisen zu Schanden mache; und was<br />

schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er<br />

zu Schanden mache, was stark ist;<br />

Page Break KGW='VIII-2.229' KSA='12.563'<br />

28 Und das Unedle vor der Welt, und das Verachtete hat<br />

Gott erwählet, und das da Nichts ist, daß er zu Nichte<br />

mache, was Etwas ist;<br />

29 Auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme.<br />

Paulus 1 Cor. 3, 16<br />

Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der<br />

Geist Gottes in euch wohnt?<br />

17 So Jemand den Tempel Gottes verderbet, den wird<br />

Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, der<br />

seid ihr.<br />

1 Cor. 6, 2 Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt<br />

richten werden? So denn nun die Welt soll von euch<br />

gerichtet werden: seid ihr denn nicht gut genug, geringere<br />

Sachen zu richten?<br />

Wisset ihr nicht, daß wir über die Engel richten werden?<br />

Wie viel mehr über die zeitlichen Güter!


Die Menschheit hat die Selbstvergötterung<br />

dieser kleinen Leute theuer bezahlen müssen: es<br />

ist das Judenthum noch einmal<br />

„das auserwählte Volk“; die Welt, die Sünde gegen<br />

sich; der heilige Gott als „fixe Idee“; die Sünde als einzige<br />

Causalität des Leidens; alles Nicht-Sündige nur<br />

Schein-Leiden. Gegen die Sünde ein allzeit bereites und<br />

leichtes Mittel …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11703 id='VIII.10[180]' kgw='VIII-2.229' ksa='12.563'<br />

(277) Ob nicht ganz dieselbe frech-fromme Interpretations-Manier<br />

der Geschichte (d.h. absolute Fälschung, um<br />

die Gültigkeit des Priester-codex zu beweisen) auch für<br />

die jüdisch-christlichen Interpreten und Erzähler der<br />

Geschichte Jesu gilt? —<br />

von Paulus zu rechtgemacht a) Tod für unsere<br />

Sünden b) Sinn der Auferstehung<br />

Page Break KGW='VIII-2.230' KSA='12.564'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11704 id='VIII.10[181]' kgw='VIII-2.230' ksa='12.564'<br />

(278) Die Realität, auf der das Christenthum sich aufbauen<br />

konnte, war die kleine jüdische Familie der Diaspora,<br />

mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen<br />

römischen Reiche unerhörten und vielleicht<br />

unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen für einander,<br />

mit ihrem verborgenen und in Demuth verkleideten Stolz<br />

der „Auserwählten“, mit ihrem innerlichsten Neinsagen<br />

ohne Neid, zu allem, was obenauf ist und was Glanz und<br />

Macht für sich hat. Das als Macht erkannt zu<br />

haben, diesen seelischen(1603) Zustand als mittheilsam,<br />

verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben<br />

— ist das Genie des Paulus: den Schatz von latenter<br />

Energie, von klugem Glück auszunützen zu einer<br />

„jüdischen Kirche freieren Bekenntnisses“, die ganze<br />

jüdische Erfahrung und Meisterschaft der<br />

Gemeinde-Selbsterhaltung unter der Fremdherrschaft, auch<br />

die jüdische propaganda — das errieth er als seine<br />

Aufgabe. Was er vorfand, das war eben jene absolut<br />

unpolitische und abseits gestellte Art kleiner Leute: ihre<br />

Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen, in einer<br />

Anzahl Tugenden angezüchtet, welche den einzigen Sinn von<br />

Tugend ausdrückten („Mittel der Erhaltung und Steigerung<br />

einer bestimmten Art Mensch“)


Aus der kleinen jüdischen Gemeinde kommt das Princip<br />

der Liebe her: es ist eine leidenschaftlichere<br />

Seele, die hier unter der Asche von Demuth und<br />

Armseligkeit glüht: so war es weder griechisch noch<br />

indisch noch gar germanisch. Das Lied zu Ehren der Liebe,<br />

welches Paulus gedichtet hat, ist nichts Christliches,<br />

sondern ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die<br />

semitisch ist. Wenn das Christenthum etwas Wesentliches in<br />

psychologischer Hinsicht gethan hat, so ist es eine<br />

Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen<br />

Page Break KGW='VIII-2.231' KSA='12.565'<br />

kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf<br />

waren; es war die Entdeckung, daß das elendste Leben<br />

reich und unschätzbar werden kann durch eine<br />

Temperatur-Erhöhung…<br />

Es versteht sich, daß eine solche Übertragung nicht<br />

stattfinden konnte in Hinsicht auf die herrschenden Stände:<br />

die Juden und Christen hatten die schlechten Manieren<br />

gegen sich, — und was Stärke und Leidenschaft der Seele<br />

bei schlechten Manieren ist, das wirkt abstoßend und<br />

beinahe Ekel erregend. ( — Ich sehe diese schlechten<br />

Manieren, wenn ich das neue Testament lese) Man mußte<br />

durch Niedrigkeit und Noth mit dem hier redenden Typus<br />

des niederen Volks verwandt sein, um das Anziehende zu<br />

empfinden … Es ist eine Probe davon, ob man etwas<br />

klassischen Geschmack im Leibe hat, wie man<br />

zum neuen Testament steht (vergl. Tacitus): wer davon<br />

nicht revoltirt ist, wer dabei nicht ehrlich und gründlich<br />

etwas von foeda superstitio empfindet, etwas, wovon<br />

man die Hand zurückzieht, wie um nicht sich zu beschmutzen:<br />

der weiß nicht, was klassisch ist. Man muß das<br />

„Kreuz“ empfinden wie Goethe —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11705 id='VIII.10[182]' kgw='VIII-2.231' ksa='12.565'<br />

„Das Heil kommt von den Juden“ — hat der<br />

Stifter des Christenthums gesagt (Ev. Joh. 4, 22) Und man hat<br />

es ihm geglaubt!!!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11706 id='VIII.10[183]' kgw='VIII-2.231' ksa='12.565'<br />

(279) Wenn man sich den ersten Eindruck des neuen Testaments<br />

eingesteht: etwas Ekelhaftes und Widriges vom<br />

schlechten Geschmack, eine Mucker-Sentimentalität, lauter<br />

widrige Symbole im Vordergrunde; und die verdorbene


Luft des Winkels und des Conventikels: — man sympathisirt<br />

nicht. Pilatus, Pharisäer —<br />

Page Break KGW='VIII-2.232' KSA='12.566'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11707 id='VIII.10[184]' kgw='VIII-2.232' ksa='12.566'<br />

(280) Daß es nicht darauf ankommt, ob etwas wahr<br />

ist, sondern wie es wirkt — absoluter Mangel an<br />

intellektueller(1604) Rechtschaffenheit. Alles ist<br />

gut, die Lüge, die Verleumdung, die unverschämteste<br />

Zurechtmachung, wenn es dient, jenen Wärmegrad zu<br />

erhöhen, — bis man „glaubt“ —<br />

Eine förmliche Schule der Mittel der Verführung<br />

zu einem Glauben: principielle Verachtung<br />

der Sphären, woher der Widerspruch kommen könnte<br />

( — der Vernunft, der Philosophie und Weisheit, des<br />

Mißtrauens, der Vorsicht); ein unverschämtes Loben und<br />

Verherrlichen der Lehre unter beständiger Berufung darauf(1605),<br />

daß Gott es sei, der sie gebe — daß der Apostel nichts<br />

bedeute, — daß hier nichts zu kritisiren sei, sondern nur<br />

zu glauben, anzunehmen; daß es die außerordentlichste<br />

Gnade und Gunst sei, eine solche Erlösungslehre zu<br />

empfangen; daß die tiefste Dankbarkeit und Demuth der<br />

Zustand sei, in dem man sie zu empfangen habe…<br />

Es wird beständig spekulirt auf die ressentiments,<br />

welche diese Niedrig-Gestellten gegen Alles, was in Ehren ist,<br />

empfinden: daß man ihnen diese Lehre als Gegensatz-Lehre<br />

gegen die Weisheit der Welt, gegen die Macht der<br />

Welt darstellt, das verführt zu ihr. Sie überredet die<br />

Ausgestoßenen und Schlechtweggekommenen aller Art, sie<br />

verspricht die Seligkeit, den Vorzug, das Privilegium den<br />

Unscheinbarsten und Demüthigsten; sie fanatisirt die<br />

armen kleinen thörichten Köpfe zu einem unsinnigen Dünkel,<br />

wie als ob sie der Sinn und das Salz der Erde wären —<br />

Das Alles, nochmals gesagt, kann man nicht tief genug<br />

verachten: wir ersparen uns die Kritik der Lehre;<br />

es genügt die Mittel anzusehn, deren sie sich bedient, um<br />

zu wissen, womit man es zu thun hat. In der ganzen<br />

Geschichte des Geistes giebt es keine frechere und barere<br />

Page Break KGW='VIII-2.233' KSA='12.567'<br />

Lüge, keine durchdachtere Nichtswürdigkeit als das<br />

Christenthum — Aber — sie akkordirte mit der Tugend,<br />

sie nahm die ganze Fascinations-Kraft der Tugend<br />

schamlos für sich allein in Anspruch … sie akkordirte<br />

mit der Macht des Paradoxen, mit dem Bedürfniß<br />

alter Civilisationen nach Pfeffer und Widersinn; sie


verblüffte, sie empörte, sie reizte auf zu Verfolgung und zu<br />

Mißhandlung, —<br />

Es ist genau dieselbe Art durchdachter<br />

Nichtswürdigkeit, mit der die jüdische Priesterschaft<br />

ihre Macht festgestellt hat und die jüdische Kirche<br />

geschaffen worden ist…<br />

Man soll unterscheiden: 1) jene Wärme der Leidenschaft<br />

„Liebe“ (auf dem Untergrund einer hitzigen<br />

Sinnlichkeit ruhend) 2) das absolut Unvornehme des<br />

Christenthums<br />

— die beständige Übertreibung, die Geschwätzigkeit<br />

— den Mangel an kühler Geistigkeit und Ironie ( — es<br />

kommt kein schlechter Witz vor und damit nicht einmal<br />

ein guter)<br />

— das Unmilitärische in allen Instinkten<br />

— das priesterliche Vorurtheil gegen den männlichen<br />

Stolz, die Sinnlichkeit, die Wissenschaften und die Künste.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11708 id='VIII.10[185]' kgw='VIII-2.233' ksa='12.567'<br />

(281) Es fehlt absolut alles Geistige in diesem Buch: „Geist“<br />

selbst kommt nur als Mißverständniß vor(1606).<br />

Sehr wesentlich dieser Gegensatz: „Geist und Fleisch“.<br />

Hier ist „Geist“ in einem priesterlichen Sinn ausgedeutet<br />

der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch ist<br />

kein nütze — Ev. Joh. 6, 63<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11709 id='VIII.10[186]' kgw='VIII-2.233' ksa='12.567'<br />

Auch die Christen haben es gemacht, wie die Juden und<br />

das, was sie als Existenzbedingung und Neuerung empfanden,<br />

Page Break KGW='VIII-2.234' KSA='12.568'<br />

ihrem Meister in den Mund gelegt und sein Leben darum<br />

inkrustirt. Insgleichen haben sie die ganze Spruchweisheit ihm<br />

zurückgegeben —: kurz, ihr thatsächliches Leben und Treiben<br />

als einen Gehorsam dargestellt und dadurch für ihre Propaganda<br />

geheiligt.<br />

Woran Alles hängt, das ergiebt sich bei Paulus: es ist<br />

wenig. Das Andere ist die Ausgestaltung eines Typus von<br />

Heiligem, aus dem was ihnen als heilig galt.<br />

Die ganze „Wunderlehre“, eingerechnet die Auferstehung, ist<br />

eine Consequenz der Selbstverherrlichung der Gemeinde, welche<br />

das, was sie sich selber zutraute, in höherem Grade ihrem Meister<br />

zutraute (resp. aus ihm ihre Kraft ableitete …)


<strong>Aphorism</strong> n=11710 id='VIII.10[187]' kgw='VIII-2.234' ksa='12.568'<br />

Die tiefe Gemeinheit solcher Worte: „um der Hurerei willen<br />

habe ein Jeglicher sein eigenes Weib und eine Jegliche habe ihren<br />

eigenen Mann: es ist besser freien, denn Brunst leiden.“ 1 Cor. 7, 2<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11711 id='VIII.10[188]' kgw='VIII-2.234' ksa='12.568'<br />

(282) Wie auch die „Herren“ Christen<br />

werden können. —<br />

Es liegt in dem Instinkt einer Gemeinschaft<br />

(Stamm, Geschlecht, Heerde, Gemeinde), die Zustände und<br />

Begehrungen, denen sie ihre Erhaltung verdankt, als an<br />

sich werthvoll zu empfinden, z.B. Gehorsam,<br />

Gegenseitigkeit, Rücksicht, Mäßigkeit, Mitleid, — somit<br />

Alles, was denselben im Wege steht oder widerspricht,<br />

herabzudrücken.<br />

Es liegt insgleichen in dem Instinkt der Herrschenden<br />

(seien es Einzelne, seien es Stände), die Tugenden,<br />

auf welche hin die Unterworfenen handlich und<br />

ergeben sind, zu patronisiren und auszuzeichnen ( — Zustände<br />

und Affekte, die den eigenen so fremd wie möglich<br />

sein können)<br />

Page Break KGW='VIII-2.235' KSA='12.569'<br />

Der Heerdeninstinkt und der Instinkt der<br />

Herrschenden kommen im Loben einer gewissen<br />

Anzahl von Eigenschaften und Zuständen überein: aber<br />

aus verschiedenen Gründen, der erstere aus unmittelbarem<br />

Egoism, der zweite aus mittelbarem Egoismus(1607).<br />

Die Unterwerfung der Herren-Rassen<br />

unter das Christenthum ist wesentlich die Folge der<br />

Einsicht, daß das Christenthum eine Heerdenreligion<br />

ist, daß es Gehorsam lehrt: kurz daß man Christen<br />

leichter beherrscht als Nichtchristen. Mit diesem Wink<br />

empfiehlt noch heute der Papst dem Kaiser von China die<br />

christliche Propaganda<br />

Es kommt hinzu, daß die Verführungskraft des<br />

christlichen Ideals am stärksten vielleicht auf solche Naturen<br />

wirkt, welche die Gefahr, das Abenteuer und das<br />

Gegensätzliche lieben, welche alles lieben, wobei sie sich<br />

riskiren, wobei aber ein non plus ultra von Machtgefühl<br />

erreicht werden kann. Man denke sich die heilige<br />

Theresa, inmitten der heroischen Instinkte ihrer Brüder:<br />

— das Christenthum erscheint da als eine Form der<br />

Willens-Ausschweifung, der Willensstärke, als eine Don


Quixoterie des Heroismus…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11712 id='VIII.10[189]' kgw='VIII-2.235' ksa='12.569'<br />

(283) Paulus: ein zügelloser und selbst wahnsinniger<br />

Ehrgeiz eines Agitators; mit einer raffinirten Klugheit,<br />

welche sich nie eingesteht, was er eigentlich will und die<br />

Selbstverlogenheit mit Instinkt handhabt, als Mittel der<br />

Fascination. Sich demüthigend und unter der Hand das<br />

verführerische Gift des Auserwähltseins eingebend…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11713 id='VIII.10[190]' kgw='VIII-2.235' ksa='12.569'<br />

(284) Im Buddhism überwiegt dieser Gedanke: „Alle<br />

Begierden, alles, was Affekt, was Blut macht, zieht zu<br />

Page Break KGW='VIII-2.236' KSA='12.570'<br />

Handlungen fort“, — nur in sofern wird gewarnt vor dem<br />

Bösen. Denn Handeln — das hat keinen Sinn, Handeln<br />

hält im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn.<br />

Sie sehen im Bösen den Antrieb zu etwas Unlogischem:<br />

zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint.<br />

Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein und deshalb<br />

perhorresciren sie alle Antriebe seitens der Affekte.<br />

Z.B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind sein! — der<br />

Hedonism der Müden giebt hier die höchsten Werthmaaße ab.<br />

Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische<br />

Fanatism eines Paulus: nichts würde mehr seinem Instinkt<br />

widerstreben als diese Spannung, Flamme, Unruhe des<br />

religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit,<br />

welche das Christenthum unter dem Namen der „Liebe“<br />

geheiligt hat. Zu alledem sind es die gebildeten und sogar<br />

übergeistigten Stände, die im Buddhismus ihre Rechnung<br />

finden: eine Rasse, durch einen Jahrhunderte langen<br />

Philosophen-Kampf abgesotten und müde gemacht, nicht aber<br />

unterhalb aller Cultur, wie die Schichten, aus<br />

denen das Christenthum entsteht… Im Ideal des Buddhismus<br />

erscheint das Loskommen auch von Gut und Böse<br />

wesentlich: es wird da eine raffinirte Jenseitigkeit der<br />

Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit<br />

zusammenfällt unter(1608) der Voraussetzung, daß man<br />

auch die guten Handlungen bloß zeitweilig nöthig hat,<br />

bloß als Mittel, — nämlich um von allem Handeln<br />

loszukommen.


<strong>Aphorism</strong> n=11714 id='VIII.10[191]' kgw='VIII-2.236' ksa='12.570'<br />

(285) Ich betrachte das Christenthum als die verhängnißvollste<br />

Lüge der Verführung, die es bisher gegeben hat, als<br />

die große unheilige Lüge: ich ziehe seinen Nachwuchs<br />

und Ausschlag von Ideal noch unter allen sonstigen<br />

Verkleidungen heraus, ich wehre alle Halb- und<br />

Page Break KGW='VIII-2.237' KSA='12.571'<br />

Dreiviertel-Stellungen zu ihm ab, — ich zwinge zum Krieg<br />

mit ihm.<br />

die Kleine-Leute-Moralität als Maß der<br />

Dinge: das ist die ekelhafteste Entartung, welche die<br />

Cultur bisher aufzuweisen hat. Und diese Art Ideal als<br />

„Gott“ hängen bleibend über der Menschheit!!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11715 id='VIII.10[192]' kgw='VIII-2.237' ksa='12.571'<br />

(286) Zum Plane.<br />

Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung<br />

einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich<br />

um die höchsten Werthe, die man anerkennt, handelt(1609),<br />

hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das<br />

geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge<br />

anzusetzen, das „göttlich“, das leibhafte Moral sei.<br />

Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen<br />

„Wahrhaftigkeit“: somit selbst eine Folge des Glaubens an die<br />

Moral.<br />

Dies ist die Antinomie: so fern wir an die<br />

Moral glauben, verurtheilen wir das Dasein.<br />

Die Logik des Pessimismus bis zum<br />

letzten Nihilimus: was treibt da? — Begriff der<br />

Werthlosigkeit, Sinnlosigkeit: in wiefern<br />

moralische Werthungen hinter allen sonstigen hohen Werthen<br />

stecken.<br />

— Resultat: die moralischen Werthurtheile<br />

sind Verurtheilungen, Verneinungen,<br />

Moral ist die Abkehr vom Willen<br />

zum Dasein …<br />

Problem: was ist aber die Moral?<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11716 id='VIII.10[193]' kgw='VIII-2.237' ksa='12.571'<br />

(287) Heidnisch-christlich<br />

Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen, das


Unschuldsgefühl im Natürlichen, „die Natürlichkeit“<br />

Page Break KGW='VIII-2.238' KSA='12.572'<br />

Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen,<br />

das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die<br />

Widernatürlichkeit<br />

„Unschuldig“ ist z.B. Petronius; ein Christ hat im<br />

Vergleich mit diesem Glücklichen ein für alle Mal die<br />

Unschuld verloren.<br />

Da aber zuletzt auch der christliche Status<br />

bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen<br />

begreifen darf, so bedeutet „christlich“ eine zum<br />

Princip erhobene Falschmünzerei der<br />

psychologischen(1610) Interpretation…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11717 id='VIII.10[194]' kgw='VIII-2.238' ksa='12.572'<br />

(288) „Die Moral um der Moral willen!“ —<br />

eine wichtige Stufe in ihrer Entnaturalisirung: sie erscheint<br />

selbst als letzter Werth. In dieser Phase hat sie die<br />

Religion mit sich durchdrungen: im Judenthum z.B. Und<br />

ebenso giebt es eine Phase, wo sie die Religion wieder<br />

von sich abtrennt, und wo ihr kein Gott „moralisch“<br />

genug ist: dann zieht sie das unpersönliche Ideal<br />

vor… Das ist jetzt der Fall.<br />

„Die Kunst um der Kunst willen“— das<br />

ist ein gleichgefährliches Princip: damit bringt man einen<br />

falschen Gegensatz in die Dinge, — es läuft auf eine<br />

Realitäts-Verleumdung („Idealisirung“ ins Häßliche)<br />

hinaus. Wenn man ein Ideal ablöst vom Wirklichen, so<br />

stößt man das Wirkliche hinab, man verarmt es, man<br />

verleumdet es. „Das Schöne um des Schönen<br />

willen“, „das Wahre um des Wahren willen“,<br />

„das Gute um des Guten willen“ —<br />

das sind drei Formen des bösen Blicks für das<br />

Wirkliche.<br />

— Kunst, Erkenntniß, Moral sind Mittel:<br />

statt die Absicht auf Steigerung des Lebens in ihnen zu<br />

Page Break KGW='VIII-2.239' KSA='12.573'<br />

erkennen, hat man sie zu einem Gegensatz des<br />

Lebens in Bezug gebracht, zu „Gott“, — gleichsam als<br />

Offenbarungen einer höheren Welt, die durch diese hie<br />

und da hindurchblickt …<br />

— „schön und häßlich“, „wahr und falsch“,<br />

„gut und böse“ — diese Scheidungen und Antagonismen<br />

verrathen Daseins- und Steigerungs-Bedingungen,


nicht vom Menschen überhaupt, sondern von<br />

irgendwelchen festen und dauerhaften Complexen, welche<br />

ihre Widersacher von sich abtrennen. Der Krieg, der<br />

damit geschaffen wird, ist das Wesentliche daran: als<br />

Mittel der Absonderung, die die Isolation<br />

verstärkt…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11718 id='VIII.10[195]' kgw='VIII-2.239' ksa='12.573'<br />

(289) Consequenz des Kampfes: der Kämpfende sucht seinen<br />

Gegner zu seinem Gegensatz umzubilden, — in der<br />

Vorstellung natürlich<br />

— er sucht an sich bis zu dem Grade zu glauben, daß<br />

er den Muth der „guten Sache“ haben kann (als ob er die<br />

gute Sache sei): wie als ob die Vernunft, der<br />

Geschmack, die Tugend von seinem Gegner bekämpft<br />

werde…<br />

— der Glaube, den er nöthig hat, als stärkstes<br />

Defensiv- und Aggressiv-Mittel ist ein Glaube an sich,<br />

der sich aber als Glaube an Gott zu mißverstehen weiß<br />

— sich nie die Vortheile und Nützlichkeiten des Siegs<br />

vorstellen, sondern immer nur den Sieg um des Siegs willen,<br />

als „Sieg Gottes“ —<br />

— Jede kleine im Kampf befindliche Gemeinschaft (selbst<br />

Einzelne) sucht sich zu überreden: „wir haben den<br />

guten Geschmack, das gute Urtheil und<br />

die Tugend nur uns … Der Kampf zwingt zu einer<br />

solchen Übertreibung der Selbstschätzung…<br />

Page Break KGW='VIII-2.240' KSA='12.574'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11719 id='VIII.10[196]' kgw='VIII-2.240' ksa='12.574'<br />

(290) Die Einleitung für Pessimisten, — und<br />

zugleich gegen die Pessimisten … Denen, die heute<br />

nicht an dem Fragwürdigen unseres Daseins leiden, habe<br />

ich nichts zu sagen: sie mögen Zeitungen lesen und über<br />

die Schlecht-Juden sich Gedanken machen. — Ein Wort<br />

über die absolute Vereinsamung: wer mir nicht mit einem<br />

Hundertstel von Leidenschaft und von Liebe entgegenkommt,<br />

hat keine Ohren für mich… Ich habe mich bisher<br />

durchgeschlagen…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11720 id='VIII.10[197]' kgw='VIII-2.240' ksa='12.574'


(291) „Seid einfach“ — eine Aufforderung an uns<br />

verwickelte und unfassbare Nierenprüfer, welche eine<br />

einfache Dummheit ist … Seid natürlich! aber wie, wenn<br />

man eben „unnatürlich“ ist…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11721 id='VIII.10[198]' kgw='VIII-2.240' ksa='12.574'<br />

(292) „So ihr nicht werdet wie die Kinder“: oh wie fern wir<br />

von dieser psychologischen Naivetät sind!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11722 id='VIII.10[199]' kgw='VIII-2.240' ksa='12.574'<br />

(293) Die psychologische Voraussetzung: die Unwissenheit<br />

und Uncultur, die Ignoranz, die jede Scham<br />

verlernt hat: man denke sich diese unverschämten<br />

Heiligen mitten in Athen<br />

: der jüdische „Auserwählten-Instinkt“:<br />

sie nehmen alle Tugenden ohne Weiteres für<br />

sich in Anspruch und rechnen den Rest der Welt als<br />

ihren Gegensatz: tiefes Zeichen der Gemeinheit der<br />

Seele<br />

: der vollkommne Mangel an wirklichen<br />

Zielen, an wirklichen Aufgaben, zu<br />

denen man andere Tugenden als die des Muckers braucht,<br />

Page Break KGW='VIII-2.241' KSA='12.575'<br />

— der Staat nahm ihnen diese Arbeit ab:<br />

das unverschämte Volk that trotzdem, als ob sie ihn nicht<br />

nöthig hätte.<br />

Die lügnerischen Gegensätze<br />

„was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und<br />

was vom Geist geboren wird, das ist Geist“ Ev. Joh. 3,6<br />

„irdisch“ — „himmlisch“<br />

Wahrheit, Licht, Finsterniß, Gericht: wer Arges<br />

thut, der hasset das Licht und kommt nicht an das Licht,<br />

auf daß seine Werke nicht bestraft werden. Wer aber die<br />

Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke<br />

offenbar werden … Das aber ist das Gericht, daß das<br />

Licht in die Welt gekommen ist; und die Menschen liebten<br />

die Finsterniß mehr als das Licht.<br />

Die schauderhaften Mißbräuche mit der Zukunft:<br />

das Gericht ist ein christlicher Gedanke, nicht<br />

ein jüdischer: es ist der Ressentiments-Grundgedanke aller<br />

Aufständischen.


die tiefe Unwürdigkeit, mit der alles Leben<br />

außerhalb des christlichen beurtheilt wird: es genügt ihnen<br />

nicht, ihre eigentlichen Gegner sich gemein zu denken, sie<br />

brauchen nichts weniger als eine Gesammtverleumdung von<br />

allem, was nicht sie sind… Mit der Arroganz der<br />

Heiligkeit verträgt sich aufs Beste eine niederträchtige und<br />

verschmitzte Seele: Zeugniß die ersten Christen.<br />

Die Zukunft: sie lassen es sich tüchtig<br />

bezahlen… Es ist die unsauberste Art Geist,<br />

die es giebt:<br />

Das ganze Leben Christi wird so dargestellt, daß er<br />

den Weissagungen zum Recht verhilft: er handelt<br />

so, damit sie Recht bekommen…<br />

Page Break KGW='VIII-2.242' KSA='12.576'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11723 id='VIII.10[200]' kgw='VIII-2.242' ksa='12.576'<br />

(294) Matth. 5,46 Denn so ihr liebet, die euch lieben, was<br />

werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht dasselbe<br />

auch die Zöllner?<br />

Und so ihr euch(1611) nur zu euren Brüdern freundlich<br />

thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht<br />

die Zöllner auch also?<br />

Zwei Motive: Lohn und Absonderung<br />

Das ganze 6te Cap. des Matthäus handhabt diese schöne<br />

Moral: hütet euch, wenn ihr klug seid, vor allem<br />

Öffentlichwerden eurer tugendhaften Handlungen. Denn anders<br />

habt ihr keinen Lohn bei meinem Vater im Himmel.<br />

„— dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird's dir<br />

vergelten, öffentlich“<br />

6,14 Denn so ihr den Menschen ihre Fehler nicht<br />

vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht<br />

vergeben.<br />

Hier spricht aus jedem Wort die tiefe<br />

Feindseligkeit gegen die religiöse Praxis<br />

der herrschenden Stände<br />

Diese ganze Reduktion auf Heuchelei, auf Geiz (6,19<br />

„ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden usw. ihr<br />

könnet nicht Gott dienen und dem Mammon“ 6,24)<br />

„Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach<br />

seiner Gerechtigkeit: so wird euch solches Alles zufallen“<br />

(nämlich Nahrung, Kleider, die ganze Nothdurft des<br />

Lebens, die ganze Fürsorge): ist einfach Unsinn. „Das<br />

Leben in den Tag hinein“ — gerade zu als Prüfung Gottes<br />

gefördert, als Prüfung des Glaubens (30 „so Gott das<br />

Gras auf dem Felde kleidet, sollte er das nicht viel mehr<br />

euch thun? Oh ihr Kleingläubigen!“)<br />

Matth. 7,1 „Richtet nicht, auf daß ihr nicht


gerichtet werdet… mit welcherlei Maaß ihr messet, wird<br />

euch gemessen werden“<br />

Page Break KGW='VIII-2.243' KSA='12.577'<br />

Luc. 6,35 Doch aber liebet eure Feinde; thut wohl und<br />

leihet, daß ihr nichts dafür hoffet: so wird euer<br />

Lohn groß sein und werdet Kinder des Allerhöchsten<br />

sein.<br />

Diese ganze Uneigennützigkeit-Moral ist<br />

eine Rancune gegen die Pharisäer. Aber der Jude verräth<br />

sich darin, daß sie zuletzt auch noch als profitable<br />

dargestellt wird…<br />

Das Evangelium an die Armen, die<br />

Hungernden, die Weinenden, die<br />

Gehaßten, Ausgestoßenen, Schlimm-Beleumdeten<br />

— zur Ermuthigung an die Jünger: Freuet euch<br />

alsdann und hüpfet: denn siehe, euer Lohn ist groß im<br />

Himmel. Desgleichen thaten ihre Väter den<br />

Propheten auch. (welche zügellose Frechheit, diesem<br />

armen Jünger-Gesindel anzudeuten, sich gleichen Rangs<br />

mit den Propheten fühlen zu dürfen, weil sie gleiches<br />

Schicksal haben! — )<br />

Und nun der Fluch auf die Reichen, die Satten, die<br />

Heitern, die Gelehrten, die Geehrten! (Immer sind es die<br />

Pharisäer: „desgleichen thaten ihre Väter den falschen<br />

Propheten auch“)<br />

Es ist eine vollkommene Biedermännerei, deretwegen<br />

Niemand vom Himmel zu kommen braucht, Moral predigen<br />

z.B. zu den Zöllnern zu sagen „fordert nicht mehr,<br />

denn gesetzt ist!“ oder den Kriegsleuten „thut Niemandem<br />

Gewalt, noch unrecht“<br />

Diese pfäffische Unduldsamkeit<br />

Marc. 6,11 „und welche euch nicht aufnehmen, noch<br />

hören, da gehet von dannen heraus und schüttelt den<br />

Staub ab von euren Füßen, zu einem Zeugniß über sie.<br />

Ich sage euch: Wahrlich, es wird Sodom und Gomorra am<br />

jüngsten Gerichte erträglicher ergehen, denn solcher Stadt.“<br />

Page Break KGW='VIII-2.244' KSA='12.578'<br />

Und nun denke man sich dieses arme Mucker-Gesindel<br />

sich durchs Land schleichend, mit solchen<br />

Jüngsten-Gerichts-Flüchen in der Tasche<br />

Man kann dies Buch nicht(1612) lesen, ohne die Partei alles<br />

dessen zu nehmen, was darin angegriffen wird: z.B. der<br />

Pharisäer und Schriftgelehrten<br />

Und diese frechen Versprechungen z.B. Marc. 9,1<br />

„Wahrlich, ich sage euch, es stehen Etliche hier, die werden<br />

den Tod nicht schmecken, bis daß sie sehen das Reich<br />

Gottes mit Kraft kommen.“


Das neue Testament wird durch seine „Denns“<br />

compromittirt…<br />

Immer die heilige Juden-Selbstsucht im Hintergrund<br />

der Aufopferung und Selbstverleugnung: z.B. Marc. 8,34:<br />

„Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und<br />

nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn<br />

( — man beachte die „Denns“ im neuen Testament — sie<br />

enthalten seine Widerlegung — ) wer sein Leben will<br />

erhalten, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert<br />

um meinet und des Evangeliums willen, der wird es<br />

behalten.“<br />

Alles ist gefälscht und verdorben:<br />

der Tod als Strafe; das Fleisch; das Irdische; die<br />

Erkenntniß; das ewige Leben als Lohn<br />

die sämmtlichen Handlungen der Liebe, Mildthätigkeit<br />

und seelischer(1613) Delikatesse als Schlauheiten der<br />

Auserwählten in Hinsicht auf die überreichlichste Belohnung<br />

die ganze Tugend ist um ihre „Unschuld“ gebracht…<br />

— Die Widerlegung der evangelischen<br />

Reden liegt in deren „Denn“<br />

„Und wer der Kleinen einen ärgert, die an mich glauben,<br />

dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein an seinen<br />

Hals gehängt würde und er in das Meer geworfen würde.“<br />

— sagt Jesus Marc. 9,42.<br />

Page Break KGW='VIII-2.245' KSA='12.579'<br />

Ärgert dich dein Auge, so wirf es von dir. Es ist dir<br />

besser, daß du einäugig in das Reich Gottes gehest, denn<br />

daß du zwei Augen habest und werdest in das höllische<br />

Feuer geworfen; da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer<br />

nicht verlöscht. Marc. 9,47<br />

— eine Aufforderung zur Castration; wie sich<br />

aus der entsprechenden Stelle ergiebt Matt. 5,28 „wer<br />

ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der<br />

hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in<br />

seinem Herzen. Ärgert dich aber dein rechtes Auge,<br />

so reiß es aus und wirf von dir. Es ist dir besser, daß<br />

eines deiner Glieder verderbe und nicht der<br />

ganze Leib in die Hölle geworfen werde.“ (V. 31 ist<br />

er immer noch bei dem Geschlechts-Capitel und der<br />

raffinirten Auffassung des Ehebruchs: nämlich die<br />

Ehescheidung bereits als Ehebruch…)<br />

Wenn das Christenthum nur ein kluger Eigennutz ist,<br />

so ist es ein noch klügerer Eigennutz, es aus dem Wege zu<br />

schaffen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11724 id='VIII.10[201]' kgw='VIII-2.245' ksa='12.579'


(295) Dies war die verhängnißvollste Art Größenwahn, die<br />

bisher auf Erden dagewesen ist: wenn diese verlogenen<br />

kleinen Mißgeburten von Muckern anfangen, die Worte<br />

„Gott;“ „jüngstes Gericht“ „Wahrheit“ „Liebe“<br />

„Weisheit“ „heiliger Geist“ für sich in Anspruch zu nehmen<br />

und sich damit gegen „die Welt“ abzugrenzen, wenn diese<br />

Art Mensch anfängt, die Werthe nach sich<br />

umzudrehen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maaß<br />

und Gewicht vom ganzen Rest wären: so sollte man<br />

ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter thun. Daß man<br />

sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen<br />

Page Break KGW='VIII-2.246' KSA='12.580'<br />

Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus<br />

ihnen einen Ernst.<br />

Das ganze Verhängniß war dadurch ermöglicht, daß<br />

schon eine verwandte Art von Grössenwahn in der Welt<br />

war, der jüdische: nachdem einmal die Kluft<br />

zwischen den Juden und den Christen-Juden aufgerissen<br />

und letztere nur durch die Ersteren zum Recht auf<br />

Dasein kommen konnten, mußten die Christen-Juden<br />

die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdische<br />

Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten<br />

Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden —; daß<br />

andererseits die griechische Philosophie der Moral Alles<br />

gethan hatte, um einen Moral-Fanatism selbst<br />

unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft<br />

zu machen… Plato, die große Zwischenbrücke der<br />

Verderbniß, der zuerst die Natur in der Moral<br />

mißverstehen wollte, der die Moral als Sinn, Zweck — — —,<br />

der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff Gut<br />

entwerthet hatte, der bereits jüdisch-angemuckert<br />

war ( — in Ägypten?)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11725 id='VIII.10[202]' kgw='VIII-2.246' ksa='12.580'<br />

(296) Das „Ding an sich“ widersinnig. Wenn ich alle<br />

Relationen, alle „Eigenschaften“ alle „Thätigkeiten“ eines<br />

Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil<br />

Dingheit erst von uns hinzufingirt ist, aus logischen<br />

Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der<br />

Verständigung, nicht — — — (zur Bindung jener Vielheit<br />

von Relationen(1614) Eigenschaften Thätigkeiten)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11726 id='VIII.10[203]' kgw='VIII-2.246' ksa='12.580'


(297) Der neuere Mensch hat seine idealisirende Kraft in<br />

Hinsicht auf einen Gott zumeist in einer wachsenden<br />

Vermoralisirung desselben ausgeübt — was<br />

Page Break KGW='VIII-2.247' KSA='12.581'<br />

bedeutet das? Nichts Gutes, ein Abnehmen an Kraft des<br />

Menschen(1615) —<br />

An sich wäre nämlich das Gegentheil möglich: und es<br />

giebt Anzeichen davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein<br />

von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze<br />

in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend,<br />

rechtfertigend: — Gott als das Jenseits, das<br />

Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von „Gut<br />

und Böse“.<br />

Dieselbe Art Mensch, welche uns „gutes Wetter“<br />

wünscht, wünscht auch nur „gute Menschen“ und überhaupt<br />

gute Eigenschaften, — mindestens die immer wachsende<br />

Herrschaft des Guten. Mit einem überlegenen Auge<br />

wünscht man gerade umgekehrt die immer größere<br />

Herrschaft des Bösen, die wachsende Freiwerdung<br />

des Menschen von der engen und ängstlichen Moral-Einschnürung,<br />

das Wachstum der Kraft, um die(1616) größten<br />

Naturgewalten, die Affekte in Dienst nehmen zu<br />

können…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11727 id='VIII.10[204]' kgw='VIII-2.247' ksa='12.581'<br />

(298) Wenn man auch noch so bescheiden in seinem Anspruch<br />

auf intellektuelle(1617) Sauberkeit ist, man kann nicht verhindern,<br />

bei der Berührung mit dem neuen Testament etwas<br />

wie einen unaussprechlichen Ekel zu empfinden: denn die<br />

schmutzige und zügellose Frechheit des Mitredenwollens<br />

Unberufenster über die großen Probleme, ja ihr Anspruch<br />

auf Richterthum in solchen Dingen übersteigt jedes Maaß.<br />

Die unverschämte Leichtfertigkeit, mit der hier von den<br />

unzugänglichsten Problemen geredet wird, wie als ob sie<br />

keine Probleme wären: Leben, Welt, Gott, Zweck des<br />

Lebens, sondern einfach Sachen, die diese kleinen Mucker<br />

wissen<br />

Page Break KGW='VIII-2.248' KSA='12.582'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11728 id='VIII.10[205]' kgw='VIII-2.248' ksa='12.582'<br />

(299) Das Dasein im Ganzen von Dingen behaupten, von


denen wir gar nichts wissen, exakt weil ein Vortheil darin<br />

liegt, nichts von ihnen wissen zu können, war eine Naivetät<br />

Kants, Folge eines Nachschlags von Bedürfnissen,<br />

namentlich moralisch-metaphysischen …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11729 id='VIII.10[206]' kgw='VIII-2.248' ksa='12.582'<br />

(300) Die Intoleranz der Moral ist ein Ausdruck<br />

von der Schwäche des Menschen: er fürchtet sich vor<br />

seiner „Unmoralität“, er muß seine stärksten Triebe<br />

verneinen, weil er sie noch nicht zu benutzen weiß … So<br />

liegen die fruchtbarsten Striche der Erde am längsten<br />

unbebaut: — die Kraft fehlt, die hier Herr werden<br />

könnte …<br />

[ 11 = W II 3. November 1887 — März 1888 ]<br />

Page Break KGW='VIII-2.249' KSA='13.9'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11730 id='VIII.11[1]' kgw='VIII-2.249' ksa='13.9'<br />

Nizza den 24. November 1887<br />

(301) Man soll von sich nichts wollen, was man nicht kann.<br />

Man frage sich: willst du vorangehn? Oder willst<br />

du für dich gehn? Im ersten Falle wird man, besten<br />

Falls, Hirt, das heißt Nothbedarf der Heerde. Im andern<br />

Fall muß man etwas Andres können, — von sich<br />

Für-sich-gehn-können, muß man Anders- und<br />

Anderswohin-gehn-können. In beiden Fällen muß man es können<br />

und kann man das Eine, darf man nicht das Andre wollen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11731 id='VIII.11[2]' kgw='VIII-2.249' ksa='13.9'<br />

(302) Mit Menschen fürlieb nehmen und mit seinem Herzen<br />

offnes Haus halten: das ist liberal, aber nicht vornehm.<br />

Man erkennt die Herzen, die der vornehmen Gastfreundschaft<br />

fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und<br />

geschlossenen Läden: sie halten ihre besten Räume zum<br />

Mindesten leer, sie erwarten Gäste, mit denen man nicht<br />

fürlieb nimmt …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11732 id='VIII.11[3]' kgw='VIII-2.249' ksa='13.9'


(303) Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle<br />

Nichtkünstler „Form“ nennen, als Inhalt, als „die<br />

Page Break KGW='VIII-2.252' KSA='13.10'<br />

Sache selbst“ empfindet. Damit gehört man freilich in eine<br />

verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der<br />

Inhalt zu etwas bloß Formalem, — unser Leben<br />

eingerechnet.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11733 id='VIII.11[4]' kgw='VIII-2.252' ksa='13.10'<br />

Ein Brief erinnert mich an deutsche Jünglinge, gehörnte<br />

Siegfriede und andre Wagnerianer. Allen Respekt vor der deutschen<br />

Genügsamkeit! Es giebt bescheidene Intelligenzen im nördlichen<br />

Deutschland, denen sogar die Intelligenz der Kreuzzeitung<br />

genugthut. Einem Draußen-Stehenden könnte mitunter der<br />

Argwohn kommen, ob das junge Reich, in seinem Heißhunger nach<br />

Colonien und allerlei Afrika, das die Erde besitzt, nicht<br />

unversehens auch die zwei berühmten schwarzbraunen Inseln<br />

verschluckt hat, Horneo und Borneo …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11734 id='VIII.11[5]' kgw='VIII-2.252' ksa='13.10'<br />

Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat<br />

man kein Auge für das, was war und das was wird: — man<br />

sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes giebt, so blieb<br />

dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine „Welt“.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11735 id='VIII.11[6]' kgw='VIII-2.252' ksa='13.10'<br />

Man geht zu Grunde, wenn man immer zu den Gründen geht.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11736 id='VIII.11[7]' kgw='VIII-2.252' ksa='13.10'<br />

Eine Raupe zwischen zwei Frühlingen, der bereits ein<br />

kleiner Flügel wächst: — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11737 id='VIII.11[8]' kgw='VIII-2.252' ksa='13.10'<br />

„Ein Antrieb zum Besseren“ — Formel für „auf


den Abtritt gehn“<br />

Page Break KGW='VIII-2.253' KSA='13.11'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11738 id='VIII.11[9]' kgw='VIII-2.253' ksa='13.11'<br />

(304) Sainte-Beuve: Nichts von Mann; voll eines verlogenen<br />

Hasses gegen alle Mannsgeister: schweift umher,<br />

feig, neugierig, gelangweilt, verleumderisch, — eine<br />

Weibsperson im Grunde, mit einer Weibs-Rachsucht und<br />

Weibs-Sinnlichkeit ( — letztere hält ihn in der Nähe von<br />

Klöstern und andren Brutstätten der Mystik fest, zeitweilig selbst<br />

in der Nähe der Saint-Simonisten) übrigens ein wirkliches<br />

Genie der médisance, unerschöpflich reich an Mitteln dazu,<br />

fähig z.B. auf eine tödtliche Weise zu loben; nicht ohne<br />

eine anmuthige Virtuosen-Bereitwilligkeit, seine Kunst<br />

zur Schau zu stellen, wo es irgend am Platze ist: nämlich<br />

vor aller Art Zuhörerschaft, an der Etwas zu fürchten ist.<br />

Freilich nimmt er hinterdrein auch an seinen Zuhörern bei<br />

sich Rache, heimlich, kleinlich, unreinlich; in Sonderheit<br />

müssen es alle unabweislich vornehmen Naturen büßen,<br />

daß sie vor sich selber Ehrfurcht haben, — die hat er<br />

nicht! schon das Männliche, Stolze, Ganze, Selbstgewisse<br />

reizt ihn, schüttelt ihn bis zum Aufruhr. — Dies ist<br />

nun der Psychologe comme il faut: nämlich nach dem<br />

Maaß und dem Bedürfniß des jetzigen esprit français, der<br />

so spät, so krank, so neugierig ist, so aushorcherisch, so<br />

lüstern wie er; Heimlichkeiten schnüffelnd, wie er; instinktiv<br />

die Bekanntschaft mit Menschen von Unten und Hintenher<br />

suchend, nicht viel anders als es die Hunde unter<br />

einander machen (die ja auch auf ihre Art Psychologen<br />

sind). Plebejisch im Grunde und mit den Instinkten Rousseaus<br />

verwandt: folglich Romantiker — denn unter<br />

allem romantisme grunzt und giert der Pöbel nach<br />

„Vornehmheit“; revolutionär, aber durch die Furcht leidlich<br />

noch im Zaum gehalten. Ohne Freiheit vor Allem, was<br />

Stärke hat (öffentliche Meinung, Akademie, Hof, selbst<br />

Port-Royal). Seiner im letzten Grunde überdrüssig, bei<br />

Zeiten schon ohne Glauben an sein Recht, da zu sein;<br />

Page Break KGW='VIII-2.254' KSA='13.12'<br />

ein Geist, der sich von jung auf vergeudet hat, der sich<br />

vergeudet fühlt, der sich selbst immer dünner und älter<br />

wird. Das lebt zuletzt noch fort, von einem Tag zum<br />

andern, bloß aus Feigheit; das erbittert sich gegen alles<br />

Große an Mensch und Ding, gegen Alles, was an sich<br />

glaubt, da es leider Dichter und Halbweib genug ist, um<br />

das Große noch als Macht zu fühlen; das krümmt sich


eständig, wie jener berühmte Wurm, weil es sich beständig<br />

von irgend Etwas Großem getreten fühlt. Als Kritiker<br />

ohne Maaßstab, Rückgrat und Halt, mit der Zunge des<br />

kosmopolitischen libertin für Vielerlei, aber ohne den<br />

Muth selbst zur eingeständlichen libertinage,<br />

folglich einem unbestimmten Klassicismus sich unterwerfend.<br />

Als Historiker ohne Philosophie und die Macht<br />

des Blicks, instinktiv die Aufgabe des Richtens in allen<br />

Hauptsachen ablehnend und die Maske der Objektivität<br />

vorhaltend ( — damit eins der schlimmsten Muster,<br />

die das letzte Frankreich gehabt hat): abgesehn, wie billig,<br />

von den kleinen Dingen, wo ein feiner und vernutzter<br />

Geschmack die höchste Instanz ist, und wo er wirklich den<br />

Muth zu sich selber, die Lust an sich selber hat<br />

( — darin ist er den Parnassiens verwandt, die wie er die<br />

raffinirteste und eitelste Form der modernen Selbstverachtung,<br />

Selbstentäußerung darstellen). „Sainte-Beuve a<br />

vu une fois le premier Empereur. C'était à Boulogne: il<br />

était en train de pisser. N'est-ce pas un peu dans cette<br />

posture-là, qu'il a vu et jugé depuis tous les grands<br />

hommes?“ (Journal des Goncourt, 2. p. 239) — so erzählen<br />

seine boshaften Feinde, die Goncourts.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11739 id='VIII.11[10]' kgw='VIII-2.254' ksa='13.12'<br />

Typen der décadence.<br />

Die Romantiker<br />

Die „freien Geister“ Sainte-Beuve<br />

Page Break KGW='VIII-2.255' KSA='13.13'<br />

Die Schauspieler.<br />

Die Nihilisten.<br />

Die Artisten.<br />

Die Brutalisten<br />

Die Delikaten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11740 id='VIII.11[11]' kgw='VIII-2.255' ksa='13.13'<br />

En amour, la seule victoire est la fuite. — Napoleon.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11741 id='VIII.11[12]' kgw='VIII-2.255' ksa='13.13'<br />

canis reversus ad vomitum suum


<strong>Aphorism</strong> n=11742 id='VIII.11[13]' kgw='VIII-2.255' ksa='13.13'<br />

Les philosophes ne sont pas faits pour s'aimer. Les aigles ne<br />

volent point en compagnie. Il faut laisser cela aux perdrix, aux<br />

étourneaux… Planer audessus et avoir des griffes, voilà le lot<br />

des grands génies. — Galiani.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11743 id='VIII.11[14]' kgw='VIII-2.255' ksa='13.13'<br />

Le hasard, père de la fortune et souvent beau-père de la<br />

vertu. — Galiani.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11744 id='VIII.11[15]' kgw='VIII-2.255' ksa='13.13'<br />

(Ni l'amour ni les dieux; ce double mal nous tue. Sully<br />

Prudhomme.)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11745 id='VIII.11[16]' kgw='VIII-2.255' ksa='13.13'<br />

Hinter allem moralischen Geschreibsel dieses ländlichen<br />

Weibleins, der G. Eliot höre ich immer die aufgeregte Stimme<br />

aller litterarischen Debütantinnen: „je me verrai, je me lirai, je<br />

m'extasierai et je dirai: Possible, que j'aie eu tant d'esprit? …“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11746 id='VIII.11[17]' kgw='VIII-2.255' ksa='13.13'<br />

vomitus matutinus der Zeitungen<br />

Page Break KGW='VIII-2.256' KSA='13.14'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11747 id='VIII.11[18]' kgw='VIII-2.256' ksa='13.14'<br />

si hortum cum bibliotheca habes, nihil deerit. Cicero.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11748 id='VIII.11[19]' kgw='VIII-2.256' ksa='13.14'<br />

notum quid foemina furens. Virg. Aen. V. 6


<strong>Aphorism</strong> n=11749 id='VIII.11[20]' kgw='VIII-2.256' ksa='13.14'<br />

„un monstre gai vaut mieux qu'un sentimental ennuyeux(1618)“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11750 id='VIII.11[21]' kgw='VIII-2.256' ksa='13.14'<br />

come l'uom s'eterna (Inf. XV, 85)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11751 id='VIII.11[22]' kgw='VIII-2.256' ksa='13.14'<br />

„Yo me sucedo a mi mismo“, sage ich wie jener alte Mann<br />

bei Lope de Vega, lächelnd, wie er: denn ich weiß es schlechterdings<br />

nicht mehr, wie alt ich schon bin und wie jung ich noch<br />

sein werde …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11752 id='VIII.11[23]' kgw='VIII-2.256' ksa='13.14'<br />

— man hat auch dann noch genug Gründe, zufrieden und<br />

selbst dankbar zu sein, und wenn auch nur in der Art, wie es<br />

jener alte Schäker war, der tamquam re bene gesta von einem<br />

verliebten Stelldichein heimkehrte. Ut desint vires, sagte er zu<br />

sich mit der Sanftmuth eines Heiligen, tamen est laudanda<br />

voluptas.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11753 id='VIII.11[24]' kgw='VIII-2.256' ksa='13.14'<br />

(305) George Sand. Ich las die ersten lettres d'un voyageur:<br />

wie Alles, was von Rousseau stammt, falsch, von<br />

Grund aus, moralistisch verlogen, wie sie selbst, diese<br />

„Künstlerin“. Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht<br />

aus, ebenso wenig diese aufgeregte Pöbel-Ambition nach<br />

„vornehmen“ Leidenschaften, heroischen Attitüden und<br />

Gedanken, die wie Attitüden wirken. Wie kalt muß sie<br />

Page Break KGW='VIII-2.257' KSA='13.15'<br />

dabei gewesen sein — kalt, wie Victor Hugo, wie Balzac,<br />

wie alle eigentlichen Romantiker —: und wie selbstgefällig<br />

mag sie dabei dagelegen haben, diese breite fruchtbare<br />

Kuh, welche etwas Deutsches an sich hatte, gleich Rousseau


selber, und jedenfalls am Ende alles französischen<br />

Geschmacks und esprit erst möglich gewesen ist… Aber<br />

Ernest Renan verehrt sie …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11754 id='VIII.11[25]' kgw='VIII-2.257' ksa='13.15'<br />

(306) Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich<br />

tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen<br />

Lastträger: oh wie gerne möchten sie einmal von sich selber<br />

ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken,<br />

um für Stunden wenigstens los zu werden, was sie drückt!<br />

Und wie umsonst dürsten sie! … Sie warten; sie sehen sich<br />

Alles an, was vorübergeht: Niemand kommt ihnen auch<br />

nur mit dem Tausendstel von Leiden und Leidenschaft entgegen,<br />

Niemand erräth, inwiefern sie warten… Endlich, endlich<br />

lernen sie ihre erste Lebensklugheit — nicht<br />

mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig<br />

zu sein, bescheiden zu sein, von nun an Jedermann<br />

zu ertragen, Jederlei zu ertragen — kurz, noch ein wenig<br />

mehr zu tragen, als sie bisher schon getragen<br />

haben …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11755 id='VIII.11[26]' kgw='VIII-2.257' ksa='13.15'<br />

(307) — und wer ohne Vorurtheil die Bedingungen<br />

nachrechnet, unter denen hier auf Erden irgend eine<br />

Vollkommenheit erreicht wird, dem wird nicht entgehn,<br />

wie viel Wunderliches und Peinliches zu diesen<br />

Bedingungen gehört. Es scheint, daß zu jedem großen Wachsthum<br />

Mist und Dünger irgend welcher Art noth thut. Um einen<br />

paradoxen Fall zu nehmen, so behauptete in Hinsicht auf<br />

die Vervollkommnung des modernen Weibes eine Autorität,<br />

Page Break KGW='VIII-2.258' KSA='13.16'<br />

die für diesen heiklen Punkt vielleicht nicht zu<br />

unterschätzen ist, der duc de Morny, dieser erfahrenste und<br />

„erlebteste“ Weiberkenner des letzten Frankreichs, daß<br />

dazu selbst ein Laster dienen könne, nämlich die tribaderie:<br />

„qui raffine la femme, la parfait, l'accomplit.“ —<br />

Nizza den 25. November 1887.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11756 id='VIII.11[27]' kgw='VIII-2.258' ksa='13.16'


(308) Frau Cosima Wagner ist das einzige Weib größeren<br />

Stils, das ich kennen gelernt habe; aber ich rechne ihr es an,<br />

daß sie Wagnern verdorben hat. Wie das gekommen<br />

ist? Er „verdiente“ solch ein Weib nicht: zum Dank dafür<br />

verfiel er ihr. — Der Parsifal Wagners(1619) war zu<br />

allererst- und anfänglichst eine Geschmacks-Condescendenz<br />

Wagners(1620) zu den katholischen Instinkten seines Weibes,<br />

der Tochter Liszt's, eine Art Dankbarkeit und Demuth<br />

von Seiten einer schwächeren vielfacheren leidenderen<br />

Creatur hinauf zu einer, welche zu schützen und zu ermuthigen<br />

verstand, das heißt zu einer stärkeren, bornirteren:<br />

— zuletzt selbst ein Akt jener ewigen Feigheit<br />

des Mannes vor allem „Ewig-Weiblichen“. — Ob nicht<br />

alle großen Künstler bisher durch anbetende Weiber<br />

verdorben worden sind? Wenn diese unsinnig-eitlen und<br />

sinnlichen Affen — denn das sind sie fast allesammt —<br />

zum ersten Male und in nächster Nähe den Götzendienst<br />

erleben, den das Weib in solchen Fällen mit allen<br />

ihren untersten und obersten Begehrungen zu treiben<br />

versteht, dann geht es bald genug zu Ende: der letzte Rest von<br />

Kritik, Selbstverachtung, Bescheidenheit und Scham vor<br />

dem Größeren ist dahin: — von da an sind sie jeder<br />

Entartung fähig. — Diese Künstler, die in der herbsten und<br />

stärksten Zeit ihrer Entwicklung Gründe genug hatten,<br />

ihre Anhängerschaft in Bausch und Bogen zu verachten,<br />

Page Break KGW='VIII-2.259' KSA='13.17'<br />

diese schweigsam gewordenen Künstler werden unvermeidlich<br />

das Opfer jeder ersten intelligenten Liebe ( —<br />

oder vielmehr jedes Weibs, das intelligent genug ist, sich<br />

in Hinsicht auf das Persönlichste des Künstlers intelligent<br />

zu geben, ihn als leidend „zu verstehen“, ihn „zu<br />

lieben“ …)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11757 id='VIII.11[28]' kgw='VIII-2.259' ksa='13.17'<br />

Dem Weibe, das er nicht verdient, verfällt der Mann.<br />

Das Weib, als geborene Götzendienerin, verdirbt den<br />

Götzen — den Gatten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11758 id='VIII.11[29]' kgw='VIII-2.259' ksa='13.17'<br />

Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt<br />

Entwicklung giebt, nicht selbst wieder auf dem Wege der<br />

Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als „werdend“


verstehn wollen, noch weniger als geworden …<br />

der „Wille zur Macht“ kann nicht geworden sein<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11759 id='VIII.11[30]' kgw='VIII-2.259' ksa='13.17'<br />

(309) Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen,<br />

wo man begreift, wie Alles so, wie es gehn sollte,<br />

auch wirklich geht: wie jede Art „Unvollkommenheit“ und<br />

das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit<br />

gehört…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11760 id='VIII.11[31]' kgw='VIII-2.259' ksa='13.17'<br />

(310) Gesammt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe<br />

als das intelligenteste Sklaventhier, sehr arbeitsam, im<br />

Grunde sehr bescheiden, bis zum Excess neugierig, vielfach,<br />

verzärtelt, willensschwach — ein kosmopolitisches<br />

Affekt- und Intelligenzen-Chaos. Wie möchte sich aus ihm eine<br />

stärkere Art herausheben? Eine solche mit klassischem<br />

Page Break KGW='VIII-2.260' KSA='13.18'<br />

Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der<br />

Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit<br />

des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Muth zur psychologischen<br />

Nacktheit ( — die Vereinfachung ist eine Consequenz<br />

des Willens zur Verstärkung; das Sichtbarwerdenlassen<br />

des Glücks insgleichen der Nacktheit, eine Consequenz<br />

des Willens zur Furchtbarkeit…) Um sich aus<br />

jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen<br />

— dazu bedarf es einer Nöthigung: man muß die<br />

Wahl haben, entweder zu Grunde zu gehn oder sich<br />

durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur<br />

aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen.<br />

Problem: wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?<br />

Offenbar werden sie erst nach ungeheuren socialistischen<br />

Krisen sichtbar werden und sich consolidiren, —<br />

es werden die Elemente sein, die der größten Härte<br />

gegen sich selber fähig sind und den längsten<br />

Willen garantiren können…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11761 id='VIII.11[32]' kgw='VIII-2.260' ksa='13.18'<br />

(311) Zur Psychologie der „Hirten“.Die<br />

grossen Durchschnittlichen.


Kann man sich verbergen, daß ein Geist und Geschmack<br />

durchschnittlich sein muß, um tiefe breite populäre<br />

Wirkungen zu hinterlassen, und daß z.B. es noch<br />

nicht zu Unehren Voltaire's verstanden werden darf,<br />

wenn ihn der Abbé Trublet mit allerbestem Rechte „la<br />

perfection de la médiocrité“ genannt hat? ( — wäre er das<br />

nämlich nicht gewesen, wäre er eine Ausnahme gewesen,<br />

wie etwa der Neapolitaner Galiani eine Ausnahme<br />

war, jener tiefste und nachdenklichste Hanswurst, den<br />

jenes heitere Jahrhundert hervorgebracht hat, woher dann<br />

seine Kraft zu führen? woher sein übergewicht über<br />

seine Zeit?) Man könnte übrigens das Gleiche auch noch<br />

Page Break KGW='VIII-2.261' KSA='13.19'<br />

in Hinsicht auf einen viel populäreren(1621) Fall behaupten:<br />

auch der Stifter des Christenthums muß etwas von einer<br />

„perfection de la médiocrité“ gewesen sein. Lasse man sich<br />

doch einmal die Hauptsätze jenes berühmten Evangeliums<br />

der Bergpredigt zu einer Person concresciren: — man<br />

wird hinterdrein darüber nicht mehr in Zweifel sein,<br />

weshalb gerade ein solcher Hirt und Bergprediger<br />

verführerisch auf alle Art Heerdenthier gewirkt hat.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11762 id='VIII.11[33]' kgw='VIII-2.261' ksa='13.19'<br />

(312) — „une croyance presque instinctive chez moi c'est<br />

que tout homme puissant ment quand il parle, et à plus<br />

forte raison quand il écrit.“ — Stendhal.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11763 id='VIII.11[34]' kgw='VIII-2.261' ksa='13.19'<br />

(313) Flaubert hielt weder Mérimée noch Stendhal aus; man<br />

konnte ihn wüthend machen, wenn man „Monsieur Beyle“<br />

in seiner Gegenwart citirte. Der Unterschied liegt darin:<br />

Beyle stammt von Voltaire, Flaubert von Victor Hugo.<br />

Die „Männer von 1830“ ( — Männer?…) haben eine<br />

unsinnige Vergötterung mit der Liebe getrieben: Alfred<br />

de Musset, Richard Wagner; auch mit der Ausschweifung<br />

und dem Laster …<br />

„Je suis de 1830, moi! J'ai appris à lire dans Hernani,<br />

et j'aurai voulu être Lara! J'exècre toutes les lâchetés<br />

contemporaines, l'ordinaire de l'existence et l'ignominie des<br />

bonheurs faciles.“ Flaubert.


<strong>Aphorism</strong> n=11764 id='VIII.11[35]' kgw='VIII-2.261' ksa='13.19'<br />

(314) Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am<br />

Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit<br />

für das Leben und seine typischen Zustände — das ist am<br />

heidnischen Cultus wesentlich und hat das gute Gewissen<br />

auf seiner Seite. — Die Unnatur (schon im griechischen<br />

Page Break KGW='VIII-2.262' KSA='13.20'<br />

Alterthum) kämpft gegen das Heidnische an, als<br />

Moral, Dialektik.<br />

Nizza den 15. Dezember 1887<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11765 id='VIII.11[36]' kgw='VIII-2.262' ksa='13.20'<br />

über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist;<br />

der Rest ist Feigheit.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11766 id='VIII.11[37]' kgw='VIII-2.262' ksa='13.20'<br />

Wessen Instinkt auf Rangordnung aus ist, der haßt die<br />

Zwischengebilde und Zwischenbildner: alles Mittlere ist sein<br />

Feind.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11767 id='VIII.11[38]' kgw='VIII-2.262' ksa='13.20'<br />

(315) Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften,<br />

die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu<br />

entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem<br />

Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert<br />

sich. Auch das ist Pessimismus … Eine Lehre, die einem<br />

solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend Etwas<br />

befiehlt, eine Umwerthung der Werthe, vermöge deren<br />

den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt<br />

wird, so daß sie in Blitzen und Thaten explodieren —<br />

braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie<br />

Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und<br />

gestaut war, bringt sie Glück.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11768 id='VIII.11[39]' kgw='VIII-2.262' ksa='13.20'


— mit denen ich wenig Mitgefühl habe. Ich rechne sie zu den<br />

Krebsen. Erstens nämlich: wenn man sich mit ihnen zu schaffen<br />

macht, so kneipen sie; und dann — sie gehen rückwärts.<br />

Page Break KGW='VIII-2.263' KSA='13.21'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11769 id='VIII.11[40]' kgw='VIII-2.263' ksa='13.21'<br />

— kuhwarme Milchherzen<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11770 id='VIII.11[41]' kgw='VIII-2.263' ksa='13.21'<br />

Ein müder Wanderer, den das harte Gebell eines Hundes<br />

empfängt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11771 id='VIII.11[42]' kgw='VIII-2.263' ksa='13.21'<br />

— ein Entlaufener, der lange im Gefängniß saß, in Furcht<br />

vor einem Stockmeister: jetzt geht er furchtsam seines Wegs,<br />

der Schatten eines Stockes macht ihn schon stolpern.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11772 id='VIII.11[43]' kgw='VIII-2.263' ksa='13.21'<br />

— Tugend im Renaissance-Stil, virtù, moralinfreie Tugend<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11773 id='VIII.11[44]' kgw='VIII-2.263' ksa='13.21'<br />

(316) Daß man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs<br />

Spiel setzt, das ist die Folge des übermuthes und eines<br />

überströmenden verschwenderischen Willens: nicht aus<br />

Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre<br />

Neugierde in Bezug auf das Maaß unsrer Kraft, unsres Muthes<br />

herausfordert.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11774 id='VIII.11[45]' kgw='VIII-2.263' ksa='13.21'<br />

(317) Emerson, viel aufgeklärter, vielfacher, raffinirter,<br />

glücklicher, ein Solcher, der instinktiv sich von Ambrosia<br />

nährt und das Unverdauliche in den Dingen zurückläßt.


Carlyle, der ihn sehr liebte, sagte trotzdem von ihm „er<br />

giebt uns nicht genug zu beißen“: was mit Recht gesagt<br />

sein mag, aber keineswegs zu Ungunsten Emerson's.<br />

Carlyle, ein Mann der starken Worte und der<br />

excentrischen Attitüden, ein Rhetor aus Noth, den beständig<br />

das Verlangen nach einem starken Glauben agacirt und<br />

das Gefühl der Unfähigkeit dazu ( — eben damit ein<br />

Page Break KGW='VIII-2.264' KSA='13.22'<br />

typischer Romantiker — ) Das Verlangen nach einem starken<br />

Glauben ist nicht der Beweis eines starken Glaubens,<br />

vielmehr das Gegentheil: hat man ihn, so verräth<br />

sich das eben damit, daß man sich den Luxus der Skepsis<br />

und der frivolen Ungläubigkeit gönnen darf, — man<br />

ist eben reich genug dazu. Carlyle betäubt etwas in sich<br />

durch die Heftigkeit seiner Verehrung für Menschen des<br />

starken Glaubens und durch seine Wuth gegen alle weniger<br />

Einfältigen: diese beständige leidenschaftliche<br />

Unredlichkeit gegen sich, um moralisch zu reden, degoutirt<br />

mich an ihm. Daß die Engländer gerade an ihm seine<br />

Redlichkeit bewundern, das ist englisch; und, in Anbetracht,<br />

daß sie das Volk des vollkommenen cant sind, sogar billig<br />

und nicht nur begreiflich. Im Grunde ist Carlyle ein<br />

Atheist, der es nicht sein will. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11775 id='VIII.11[46]' kgw='VIII-2.264' ksa='13.22'<br />

In diesen streitbaren Abhandlungen, in denen ich meinen<br />

Feldzug gegen das verhängnißvollste bisherige Werthurtheil,<br />

gegen, unsere überschätzung der Moral fortsetze —<br />

Ein solches Wort des Friedens steht wie billig am Schluß<br />

dieser kriegerischen Abhandlungen, mit denen ich meinen<br />

Feldzug gegen eins unserer verhängnißvollsten Werthurtheile, gegen<br />

unsere bisherige Schätzung und überschätzung der Moral<br />

eröffnet habe.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11776 id='VIII.11[47]' kgw='VIII-2.264' ksa='13.22'<br />

— Feuchte Ideale und andere Thauwinde<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11777 id='VIII.11[48]' kgw='VIII-2.264' ksa='13.22'<br />

(318) Ein Geist, der Großes will der auch die Mittel dazu


will, ist nothwendig Skeptiker: womit nicht gesagt ist, daß<br />

er es auch scheinen müßte. Die Freiheit vor jeder Art<br />

Page Break KGW='VIII-2.265' KSA='13.23'<br />

überzeugung gehört zu seiner Stärke, das Freiblickenkönnen.<br />

Die große Leidenschaft, der Grund und die<br />

Macht seines Seins, noch aufgeklärter und despotischer<br />

als er selbst es ist, — sie nimmt seinen ganzen Intellekt<br />

in ihren Dienst (und nicht nur in ihren Besitz); sie macht<br />

unbedenklich; sie giebt ihm den Muth zu unheiligen<br />

Mitteln (sogar zu heiligen), sie gönnt überzeugungen, sie<br />

braucht und verbraucht selbst überzeugungen, aber sie<br />

unterwirft sich ihnen nicht. Das macht, sie allein weiß sich<br />

als souverain. Umgekehrt: das Bedürfniß nach Glauben,<br />

nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, ist ein<br />

Bedürfniß der Schwäche; alle Schwäche ist<br />

Willensschwäche; alle Schwäche des Willens rührt daher, daß<br />

keine Leidenschaft, kein kategorischer Imperativ kommandirt.<br />

Der Mensch des Glaubens, der „Gläubige“ jeder<br />

Art ist nothwendig eine abhängige Art Mensch, das heißt<br />

eine solche, die sich nicht als Zweck ansetzen, noch<br />

überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, — die sich als<br />

Mittel verbrauchen lassen muß … Sie giebt<br />

instinktiv einer Moral der Entselbstung die höchste Ehre;<br />

zu ihr überredet sie Alles, ihre Klugheit, ihre Erfahrung,<br />

ihre Eitelkeit. Und auch der Glaube ist noch eine Form<br />

der Entselbstung. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11778 id='VIII.11[49]' kgw='VIII-2.265' ksa='13.23'<br />

(319) Aus dem ungeheuren Bereiche der Kunst, welches antideutsch<br />

ist und bleiben wird und von dem ein für alle<br />

Mal deutsche jünglinge, gehörnte Siegfriede und andere<br />

Wagnerianer ausgeschlossen sind: — der Geniestreich<br />

Bizet's, welcher einer neuen — ach, so alten — Sensibilität,<br />

die bisher in der gebildeten Musik Europas noch<br />

keine Sprache gehabt hatte, zum Klange verhalf, einer<br />

südlicheren, brauneren, verbrannteren Sensibilität, welche<br />

freilich nicht vom feuchten Idealismus des Nordens aus zu<br />

Page Break KGW='VIII-2.266' KSA='13.24'<br />

verstehen ist. Das afrikanische Glück, die fatalistische<br />

Heiterkeit, mit einem Auge, das verführerisch, tief und<br />

entsetzlich blickt; die lascive Schwermuth des maurischen<br />

Tanzes; die Leidenschaft blinkend, scharf und plötzlich<br />

wie ein Dolch; und Gerüche aus dem gelbe Nachmittage<br />

des Meeres heranschwimmend bei denen das Herz


erschrickt, wie als ob es sich an vergessene Inseln erinnere,<br />

wo es einst weilte, wo es ewig hätte weilen sollen …<br />

Antideutsch: Der Buffo. Der maurische Tanz<br />

Die anderen antideutschen Kostbarkeiten des aesthetischen(1622)<br />

Genusses<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11779 id='VIII.11[50]' kgw='VIII-2.266' ksa='13.24'<br />

Die „wahre Welt“, wie immer auch man sie bisher concipirt<br />

hat, — sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11780 id='VIII.11[51]' kgw='VIII-2.266' ksa='13.24'<br />

Man muß Muth im Leibe haben, um sich eine Schlechtigkeit<br />

zu gestatten: die Meisten sind zu feige dazu.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11781 id='VIII.11[52]' kgw='VIII-2.266' ksa='13.24'<br />

„Caesar unter Seeräubern“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11782 id='VIII.11[53]' kgw='VIII-2.266' ksa='13.24'<br />

und unter diesen Dichtern findet man Hengste, die auf eine<br />

keusche Weise wiehern<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11783 id='VIII.11[54]' kgw='VIII-2.266' ksa='13.24'<br />

(320) Von der Herrschaft<br />

der Tugend.<br />

Wie man der Tugend zur Herrschaft<br />

verhilft.<br />

Page Break KGW='VIII-2.267' KSA='13.25'<br />

Ein tractatus politicus.<br />

Von<br />

Friedrich Nietzsche.<br />

Vorrede.<br />

Dieser tractatus politicus ist nicht für Jedermanns<br />

Ohren: er handelt von der Politik der Tugend, von


ihren Mitteln und Wegen zur Macht. Daß die Tugend<br />

zur Herrschaft strebt, wer möchte ihr das verbieten? Aber<br />

wie sie das thut —! man glaubt es nicht … Darum ist<br />

dieser tractatus nicht für Jedermanns Ohren. Wir haben<br />

ihn denen zum Nutzen bestimmt, denen daran gelegen ist,<br />

zu lernen, nicht wie man tugendhaft wird, sondern wie<br />

man tugendhaft macht, — wie man die Tugend zur<br />

Herrschaft bringt. Ich will sogar beweisen, daß, um dies<br />

Eine zu wollen, die Herrschaft der Tugend, man<br />

grundsätzlich das Andere nicht wollen darf; eben damit<br />

verzichtet man darauf, tugendhaft zu werden. Dies Opfer<br />

ist groß: aber ein solches Ziel lohnt vielleicht Opfer. Und<br />

selbst noch größere! … und einige von den großen Moralisten<br />

haben so viel risquirt. Von diesen nämlich wurde<br />

bereits die Wahrheit erkannt und vorweggenommen, welche<br />

mit diesem Traktat zum ersten Male gelehrt werden<br />

soll: daß man die Herrschaft der Tugend<br />

schlechterdings nur durch dieselben Mittel<br />

erreichen kann, mit denen man überhaupt irgend eine<br />

Herrschaft erreicht, jedenfalls nicht durch die Tugend …<br />

Dieser Traktat handelt, wie gesagt, von der Politik in<br />

der Tugend: er setzt ein Ideal dieser Politik an, er beschreibt<br />

sie so, wie sie sein müßte, wenn etwas auf dieser Erde<br />

vollkommen sein könnte. Nun wird kein Philosoph darüber<br />

in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit in der<br />

Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der<br />

Macchiavellismus, pur, sans mélange, cru, vert, dans toute sa<br />

Page Break KGW='VIII-2.268' KSA='13.26'<br />

force, dans toute son âpreté ist übermenschlich, göttlich,<br />

transscendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens<br />

gestreift… Auch in dieser engeren Art von Politik, in der<br />

Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden<br />

zu sein. Auch Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt,<br />

gesetzt daß man Augen für versteckte Dinge hat, selbst noch<br />

an den unbefangensten und bewußtesten Moralisten<br />

( — und das ist ja der Name für solche Politiker der Moral,<br />

für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten), Spuren<br />

davon, daß auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut<br />

gezollt haben. Sie alle aspirirten, zum Mindestenin<br />

ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster<br />

und capitaler Fehler eines Moralisten, — als welcher<br />

Immoralist der That zu sein hat. Daß er gerade das<br />

nicht scheinen darf, ist eine andere Sache. Oder<br />

vielmehr ist es nicht eine andere Sache: es gehört eine<br />

solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch<br />

ausgedrückt, Verstellung) mit hinein in den Kanon des<br />

Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne sie wird er<br />

niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit<br />

von der Moral, auch von der Wahrheit, um


jenes Zieles willen, das jedes Opfer aufwiegt:<br />

Herrschaft der Moral — so lautet jener Kanon. Die<br />

Moralisten haben die Attitüde der Tugend nöthig,<br />

auch die Attitüde der Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst,<br />

wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft<br />

über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch<br />

werden, wahr werden. Ein großer Moralist ist, unter<br />

Anderem, nothwendig auch ein großer Schauspieler; seine<br />

Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur wird,<br />

wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine<br />

göttliche Weise auseinander zu halten; Alles, was er thut,<br />

muß er sub specie boni thun, — sein hohes, fernes,<br />

anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches Ideal! … Und in<br />

Page Break KGW='VIII-2.269' KSA='13.27'<br />

der That geht die Rede, daß der Moralist damit kein<br />

geringeres Vorbild nachahmt als Gott selbst: Gott, diesen<br />

größten Immoralisten der That den es giebt, der aber<br />

nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er ist, der<br />

gute Gott …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11784 id='VIII.11[55]' kgw='VIII-2.269' ksa='13.27'<br />

(321) Man soll es dem Christenthum nie vergeben, daß es<br />

solche Menschen wie Pascal zu Grunde gerichtet hat. Man<br />

soll nie aufhören, eben dies am Christenthum zu bekämpfen,<br />

daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und<br />

vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden<br />

geben, solange dies Eine noch nicht in Grund und<br />

Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen, welches vom<br />

Christenthum erfunden worden ist. Der ganze absurde<br />

Rest von christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und<br />

Theologie geht uns nichts an; er könnte noch tausend Mal<br />

absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen<br />

ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit<br />

seiner krankhaften Schönheit und Weibs-Verführung, mit<br />

seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit allen Feigheiten<br />

und Eitelkeiten müdgewordener Seelen zuredet — und<br />

die Stärksten haben müde Stunden —, wie als ob alles das,<br />

was in solchen Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten<br />

scheinen mag, Vertrauen, Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit,<br />

Geduld, Liebe zu seines Gleichen, Ergebung, Hingebung<br />

an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung<br />

seines ganzen Ich's, auch an sich das Nützlichste und<br />

Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene<br />

Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittsthier und<br />

Heerdenschaf Mensch nicht nur den Vorrang vor der stärkeren,<br />

böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren


und eben darum hundertfach gefährdeteren Art<br />

Mensch habe, sondern geradezu für den Menschen<br />

Page Break KGW='VIII-2.270' KSA='13.28'<br />

überhaupt das Ideal, das Ziel, das Maaß, die höchste<br />

Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung eines Ideals war<br />

bisher die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch<br />

ausgesetzt war: denn mit ihm drohte den stärker gerathenen<br />

Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch, in denen<br />

der Wille zur Macht und zum Wachsthum des ganzen<br />

Typus Mensch einen Schritt vorwärts thut, der Untergang;<br />

mit seinen Werthen sollte das Wachsthum jener Mehr-Menschen<br />

an der Wurzel angegraben werden, welche um<br />

ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig<br />

auch ein gefährlicheres Leben (ökonomisch ausgedrückt:<br />

Steigerung der Unternehmer-Kosten ebensosehr wie der<br />

Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen.<br />

Was wir am Christenthum bekämpfen? Daß es die Starken<br />

zerbrechen will, daß es ihren Muth entmuthigen, ihre<br />

schlechten Stunden und Müdigkelten ausnützen, ihre stolze<br />

Sicherheit in Unruhe und Gewissensnoth verkehren will,<br />

daß es die vornehmen Instinkte giftig und krank zu machen<br />

versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts<br />

kehrt, gegen sich selber kehrt, — bis die Starken an den<br />

Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung<br />

zu Grunde gehn: jene schauerliche Art des Zugrundegehens,<br />

deren berühmtestes Beispiel Pascal abgiebt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11785 id='VIII.11[56]' kgw='VIII-2.270' ksa='13.28'<br />

(322) Zola: — ein gewisser Wetteifer mit Taine, ein<br />

Ablernen von dessen Mitteln, in einem skeptischen milieu es<br />

zu einer Art von Diktatur zu bringen. Dahin gehört die<br />

absichtliche Vergröberung der Principien, damit sie<br />

als Commando wirken.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11786 id='VIII.11[57]' kgw='VIII-2.270' ksa='13.28'<br />

Begreifen — das ist Gutheißen? —<br />

Page Break KGW='VIII-2.271' KSA='13.29'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11787 id='VIII.11[58]' kgw='VIII-2.271' ksa='13.29'


(323) Sich selbst nicht zu erkennen: Klugheit des Idealisten.<br />

Der Idealist: ein Wesen, welches Gründe hat über<br />

sich dunkel zu bleiben und das klug genug ist, sich auch<br />

über diese Gründe noch dunkel zu bleiben.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11788 id='VIII.11[59]' kgw='VIII-2.271' ksa='13.29'<br />

(324) Das Litteraturweib, unbefriedigt, aufgeregt, öde in<br />

Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter Neugierde<br />

jeder Zeit auf den Imperativ hinhorchend, der aus der<br />

Tiefe ihrer Organisation kategorisch sein aut liberi aut<br />

libri formulirt: das Litteraturweib, gebildet genug, um<br />

die Stimme der Natur zu verstehn, selbst wenn sie Latein<br />

redet und andrerseits ehrgeizig genug, um mit sich im<br />

Geheimen auch noch französisch zu sprechen: „je me verrai,<br />

je me lirai, je m'extasierai et je dirai: Possible que j'aie eu<br />

tant d'esprit?“…<br />

Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine<br />

kleine Sünde begeht, zum Versuch, im Vorübergehn, sich<br />

umblickend, ob es Jemand bemerkt und daß es Jemand<br />

bemerkt: es weiß, wie gut dem vollkommenen Weibe ein<br />

kleiner Fleck Fäulniß und brauner Verdorbenheit steht, —<br />

es weiß noch besser, wie alles Litteraturmachen am Weibe<br />

wirkt, als Fragezeichen in Hinsicht auf alle sonstigen<br />

weiblichen pudeurs…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11789 id='VIII.11[60]' kgw='VIII-2.271' ksa='13.29'<br />

(325) Die moderne Unklarheit. —<br />

Ich sehe nicht ab, was man mit dem europäischen<br />

Arbeiter machen will. Er befindet sich viel zu gut, um jetzt<br />

nicht Schritt für Schritt mehr zu fordern, unbescheidener zu<br />

fordern: er hat zuletzt die Zahl für sich. Die Hoffnung ist<br />

vollkommen vorüber, daß hier eine bescheidene und<br />

selbstgenügsame Art Mensch, ein Sklaventhum im gemildertsten<br />

Sinne des Wortes, kurz ein Stand, etwas, das<br />

Page Break KGW='VIII-2.272' KSA='13.30'<br />

Unwandelbarkeit hat, sich herausbilde. Man hat den Arbeiter<br />

militärtüchtig gemacht: man hat ihm das Stimmrecht, das<br />

Coalitionsrecht gegeben: man hat Alles gethan, um die<br />

Instinkte, auf die ein Arbeiter-Chinesenthum sich gründen<br />

könnte, zu verderben: so daß der Arbeiter heute seine<br />

Existenz bereits als einen Nothstand (moralisch<br />

ausgedrückt als ein Unrecht…) empfindet und empfinden<br />

läßt… Aber was will man? nochmals gefragt. Wenn man


ein Ziel will, muß man die Mittel wollen: wenn man<br />

Sklaven will, — und man braucht sie! — muß man sie<br />

nicht zu Herren erziehen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11790 id='VIII.11[61]' kgw='VIII-2.272' ksa='13.30'<br />

(326) „Die Summe der Unlust überwiegt die Summe der<br />

Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser als deren<br />

Sein“: dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus<br />

„Die Welt ist etwas, das vernünftiger Weise nicht wäre,<br />

weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust<br />

verursacht.“<br />

Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es<br />

sind Werthurtheile zweiten Ranges, die sich erst ableiten<br />

von einem regierenden Werth; ein in Form des Gefühls<br />

redendes „nützlich“ „schädlich“, und folglich absolut<br />

flüchtig und abhängig. Denn bei jedem „nützlich“ „schädlich“<br />

sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen.<br />

Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität:<br />

er ist selbst ein Zeichen tiefer Verarmung an Leben.<br />

Ich werde nie zulassen, daß solch ein magerer Affe<br />

wie Hartmann von seinem „philosophischen Pessimismus“<br />

redet. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11791 id='VIII.11[62]' kgw='VIII-2.272' ksa='13.30'<br />

(327) Talma hat gesagt:<br />

oui, nous devons être sensibles, nous devons éprouver<br />

l'émotion, mais pour mieux l'imiter, pour mieux en saisit<br />

Page Break KGW='VIII-2.273' KSA='13.31'<br />

le caractère par l'étude et la réflexion. Notre art en exige<br />

de profondes. Point d'improvisation possible sur la scène,<br />

sous peine d'échec. Tout est calculé, tout doit être prévu,<br />

et l'émotion, qui semble soudaine, et le trouble, qui paraît<br />

involontaire. — L'intonation, le geste, le regard qui<br />

semblent inspirés, ont été répétés cent fois. Le poète rêveur<br />

cherche un beau vers, le musicien une mélodie, le géomêtre<br />

une démonstration: aucun d'eux n'y attache plus d'interêt<br />

que nous à trouver le geste et l'accent, qui rend le mieux<br />

le sens d'un seul hémistiche. Cette étude suit en tous lieux<br />

l'acteur épris de son art. — Faut-il vous dire plus? Nous<br />

nous sommes à nous-mêmes, voyez vous, quand nous<br />

aimons notre art, des sujets d'observation. J'ai fait des<br />

pertes bien cruelles; j'ai souvent ressenti des chagrins<br />

profonds; hé bien, après ces premiers moments où la douleur


se fait jour par des cris et par des larmes, je sentai<br />

qu'involontairement je faisais un retour sur mes souffrances et<br />

qu'en moi, à mon insu, l'acteur étudiait l'homme et<br />

prenait la nature sur le fait. Voici de quelle façon nous<br />

devons éprouver l'émotion pour être un jour en état de<br />

la rendre; mais non à l'improviste et sur la scène, quand<br />

tous les yeux sont fixés sur nous; rien n'exposerait plus<br />

notre situation. Récemment encore, je jouais dans<br />

Misanthropie et repentir avec une admirable actrice;<br />

son jeu si réfléchi et pourtant si naturel et si vrai,<br />

m'entraînait. Elle s'en aperçut. Quel triomphe! et pourtant elle<br />

me dit tout bas: „Prenez garde, Talma, vous êtes ému!“<br />

C'est qu'en effet de l'émotion naît le trouble; la voix<br />

résiste, la mémoire manque, les gestes sont faux, l'effet est<br />

détruit! Ah! nous ne sommes pas la nature, nous ne sommes<br />

que l'art, qui ne peut tendre qu'à imiter.<br />

Page Break KGW='VIII-2.274' KSA='13.32'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11792 id='VIII.11[63]' kgw='VIII-2.274' ksa='13.32'<br />

Lessing setzte Molière unter Destouches<br />

Minna von Barnhelm — „un marivaudage raisonné“.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11793 id='VIII.11[64]' kgw='VIII-2.274' ksa='13.32'<br />

Chinesisch: „da mein Geliebter in meinem Herzen einlogirt<br />

ist, so hüte ich mich, warm zu essen: diese Hitze soll ihm<br />

nicht lästig sein“<br />

„Sähest du selbst deine Mutter vor Hunger sterben, thue<br />

nichts, was der Tugend zuwider ist.“<br />

„wenn du, der Schildkröte gleich, die ihre fünf Gliedmaßen<br />

in ihre Schale zurückzieht, deine fünf Sinne in dich selber<br />

zurückziehst, so wird dir dies noch nach dem Tode zu Gunsten<br />

kommen: du wirst die himmlische Seligkeit erhalten“.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11794 id='VIII.11[65]' kgw='VIII-2.274' ksa='13.32'<br />

„Man ist erstaunt über das viele Zögern und Zaudern in der<br />

Argumentation des Montaigne. Aber auf den Index im Vatican<br />

gesetzt, allen Parteien längst verdächtig, setzt er vielleicht<br />

freiwillig seiner gefährlichen Toleranz, seiner verleumdeten<br />

Unparteilichkeit, die Sordine einer Art Frage auf. Das war schon viel<br />

in seiner Zeit: Humanität, welche zweifelt…,


<strong>Aphorism</strong> n=11795 id='VIII.11[66]' kgw='VIII-2.274' ksa='13.32'<br />

Mérimée, supérieur comme joaillier en vices et comme ciseleur<br />

en difformités, gehört zur Bewegung von 1830, nicht durch<br />

die passion (sie fehlt ihm — ), sondern durch die Neuheit des<br />

calculirten procédé, und die kühne Wahl der Stoffe.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11796 id='VIII.11[67]' kgw='VIII-2.274' ksa='13.32'<br />

„bains intérieurs“ um mich züchtig nach Art der Madame<br />

Valmore auszudrücken<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11797 id='VIII.11[68]' kgw='VIII-2.274' ksa='13.32'<br />

„rien ne porte malheur comme une bonne action“<br />

Page Break KGW='VIII-2.275' KSA='13.33'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11798 id='VIII.11[69]' kgw='VIII-2.275' ksa='13.33'<br />

(328) Sainte-Beuve: „la jeunesse est trop ardente pour avoir<br />

du goût.<br />

Pour avoir du goût, il ne suffit pas d'avoir en soi la<br />

faculté de goûter les belles et douces choses de l'esprit, il<br />

faut encore du loisir, une âme libre et vacante, redevenue<br />

comme innocente, non livrée aux passions, non affairée,<br />

non bourrelée d'âpres soins et d'inquiétudes positives; une<br />

âme désintéressée et même exempte du feu trop ardent de<br />

la composition, non en proie à sa propre verve insolente; il<br />

faut du repos, de l'oubli, du silence, d'espace autour de<br />

soi. Que de conditions, même quand on a en soi la faculté<br />

de les trouver, pour jouir des choses délicates!“ —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11799 id='VIII.11[70]' kgw='VIII-2.275' ksa='13.33'<br />

Bei der Aufführung der Christine (von A. Dumas): Joanny<br />

hat einen gezeichneten Paß der Königin. Im Augenblick sich<br />

dessen zu bedienen, überlegt er es(1623) sich anders und schließt das<br />

Papier an sich mit den Worten: réservons en l'effet pour de plus<br />

grands besoins.


<strong>Aphorism</strong> n=11800 id='VIII.11[71]' kgw='VIII-2.275' ksa='13.33'<br />

(329) Unlust und Lust sind die denkbar dümmsten<br />

Ausdrucksmittel von Urtheilen: womit natürlich nicht<br />

gesagt ist, daß die Urtheile, welche hier auf diese Art<br />

laut werden, dumm sein müßten. Das Weglassen aller<br />

Begründung und Logicität, ein Ja oder Nein in der<br />

Reduktion auf ein leidenschaftliches Haben-wollen oder<br />

Wegstoßen, eine imperativische Abkürzung, deren Nützlichkeit<br />

unverkennbar ist: das ist Lust und Unlust. Ihr Ursprung<br />

ist in der Central-Sphäre des Intellekts; ihre Voraussetzung<br />

ist ein unendlich beschleunigtes Wahrnehmen, Ordnen,<br />

Subsumiren, Nachrechnen, Folgern: Lust und Unlust<br />

sind immer Schlußphänomene, keine „Ursachen“…<br />

Page Break KGW='VIII-2.276' KSA='13.34'<br />

Die Entscheidung darüber, was Unlust und Lust<br />

erregen soll, ist vom Grade der Macht abhängig: dasselbe,<br />

was in Hinsicht auf ein geringes Quantum Macht als<br />

Gefahr und Nöthigung zu schnellster Abwehr erscheint,<br />

kann bei einem größeren Bewußtsein von Machtfülle eine<br />

wollüstige Reizung, ein Lustgefühl als Folge haben.<br />

Alle Lust- und Unlustgefühle setzen bereits ein<br />

Messen nach Gesammt-Nützlichkeit,<br />

Gesammt-Schädlichkeit voraus: also eine Sphäre,<br />

wo das Wollen eines Ziels (Zustands) und ein Auswählen<br />

der Mittel dazu stattfindet. Lust und Unlust sind niemals<br />

„ursprüngliche Thatsachen“<br />

Lust- und Unlustgefühle sind Willens-Reaktionen<br />

(Affekte), in denen das intellektuelle Centrum<br />

den Werth gewisser eingetretener Veränderungen zum<br />

Gesammt-Werthe fixirt, zugleich als Einleitung von<br />

Gegenaktionen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11801 id='VIII.11[72]' kgw='VIII-2.276' ksa='13.34'<br />

(330) Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so<br />

müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber,<br />

daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie<br />

oder wissenschaftliche Hypothese (z.B. der Mechanismus),<br />

in der ein solcher nothwendig wird, ist durch die einzige<br />

Thatsache widerlegt… Ich suche eine Weltconception,<br />

welche dieser Thatsache gerecht wird: das Werden soll<br />

erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht<br />

zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in<br />

jedem Augenblick (oder unabwerthbar: was auf


Eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige<br />

um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des<br />

Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die<br />

„Nothwendigkeit“ nicht in Gestalt einer übergreifenden,<br />

beherrschenden Gesammtgewalt, oder eines ersten Motors;<br />

Page Break KGW='VIII-2.277' KSA='13.35'<br />

noch weniger als nothwendig, um etwas Werthvolles zu<br />

bedingen. Dazu ist nöthig, ein Gesammtbewußtsein des<br />

Werdens, einen „Gott“ zu leugnen, um das Geschehen<br />

nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden,<br />

mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu<br />

bringen: „Gott“ ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und<br />

andrerseits ist eine Summirung von Unlust und<br />

Unlogik damit gesetzt, welche den Gesammtwerth des<br />

„Werdens“ erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt<br />

gerade eine solche summirende Macht ( — ein leidender und<br />

überschauender Gott, ein „Gesammtsensorium“ und „Allgeist“<br />

— wäre der größte Einwand gegen das Sein)<br />

Strenger: man darf nichts Seiendes<br />

überhaupt zulassen, — weil dann das Werden seinen<br />

Werth verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig<br />

erscheint.<br />

Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat<br />

entstehen können (müssen)<br />

insgleichen: wie alle Werthurtheile, welche auf der<br />

Hypothese ruhen, daß es Seiendes gäbe, entwerthet sind.<br />

damit aber erkennt man, daß diese Hypothese<br />

des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist<br />

„die bessere Welt, die wahre Welt, die „jenseitige“<br />

Welt, Ding an sich“<br />

1) das Werden hat keinen Zielzustand, mündet<br />

nicht in ein „Sein“.<br />

2) das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht<br />

ist die seiende Welt ein Schein.<br />

3) das Werden ist werthgleich in jedem Augenblick:<br />

die Summe seines Werthes bleibt sich gleich:<br />

anders ausgedrückt: es hat gar keinen<br />

Werth, denn es fehlt etwas, woran es zu messen<br />

Page Break KGW='VIII-2.278' KSA='13.36'<br />

wäre, und in Bezug worauf das Wort „Werth“<br />

Sinn hätte(1624).<br />

der Gesammtwerth der Welt ist<br />

unabwerthbar, folglich gehört der philosophische<br />

Pessimismus unter die komischen Dinge


<strong>Aphorism</strong> n=11802 id='VIII.11[73]' kgw='VIII-2.278' ksa='13.36'<br />

(331) Der Gesichtspunkt des „Werths“ ist der Gesichtspunkt<br />

von Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen<br />

in Hinsicht auf complexe Gebilde von relativer<br />

Dauer des Lebens innerhalb des Werdens:<br />

— : es giebt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine<br />

Atome, keine Monaden: auch hier ist „das Seiende“ erst<br />

von uns hineingelegt, (aus praktischen, nützlichen<br />

perspektivischen Gründen)<br />

— „Herrschafts-Gebilde“; die Sphäre des<br />

Beherrschenden fortwährend wachsend oder periodisch<br />

abnehmend, zunehmend; oder, unter der Gunst und Ungunst der<br />

Umstände (der Ernährung — )<br />

— „Werth“ ist wesentlich der Gesichtspunkt für das<br />

Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Centren<br />

(„Vielheiten“ jedenfalls, aber die „Einheit“ ist in der<br />

Natur des Werdens gar nicht vorhanden)<br />

— ein Quantum Macht, ein Werden, insofern<br />

nichts darin den Charakter des „Seins“ hat; insofern<br />

— die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar,<br />

um das Werden auszudrücken: es gehört zu unserem<br />

unablöslichen Bedürfniß der Erhaltung,<br />

beständig die eine gröbere Welt von Bleibendem(1625), von<br />

„Dingen“ usw. zu setzen. Relativ, dürfen wir von Atomen<br />

und Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste<br />

Welt an Dauer die dauerhafteste ist…<br />

es giebt keinen Willen: es giebt<br />

Page Break KGW='VIII-2.279' KSA='13.37'<br />

Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder<br />

verlieren<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11803 id='VIII.11[74]' kgw='VIII-2.279' ksa='13.37'<br />

(332) — daß im „Prozeß des Ganzen“ die Arbeit<br />

der Menschheit nicht in Betracht<br />

kommt, weil es einen Gesammtprozeß (diesen als<br />

System gedacht — ) gar nicht giebt:<br />

— daß es kein „Ganzes“ giebt, daß alle<br />

Abwerthung des menschlichen Daseins, der menschlichen<br />

Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden<br />

kann, das gar nicht existirt …<br />

— daß die Nothwendigkeit, die Ursächlichkeit,<br />

Zweckmäßigkeit nützliche Scheinbarkeiten sind<br />

— daß nicht Vermehrung des Bewußtseins, das Ziel<br />

ist, sondern Steigerung der Macht, in welche Steigerung<br />

die Nützlichkeit des Bewußtseins eingerechnet ist, ebenso


mit Lust als mit Unlust<br />

— daß man nicht die Mittel zum obersten Werthmaß<br />

nimmt (also nicht Zustände des Bewußtseins, wie<br />

Lust und Schmerz, wenn das Bewußtsein selbst ein Mittel<br />

ist — )<br />

— daß die Welt durchaus kein Organism ist, sondern<br />

das Chaos: daß die Entwicklung der „Geistigkeit“ ein<br />

Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist …<br />

— daß alle „Wünschbarkeit“ keinen Sinn hat in Bezug<br />

auf den Gesammtcharakter des Seins.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11804 id='VIII.11[75]' kgw='VIII-2.279' ksa='13.37'<br />

(333) nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der<br />

Lust: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders<br />

kämpfen. Die absurde psychologische Falschmünzerei der<br />

nächsten Dinge …<br />

sondern daß der Wille vorwärts will und immer<br />

Page Break KGW='VIII-2.280' KSA='13.38'<br />

wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht: das<br />

Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens,<br />

darin, daß er ohne die Grenzen und Widerstände noch<br />

nicht satt genug ist …<br />

„Der Glückliche“: Heerdenideal<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11805 id='VIII.11[76]' kgw='VIII-2.280' ksa='13.38'<br />

(334) Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe z.B.<br />

des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs,<br />

enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie<br />

wirkt vielmehr agacirend auf das Lebensgefühl, wie jeder<br />

Rhythmus von kleinen schmerzhaften Reizen es stärkt,<br />

was auch die Pessimisten(1626) uns vorreden mögen: diese<br />

Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große<br />

Stimulans des Lebens.<br />

— Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen<br />

als einen Rhythmus kleiner Unlustreize …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11806 id='VIII.11[77]' kgw='VIII-2.280' ksa='13.38'<br />

(335) Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um<br />

über sie Herr zu werden, muß das Maaß des hiermit<br />

herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen:


und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem<br />

auslassen kann, ist nothwendig in jeder Aktion eine<br />

Ingredienz von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als<br />

Reiz des Lebens: und stärkt den Willen zur Macht!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11807 id='VIII.11[78]' kgw='VIII-2.280' ksa='13.38'<br />

(336) Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, daß sie<br />

die muthigsten sind, erleben auch bei weitem die<br />

schmerzhaftesten Tragödien: aber deshalb ehren sie das Leben,<br />

weil es ihnen die größte Gegnerschaft gegenüberstellt …<br />

Page Break KGW='VIII-2.281' KSA='13.39'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11808 id='VIII.11[79]' kgw='VIII-2.281' ksa='13.39'<br />

(337) Die Mittel, mit denen Julius Caesar sich gegen<br />

Kränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure<br />

Märsche, einfache Lebensweise, ununterbrochener Aufenthalt<br />

im Freien und beständige Strapatzen: es sind, ins Große<br />

gerechnet, die Erhaltungsbedingungen des Genies<br />

überhaupt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11809 id='VIII.11[80]' kgw='VIII-2.281' ksa='13.39'<br />

(338) Vorsicht vor der Moral: sie entwerthet uns uns selber —<br />

Vorsicht vor dem mitleiden: es überbürdet uns mit der<br />

Noth Anderer —<br />

Vorsicht vor der „Geistigkeit“: sie verdirbt den<br />

Charakter, indem sie extrem einsam macht: einsam d.h.<br />

ungebunden, unangebunden…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11810 id='VIII.11[81]' kgw='VIII-2.281' ksa='13.39'<br />

— nur das Werden wird empfunden, nicht aber das<br />

Sterben (?) —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11811 id='VIII.11[82]' kgw='VIII-2.281' ksa='13.39'<br />

Der Sinn des Werdens muß in jedem Augenblick erfüllt,<br />

erreicht, vollendet sein.


<strong>Aphorism</strong> n=11812 id='VIII.11[83]' kgw='VIII-2.281' ksa='13.39'<br />

(339)(1627) Das, was eine gute Handlung genannt wird, ist ein<br />

bloßes Mißverständniß; solche Handlungen sind gar nicht<br />

möglich.<br />

„Egoismus“ ist ebenso wie „Selbstlosigkeit“ eine<br />

populäre Fiktion; insgleichen das Individuum, die Seele.<br />

In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb<br />

eines Organismus ist der uns bewußt werdende Theil ein<br />

bloßer Winkel: und das Bischen „Tugend“, „Selbstlosigkeit“<br />

und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen<br />

Page Break KGW='VIII-2.282' KSA='13.40'<br />

radikale Weise vom übrigen Gesammtgeschehen aus<br />

Lügen gestraft. Wir thun gut, unseren Organism in seiner<br />

vollkommenen Unmoralität zu studiren…<br />

Die animalischen Funktionen sind ja principiell millionenfach<br />

wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen:<br />

letztere sind ein überschuß, soweit sie nicht<br />

Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen.<br />

Das ganze bewußte Leben, der Geist sammt der<br />

Seele, sammt dem Herzen, sammt der Güte, sammt der<br />

Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster<br />

Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs- Steigerungsmittel) der<br />

animalischen Grundfunktionen: vor Allem der Lebenssteigerung.<br />

Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man „Leib“<br />

und „Fleisch“ nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör.<br />

Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen<br />

und so, daß der Faden immer mächtiger<br />

wird — das ist die Aufgabe. Aber nun sehe man, wie<br />

Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören,<br />

diese principielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob<br />

sie die Ziele wären … Die Entartung des Lebens ist<br />

wesentlich bedingt durch die außerordentliche<br />

Irrthumsfähigkeit des Bewusstseins: es wird am wenigsten<br />

durch Instinkte im Zaum gehalten und vergreift sich<br />

deshalb am längsten und gründlichsten.<br />

Nach den angenehmen oder unangenehmen<br />

Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen,<br />

ob das Dasein Werth hat: kann man sich eine tollere<br />

Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel:<br />

und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch<br />

nur Mittel! — Woran mißt sich objektiv der Werth?<br />

Allein an dem Quantum gesteigerter und<br />

organisirter Macht, nach dem, was in allem Geschehen<br />

geschieht, ein Wille zum Mehr…


Page Break KGW='VIII-2.283' KSA='13.41'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11813 id='VIII.11[84]' kgw='VIII-2.283' ksa='13.41'<br />

Der „Geist“ als Wesen der Welt angesetzt; die Logicität als<br />

wesenhaft<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11814 id='VIII.11[85]' kgw='VIII-2.283' ksa='13.41'<br />

(340) Durch Alcohol und Haschisch bringt man sich auf<br />

Stufen der Cultur zurück, die man überwunden<br />

(mindestens überlebt hat) Alle Speisen geben irgend eine<br />

Offenbarung über die Vergangenheit, aus der wir<br />

wurden.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11815 id='VIII.11[86]' kgw='VIII-2.283' ksa='13.41'<br />

Auch der Weise thut es oft genug jenen dummen Frauen<br />

gleich, welche Milch für keine Nahrung halten, wohl aber Rüben:<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11816 id='VIII.11[87]' kgw='VIII-2.283' ksa='13.41'<br />

(341) All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den<br />

wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich<br />

zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen:<br />

als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter,<br />

als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht —: oh über seine<br />

königliche Freigebigkeit, mit der er die Dinge beschenkt<br />

hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen!<br />

Das war bisher seine größte Selbstlosigkeit, daß er<br />

bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß<br />

er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11817 id='VIII.11[88]' kgw='VIII-2.283' ksa='13.41'<br />

(342) Wie viel uneingeständliche und selbst unwissende<br />

Befriedigung alter religiöser Bedürfnisse ist im<br />

Gefühls-Mischmasch der deutschen Musik rückständig! Wie viel<br />

Gebet, Tugend, Salbung, Jungfräulichkeit, Weihrauch,<br />

Muckerei und „Kämmerlein“ redet da noch mit! Daß die<br />

Musik selbst vom Worte, vom Begriff, vom Bilde absieht:


Page Break KGW='VIII-2.284' KSA='13.42'<br />

oh wie sie davon ihren Vortheil zu ziehen weiß, die<br />

arglistige weibliche „Ewig-Weibliche“! auch das redlichste<br />

Gewissen braucht sich nicht zu schämen, wenn jener<br />

Instinkt sich befriedigt, — es bleibt außerhalb. Dies ist<br />

gesund, klug und, insofern es Scham vor der Armseligkeit<br />

alles religiösen Urtheils ausdrückt, ein gutes Zeichen…<br />

Trotz alledem bleibt es eine Tartüfferie…<br />

Stellt man dagegen, wie es Wagner(1628) in seinen letzten<br />

Tagen mit gefährlicher Verlogenheit that, die religiöse<br />

Symbolik daneben, wie im Parsifal, wo er auf den<br />

abergläubischen Unsinn des Abendmahls anspielt und nicht<br />

nur anspielt: so erregt eine solche Musik Entrüstung…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11818 id='VIII.11[89]' kgw='VIII-2.284' ksa='13.42'<br />

(343) Die Menschen haben die Liebe immer mißverstanden:<br />

sie glauben hier selbstlos zu sein, weil sie den Vortheil<br />

eines anderen Wesens wollen, oft wider ihren eigenen<br />

Vortheil: aber dafür wollen sie jenes andere Wesen<br />

besitzen… In anderen Fällen ist Liebe ein feineres<br />

Schmarotzerthum, ein gefährliches und rücksichtsloses<br />

Sicheinnisten einer Seele in eine andere Seele — mitunter<br />

auch ins Fleisch… ach! wie sehr auf „des Wirthes“ Unkosten!<br />

Wie viel Vortheil opfert der Mensch, wie wenig<br />

„eigennützig“ ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften<br />

wollen ihr Recht haben — und wie fern vom klugen<br />

Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt!<br />

Man will nicht sein „Glück“; man muß Engländer sein,<br />

um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen<br />

Vortheil sucht; unsere Begierden wollen sich in langer<br />

Leidenschaft an den Dingen vergreifen — ihre aufgestaute<br />

Kraft sucht die Widerstände<br />

Page Break KGW='VIII-2.285' KSA='13.43'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11819 id='VIII.11[90]' kgw='VIII-2.285' ksa='13.43'<br />

Was Richard(1629) Wagner(1630) werth ist, das wird der erst uns<br />

sagen, der von ihm den besten Gebrauch gemacht hat. Einstweilen<br />

versucht man an einen Werth Wagners(1631) zu glauben, an den<br />

er selbst gar zu gern hätte glauben mögen…


<strong>Aphorism</strong> n=11820 id='VIII.11[91]' kgw='VIII-2.285' ksa='13.43'<br />

(344) Veredelung der Prostitution, nicht Abschaffung…<br />

Die Ehe hat die längste Zeit das schlechte Gewissen<br />

gegen sich gehabt: sollte man's glauben? ja, man soll es<br />

glauben. —<br />

Zu Ehren der alten Frauen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11821 id='VIII.11[92]' kgw='VIII-2.285' ksa='13.43'<br />

Ich nehme mir die Freiheit, mich zu vergessen. übermorgen<br />

will ich wieder bei mir zu Hause sein.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11822 id='VIII.11[93]' kgw='VIII-2.285' ksa='13.43'<br />

(345) alles, womit der Mensch bisher nicht fertig zu werden<br />

weiß, was kein Mensch noch verdaut hat, der „Koth des<br />

Daseins“ — für die Weisheit wenigstens bleibt er der<br />

beste Dünger…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11823 id='VIII.11[94]' kgw='VIII-2.285' ksa='13.43'<br />

(346) Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit<br />

aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen<br />

und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint<br />

umgekehrt Alles viel zu viel werth zu sein, als daß es so<br />

flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für<br />

jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine<br />

ins Meer gießen? — und mein Trost ist, daß Alles was war<br />

ewig ist: — das Meer spült es wieder heraus<br />

Page Break KGW='VIII-2.286' KSA='13.44'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11824 id='VIII.11[95]' kgw='VIII-2.286' ksa='13.44'<br />

(347) Man belästigte, wie bekannt, Voltaire noch in seinen<br />

letzten Augenblicken: „glauben Sie an die Gottheit<br />

Christi?“ fragte ihn sein Curé; und nicht zufrieden damit, daß<br />

Voltaire ihn bedeutete, er wolle in Ruhe gelassen werden,


wiederholte er seine Frage. Da überkam den Sterbenden<br />

sein letzter Ingrimm: wüthend stieß er den unbefugten<br />

Frager zurück: „au nom du dieu! — rief er ihm ins<br />

Gesicht — ne me parlez pas de cet-homme-là!“ —<br />

unsterbliche letzte Worte, in denen alles zusammengefaßt ist,<br />

wogegen dieser tapferste Geist gekämpft hatte. —<br />

Voltaire urtheilte: „es ist nichts Göttliches an diesem<br />

Juden von Nazareth“: so urtheilte aus ihm der klassische<br />

Geschmack.<br />

Der klassische Geschmack und der christliche Geschmack<br />

setzen den Begriff „göttlich“ grundverschieden an; und<br />

wer den ersteren im Leibe hat, der kann nicht anders als<br />

das Christenthum als foeda superstitio(1632) und das christliche<br />

Ideal als eine Carikatur und Herabwürdigung des<br />

Göttlichen zu empfinden(1633).<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11825 id='VIII.11[96]' kgw='VIII-2.286' ksa='13.44'<br />

(348) Daß man den Thäter wieder in das Thun hineinnimmt,<br />

nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen<br />

und damit das Thun entleert hat;<br />

daß man das Etwas-thun, „das Ziel“, die „Absicht“,<br />

den „Zweck“ wieder in das Thun zurücknimmt, nachdem<br />

man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das<br />

Thun entleert hat;<br />

daß alle „Zwecke“, „Ziele“, „Sinne“ nur<br />

Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens sind, der<br />

allem Geschehen inhärirt, der Wille zur Macht; daß<br />

Zwecke, Ziele, Absichten haben, wollen überhaupt<br />

soviel ist wie Stärker-werden-wollen, wachsen wollen, und<br />

dazu auch die Mittel wollen;<br />

Page Break KGW='VIII-2.287' KSA='13.45'<br />

daß der allgemeinste und unterste Instinkt in allem<br />

Thun und Wollen eben deshalb der unerkannteste und<br />

verborgenste geblieben ist, weil in praxi wir immer seinem<br />

Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind… Alle<br />

Werthschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im<br />

Dienste dieses Einen Willens: das Werthschätzen<br />

selbst ist nur dieser Wille zur Macht; eine Kritik des<br />

Seins aus irgend einem dieser Werthe heraus ist etwas<br />

Widersinniges und Mißverständliches; gesetzt selbst, daß<br />

sich darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser<br />

Prozeß noch im Dienste dieses Willens…<br />

Das Sein selbst abschätzen: aber das Abschätzen<br />

selbst ist dieses Sein noch —: und indem wir<br />

Nein sagen, so thun wir immer noch, was wir sind…<br />

Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden


Gebärde einsehen; und sodann noch zu errathen suchen,<br />

was sich eigentlich damit begiebt. Es ist symptomatisch.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11826 id='VIII.11[97]' kgw='VIII-2.287' ksa='13.45'<br />

(349) Der philosophische Nihilist ist der überzeugung, daß<br />

alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte<br />

kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher<br />

dieses: Es sollte nicht? Aber woher nimmt man diesen<br />

„Sinn“? dieses Maaß? — Der Nihilist meint im Grunde,<br />

der Hinblick auf ein solches ödes nutzloses Sein wirke auf<br />

einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt;<br />

eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren<br />

Sensibilität als Philosophen. Es läuft auf die absurde Werthung<br />

hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen<br />

Vergnügen machen, wenn anders es<br />

zu Recht bestehen soll…<br />

Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust<br />

innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben<br />

können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den „Sinn“<br />

Page Break KGW='VIII-2.288' KSA='13.46'<br />

und „Zweck“ überhaupt sehen könnten, ob nicht die<br />

Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils für uns<br />

unlösbar ist. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11827 id='VIII.11[98]' kgw='VIII-2.288' ksa='13.46'<br />

(350) Werth der Vergänglichkeit: etwas, das keine Dauer hat,<br />

das sich widerspricht, hat wenig Werth. Aber die Dinge,<br />

an welche wir glauben als dauerhaft, sind als solche<br />

reine Fiktionen. Wenn Alles fließt, so ist die<br />

Vergänglichkeit eine Qualität (die „Wahrheit“) und die Dauer<br />

und Unvergänglichkeit bloß ein Schein.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11828 id='VIII.11[99]' kgw='VIII-2.288' ksa='13.46'<br />

(351) Kritik des Nihilism. —<br />

Der Nihilism als psychologischer Zustand<br />

wird eintreten müssen erstens wenn wir<br />

einen „Sinn“ in allem Geschehen gesucht haben, der nicht<br />

darin ist: so daß der Sucher endlich den Muth verliert.<br />

Nihilismus ist da das Bewußtwerden der langen Vergeudung


von Kraft, die Qual des „Umsonst“, die Unsicherheit,<br />

der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu<br />

erholen, irgendworüber noch zu beruhigen — die Scham<br />

vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen…<br />

Jener Sinn könnte gewesen sein: die „Erfüllung“<br />

eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die<br />

sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und<br />

Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an<br />

einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehn<br />

auf einen allgemeinen Nichts-Zustand — ein Ziel ist<br />

immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser<br />

Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst<br />

erreicht werden soll: — und nun begreift man, daß<br />

mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht<br />

Page Break KGW='VIII-2.289' KSA='13.47'<br />

wird … Also die Enttäuschung über einen angeblichen<br />

Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus:<br />

sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es,<br />

verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller<br />

bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze „Entwicklung“<br />

betreffen ( — der Mensch nicht mehr Mitarbeiter,<br />

geschweige der Mittelpunkt des Werdens)<br />

Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt<br />

zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine<br />

Systematisirung, selbst eine Organisirung in<br />

allem Geschehn und unter allem Geschehn angesetzt hat:<br />

so daß in der Gesammtvorstellung einer höchsten<br />

Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und<br />

Verehrung durstige Seele schwelgt ( — ist es die Seele eines<br />

Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit<br />

und Realdialektik, um mit Allem zu versöhnen …) Eine<br />

Art Einheit, irgend eine Form des „Monismus“: und<br />

in Folge dieses Glaubens der Mensch in tiefem<br />

Zusammenhangs- und Abhängigkeits-Gefühl von einem ihm<br />

unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit … „Das<br />

Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des Einzelnen“…<br />

aber siehe da, es giebt kein solches Allgemeines!<br />

Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen<br />

Werth verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich<br />

werthvolles Ganzes wirkt: d.h. er hat ein solches Ganzes<br />

concipirt, um an seinen Werth glauben zu<br />

können.<br />

Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch<br />

eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten<br />

gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden<br />

soll und daß unter allem Werden keine große Einheit<br />

waltet, in der der Einzelne völlig untertauchen darf, wie in<br />

einem Element höchsten Werthes: so bleibt als Ausflucht<br />

übrig, diese ganze Welt des Werdens als


Page Break KGW='VIII-2.290' KSA='13.48'<br />

Täuschung zu verurtheilen und eine Welt zu erfinden, welche<br />

jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der<br />

Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen<br />

Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz<br />

und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des<br />

Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische<br />

Welt in sich schließt, — welche sich den<br />

Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem<br />

Standpunkt giebt man die Realität des Werdens als<br />

einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichwege zu<br />

Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten — aber erträgt<br />

diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will …<br />

— Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der<br />

Werthlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß<br />

weder mit dem Begriff „Zweck“, noch mit dem Begriff<br />

„Einheit“, noch mit dem Begriff „Wahrheit“ der<br />

Gesammtcharakter des Daseins interpretirt werden darf.<br />

Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die<br />

übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der<br />

Charakter des Daseins ist nicht „wahr“, ist falsch …,<br />

man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre<br />

Welt sich einzureden …<br />

Kurz: die Kategorien „Zweck“, „Einheit“, „Sein“, mit<br />

denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden<br />

wieder von uns herausgezogen — und nun sieht die<br />

Welt werthlos aus…<br />

2.<br />

Gesetzt, wir haben erkannt, in wiefern mit diesen drei<br />

Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden<br />

darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns werthlos<br />

zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher<br />

Page Break KGW='VIII-2.291' KSA='13.49'<br />

unser Glaube an diese 3 Kategorien stammt —<br />

versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben<br />

zu kündigen. Haben wir diese 3 Kategorien entwerthet,<br />

so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf<br />

das All kein Grund mehr, das All zu entwerthen.<br />

Resultat: der Glaube an die Vernunft-Kategorien<br />

ist die Ursache des Nihilismus, — wir haben<br />

den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche<br />

sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.<br />

Schluß-Resultat: alle Werthe, mit denen wir bis jetzt


die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben<br />

und endlich ebendamit entwerthet haben, als sie<br />

sich als unanlegbar erwiesen — alle diese Werthe sind,<br />

psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter<br />

Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und<br />

Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur<br />

fälschlich projicirt in das Wesen der Dinge. Es ist<br />

immer noch die hyperbolische Naivetät des<br />

Menschen, sich selbst als Sinn und Werthmaß der Dinge<br />

anzusetzen(1634) …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11829 id='VIII.11[100]' kgw='VIII-2.291' ksa='13.49'<br />

(352) Die obersten Werthe, in deren Dienst der Mensch leben<br />

sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig<br />

über ihn verfügten: diese socialen Werthe hat man<br />

zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie<br />

Commando's Gottes wären, als „Realität“, als „wahre“<br />

Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem<br />

Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft<br />

Page Break KGW='VIII-2.292' KSA='13.50'<br />

dieser Werthe klar wird, scheint uns das All damit<br />

entwerthet, „sinnlos“ geworden … aber das ist nur ein<br />

Zwischenzustand.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11830 id='VIII.11[101]' kgw='VIII-2.292' ksa='13.50'<br />

Ich wünsche durchaus nicht, an der verächtlichen Komödie<br />

mitzuspielen, welche heute immer noch, in Preußen zumal,<br />

philosophischer Pessimismus genannt wird; ich<br />

sehe selbst die Nöthigung nicht ein, von ihr zu reden. Mit Ekel<br />

sollte man sich längst von dem Schauspiel abgewandt haben,<br />

welches jener magere Affe Herr von Hartmann giebt: in<br />

meinen Augen ist jeder damit durchgestrichen, daß er diesen<br />

Namen mit dem Schopenhauers zugleich in den Mund nimmt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11831 id='VIII.11[102]' kgw='VIII-2.292' ksa='13.50'<br />

(353) Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit<br />

begeht. Daß man sie hinterdrein nicht im Stich läßt … Der<br />

Gewissensbiß ist unanständig.


<strong>Aphorism</strong> n=11832 id='VIII.11[103]' kgw='VIII-2.292' ksa='13.50'<br />

(354) Daß man endlich die menschlichen Werthe wieder<br />

hübsch in die Ecke zurücksetze, in der sie allein ein Recht<br />

haben: als Eckensteher-Werthe. Es sind schon viele<br />

Thierarten verschwunden; gesetzt daß auch der Mensch<br />

verschwände, so würde nichts in der Welt fehlen. Man muß<br />

Philosoph genug sein, um auch dies Nichts zu<br />

bewundern ( — Nil admirari — )<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11833 id='VIII.11[104]' kgw='VIII-2.292' ksa='13.50'<br />

(355) Ist man über das „Warum?“ seines Lebens mit sich im<br />

Reinen, so giebt man dessen Wie? leichten Kaufs. Es ist<br />

selbst schon ein Zeichen von Unglauben an Warum?, an<br />

Zweck und Sinn, ein Mangel an Willen, wenn der<br />

Werth von Lust und Unlust in den Vordergrund tritt und<br />

hedonistisch-pessimistische Lehren Gehör finden; und<br />

Page Break KGW='VIII-2.293' KSA='13.51'<br />

Entsagung, Resignation, Tugend, „Objektivität“ können<br />

zum Mindesten schon Zeichen davon sein, daß es an der<br />

Hauptsache zu mangeln beginnt.<br />

Daß man sich ein Ziel zu geben weiß — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11834 id='VIII.11[105]' kgw='VIII-2.293' ksa='13.51'<br />

NB. ein Pöbel-Mensch, ein Rancune-Mensch, ein Rankunkel …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11835 id='VIII.11[106]' kgw='VIII-2.293' ksa='13.51'<br />

Nicht zu verwechseln: — Der Unglaube als<br />

Unvermögen überhaupt zu glauben und, andrerseits, als<br />

Unvermögen Etwas noch zu glauben: im letzteren Falle<br />

gemeinhin als Symptom von einem neuen Glauben —<br />

Dem Unglauben als Unvermögen eignet die Unfähigkeit<br />

zu negiren — er weiß sich weder gegen ein Ja noch gegen ein<br />

Nein zu wehren …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11836 id='VIII.11[107]' kgw='VIII-2.293' ksa='13.51'


Müßiggang ist aller Philosophie Anfang. — Folglich — ist<br />

Philosophie ein Laster? …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11837 id='VIII.11[108]' kgw='VIII-2.293' ksa='13.51'<br />

Ein Philosoph erholt sich anders und in Anderem: er erholt<br />

sich z.B. im Nihilismus. Der Glaube, daß es gar keine Wahrheit<br />

giebt, der Nihilisten-Glaube ist ein großes Gliederstrecken für<br />

einen, der als Kriegsmann der Erkenntniß unablässig mit lauter<br />

häßlichen Wahrheiten im Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist<br />

häßlich<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11838 id='VIII.11[109]' kgw='VIII-2.293' ksa='13.51'<br />

Wenn man von der Musik die dramatische Musik abrechnet:<br />

bleibt der guten Musik immer noch genug übrig<br />

Page Break KGW='VIII-2.294' KSA='13.52'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11839 id='VIII.11[110]' kgw='VIII-2.294' ksa='13.52'<br />

Auch wir glauben an die Tugend: aber an die Tugend im<br />

Renaissancestile, virtù, moralinfreie Tugend.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11840 id='VIII.11[111]' kgw='VIII-2.294' ksa='13.52'<br />

(356) Wie kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der<br />

Psychologie allesammt die ärgsten Verdrehungen und<br />

Falschmünzereien sind? „Der Mensch strebt nach<br />

Glück“ z.B. — was ist daran wahr! Um zu verstehn,<br />

was Leben ist, welche Art Streben und Spannung Leben<br />

ist, muß die Formel so gut von Baum und Pflanze als vom<br />

Thier gelten. „Wonach strebt die Pflanze?“ — aber hier<br />

haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es<br />

nicht giebt: die „Thatsache eines millionenfachen Wachsthums<br />

mit eigenen und halbeigenen Initiativen ist versteckt<br />

und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit „Pflanze“<br />

voranstellen. Daß die letzten kleinsten „Individuen“<br />

nicht in dem Sinn eines „metaphysischen Individuums“<br />

und Atoms verständlich sind, daß ihre Machtsphäre<br />

fortwährend sich verschiebt — das ist zuallererst sichtbar:<br />

aber strebt ein Jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt<br />

verwandelt, nach „Glück“? — Aber alles


Sich-ausbreiten, Einverleiben, Wachsen ist ein Anstreben gegen<br />

Widerstehendes, Bewegung(1635) ist essentiell etwas mit<br />

Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt,<br />

jedenfalls etwas Anderes wollen, wenn es dergestalt die<br />

Unlust will und fortwährend aufsucht. — Worum kämpfen<br />

die Bäume eines Urwaldes mit einander? Um „Glück“?<br />

— Um Macht…<br />

Der Mensch, Herr über die Naturgewalten geworden,<br />

Herr über seine eigne Wildheit und Zügellosigkeit: die<br />

Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt<br />

Der Mensch, im Vergleich zu einem Vor-Menschen,<br />

stellt ein ungeheures Quantum Macht dar — nicht<br />

Page Break KGW='VIII-2.295' KSA='13.53'<br />

ein plus vom „Glück“: wie kann man behaupten, daß er<br />

nach Glück gestrebt hat?…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11841 id='VIII.11[112]' kgw='VIII-2.295' ksa='13.53'<br />

(357) Der höhere Mensch unterscheidet sich von dem<br />

niederen in Hinsicht auf die Furchtlosigkeit und die<br />

Herausforderung des Unglücks: es ist ein Zeichen von<br />

Rückgang, wenn eudämonistische Werthmaaße als<br />

oberste zu gelten anfangen ( — physiologische Ermüdung,<br />

Willens-Verarmung — ) Das Christenthum mit seiner<br />

Perspektive auf „Seligkeit“ ist eine typische Denkweise<br />

für eine leidende und verarmte Gattung Mensch: eine<br />

volle Kraft will schaffen, leiden, leidend untergehn: ihr<br />

ist das christliche Mucker-Heil eine schlechte Musik und<br />

hieratische Gebärden ein Verdruß<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11842 id='VIII.11[113]' kgw='VIII-2.295' ksa='13.53'<br />

(358) Zur Psychologie und Erkenntnisslehre.<br />

Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt<br />

fest: alles, was uns bewußt wird, ist durch und<br />

durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisirt,<br />

ausgelegt — der wirkliche Vorgang der inneren<br />

„Wahrnehmung“, die Causalvereinigung zwischen<br />

Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, wie die zwischen<br />

Subjekt und Objekt, uns absolut verborgen — und vielleicht<br />

eine reine Einbildung. Diese „scheinbare innere Welt,<br />

ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt,<br />

wie die „äußere“ Welt. Wir stoßen nie auf „Thatsachen“:<br />

Lust und Unlust sind späte und abgeleitete<br />

Intellekt-Phänomene…


Die „Ursächlichkeit“ entschlüpft uns; zwischen<br />

Gedanken ein unmittelbares ursächliches Band anzunehmen, wie<br />

es die Logik thut — das ist Folge der allergröbsten und<br />

plumpsten Beobachtung. Zwischen zwei Gedanken<br />

Page Break KGW='VIII-2.296' KSA='13.54'<br />

spielen noch alle möglichen Affekte ihr Spiel:<br />

aber die Bewegungen sind zu rasch, deshalb verkennen<br />

wir sie, leugnen wir sie …<br />

„Denken“, wie es die Erkenntnißtheoretiker ansetzen,<br />

kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche<br />

Fiktion, erreicht durch Heraushebung Eines Elementes aus<br />

dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen, eine künstliche<br />

Zurechtmachung zum Zweck der Verständlichung…<br />

Der „Geist“, etwas, das denkt: womöglich gar<br />

„der Geist absolut, rein, pur“ — diese Conception ist eine<br />

abgeleitete zweite Folge der falschen Selbstbeobachtung,<br />

welche an „Denken“ glaubt: hier ist erst ein Akt<br />

imaginirt, der gar nicht vorkommt, „das Denken“ und<br />

zweitens ein Subjekt-Substrat imaginirt in dem jeder Akt<br />

dieses Denkens und sonst nichts Anderes seinen Ursprung hat:<br />

d.h. sowohl das Thun, als der Thäter sind<br />

fingirt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11843 id='VIII.11[114]' kgw='VIII-2.296' ksa='13.54'<br />

„wollen“ ist nicht „begehren“, streben, verlangen: davon<br />

hebt es sich ab durch den Affekt des Commando's<br />

es giebt kein „wollen“, sondern nur ein Etwas-wollen:<br />

man muß nicht das Ziel auslösen aus dem Zustand: wie es die<br />

Erkenntnißtheoretiker thun. „Wollen“, wie sie es verstehn,<br />

kommt so wenig vor, wie „Denken“: ist eine reine Fiktion.<br />

daß Etwas befohlen wird, gehört zum Wollen<br />

(: damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Wille „effektuirt“<br />

wird…)<br />

Jener allgemeine Spannungszustand, vermöge dessen<br />

eine Kraft nach Auslösung trachtet — ist kein „Wollen“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11844 id='VIII.11[115]' kgw='VIII-2.296' ksa='13.54'<br />

(359) In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre<br />

Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz: eine<br />

Page Break KGW='VIII-2.297' KSA='13.55'<br />

solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer


esonderen höheren Potenz von Falschheit: damit<br />

eine Welt des Wahren, Seienden fingirt werden konnte,<br />

mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein<br />

(eingerechnet, daß ein solcher sich „wahrhaftig“ glaubt)<br />

Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch,<br />

dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang,<br />

Form: ein Mensch der Art concipirt eine Welt des Seins<br />

als „Gott“ nach seinem Bilde.<br />

Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze<br />

Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein:<br />

es muß der Vortheil in jedem Sinne auf Seiten des<br />

Wahrhaftigen sein. — Lüge, Tücke, Verstellung müssen<br />

Erstaunen erregen …<br />

Der Haß gegen die Lüge und die Verstellung aus<br />

Stolz, aus einem reizbaren Ehrbegriff; aber es giebt<br />

einen solchen Haß auch aus Feigheit: weil Lüge verboten<br />

ist. — Bei einer anderen Art Mensch hilft alles Moralisiren<br />

„du sollst nicht lügen“ nichts gegen den Instinkt,<br />

welcher der Lüge beständig bedarf: Zeugniß das neue<br />

Testament.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11845 id='VIII.11[116]' kgw='VIII-2.297' ksa='13.55'<br />

(360) Es giebt solche, die danach suchen, wo etwas unmoralisch<br />

ist: wenn sie urtheilen: „das ist Unrecht“, so glauben<br />

sie, man müsse es abschaffen und ändern. Umgekehrt habe<br />

ich nirgends Ruhe, so lange ich bei einer Sache noch nicht<br />

über ihre Unmoralität im Klaren bin. Habe ich diese<br />

heraus, so ist mein Gleichgewicht wieder hergestellt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11846 id='VIII.11[117]' kgw='VIII-2.297' ksa='13.55'<br />

Einem ausgelassenen Geiste, dem der Tanz die natürlichste<br />

Bewegung(1636) ist und der jede Realität nur mit den Fußspitzen zu<br />

berühren liebt, ist es verhaßt, traurigen Dingen nachzuhängen<br />

Page Break KGW='VIII-2.298' KSA='13.56'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11847 id='VIII.11[118]' kgw='VIII-2.298' ksa='13.56'<br />

wir Hyperboreer<br />

(361) Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch<br />

einen viel höheren Werth darstellt als der „wünschbare“<br />

Mensch irgend eines bisherigen Ideals; daß alle<br />

„Wünschbarkeiten“ in Hinsicht auf den Menschen absurde und


gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne<br />

Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachsthums-Bedingungen<br />

über der Menschheit als Gesetz aufhängen<br />

möchte; daß jede zur Herrschaft gebrachte „Wünschbarkeit“<br />

solchen Ursprungs bis jetzt den Werth des Menschen,<br />

seine Kraft, seine Zukunfts-Gewißheit herabgedrückt<br />

hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des<br />

Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch,<br />

wenn er wünscht; daß die Fähigkeit des Menschen,<br />

Werthe anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um<br />

dem thatsächlichen, nicht bloß „wünschbaren“ Werthe<br />

des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis<br />

jetzt die eigentlich welt- und menschverleumdende Kraft,<br />

der Gifthauch über der Realität, die große Verführung<br />

zum Nichts war …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11848 id='VIII.11[119]' kgw='VIII-2.298' ksa='13.56'<br />

(362) Zur Vorrede.<br />

Ich beschreibe, was kommt: die Heraufkunft des Nihilismus.<br />

Ich kann hier beschreiben, weil hier etwas Nothwendiges<br />

sich begiebt — die Zeichen davon sind überall,<br />

die Augen nur für diese Zeichen fehlen noch. Ich lobe,<br />

ich tadle hier nicht, daß er kommt: ich glaube, es giebt<br />

eine der größten Krisen, einen Augenblick der<br />

allertiefsten Selbstbesinnung des Menschen: ob der Mensch<br />

sich davon erholt, ob er Herr wird über diese Krise, das<br />

ist eine Frage seiner Kraft: es ist möglich…<br />

der moderne Mensch glaubt versuchsweise bald an diesen,<br />

Page Break KGW='VIII-2.299' KSA='13.57'<br />

bald an jenen Werth und läßt ihn dann fallen: der<br />

Kreis der überlebten und fallengelassenen Werthe wird<br />

immer voller; die Leere und Armut an Werthen<br />

kommt immer mehr zum Gefühl; die Bewegung ist<br />

unaufhaltsam — obwohl im großen Stil die Verzögerung<br />

versucht ist —<br />

Endlich wagt er eine Kritik der Werthe überhaupt; er<br />

erkennt deren Herkunft; er erkennt genug, um an<br />

keinen Werth mehr zu glauben; das Pathos ist da, der<br />

neue Schauder …<br />

Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei<br />

Jahrhunderte …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11849 id='VIII.11[120]' kgw='VIII-2.299' ksa='13.57'


(363) Daß zwischen Subjekt und Objekt eine Art adäquater<br />

Relation stattfinde; daß das Objekt etwas ist, das von<br />

Innen gesehn Subjekt wäre, ist eine gutmüthige<br />

Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat. Das<br />

Maaß dessen, was uns überhaupt bewußt wird(1637), ist ja ganz<br />

und gar abhängig von grober Nützlichkeit des Bewußtwerdens:<br />

wie erlaubte uns diese Winkelperspektive des<br />

Bewußtseins irgendwie über „Subjekt“ und „Objekt“<br />

Aussagen, mit denen die Realität berührt würde! —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11850 id='VIII.11[121]' kgw='VIII-2.299' ksa='13.57'<br />

(364) man kann die unterste und ursprünglichste Thätigkeit<br />

im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung<br />

ableiten: denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr<br />

in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor<br />

allem, es „erhält sich“ damit eben nicht, sondern<br />

zerfällt… Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses<br />

Sich-nicht-erhalten-Wollen zu erklären: „Hunger“ ist<br />

schon eine Ausdeutung, nach ungleich complicirteren<br />

Organismen ( — Hunger ist eine spezialisirte und spätere<br />

Page Break KGW='VIII-2.300' KSA='13.58'<br />

Form des Triebes, ein Ausdruck der Arbeitstheilung, im<br />

Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11851 id='VIII.11[122]' kgw='VIII-2.300' ksa='13.58'<br />

(365) — dies ist es nicht was uns abscheidet: daß wir keinen<br />

Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch<br />

in der Natur, noch hinter der Natur, — sondern daß wir<br />

das, was als Gott verehrt wurde, nicht als „göttlich“,<br />

sondern als heilige Fratze, als Moutonnerie, als absurde und<br />

erbarmungswürdige Niaiserie, als Princip der Welt- und<br />

Mensch-Verleumdung empfinden: kurz daß wir Gott<br />

als Gott leugnen. Es ist der Gipfel der psychologischen<br />

Verlogenheit des Menschen, sich ein Wesen als Anfang und<br />

„An-sich“ nach(1638) seinem Winkel-Maßstab des ihm gerade<br />

gut, weise, mächtig, werthvoll Erscheinenden<br />

herauszurechnen — und dabei die ganze Ursächlichkeit,<br />

vermöge deren überhaupt irgendwelche Güte, irgendwelche<br />

Weisheit, irgendwelche Macht besteht und Werth hat,<br />

wegzudenken. Kurz, Elemente der spätesten und bedingtesten<br />

Herkunft als nicht entstanden, sondern als „an sich“ zu<br />

setzen und womöglich gar als Ursache alles Entstehens<br />

überhaupt… Gehen wir von der Erfahrung aus, von


jedem Fall, wo ein Mensch sich bedeutend über das Maaß<br />

des Menschlichen erhoben hat, so sehen wir, daß jeder hohe<br />

Grad von Macht Freiheit von Gut und Böse ebenso wie<br />

von „Wahr“ und „Falsch“ in sich schließt und dem, was<br />

Güte will, keine Rechnung gönnen kann: wir begreifen<br />

dasselbe noch einmal für jeden hohen Grad von Weisheit —<br />

die Güte ist in ihr ebenso aufgehoben als die Wahrhaftigkeit,<br />

Gerechtigkeit, Tugend und andere Volks-Velleitäten<br />

der Werthung. Endlich jeder hohe Grad von Güte<br />

selbst: ist es nicht ersichtlich, daß er bereits eine geistige<br />

Myopie und Unfeinheit voraussetzt? insgleichen die<br />

Unfähigkeit, zwischen wahr und falsch zwischen nützlich und<br />

Page Break KGW='VIII-2.301' KSA='13.59'<br />

schädlich auf eine größere Entfernung hin zu unterscheiden?<br />

gar nicht davon zu reden, daß ein hoher Grad von<br />

Macht in den Händen der höchsten Güte die unheilvollsten<br />

Folgen („die Abschaffung des übels“) mit sich bringen<br />

würde? — In der That, man sehe nur an, was der „Gott<br />

der Liebe“ seinen Gläubigen für Tendenzen eingiebt: sie<br />

ruiniren die Menschheit zu Gunsten des „Guten“ — In<br />

praxi hat sich derselbe Gott Angesichts der wirklichen<br />

Beschaffenheit der Welt als Gott der höchsten<br />

Kurzsichtigkeit, Teufelei und Ohnmacht<br />

erwiesen: woraus sich ergiebt, wie viel Werth seine<br />

Conception hat.<br />

An sich hat ja Wissen und Weisheit keinen Werth;<br />

ebenso wenig als Güte: man muß immer erst noch das Ziel<br />

haben, von wo aus diese Eigenschaften Werth oder<br />

Unwerth erhalten — es könnte ein Ziel geben, von<br />

wo aus ein extremes Wissen einen hohen Unwerth<br />

darstellte (etwa wenn die extreme Täuschung eine der<br />

Voraussetzungen der Steigerung des Lebens wäre; insgleichen<br />

wenn die Güte etwa die Sprungfedern der großen Begierde<br />

zu lähmen und zu entmuthigen vermöchte…<br />

Unser menschliches Leben gegeben, wie es ist, so hat<br />

alle „Wahrheit“, alle „Güte“ alle „Heiligkeit“, alle<br />

„Göttlichkeit“ im christlichen Stile bis jetzt sich als große<br />

Gefahr erwiesen — noch jetzt ist die Menschheit in Gefahr, an<br />

einer lebenswidrigen Idealität zu Grunde zu gehn<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11852 id='VIII.11[123]' kgw='VIII-2.301' ksa='13.59'<br />

(366) Die Heraufkunft des Nihilismus.<br />

Der Nihilism ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über<br />

das „Umsonst!“, und nicht nur der Glaube, daß Alles<br />

werth ist, zu Grunde zu gehen: man legt Hand an, man<br />

richtet zu Grunde… Das ist, wenn man will,


unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nöthigung(1639),<br />

Page Break KGW='VIII-2.302' KSA='13.60'<br />

logisch zu sein…Es ist der Zustand starker Geister<br />

und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem<br />

Nein „des Urtheils“ stehn zu bleiben: — das Nein der<br />

That kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtung durch<br />

das Urtheil sekundirt die Ver-Nichtung durch die Hand.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11853 id='VIII.11[124]' kgw='VIII-2.302' ksa='13.60'<br />

(367) Wenn wir „Enttäuschte“ sind, so sind wir es nicht in<br />

Hinsicht auf das Leben: sondern daß uns über die<br />

„Wünschbarkeiten“ aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir<br />

sehen mit einem spöttischen Ingrimm dem zu, was „Ideal“<br />

heißt: wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde<br />

jene absurde Regung niederhalten zu können, welche<br />

„Idealismus“ heißt. Die Verwöhnung ist stärker als<br />

der Ingrimm des Enttäuschten …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11854 id='VIII.11[125]' kgw='VIII-2.302' ksa='13.60'<br />

(368) Die vollkommene Unmündigkeit der Moralisten, welche<br />

unserem vielhäutigen und verborgenen Selbst zumuthen,<br />

einfach zu sein; welche sagen „gieb dich, wie du<br />

bist“: als ob man dazu nicht erst Etwas sein müßte, das<br />

ist …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11855 id='VIII.11[126]' kgw='VIII-2.302' ksa='13.60'<br />

(369) IV. NB. Die Auswahl der Gleichen, der „Auszug“,<br />

die Isolation —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11856 id='VIII.11[127]' kgw='VIII-2.302' ksa='13.60'<br />

(370) NB. gegen die Gerechtigkeit… Gegen J. Stuart<br />

Mill: Ich perhorreszire seine Gemeinheit, welche sagt „was<br />

dem Einen recht ist, ist dem Andern billig; was du nicht<br />

willst usw., das füge auch keinem Andern zu“; welche den<br />

ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit<br />

der Leistung begründen will, so daß jede Handlung<br />

als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns


Page Break KGW='VIII-2.303' KSA='13.61'<br />

erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im<br />

untersten Sinn: hier wird die Äquivalenz der Werthe<br />

von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir;<br />

hier ist der persönlichste Werth einer Handlung<br />

einfach annullirt (das, was durch Nichts ausgeglichen und<br />

bezahlt werden kann — ) Die „Gegenseitigkeit“ ist eine große<br />

Gemeinheit; gerade daß Etwas, was ich thue, nicht von<br />

Einem Andern gethan werden dürfte und könnte, daß<br />

es keinen Ausgleich geben darf — außer in der<br />

ausgewähltesten Sphäre der „meines Gleichen“, inter<br />

pares —; daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgiebt,<br />

weil an etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges<br />

thut — diese Grundüberzeugung enthält die Ursache<br />

der aristokratischen Absonderung von der Menge,<br />

weil die Menge an „Gleichheit“ und folglich<br />

Ausgleichbarkeit und „Gegenseitigkeit“ glaubt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11857 id='VIII.11[128]' kgw='VIII-2.303' ksa='13.61'<br />

(371) Es ist das verwandtschaftliche Gefühl,<br />

das die Kinder Eines Volkes miteinander verbindet: diese<br />

Verwandtschaft ist physiologisch tausendfach stärker als<br />

man gemeinhin annimmt. Sprache, Sitten, Gemeinsamkeit<br />

der Interessen und Schicksale — das ist Alles wenig gegen<br />

jenes Sich-verstehen-können auf Grund gleicher<br />

Vorfahren.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11858 id='VIII.11[129]' kgw='VIII-2.303' ksa='13.61'<br />

der Niedergang des deutschen Geistes, der<br />

mit der Heraufkunft der Vaterländerei und des Nationalism<br />

Schritt gehalten hat —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11859 id='VIII.11[130]' kgw='VIII-2.303' ksa='13.61'<br />

Zum Weibe redet man nicht von Wahrhaftigkeit: „gieb dich,<br />

wie du bist“ bedeutet zum Weibe geredet beinahe das Gegentheil<br />

von dem, was es als Aufforderung an den Mann bedeutet<br />

Page Break KGW='VIII-2.304' KSA='13.62'


<strong>Aphorism</strong> n=11860 id='VIII.11[131]' kgw='VIII-2.304' ksa='13.62'<br />

— nicht für seinen Glauben wird er verbrannt, mit kleinen<br />

grünen Hölzern: sondern dafür, daß er zu seinem Glauben keinen<br />

Muth mehr hat.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11861 id='VIII.11[132]' kgw='VIII-2.304' ksa='13.62'<br />

— ein Mensch, wie er sein soll: das klingt uns so<br />

abgeschmackt wie: „ein Baum, wie er sein soll“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11862 id='VIII.11[133]' kgw='VIII-2.304' ksa='13.62'<br />

NB. Man erkennt die Überlegenheit des griechischen Menschen,<br />

des Renaissance-Menschen an — aber man möchte ihn<br />

ohne seine Ursachen und Bedingungen haben: über die Griechen<br />

fehlt bis heute eine tiefere Einsicht<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11863 id='VIII.11[134]' kgw='VIII-2.304' ksa='13.62'<br />

„Dinge, die eine Beschaffenheit an sich haben“ — eine<br />

dogmatische Vorstellung, mit der man absolut brechen muß<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11864 id='VIII.11[135]' kgw='VIII-2.304' ksa='13.62'<br />

Zur Kritik der großen Worte. — Ich bin voller<br />

Argwohn und Bosheit gegen das, was man „Ideal“ nennt: hier<br />

liegt mein Pessimism, erkannt zu haben, wie die „höheren<br />

Gefühle“ eine Quelle des Unheils d.h. der Verkleinerung<br />

und Wertherniedrigung des Menschen sind.<br />

— man täuscht sich jedes Mal, wenn man einen „Fortschritt“<br />

von einem Ideal erwartet: der Sieg des Ideals war jedes Mal<br />

bisher eine retrograde Bewegung.<br />

— Christenthum, Revolution, Aufhebung der Sklaverei,<br />

gleiches Recht, Philanthropie, Friedensliebe, Gerechtigkeit,<br />

Wahrheit: alle diese großen Worte haben nur Werth im Kampf, als<br />

Standarte: nicht als Realitäten, sondern als Prunkworte<br />

für etwas ganz Anderes (ja Gegensätzliches!)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11865 id='VIII.11[136]' kgw='VIII-2.304' ksa='13.62'


Kritik der großen Worte.<br />

„Freiheit“ für Wille zur Macht<br />

Page Break KGW='VIII-2.305' KSA='13.63'<br />

„Gerechtigkeit“<br />

„Gleichheit der Rechte“<br />

„Brüderlichkeit“<br />

„Wahrheit“ (bei Sekten usw.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11866 id='VIII.11[137]' kgw='VIII-2.305' ksa='13.63'<br />

Die „wachsende Autonomie des Individuums“: davon reden<br />

diese Pariser Philosophen, wie Fouillée: sie sollten doch nur die<br />

race moutonnière ansehen, die sie selber sind!…<br />

Macht doch die Augen auf, ihr Herren Zukunfts-Sociologen!<br />

Das „Individuum“ ist stark geworden unter umgekehrten<br />

Bedingungen: ihr beschreibt die äußerste Schwächung und<br />

Verkümmerung des Menschen, ihr wollt sie selbst und braucht<br />

den ganzen Lügenapparat des alten Ideals dazu! ihr seid der<br />

Art, daß ihr eure Heerdenthier-Bedürfnisse wirklich als<br />

Ideal empfindet!<br />

Der vollkommene Mangel an psychologischer Rechtschaffenheit!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11867 id='VIII.11[138]' kgw='VIII-2.305' ksa='13.63'<br />

(372) Die Herkunft des Ideals. Untersuchung des<br />

Bodens, auf dem es wächst.<br />

A. Von den „aesthetischen“ Zuständen ausgehn, wo die<br />

Welt voller runder, vollkommener gesehen<br />

wird —<br />

das heidnische Ideal: darin die Selbstbejahung<br />

vorherrschend vom Buffo an<br />

— der höchste Typus: das klassische Ideal —<br />

als Ausdruck eines Wohlgerathenseins aller<br />

Hauptinstinkte<br />

— darin wieder der höchste Stil: der große<br />

Stil Ausdruck des „Willens zur Macht“<br />

selbst (der am meisten gefürchtete Instinkt<br />

wagt sich zu bekennen)<br />

— man giebt ab —<br />

Page Break KGW='VIII-2.306' KSA='13.64'<br />

B. Von Zuständen ausgehn, wo die Welt leerer, blässer,<br />

verdünnter gesehen wird, wo die „Vergeistigung“


und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen<br />

einnimmt; wo am meisten das Brutale, Thierisch-Direkte,<br />

Nächste vermieden wird: der „Weise“, „der Engel“<br />

(priesterlich = jungfräulich = unwissend) Physiologische<br />

Charakteristik solcher „Idealisten“…<br />

das anämische Ideal: unter Umständen kann es<br />

das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste,<br />

das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in<br />

Spinoza seinen „Heiligen“)<br />

— man rechnet ab, man wählt —<br />

C. Von Zuständen ausgehn, wo wir die Welt absurder,<br />

schlechter, ärmer, täuschender empfinden, als daß wir<br />

in ihr noch das Ideal vermuthen oder wünschen: die<br />

Projektion des Ideals in das Wider-Natürliche,<br />

Wider-Thatsächliche, Wider-Logische. Der Zustand dessen,<br />

der so urtheilt ( — die „Verarmung“ der Welt als Folge<br />

des Leidens: man nimmt, man giebt nicht<br />

mehr — )<br />

: das widernatürliche Ideal<br />

— man negirt, man vernichtet —<br />

(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde<br />

zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser,<br />

bald mit jener Gestalt überwiegend.)<br />

die drei Ideale<br />

A. Entweder eine Verstärkung<br />

(heidnisch)<br />

B. oder eine Verdünnung des Lebens<br />

(anämisch)<br />

C. oder eine Verleugnung<br />

(widernatürlich)<br />

Page Break KGW='VIII-2.307' KSA='13.65'<br />

die „Vergöttlichung“ gefühlt in der höchsten Fülle<br />

in der zartesten Auswahl<br />

in der Zerstörung und<br />

Verachtung des Lebens.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11868 id='VIII.11[139]' kgw='VIII-2.307' ksa='13.65'<br />

Der Grad der Spannung, des Widerstandes, der Gefahr, des<br />

berechtigten Mißtrauens; der Grad, in dem Opfer von<br />

Menschenleben gebracht werden, in dem die Wahrscheinlichkeit des<br />

Mißerfolges groß ist und trotzdem das Wagniß gewagt wird: —


<strong>Aphorism</strong> n=11869 id='VIII.11[140]' kgw='VIII-2.307' ksa='13.65'<br />

Die Heerdenthier-Ideale — jetzt gipfelnd als höchste<br />

Werthansetzung der „Societät“: Versuch, ihr einen kosmischen,<br />

ja metaphysischen Werth zu geben<br />

gegen sie vertheidige ich den Aristokratism.<br />

Eine Gesellschaft, welche in sich jene Rücksicht und<br />

Delikatesse in Bezug auf Freiheit bewahrt, muß sich als<br />

Ausnahme fühlen und sich gegenüber eine Macht haben, gegen<br />

welche sie sich abhebt, gegen welche sie feindselig ist und<br />

herabblickt<br />

— je mehr ich Recht abgebe und mich gleich stelle, um so<br />

mehr gerathe ich unter die Herrschaft der Durchschnittlichsten,<br />

endlich der Zahlreichsten<br />

— die Voraussetzung, welche eine aristokratische Gesellschaft<br />

in sich hat, um zwischen ihren Mitgliedern den hohen Grad<br />

von Freiheit zu erhalten, ist die extreme Spannung, welche aus<br />

dem Vorhandensein des entgegengesetzten Triebes bei<br />

allen Mitgliedern entspringt: des Willens zur Herrschaft…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11870 id='VIII.11[141]' kgw='VIII-2.307' ksa='13.65'<br />

wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheit<br />

wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe<br />

Gesinnung, das Gefühl des Für-sich-seins auch ab.<br />

Page Break KGW='VIII-2.308' KSA='13.66'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11871 id='VIII.11[142]' kgw='VIII-2.308' ksa='13.66'<br />

Zur wirklichen Psychologie der Freiheits- und<br />

Gleichheits-Societät:<br />

was nimmt ab? Der Wille zur Selbstverantwortlichkeit<br />

— Zeichen des Niedergangs der<br />

Autonomie<br />

die Wehr- und Waffentüchtigkeit,<br />

auch im Geistigsten — die Kraft zu<br />

commandiren<br />

der Sinn der Ehrfurcht, der Unterordnung,<br />

des Schweigen-könnens.<br />

die große Leidenschaft, die große<br />

Aufgabe, die Tragödie, die Heiterkeit<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11872 id='VIII.11[143]' kgw='VIII-2.308' ksa='13.66'


Capitel:<br />

Kritik der großen Worte.<br />

Von der Herkunft des Ideals.<br />

das Heerdenthier-Ideal Wie man die Tugend zur Herrschaft<br />

bringt.<br />

Die Circe der Philosophen.<br />

das asketische Ideal Das religiöse Ideal.<br />

Physiologie des Ideals I. II. III<br />

das Herren-Ideal Das Politische Ideal.<br />

„Wissenschaft“<br />

das Geistigkeits-Ideal<br />

III<br />

III<br />

I<br />

II<br />

I<br />

III<br />

II<br />

das Heerdenthier-Ideal<br />

das Herren-Ideal<br />

das Ideal der Widernatur<br />

das Ideal der Geistigkeit<br />

das heidnische Ideal<br />

das Einsiedler Ideal (Stoa usw.)<br />

das Ideal der Versinnlichung<br />

Page Break KGW='VIII-2.309' KSA='13.67'<br />

Tafel:<br />

Von der Herkunft des Ideals<br />

A. das Heerdenthier-Ideal<br />

das Herrenthier-Ideal<br />

das Einsiedlerthier-Ideal<br />

B. das heidnische Ideal<br />

das Ideal der Widernatur<br />

C. das Ideal der Versinnlichung<br />

das Ideal der Vergeistigung<br />

das Ideal des dominirenden Affekts<br />

Kritik der großen Worte.<br />

Wahrheit.<br />

Gerechtigkeit.<br />

Liebe.<br />

Frieden.<br />

Tugend<br />

Freiheit.<br />

Güte<br />

Rechtschaffenheit<br />

Genie<br />

Weisheit<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11873 id='VIII.11[144]' kgw='VIII-2.309' ksa='13.67'<br />

Pascal: le pire mal est celui, qu'on fait par bonne intention.


<strong>Aphorism</strong> n=11874 id='VIII.11[145]' kgw='VIII-2.309' ksa='13.67'<br />

Rolle des „Bewußtseins“<br />

Es ist wesentlich, daß man sich über die Rolle des<br />

„Bewußtseins“ nicht vergreift: es ist unsere Relation mit der<br />

„Außenwelt“, welche es entwickelt hat. Dagegen<br />

die Direktion, resp. die Obhut und Vorsorglichkeit in Hinsicht<br />

auf das Zusammenspiel der leiblichen Funktionen tritt uns<br />

nicht ins Bewußtsein; ebenso wenig als die geistige<br />

Page Break KGW='VIII-2.310' KSA='13.68'<br />

Einmagazinirung: daß es dafür eine oberste Instanz giebt,<br />

darf man nicht bezweifeln: eine Art leitendes Comité, wo die<br />

verschiedenen Hauptbegierden ihre Stimme und Macht<br />

geltend machen. „Lust“, „Unlust“ sind Winke aus dieser Sphäre<br />

her: … der Willensakt insgleichen. Die Ideen insgleichen<br />

In summa: das, was bewußt wird, steht unter causalen<br />

Beziehungen, die uns ganz und gar vorenthalten sind, — die<br />

Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen im Bewußtsein<br />

drückt nichts darüber aus, daß diese Folge eine causale Folge<br />

ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf diese<br />

Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung<br />

von Geist, Vernunft, Logik usw. gegründet<br />

(das giebt es Alles nicht: es sind fingirte Synthesen<br />

und Einheiten) … Und diese wieder in die Dinge, hinter die<br />

Dinge projicirt!<br />

Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als<br />

Gesammt-Sensorium und oberste Instanz: indessen es ist nur ein<br />

Mittel der Mittheilbarkeit: es ist im Verkehr<br />

entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs-Interessen … „Verkehr“<br />

hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und<br />

den unsererseits dabei nöthigen Reaktionen; ebensowie von<br />

unseren Wirkungen nach außen. Es ist nicht die Leitung,<br />

sondern ein Organ der Leitung —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11875 id='VIII.11[146]' kgw='VIII-2.310' ksa='13.68'<br />

Die Mittel, vermöge deren eine stärkere<br />

Art sich erhält.<br />

Sich ein Recht auf Ausnahme-Handlungen zugestehn; als<br />

Versuch der Selbstüberwindung und der Freiheit<br />

Sich in Zustände begeben, wo es nicht erlaubt ist, nicht<br />

Barbar zu sein<br />

Sich durch jede Art von Askese eine übermacht und Gewißheit<br />

in Hinsicht auf seine Willensstärke verschaffen.


Page Break KGW='VIII-2.311' KSA='13.69'<br />

Sich nicht mittheilen; das Schweigen; die Vorsicht vor der<br />

Anmuth.<br />

Gehorchen lernen, in der Weise, daß es eine Probe für die<br />

Selbst-Aufrechterhaltung abgiebt. Casuistik des<br />

Ehrenpunktes ins Feinste getrieben.<br />

Nie schließen „was Einem recht ist, ist dem Andern billig“ —<br />

sondern umgekehrt!<br />

Die Vergeltung, das Zurückgeben-dürfen als Vorrecht<br />

behandeln, als Auszeichnung zugestehn —<br />

Die Tugend der Anderen nicht ambitioniren.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11876 id='VIII.11[147]' kgw='VIII-2.311' ksa='13.69'<br />

Theorie des Geschlechtstriebs: „die ‚homunculi‘,<br />

welche in's Dasein begehren, vereinigen ihr Verlangen zum Leben<br />

in ein Collektiv-Verlangen, welches das Bewußtsein bemerkt<br />

und für sein eignes Bedürfniß nimmt“ —<br />

Renan's Worte Hartley Fouillée p 217.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11877 id='VIII.11[148]' kgw='VIII-2.311' ksa='13.69'<br />

Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei<br />

Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren<br />

das Schwergewicht, das uns leben ließ, — wir wissen<br />

eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die<br />

entgegengesetzten Werthungen, mit dem gleichen Maaße<br />

von Energie, mit dem wir Christen gewesen sind — mit dem<br />

wir die unsinnige übertreibung des christlichen — — —<br />

1) die „unsterbliche Seele“; der ewige Werth der „Person“ —<br />

2) die Lösung, die Richtung, die Werthung im „Jenseits“ —<br />

3) der moralische Werth als oberster Werth, das „Heil der<br />

Seele“ als Cardinal-Interesse —<br />

4) „Sünde“, „irdisch“, „Fleisch“, „Lüste“ — als „Welt,<br />

stigmatisirt.<br />

Jetzt ist Alles durch und durch falsch, „Wort“, durcheinander,<br />

schwach oder überspannt<br />

Page Break KGW='VIII-2.312' KSA='13.70'<br />

a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber<br />

im gleichen Sinne, in dem des schließlichen<br />

Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit: der<br />

Socialismus: „Gleichheit der Person“<br />

b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten


(mit dem Vorrang des Unegoistischen, der<br />

Selbstverleugnung, der Willens-Verneinung)<br />

c) man versucht selbst das „Jenseits“ festzuhalten: sei es<br />

auch nur, als antilogisches x: aber man kleidet es sofort<br />

so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus<br />

ihm gezogen werden kann<br />

d) man versucht die göttliche Leitung alten<br />

Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum<br />

Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem<br />

Geschehen herauszulesen<br />

e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so, daß man<br />

den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als<br />

Aufgabe empfindet ( — das ist englisch, typischer Fall<br />

der Flachkopf John Stuart Mill)<br />

f) die Verachtung der „Naturlichkeit“, der Begierde, des<br />

Ego: Versuch selbst die höchste Geistigkeit und Kunst<br />

als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement<br />

zu verstehn<br />

g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle<br />

wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens<br />

einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn<br />

zu geben: wir haben auch einen „christlichen Staat“, die<br />

christliche „Ehe“ —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11878 id='VIII.11[149]' kgw='VIII-2.312' ksa='13.70'<br />

Der vollkommene Nihilismus<br />

seine Symptome: die große Verachtung<br />

das große Mitleid<br />

die große Zerstörung<br />

Page Break KGW='VIII-2.313' KSA='13.71'<br />

sein Culminations-Punkt: eine Lehre, welche gerade<br />

das Leben, das Ekel, Mitleid und die Lust zur Zerstörung rege<br />

macht, als absolut und ewig lehrt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11879 id='VIII.11[150]' kgw='VIII-2.313' ksa='13.71'<br />

Zur Geschichte des europäischen Nihilismus.<br />

Die Periode der Unklarheit, der Tentativen aller Art,<br />

das Alte zu conserviren und das Neue nicht fahren zu lassen.<br />

Die Periode der Klarheit: man begreift, daß Altes<br />

und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werthe aus dem<br />

niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren,<br />

— daß(1640) Erkenntniß der Natur und Geschichte uns nicht<br />

mehr solche „Hoffnungen“ gestattet, — daß alle alten


Ideale lebensfeindliche Ideale sind (aus der décadence geboren<br />

und die décadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen<br />

Sonntags-Aufputz der Moral) — wir verstehen das Alte und<br />

sind lange nicht stark genug zu einem Neuen.<br />

Die Periode der drei großen Affekte<br />

der Verachtung<br />

des Mitleids<br />

der Zerstörung<br />

Die Periode der Katastrophe<br />

die Heraufkunft einer Lehre, welche<br />

die Menschen aussiebt … welche<br />

die Schwachen zu Entschlüssen treibt<br />

und ebenso die Starken<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11880 id='VIII.11[151]' kgw='VIII-2.313' ksa='13.71'<br />

Einsicht, welche den „freien Geistern“ fehlt: dieselbe<br />

Disciplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu<br />

großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert<br />

die mittelmäßigen.<br />

: der Zweifel<br />

: la largeur de coeur(1641)<br />

: das Experiment<br />

: die Independenz.<br />

Page Break KGW='VIII-2.314' KSA='13.72'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11881 id='VIII.11[152]' kgw='VIII-2.314' ksa='13.72'<br />

meine „Zukunft“<br />

eine stramme Polytechniker-Bildung<br />

Militärdienst: so daß durchschnittlich jeder Mann der<br />

höheren Stände Offizier ist, er sei sonst, was er sei<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11882 id='VIII.11[153]' kgw='VIII-2.314' ksa='13.72'<br />

Die Lasterhaften und Zügellosen: ihr deprimirender<br />

Einfluß auf den Werth der Begierden. Es ist die<br />

schauerliche Barbarei der Sitte, welche, im Mittelalter<br />

vornehmlich, zu einem wahren „Bund der Tugend“ zwingt — nebst<br />

ebenso schauerlichen übertreibungen über das, was den Werth<br />

des Menschen ausmacht. Die kämpfende „Civilisation“ (Zähmung)<br />

braucht alle Art Eisen und Tortur, um sich gegen die<br />

Furchtbarkeit und Raubthier-Natur aufrecht zu erhalten.<br />

Hier ist eine Verwechslung ganz natürlich, obwohl vom


schlimmsten Einfluß: das, was Menschen der Macht und<br />

des Willens von sich verlangen können, giebt ein Maaß auch<br />

für das, was sie sich zugestehen dürfen. Solche Naturen sind der<br />

Gegensatz der Lasterhaften und Zügellosen: obwohl sie unter<br />

Umständen Dinge thun, derentwegen ein geringerer Mensch des<br />

Lasters und der Unmäßigkeit überführt wäre.<br />

Hier schadet der Begriff der „Gleichwerthigkeit der<br />

Menschen vor Gott“ außerordentlich: man verbot Handlungen<br />

und Gesinnungen, welche, an sich, zu den Prärogativen der<br />

Starkgerathenen gehören, — wie als ob sie an sich des Menschen<br />

unwürdig wären. Man brachte die ganze Tendenz des starken<br />

Menschen in Verruf, indem man die Schutzmittel der Schwächsten<br />

(auch gegen sich Schwächsten) als Werth-Norm aufstellte.<br />

Die Verwechslung geht so weit, daß man geradezu die großen<br />

Virtuosen des Lebens (deren Selbstherrlichkeit den schärfsten<br />

Gegensatz zum Lasterhaften und „Zügellosen“ abgiebt) mit<br />

den schimpflichsten Namen brandmarkte. Noch jetzt glaubt man<br />

einen Cesare Borgia mißbilligen zu müssen: das ist einfach zum<br />

Page Break KGW='VIII-2.315' KSA='13.73'<br />

Lachen. Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster<br />

in Bann gethan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden<br />

dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein<br />

Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man<br />

bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen?…<br />

Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten<br />

finden… Denkt man ein wenig consequent und außerdem mit einer<br />

vertieften Einsicht in das, was ein „großer Mensch“ ist, so<br />

unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle „großen Menschen“<br />

in die Hölle schickt —, sie kämpft gegen alle „Größe des<br />

Menschen“…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11883 id='VIII.11[154]' kgw='VIII-2.315' ksa='13.73'<br />

Der „Ehr-Begriff“: beruhend auf dem Glauben an<br />

„gute Gesellschaft“, an ritterliche Hauptqualitäten, an die<br />

Verpflichtung, sich fortwährend zu repräsentiren. Wesentlich: daß<br />

man sein Leben nicht wichtig nimmt; daß man unbedingt auf<br />

respektvollste Manieren hält, seitens aller, mit denen man sich<br />

berührt (zum Mindesten, so weit sie nicht zu „uns“ gehören);<br />

daß man weder vertraulich, noch gutmüthig, noch lustig, noch<br />

bescheiden ist, außer inter pares; daß man sich immer<br />

repräsentirt…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11884 id='VIII.11[155]' kgw='VIII-2.315' ksa='13.73'


Neues(1642) Testament(1643)<br />

Der Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen, wie er im<br />

neuen Testament geführt wird, ist ein Krieg wie der des<br />

Reineke und mit gleichen Mitteln: nur immer in priesterlicher<br />

Salbung und in entschiedener Ablehnung, um seine eigne Schlauheit<br />

zu wissen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11885 id='VIII.11[156]' kgw='VIII-2.315' ksa='13.73'<br />

Man spricht von der „tiefen Ungerechtigkeit“ des socialen<br />

Pakts: wie als ob die Thatsache, daß dieser unter günstigen, jener<br />

Page Break KGW='VIII-2.316' KSA='13.74'<br />

unter ungünstigen Verhältnissen geboren wird, eine Ungerechtigkeit<br />

sei; oder gar, daß dieser mit diesen Eigenschaften, jener mit<br />

jenen geboren wird … Dies ist unbedingt zu bekämpfen. Der<br />

falsche Begriff „Individuum“ führt zu diesem Unsinn. Die<br />

Umstände, aus denen ein Mensch wächst, von ihm zu isoliren und<br />

ihn, wie eine „seelische Monade“, gleichsam bloß hineinsetzen<br />

oder fallen lassen: ist eine Folge der elenden Seelen-Metaphysik.<br />

Niemand hat ihm Eigenschaften gegeben,<br />

weder Gott, noch seine Eltern; niemand ist verantwortlich,<br />

daß er ist, daß er so und so ist, daß er unter diesen Umständen<br />

ist… Der Faden des Lebens, den er jetzt darstellt, ist nicht<br />

herauszulösen aus allem, was war und sein muß: da er nicht<br />

das Resultat einer langen Absicht ist, überhaupt keines Willens<br />

zu einem „Ideal von Mensch“ oder „ldeal von Glück“ oder<br />

„Ideal von Moralität“, so ist es absurd, irgendwohin sich<br />

„abwälzen“ wollen: wie als ob irgendwo eine Verantwortung<br />

läge.<br />

Die Revolte des „Leidenden“ gegen<br />

Gott<br />

Gesellschaft<br />

Natur<br />

Vorfahren<br />

Erziehung usw.<br />

imaginirt Verantwortlichkeiten und Willensformen,<br />

die es gar nicht giebt. Man soll nicht von einem<br />

Unrecht reden in Fällen, wo gar keine Vorbedingungen<br />

für Recht und Unrecht da sind. Daß eine Seele<br />

jeder Seele an sich gleich sei — oder gleich sein sollte: das<br />

ist die schlimmste Art optimistischer Schwärmerei. Das<br />

Umgekehrte ist das Wünschbare, die möglichste Unähnlichkeit<br />

und folglich Reibung, Kampf, Widerspruch: und, das Wünschbare<br />

ist das Wirkliche, glücklicher Weise!<br />

Page Break KGW='VIII-2.317' KSA='13.75'


<strong>Aphorism</strong> n=11886 id='VIII.11[157]' kgw='VIII-2.317' ksa='13.75'<br />

Die Absicht auf gleiche Rechte und endlich auf gleiche<br />

Bedürfnisse, eine beinahe unvermeidliche Consequenz<br />

unserer Art Civilisation des Handels und der politischen<br />

Stimmen-Gleichwerthigkeit, bringt den Ausschluß und das<br />

langsame Aussterben der höheren, gefährlicheren, absonderlicheren<br />

und in summa neueren Menschen mit sich: das Experimentiren<br />

hört gleichsam auf, und ein gewisser Stillstand ist<br />

erreicht.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11887 id='VIII.11[158]' kgw='VIII-2.317' ksa='13.75'<br />

Der Revolter-Pessimismus (statt „Entrüstungs-Pessimismus“)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11888 id='VIII.11[159]' kgw='VIII-2.317' ksa='13.75'<br />

Zum „großen Ekel“: theils daran leidend, theils<br />

selbst erzeugend<br />

die nervös-katholisch-erotische Litteratur<br />

der Litteratur-Pessimismus Frankreichs Flaubert. Zola.<br />

Goncourt. Baudelaire.<br />

die dîners chez Magny<br />

Zum „großen Mitleid“<br />

Tolstoi, Dostoiewsky<br />

Parsifal<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11889 id='VIII.11[160]' kgw='VIII-2.317' ksa='13.75'<br />

Die wahre Civilisation besteht, nach Baudelaire, dans la<br />

diminution du péché originel. Baudelaire(1644)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11890 id='VIII.11[161]' kgw='VIII-2.317' ksa='13.75'<br />

Le Français est un animal de basse-cour si bien domestiqué,<br />

qu'il n'ose franchir aucune palissade. Baudelaire(1645)<br />

C'est un animal de race latine: l'ordure ne lui déplaît pas,<br />

dans son domicile, et, en littérature, il est scatophage. ll raffole<br />

des excréments… Baudelaire(1646)


Page Break KGW='VIII-2.318' KSA='13.76'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11891 id='VIII.11[162]' kgw='VIII-2.318' ksa='13.76'<br />

Tartuffe. Keine Komödie, sondern ein Pamphlet. Ein Atheist,<br />

wenn er zufällig ein Mann von guter Erziehung ist, wird, in<br />

Hinsicht auf das Stück, denken, daß man gewisse schwere Fragen<br />

nie der Canaille ausliefern soll. Baudelaire(1647)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11892 id='VIII.11[163]' kgw='VIII-2.318' ksa='13.76'<br />

Baudelaire spricht in Bezug auf Petronius von ses terrifiantes<br />

impuretés, ses bouffonneries attristantes<br />

Unsinn: aber symptomatisch…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11893 id='VIII.11[164]' kgw='VIII-2.318' ksa='13.76'<br />

genus irritabile vatum<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11894 id='VIII.11[165]' kgw='VIII-2.318' ksa='13.76'<br />

wie Trimalchion, der seine Hände an den Haaren seiner<br />

Sklaven abwischt…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11895 id='VIII.11[166]' kgw='VIII-2.318' ksa='13.76'<br />

livres vécus, poèmes vécus.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11896 id='VIII.11[167]' kgw='VIII-2.318' ksa='13.76'<br />

Byron: geschwätzig. Mais, en revanche, ces sublimes défauts,<br />

qui font le grand poète: la mélancholie, toujours inséparable du<br />

sentiment du beau, et une personnalité ardente, diabolique, un<br />

esprit salamandrin.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11897 id='VIII.11[168]' kgw='VIII-2.318' ksa='13.76'<br />

„… il n'y a de grand parmi les hommes que le poète, le


prêtre et le soldat: l'homme qui chante, l'homme, qui bénit,<br />

l'homme qui sacrifie et se sacrifie. Le reste n'est fait que pour<br />

le fouet…,<br />

Page Break KGW='VIII-2.319' KSA='13.77'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11898 id='VIII.11[169]' kgw='VIII-2.319' ksa='13.77'<br />

„il n'y a de gouvernement raisonnable et assuré que<br />

l'aristocratique. Monarchie ou république, basées sur la démocratie,<br />

sont également absurdes et faibles.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11899 id='VIII.11[170]' kgw='VIII-2.319' ksa='13.77'<br />

„avant tout être un grand homme et un saint pour soi<br />

même.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11900 id='VIII.11[171]' kgw='VIII-2.319' ksa='13.77'<br />

„Dieu est le seul être qui, pour régner, n'a même pas besoin<br />

d'exister.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11901 id='VIII.11[172]' kgw='VIII-2.319' ksa='13.77'<br />

Zur Theorie der „Hingebung“ …<br />

L'amour, c'est le goût de la prostitution. Il n'est même pas<br />

de plaisir noble, qui ne puisse être ramené à la prostitution.<br />

L'être le plus prostitué, c'est l'être par excellence, c'est Dieu.<br />

Dans un spectacle, dans un bal chacun jouit de tous. Qu'est-ce<br />

que l'art? Prostitution<br />

L'amour peut dériver d'un sentiment généreux: le goût de la<br />

prostitution. Mais il est bientôt corrompu par le goût de la<br />

propriété.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11902 id='VIII.11[173]' kgw='VIII-2.319' ksa='13.77'<br />

De la féminéité de l'église comme raison de son omnipuissance.


<strong>Aphorism</strong> n=11903 id='VIII.11[174]' kgw='VIII-2.319' ksa='13.77'<br />

Daß die Liebe der Tortur gleicht oder einer chirurgischen<br />

Operation. Daß Einer von Beiden immer der Henker oder der<br />

Operateur ist.<br />

Worin besteht das größte Vergnügen der Liebe? hat man in<br />

Gegenwart Baudelaire's gefragt. Einer antwortete: im Empfangen,<br />

Page Break KGW='VIII-2.320' KSA='13.78'<br />

ein Anderer: im Sich-geben. Dieser sagte: Wollust des Stolzes,<br />

jener: Wollust der Demuth (volupté d'humilité) Alle diese<br />

orduriers redeten wie die imitatio Christi. Endlich fand sich ein<br />

unverschämter Utopist, welcher behauptete, das größte<br />

Vergnügen der Liebe bestünde darin, Bürger für das Vaterland zu<br />

bilden.<br />

Moi, je dis: la volupté unique et suprême de l'amour gît dans<br />

la certitude de faire le mal. Et l'homme et la femme savent, de<br />

naissance, que dans le mal se trouve toute volupté.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11904 id='VIII.11[175]' kgw='VIII-2.320' ksa='13.78'<br />

Wir lieben die Frauen im Verhältniß dazu, als sie uns fremd<br />

sind. Aimer les femmes intelligentes est un plaisir de pédéraste.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11905 id='VIII.11[176]' kgw='VIII-2.320' ksa='13.78'<br />

Magerkeit ist nackter, indecenter als Fett.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11906 id='VIII.11[177]' kgw='VIII-2.320' ksa='13.78'<br />

L'enthousiasme qui s'applique à autre chose que les<br />

abstractions est un signe de faiblesse et de maladie.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11907 id='VIII.11[178]' kgw='VIII-2.320' ksa='13.78'<br />

Das Gebet. Connais donc les jouissances d'une vie âpre et<br />

prie, prie sans cesse. La prière est réservoir de force.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11908 id='VIII.11[179]' kgw='VIII-2.320' ksa='13.78'


Die Völker thun Alles, um keine großen Männer zu haben.<br />

Der große Mann muß also, um zu existiren, eine Kraft im<br />

Angriff haben, die größer ist als die Widerstands-Kraft, welche<br />

durch Millionen von Individuen entwickelt wird.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11909 id='VIII.11[180]' kgw='VIII-2.320' ksa='13.78'<br />

Hinsichtlich des Schlummers, aventure sinistre de tous les<br />

soirs, kann man sagen: die Menschen schlafen mit einer Kühnheit<br />

Page Break KGW='VIII-2.321' KSA='13.79'<br />

ein, die unverständlich sein würde, wüßte man nicht, daß sie aus<br />

der Unkenntniß der Gefahr stammt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11910 id='VIII.11[181]' kgw='VIII-2.321' ksa='13.79'<br />

Diese großen schönen Schiffe, unmerklich schwankend auf<br />

dem ruhigen Wasser, diese starken Fahrzeuge, mit müssiger und<br />

von Heimweh redender Miene, sagen sie uns nicht in einer<br />

stummen Sprache: „wann reisen wir ab pour le bonheur?“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11911 id='VIII.11[182]' kgw='VIII-2.321' ksa='13.79'<br />

En politique, le vrai saint est celui, qui fouette et tue le<br />

peuple, pour le bien du peuple.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11912 id='VIII.11[183]' kgw='VIII-2.321' ksa='13.79'<br />

Das Schöne, wie es Baudelaire versteht (und Richard<br />

Wagner — ) Etwas Glühendes und Trauriges, ein wenig<br />

unsicher, Raum der Vermuthung gebend.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11913 id='VIII.11[184]' kgw='VIII-2.321' ksa='13.79'<br />

une tête séduisante et belle, une tête de femme, c'est une<br />

tête qui fait rêver à la fois, mais d'une manière confuse, de<br />

volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancholie, de<br />

lassitude, même de satiété, — soit une idée contraire, c'est-à-dire<br />

une ardeur, un désir de vivre, associés avec une amertume<br />

refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le


mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11914 id='VIII.11[185]' kgw='VIII-2.321' ksa='13.79'<br />

Ein schöner Mannskopf hat nicht nöthig (außer vielleicht in<br />

den Augen eines Weibs), diese Idee der Wollust in sich zu<br />

enthalten, welche, in einem Weibsgesicht, eine um so anziehendere<br />

Provokation ist, als es gemeinhin melancholischer ist. Aber<br />

auch dieser Kopf wird etwas Glühendes und Trauriges enthalten,<br />

von spirituellen Bedürfnissen, von Ambitionen, die im Dunklen<br />

Page Break KGW='VIII-2.322' KSA='13.80'<br />

gehalten sind, die Idee einer Macht, die im Grunde gronde et<br />

ohne Verwendung ist(1648), bisweilen die Idee d'une insensibilité<br />

vengeresse, bisweilen — im interessantesten Falle — das<br />

Geheimniß und endlich le malheur.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11915 id='VIII.11[186]' kgw='VIII-2.322' ksa='13.80'<br />

Auto-idolâtrie. Poetische Harmonie des Charakters.<br />

Eurythmie des Charakters und der Fähigkeiten. Alle Fähigkeiten<br />

bewahren. Alle Fähigkeiten wachsen machen. Ein Cultus.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11916 id='VIII.11[187]' kgw='VIII-2.322' ksa='13.80'<br />

Was am Weibe bezaubert und die Schönheit ausmacht.<br />

l'air blasé, l'air ennuyé, l'air évaporé, l'air impudent, l'air<br />

froid, l'air de regarder en dedans, l'air de domination, l'air de<br />

volonté, l'air méchant, l'air malade, l'air chat, enfantillage,<br />

nonchalance et malice mêlées.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11917 id='VIII.11[188]' kgw='VIII-2.322' ksa='13.80'<br />

In protestantischen Ländern fehlt es an zwei Dingen, die<br />

indispensabel für das Glück eines wohlerzogenen Manns sind, la<br />

galanterie et la dévotion<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11918 id='VIII.11[189]' kgw='VIII-2.322' ksa='13.80'<br />

Das Berauschende am schlechten Geschmack: das aristokratische


Vergnügen, zu mißfallen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11919 id='VIII.11[190]' kgw='VIII-2.322' ksa='13.80'<br />

Der Stoicism, der nur Ein Sakrament hat: den Selbstmord …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11920 id='VIII.11[191]' kgw='VIII-2.322' ksa='13.80'<br />

La femme est naturelle, c'est-à-dire abominable. Aussi est-elle<br />

toujours vulgaire, c'est-à-dire le contraire du dandy.<br />

Page Break KGW='VIII-2.323' KSA='13.81'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11921 id='VIII.11[192]' kgw='VIII-2.323' ksa='13.81'<br />

Il y a dans tout changement quelque chose d'infâme et<br />

d'agréable à la fois, quelque chose, qui tient de l'infidélité et du<br />

déménagement.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11922 id='VIII.11[193]' kgw='VIII-2.323' ksa='13.81'<br />

il y a des gens, qui ne peuvent s'amuser qu'en troupe. Le<br />

vrai héros s'amuse tout seul.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11923 id='VIII.11[194]' kgw='VIII-2.323' ksa='13.81'<br />

Man muß arbeiten, wenn nicht aus Geschmack, so mindesten<br />

aus Verzweiflung, da, Alles wohl erwogen, arbeiten weniger<br />

langweilig ist als sich amüsiren.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11924 id='VIII.11[195]' kgw='VIII-2.323' ksa='13.81'<br />

Ganz noch Kind, empfand ich in meinem Herzen 2<br />

contradiktorische Gefühle: l'horreur de la vie et l'extase de la vie.<br />

C'est bien le fait d'un paresseux nerveux.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11925 id='VIII.11[196]' kgw='VIII-2.323' ksa='13.81'


Baudelaire sagt von sich „De Maistre et Edgar Poe haben<br />

mich räsonniren gelehrt“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11926 id='VIII.11[197]' kgw='VIII-2.323' ksa='13.81'<br />

Die Todesstrafe, Resultat einer mystischen Idee, die heute<br />

ganz unbegriffen ist. Die Todesstrafe hat nicht als Ziel die<br />

Gesellschaft zu sauver, materiellement: sie will sie und den<br />

Schuldigen spirituellement sauver. Damit das Opfer vollkommen sei,<br />

muß Zustimmung und Freude auf Seiten des Opfers sein. Chloroform<br />

einem zum Tode Verurtheilten geben wäre eine Gottlosigkeit:<br />

denn das würde das Bewußtsein de sa grandeur comme<br />

victime nehmen und die chances, das Paradies zu gewinnen, ihm<br />

nehmen.<br />

Was die Tortur betrifft, so stammt sie aus der Partie infâme<br />

Page Break KGW='VIII-2.324' KSA='13.82'<br />

du coeur de l'homme, welche Durst nach Wollust hat. Cruauté et<br />

volupté, identische Sensationen, wie die extreme Hitze und der<br />

extreme Frost.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11927 id='VIII.11[198]' kgw='VIII-2.324' ksa='13.82'<br />

Ce qu'il y a de vil dans une fonction quelconque.<br />

Un dandy ne fait rien. Vous figurez-vous un dandy parlant<br />

au peuple, excepté pour le bafouer?<br />

Es giebt nur 3 respektable Wesen: Priester, Krieger, Poet.<br />

Savoir, tuer et créer.<br />

Die anderen Menschen sind taillables ou corvéables, faits<br />

pour l'écurie, c'est-à-dire pour exercer ce qu'on appelle des<br />

professions.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11928 id='VIII.11[199]' kgw='VIII-2.324' ksa='13.82'<br />

La femme Sand war ein Moralist.<br />

— elle a le fameux style coulant, cher aux bourgeois.<br />

— elle est bête, elle est lourde, elle est bavarde. In Dingen<br />

der Moral die gleiche Tiefe des Urtheils, die gleiche Delikatesse<br />

des Gefühls, wie les concierges et les filles entretenues.<br />

— eine naive Alte, die nicht die Bretter verlassen will<br />

— sie hat sich überredet, se fier à son bon coeur et à<br />

son bon sens und überredet andere grosses bêtes, es ebenso<br />

zu machen.


— ich kann an diese stupide créature nicht denken, ohne<br />

einen Schauder des Abscheus.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11929 id='VIII.11[200]' kgw='VIII-2.324' ksa='13.82'<br />

Ich langweile mich in Frankreich, weil alle Welt darin<br />

Voltaire gleicht. Voltaire ou Antipoète (Emerson habe ihn vergessen),<br />

le roi des badauds, le prince des superficiels, l'antiartiste,<br />

le prédicateur des concierges.<br />

Page Break KGW='VIII-2.325' KSA='13.83'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11930 id='VIII.11[201]' kgw='VIII-2.325' ksa='13.83'<br />

Voltaires Spott über die unsterbliche Seele, welche, während<br />

9 Monate, zwischen Excrementen und Urin residirt. Baudelaire<br />

erräth in dieser Localisirung „une malice ou une satire de<br />

la Providence contre l'amour et, dans le mode de la génération,<br />

un signe du péché originel. De fait, nous ne pouvons faire<br />

l'amour qu'avec des organes excrémentiels.“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11931 id='VIII.11[202]' kgw='VIII-2.325' ksa='13.83'<br />

Desinfektion der Liebe durch die Kirche: die Ehe<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11932 id='VIII.11[203]' kgw='VIII-2.325' ksa='13.83'<br />

Dandysme. Was der höhere Mensch ist? Das ist kein Spezialist.<br />

C'est l'homme de loisir et d'éducation générale. Être riche<br />

et aimer le travail.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11933 id='VIII.11[204]' kgw='VIII-2.325' ksa='13.83'<br />

Das ist langweilig an der Liebe: sie ist ein Verbrechen, wo<br />

man nicht umhin kann, einen Complicen zu haben.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11934 id='VIII.11[205]' kgw='VIII-2.325' ksa='13.83'<br />

Si tu étais jesuite et révolutionnaire, comme tout vrai


politique doit l'être ou l'est fatalement…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11935 id='VIII.11[206]' kgw='VIII-2.325' ksa='13.83'<br />

Die Diktatoren sind les domestiques du peuple, nichts mehr;<br />

und der Ruhm ist das Resultat der Anpassung — l'adaptation<br />

d'un esprit à la sottise nationale —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11936 id='VIII.11[207]' kgw='VIII-2.325' ksa='13.83'<br />

Was ist die Liebe? Ein Bedürfniß, aus sich hinauszugehn.<br />

Der Mensch ist un animal adorateur. Adorer c'est se sacrifier<br />

et se prostituer. Aussi tout amour est-il prostitution.<br />

l'indestructible, éternelle, universelle et ingénieuse<br />

Page Break KGW='VIII-2.326' KSA='13.84'<br />

férocité humaine. Liebe zum Blut, l'ivresse du sang, l'ivresse des<br />

foules.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11937 id='VIII.11[208]' kgw='VIII-2.326' ksa='13.84'<br />

NB. Défions-nous du peuple, du bon sens, du coeur, de<br />

l'inspiration et de l'évidence.<br />

Wie kann man die Frauen in die Kirche lassen? Was für eine<br />

Conversation können sie mit Gott führen?<br />

L'éternelle Vénus (caprice, hystérie, fantaisie) est une des<br />

formes séduisantes du diable.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11938 id='VIII.11[209]' kgw='VIII-2.326' ksa='13.84'<br />

In der Liebe ist l'entente cordiale Folge eines<br />

Mißverständnisses. Ce malentendu c'est le plaisir. Die Kluft bleibt<br />

unüberbrückt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11939 id='VIII.11[210]' kgw='VIII-2.326' ksa='13.84'<br />

„Soyons médiocres!“ Saint-Marc Girardin, aus<br />

leidenschaftlichem Haß gegen le sublime.


<strong>Aphorism</strong> n=11940 id='VIII.11[211]' kgw='VIII-2.326' ksa='13.84'<br />

Man soll den regierenden Fürsten nicht die Verdienste und<br />

Laster des Volkes zuschreiben, über welches sie Herr sind. Diese<br />

Verdienste und Laster gehören fast immer zur Atmosphäre der<br />

vorhergehenden Regierung.<br />

Ludwig der XIV erbt die Leute von Ludwig dem XIII: gloire.<br />

Napoleon erbt die Leute der Republik: gloire.<br />

Napoleon erbt die Leute von Louis-Philippe: déshonneur.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11941 id='VIII.11[212]' kgw='VIII-2.326' ksa='13.84'<br />

unvertilgbarer Geschmack de la prostitution im Herzen des<br />

Menschen: daher seine horreur vor der Einsamkeit. — Il<br />

veut être deux.<br />

Das Genie (l'homme de génie) veut être un, donc solitaire<br />

Page Break KGW='VIII-2.327' KSA='13.85'<br />

La gloire, c'est rester un, et se prostituer d'une manière<br />

particulière.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11942 id='VIII.11[213]' kgw='VIII-2.327' ksa='13.85'<br />

C'est cette horreur de la solitude, le besoin d'oublier son<br />

moi dans la chair extérieure, que l'homme appelle noblement<br />

besoin d'aimer.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11943 id='VIII.11[214]' kgw='VIII-2.327' ksa='13.85'<br />

De la nécessité de battre les femmes.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11944 id='VIII.11[215]' kgw='VIII-2.327' ksa='13.85'<br />

Der Handel ist, seinem Wesen nach, satanisch. Le commerce,<br />

c'est le prêté-rendu, c'est le prêt avec le sous-entendu:<br />

Rends-moi plus que je ne te donne.<br />

— Der Geist jedes Handeltreibenden ist völlig vicié.<br />

— Le commerce est naturel, donc il est infâme.<br />

— Der Mindest-Verruchte unter allen Handeltreibenden ist<br />

der welcher sagt: seien wir tugendhaft, um viel mehr Geld zu<br />

gewinnen als die Thoren, welche lasterhaft sind. Für den


Handelsmann ist die Honnetetät selbst eine Spekulation auf<br />

Gewinn.<br />

— Le commerce est satanique, parce qu'il est une des formes<br />

de l'égoïsme —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11945 id='VIII.11[216]' kgw='VIII-2.327' ksa='13.85'<br />

Nur durch Mißverständnisse befindet sich alle Welt im<br />

Einklang. Wenn man, unglücklicherweise, sich begriffe, so würde<br />

man sich nie mit einander verstehen<br />

Ein Mann von Geist, der also, welcher sich nie mit Jemandem<br />

verstehen wird, soll sich darauf üben, die Unterhaltung mit<br />

Thoren und die Lektüre schlechter Bücher zu lieben. Er wird<br />

daraus bittere Genüsse ziehen, welche ihn reichlich für die fatigue<br />

entschädigen werden.<br />

Page Break KGW='VIII-2.328' KSA='13.86'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11946 id='VIII.11[217]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

Ein Funktionär, ein Minister — das können schätzenswerthe<br />

Leute sein: mais ils ne sont jamais divins. Leute ohne Persönlichkeit,<br />

Wesen ohne Originalität, geboren für die Funktion, d.h.<br />

pour la domesticité publique.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11947 id='VIII.11[218]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

Jede Zeitung giebt die Zeichen der schrecklichsten menschlichen<br />

Perversität: un tissu d'horreurs. Mit diesem dégoûtant<br />

apéritif begleitet der civilisirte Mensch die Morgenmahlzeit.<br />

Tout, en ce monde, sue le crime: le journal, la muraille et le<br />

visage de l'homme. — Wie kann eine reine Hand ohne eine<br />

Convulsion von Ekel ein Journal anrühren? …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11948 id='VIII.11[219]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

Sans la charité, je ne suis qu'une cymbale retentissante.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11949 id='VIII.11[220]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

Mes humiliations ont été des grâces de Dieu.


<strong>Aphorism</strong> n=11950 id='VIII.11[221]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

Je n'ai pas encore connu le plaisir d'un plan réalisé.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11951 id='VIII.11[222]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

Tout recul de la volonté est une parcelle de substance perdue.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11952 id='VIII.11[223]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

wie Baudelaire(1649), der eines Tages über sich le vent de l'aile<br />

de l'imbécillité hinstreichen fühlte<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11953 id='VIII.11[224]' kgw='VIII-2.328' ksa='13.86'<br />

Pour guérir de tout, de la misère, de la maladie et de la<br />

mélancolie, il ne manque absolument que le goût du travail.<br />

Page Break KGW='VIII-2.329' KSA='13.87'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11954 id='VIII.11[225]' kgw='VIII-2.329' ksa='13.87'<br />

„Ridentem ferient ruinae“ auf sein Portrait aufgeschrieben.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11955 id='VIII.11[226]' kgw='VIII-2.329' ksa='13.87'<br />

1.<br />

Daß die Menschheit eine Gesammt-Aufgabe zu lösen habe,<br />

daß sie als Ganzes irgend einem Ziel entgegenlaufe, diese sehr<br />

unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht<br />

wird man sie wieder los, bevor sie eine „fixe Idee“ wird…<br />

Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare<br />

Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen —<br />

sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein<br />

Alter. Nämlich die Schichten liegen durcheinander und<br />

übereinander — und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch<br />

jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen


können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der<br />

Menschheit: überall giebt es Auswurf- und Verfall-Stoffe, es ist<br />

ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und<br />

Abfalls-Gebilde.<br />

2.<br />

Unter der Gewalt des christlichen Vorurtheils gab es<br />

diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung<br />

der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der<br />

Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten,<br />

daß es möglichst bald ein Ende habe: — über das, was dem<br />

Einzelnen noth thue, gab es keinen Zweifel … Die Aufgabe<br />

stellte sich jetzt für jeden Einzelnen, wie in irgend welcher<br />

Zukunft für einen Zukünftigen: der Werth, Sinn, Umkreis der<br />

Werthe war fest, unbedingt, ewig, Eins mit Gott … Das, was<br />

Page Break KGW='VIII-2.330' KSA='13.88'<br />

von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch,<br />

verurtheilt …<br />

Das Schwergewicht des Werthes lag für jede Seele in sich<br />

selber: Heil oder Verdammniß! Das Heil der ewigen Seele!<br />

Extremste Form der Verselbstung … Für jede Seele gab<br />

es nur Eine Vervollkommnung; nur Ein Ideal; nur Einen Weg<br />

zur Erlösung … Extremste Form der Gleichberechtigung,<br />

angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen<br />

Wichtigkeit bis ins Unsinnige … Lauter unsinnig wichtige<br />

Seelen, um sich selbst mit entsetzlicher Angst gedreht …<br />

3.<br />

Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigthuerei:<br />

und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung<br />

geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische<br />

Gewöhnung, einen Werth des Menschen in der Annäherung<br />

an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im<br />

Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als<br />

die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht.<br />

In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf<br />

den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit ist …<br />

Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren<br />

Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei<br />

jeder vorsichtigen Prüfung des „idealen Typus“, sofort wieder<br />

herauszieht. Man glaubt, erstens, zu wissen, daß die<br />

Annäherung an Einen Typus wünschbar ist; zweitens zu<br />

wissen, welcher Art dieser Typus ist; drittens daß jede Abweichung<br />

von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und<br />

Machtverlust des Menschen ist … Zustände träumen,<br />

wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität<br />

für sich hat: höher haben es auch unsere Socialisten,<br />

selbst die Herren Utilitarier, nicht gebracht. — Damit scheint<br />

ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen:


jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal<br />

Page Break KGW='VIII-2.331' KSA='13.89'<br />

die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte<br />

heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft<br />

des „Reichs Gottes“ in die Zukunft verlegt, auf die Erde, in's<br />

Menschliche, — aber man hat im Grunde den Glauben an das<br />

alte Ideal festgehalten …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11956 id='VIII.11[227]' kgw='VIII-2.331' ksa='13.89'<br />

Zu begreifen:<br />

Daß alle Art Verfall und Erkrankung fortwährend an den<br />

Gesammt-Werthurtheilen mitgearbeitet hat: daß in den<br />

herrschend gewordenen Werthurtheilen décadence sogar zum<br />

übergewicht gekommen ist: daß wir nicht nur gegen die<br />

Folgezustände alles gegenwärtigen Elends von Entartung zu kämpfen<br />

haben, sondern alle bisherige décadence rückständig d.h.<br />

lebendig geblieben ist. Eine solche Gesammt-Abirrung der<br />

Menschheit von ihren Grundinstinkten, eine solche<br />

Gesammt-Décadence des Werthurtheils ist das Fragezeichen par<br />

excellence, das eigentliche Räthsel, das das Thier „Mensch“<br />

dem Philosophen aufgiebt —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11957 id='VIII.11[228]' kgw='VIII-2.331' ksa='13.89'<br />

Die Hauptarten des Pessimismus, der Pessimismus der<br />

Sensibilität (die überreizbarkeit mit einem übergewicht der<br />

Unlustgefühle)<br />

Der Pessimismus des „unfreien Willens“ (anders<br />

gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize)<br />

Der Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem<br />

Festen, vor allem Fassen und Anrühren)<br />

die dazugehörigen psychologischen Zustände kann man<br />

allesammt im Irrenhause beobachten, wenn auch in einer gewissen<br />

übertreibung. Insgleichen den „Nihilismus“ (das durchbohrende<br />

Gefühl des „Nichts“)<br />

Wohin aber gehört der Moral-Pessimismus Pascal's?<br />

der metaphysische Pessimismus<br />

der Vedanta-Philosophie?<br />

Page Break KGW='VIII-2.332' KSA='13.90'<br />

der sociale Pessimismus des<br />

Anarchisten (oder Shelley's)?<br />

der Mitgefühls-Pessimismus (wie der


Tolstoi's, Alfred de Vigny's)?<br />

— sind das nicht Alles gleichfalls Verfalls- und<br />

Erkrankungs-Phänomene? … Das excessive Wichtignehmen von<br />

Moralwerthen, oder von „Jenseits“-Fiktionen, oder von socialen<br />

Nothständen oder von Leiden überhaupt: jede solche<br />

Übertreibung eines einzelnen Gesichtspunktes ist an sich<br />

schon ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das überwiegen<br />

des Neins über das Ja!<br />

Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust<br />

am Neinsagen und Neinthun aus einer ungeheuren Kraft und<br />

Spannung des Jasagens — eigenthümlich allen reichen und<br />

mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine Form der<br />

Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt;<br />

eine Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man,<br />

unter Anderem, schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische<br />

in Wille, Geist, Geschmack.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11958 id='VIII.11[229]' kgw='VIII-2.332' ksa='13.90'<br />

Leopardi beklagt sich, hat Grund sich zu beklagen: aber damit<br />

gehört er nicht zu dem vollkommenen Typus des Nihilisten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11959 id='VIII.11[230]' kgw='VIII-2.332' ksa='13.90'<br />

J'écris pour une dizaine d'âmes que je ne verrai peut-être<br />

jamais, mais que j'adore sans les avoir vues. Stendhal.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11960 id='VIII.11[231]' kgw='VIII-2.332' ksa='13.90'<br />

1844 c. Baudelaire abhängig von Sainte-Beuve (Joseph Delorme)<br />

sagt … Sainte-Beuve sagt zu ihm: „Vous dites vrai, ma<br />

poésie se rattache à la vôtre. J'avais goûté du même fruit amer,<br />

plein de cendres, au fond.“<br />

Page Break KGW='VIII-2.333' KSA='13.91'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11961 id='VIII.11[232]' kgw='VIII-2.333' ksa='13.91'<br />

Baudelaire: („Volupté“ l'histoire d'Amaury)<br />

et devant le miroir, j'ai perfectionné<br />

l'art cruel, qu'un démon, en naissant, m'a donné,<br />

— de la douleur pour faire une volupté vraie, —<br />

d'ensanglanter son mal et de gratter sa plaie.


<strong>Aphorism</strong> n=11962 id='VIII.11[233]' kgw='VIII-2.333' ksa='13.91'<br />

Concevoir un canevas pour une bouffonnerie lyrique — et<br />

traduire cela en un roman sérieux. Noyer le tout dans une<br />

atmosphère anormale et songeuse, — dans l'atmosphère des grands<br />

jours — Que ce soit quelque chose de berçant et même de<br />

serein dans la passion. — Régions de la poésie pure. —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11963 id='VIII.11[234]' kgw='VIII-2.333' ksa='13.91'<br />

Die Weiter-Entwicklung der Menschheit nach Baudelaires<br />

Vorstellung. Nicht daß wir dem wilden Zustande uns wieder<br />

näherten, etwa nach Art des désordre bouffon südamerikanischer<br />

Republiken, wo man, das Gewehr in der Hand, seine Nahrung<br />

sucht, zwischen den Trümmern unserer Civilisation. Das würde<br />

noch eine gewisse vitale Energie voraussetzen. Die Mechanik<br />

wird uns derart amerikanisirt, der Fortschritt wird die<br />

spiritualistische Partie dermaaßen in uns atrophiirt haben, daß Alles<br />

Verrückte, was geträumt worden ist von Socialisten, hinter<br />

der positiven Wirklichkeit zurück bleibt. Keine Religion, kein<br />

Eigenthum; selbst keine Revolution mehr. Nicht in politischen<br />

Institutionen wird sich der allgemeine Ruin zeigen (ou le progrès<br />

universel: es liegt wenig am Namen) Habe ich nöthig zu sagen,<br />

daß das Wenige von Politik, das übrig bleibt, se débattra péniblement<br />

dans les étreintes de l'animalité générale, und daß die politischen<br />

Gouvernants gezwungen sein werden, um sich aufrecht zu<br />

erhalten und ein Phantom von Ordnung zu schaffen, zu Mitteln<br />

ihre Zuflucht zu nehmen qui feraient frissonner notre humanité<br />

actuelle, pourtant si endurcie! (Haarsträubend!) Dann<br />

Page Break KGW='VIII-2.334' KSA='13.92'<br />

wird der Sohn die Familie fliehen, mit 12 Jahren, émancipé<br />

par sa précocité gloutonne, um sich zu bereichern, um seinem<br />

infamen Vater Concurrenz zu machen, fondateur et actionnaire<br />

d'un journal, das Licht verbreitet usw. — Dann werden selbst<br />

die prostituirten eine unbarmherzige Weisheit sein, qui<br />

condamne tout, fors l'argent, tout, même les erreur des<br />

sens! Dann wird alles, das uns Tugend heißt, als etwas<br />

ungeheuer Lächerliches angesehen werden — Alles was nicht ardeur<br />

vers Plutus ist. Die Gerechtigkeit wird Bürger verbieten, welche<br />

nicht ihr Glück zu machen wissen usw. — avilissement —<br />

Was mich betrifft, der ich bisweilen das Lächerliche eines<br />

Propheten in mir fühle, ich weiß, daß ich niemals la charité<br />

d'un médecin darin finden werde. Verloren in dieser erbärmlichen<br />

Welt, coudoyé par les foules, bin ich wie ein müder


Mensch, der rückwärts blickend nichts sieht, als désabusement et<br />

amertume in langen tiefen Jahren und vor sich einen Sturm, in<br />

dem es Nichts Neues giebt, weder Lehre, noch Schmerz. Le soir,<br />

où cet homme a volé à la destinée quelques heures de plaisir<br />

— den Abend, an dem dieser Mensch eine Stunde Vergnügen dem<br />

Schicksale abgestohlen hat —, bercé dans sa digestion, oublieux<br />

autant que possible du passé, content du présent et résigné à<br />

l'avenir, enivré de son sang-froid et de son dandysme, fier de<br />

n'être pas aussi bas, que ceux qui passent, il se dit, en<br />

contemplant la fumée de son cigare: „Que m'importe, où vont ces<br />

consciences?, —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11964 id='VIII.11[235]' kgw='VIII-2.334' ksa='13.92'<br />

Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europa's soll<br />

nicht mehr länger dauern! Giebt es irgend einen Gedanken<br />

hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Werth könnte<br />

es haben, jetzt wo Alles auf größere und gemeinsame Interessen<br />

hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? … Und<br />

das nennt sich „christlicher Staat“! Und in der Nähe der obersten<br />

Kreise die Hofprediger-Canaille! … Und das „neue Reich“,<br />

Page Break KGW='VIII-2.335' KSA='13.93'<br />

wieder auf den verbrauchtesten und bestverachteten Gedanken<br />

gegründet, die Gleichheit der Rechte und der Stimmen …<br />

Und das in einem Zustande, wo die geistige Unselbständigkeit<br />

und Entnationalisirung in die Augen springt<br />

und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchten<br />

der eigentliche Werth und Sinn der jetzigen Cultur liegt!<br />

Die wirthschaftliche Einigung Europas kommt mit<br />

Nothwendigkeit — und ebenso, als Reaktion, die<br />

Friedenspartei …<br />

Das Ringen um einen Vorrang innerhalb eines Zustandes,<br />

der nichts taugt: diese Cultur der Großstädte, der Zeitungen,<br />

des Fiebers und der „Zwecklosigkeit“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11965 id='VIII.11[236]' kgw='VIII-2.335' ksa='13.93'<br />

Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche<br />

sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen; verbietet,<br />

sich der Gerichte zu bedienen; welche den Kampf, den<br />

Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört; eine Partei<br />

der Unterdrückten, wenigstens für eine Zeit; alsbald die große<br />

Partei. Gegnerisch gegen die Rach- und Nachgefühle.<br />

Eine Kriegspartei, mit der gleichen Grundsätzlichkeit<br />

und Strenge gegen sich in umgekehrter Richtung vorgehend —


<strong>Aphorism</strong> n=11966 id='VIII.11[237]' kgw='VIII-2.335' ksa='13.93'<br />

Buddhism und Christenthum: Kampf mit dem Ressentiment.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11967 id='VIII.11[238]' kgw='VIII-2.335' ksa='13.93'<br />

Abschaffung der „Strafe“. Der „Ausgleich“ an Stelle aller<br />

Gewaltmittel.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11968 id='VIII.11[239]' kgw='VIII-2.335' ksa='13.93'<br />

Das ursprüngliche Christenthum ist Abolition des<br />

Staates:<br />

Page Break KGW='VIII-2.336' KSA='13.94'<br />

es verbietet den Eid<br />

den Kriegsdienst<br />

die Gerichtshöfe<br />

die Selbstvertheidigung und Vertheidigung<br />

irgend eines Ganzen<br />

den Unterschied zwischen Volksgenossen und<br />

Fremden; insgleichen die Ständeordnung<br />

Das Vorbild Christi: er widerstrebt nicht denen, die<br />

ihm übles thun (er verbietet die Vertheidigung); er vertheidigt<br />

sich nicht; er thut mehr: „er reicht die linke Wange“ (auf die<br />

Frage „bist du Christus?“ antwortet er „und von nun an werdet<br />

ihr sehn usw.“)<br />

— er verbietet, daß seine Jünger ihn vertheidigen; er macht<br />

aufmerksam, daß er Hülfe haben könnte, aber nicht will.<br />

— das Christenthum ist auch Abolition der Gesellschaft:<br />

es bevorzugt alles von ihr Hinweggestoßene, es wächst<br />

heraus aus den Verrufenen und Verurtheilten, dem Aussatze<br />

jeder Art, den „Sündern“, den „Zöllnern“ und Prostituirten, dem<br />

dümmsten Volk (den „Fischern“); es verschmäht die Reichen, die<br />

Gelehrten, die Vornehmen, die Tugendhaften, die „Correkten“ …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11969 id='VIII.11[240]' kgw='VIII-2.336' ksa='13.94'<br />

Zum psychologischen Problem des Christenthums<br />

Die treibende Kraft bleibt: das Ressentiment, der<br />

Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen


(mit dem Buddhism steht es anders: er ist nicht<br />

geboren aus einer Ressentiments-Bewegung. Er bekämpft<br />

dasselbe, weil es zum Handeln antreibt)<br />

diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleistung<br />

auf Feindseligkeitin Gedanken und That eine<br />

Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist<br />

: hierin liegt die Psychologische Schwierigkeit, welche<br />

verhindert hat, daß man das Christenthum verstand.<br />

Page Break KGW='VIII-2.337' KSA='13.95'<br />

Der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche<br />

Bekämpfung seiner selber —<br />

Nur als Friedens- und Unschulds-Partei hat<br />

diese Aufstandsbewegung eine Möglichkeit auf Erfolg: sie muß<br />

siegen durch die extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmuth, ihr<br />

Instinkt begreift das —<br />

Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen,<br />

verurtheilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die That<br />

und das Wort beständig zur Schau tragen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11970 id='VIII.11[241]' kgw='VIII-2.337' ksa='13.95'<br />

Ein Recht auf Dasein, auf Arbeit, auf Glück!!!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11971 id='VIII.11[242]' kgw='VIII-2.337' ksa='13.95'<br />

un doux rêve du „charmant docteur“ — Renan<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11972 id='VIII.11[243]' kgw='VIII-2.337' ksa='13.95'<br />

Die Christen haben niemals die Handlungen praktizirt,<br />

welche ihnen Jesus vorgeschrieben hat: und das unverschämte<br />

Gerede vom „Glauben“ und von der „Rechtfertigung durch den<br />

Glauben“ und dessen oberster und einziger Bedeutsamkeit ist nur<br />

die Folge davon, daß die Kirche nicht den Muth, noch den Willen<br />

hatte, sich zu den Werken zu bekennen, welche Jesus forderte.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11973 id='VIII.11[244]' kgw='VIII-2.337' ksa='13.95'<br />

Der Buddhist handelt anders als der Nichtbuddhist; der<br />

Christ handelt wie alle Welt und hat ein Christenthum<br />

der Ceremonien und der Stimmungen —


<strong>Aphorism</strong> n=11974 id='VIII.11[245]' kgw='VIII-2.337' ksa='13.95'<br />

Die tiefe und verächtliche Verlogenheit des Christenthums in<br />

Europa: wir verdienen wirklich die Verachtung der Araber,<br />

Hindus, Chinesen … Man höre die Reden des ersten deutschen<br />

Staatsmanns über das, was jetzt 40 Jahre Europa eigentlich<br />

beschäftigt hat … man höre die Sprache des Hofprediger-Tartüffes<br />

Page Break KGW='VIII-2.338' KSA='13.96'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11975 id='VIII.11[246]' kgw='VIII-2.338' ksa='13.96'<br />

— „dem Bösen“ nicht widerstehen …<br />

Aber wenn man nicht an Gut und Böse glaubt, was heißt dies<br />

dann?<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11976 id='VIII.11[247]' kgw='VIII-2.338' ksa='13.96'<br />

— Das alte Recht, welches dem Bösen widersteht und Böses<br />

mit Bösem vergilt und das neue, welches nicht vergilt, nicht sich<br />

wehrt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11977 id='VIII.11[248]' kgw='VIII-2.338' ksa='13.96'<br />

— Es geht nur besser, wenn man alles Schlimme<br />

durch Gutes vergilt, — und keinen Unterschied mehr<br />

der Person macht<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11978 id='VIII.11[249]' kgw='VIII-2.338' ksa='13.96'<br />

Jesus leugnet Kirche Staat Gesellschaft Kunst, Wissenschaft,<br />

Cultur, Civilisation<br />

Alle Weisen haben so zu ihrer Zeit den Werth der Cultur<br />

und der staatlichen Organisation geleugnet. —<br />

Plato, Buddha,<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11979 id='VIII.11[250]' kgw='VIII-2.338' ksa='13.96'


Man muß diesen Tempel zerstören und in drei Tagen wieder<br />

aufbauen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11980 id='VIII.11[251]' kgw='VIII-2.338' ksa='13.96'<br />

Ich bin nicht eine Stunde meines Lebens Christ gewesen: ich<br />

betrachte alles, was ich gesehen habe, als Christenthum, als eine<br />

verächtliche Zweideutigkeit der Worte, eine<br />

wirkliche Feigheit vor allen Mächten, die sonst herrschen …<br />

Christen der allgemeinen Wehrpflicht, des Parlamentarischen<br />

Stimmrechts, der Zeitungs-Cultur und zwischen dem Allen von<br />

„Sünde“ „Erlösung“ „Jenseits“ Tod am Kreuze redende —:<br />

Page Break KGW='VIII-2.339' KSA='13.97'<br />

wie kann man in einer solchen unsauberen Wirthschaft es<br />

aushalten!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11981 id='VIII.11[252]' kgw='VIII-2.339' ksa='13.97'<br />

Ihr habt alle nicht den Muth, einen Menschen zu tödten oder<br />

auch nur zu peitschen oder auch nur zu — aber der ungeheure<br />

Wahnsinn im Staat überwältigt den Einzelnen, so daß er die<br />

Verantwortlichkeit für das, was er thut, ablehnt (Gehorsam,<br />

Eid usw.)<br />

— Alles, was ein Mensch im Dienste des Staates thut, geht<br />

wider seine Natur …<br />

— insgleichen alles, was er in Hinsicht auf den zukünftigen<br />

Dienst im Staate lernt, geht wider seine Natur<br />

Das wird erreicht durch die Arbeitstheilung: so daß<br />

Niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat.<br />

: der Gesetzgeber und der, der das Gesetz ausführt<br />

: der Disciplin-Lehrer und die, welche in der Disciplin<br />

hart und streng geworden sind<br />

Der Staat als die organisirte Gewaltthätigkeit …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11982 id='VIII.11[253]' kgw='VIII-2.339' ksa='13.97'<br />

Daß Jesus etwas gesagt hat, so dunkel und mystisch, daß es<br />

des Glaubens bedarf, es auch nur für wahr zu halten:<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11983 id='VIII.11[254]' kgw='VIII-2.339' ksa='13.97'


„was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Greuel vor<br />

Gott“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11984 id='VIII.11[255]' kgw='VIII-2.339' ksa='13.97'<br />

Der intellektuelle Zustand Europas: unsere Barbarei<br />

der verächtliche und armselige Unsinn einer persönlichen<br />

Fortdauer des Einzelnen: ein Standpunkt, über den Hindus,<br />

Juden und Chinesen hinaus seien<br />

der Glaube an Gott<br />

Page Break KGW='VIII-2.340' KSA='13.98'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11985 id='VIII.11[256]' kgw='VIII-2.340' ksa='13.98'<br />

Der Eintritt in das wahre Leben —<br />

— man rettet sein persönliches Leben vom<br />

Tode, indem man das allgemeine Leben lebt —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11986 id='VIII.11[257]' kgw='VIII-2.340' ksa='13.98'<br />

— die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt<br />

hat — und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11987 id='VIII.11[258]' kgw='VIII-2.340' ksa='13.98'<br />

— die Gegenseitigkeit, die Hinterabsicht auf<br />

Bezahltwerden-wollen: eine der verfänglichsten Formen der<br />

Werth-Erniedrigung des Menschen. Es bringt jene „Gleichheit“ mit sich,<br />

welche die Kluft der Distanz als unmoralisch abwerthet …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11988 id='VIII.11[259]' kgw='VIII-2.340' ksa='13.98'<br />

— man hat kein Recht, weder auf Dasein, noch auf Arbeit,<br />

noch gar auf „Glück“: es steht mit dem einzelnen Menschen nicht<br />

anders als mit dem niedersten Wurm.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11989 id='VIII.11[260]' kgw='VIII-2.340' ksa='13.98'


— „was thun, um zu glauben?“ — eine absurde Frage.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11990 id='VIII.11[261]' kgw='VIII-2.340' ksa='13.98'<br />

Was im Christenthum fehlt, das ist die Einhaltung von alledem,<br />

was Christus befohlen hat, zu thun.<br />

Es ist das mesquine Leben, aber mit einem Auge der<br />

Verachtung interpretirt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11991 id='VIII.11[262]' kgw='VIII-2.340' ksa='13.98'<br />

Gott schuf den Menschen glücklich, müssig, unschuldig und<br />

unsterblich: unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes,<br />

sündhaftes Dasein, eine Straf-existenz … Das Leiden, der<br />

Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände und Fragezeichen<br />

gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches,<br />

etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht<br />

— und hat! …<br />

Page Break KGW='VIII-2.341' KSA='13.99'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11992 id='VIII.11[263]' kgw='VIII-2.341' ksa='13.99'<br />

Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem<br />

unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn<br />

für die Schuld Adams hergegeben, um diesem unnormalen<br />

Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des Lebens<br />

ist ein Fluch; Christus giebt dem, der an ihn glaubt, den<br />

Normal-zustand zurück: er macht ihn glücklich, müssig und<br />

unschuldig. — Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu<br />

sein ohne Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen<br />

Kinder, die Krankheit hat nicht aufgehört: die Gläubigsten befinden<br />

sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten. Nur daß der Mensch<br />

vom Tode und von der Sünde befreit ist, Behauptungen,<br />

die keine Controlle zulassen, das hat die Kirche um so<br />

bestimmter behauptet. „Er ist frei von Sünde“ — nicht durch sein<br />

Thun, nicht durch einen rigorösen Kampf seinerseits, sondern<br />

durch die That der Erlösung freigekauft — folglich<br />

vollkommen, unschuldig, paradiesisch …<br />

Das wahre Leben nur ein Glaube (d.h. ein Selbstbetrug,<br />

ein Irrsinn) Das ganze ringende kämpfende voll Glanz und<br />

Finsterniß wirkliche Dasein nur ein schlechtes, falsches Dasein:<br />

von ihm erlöst werden ist die Aufgabe.


<strong>Aphorism</strong> n=11993 id='VIII.11[264]' kgw='VIII-2.341' ksa='13.99'<br />

Die Religion hat die Auffassung des Lebens gefälscht:<br />

die Wissenschaft und Philosophie hat immer nur ancilla von<br />

dieser Lehre gemacht …<br />

Ob man an Gott, an Christus und an Adam glaubt oder<br />

nicht: man kommt überein, daß das Leben nur eine Täuschung,<br />

nichts Wahres, Wirkliches sei —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11994 id='VIII.11[265]' kgw='VIII-2.341' ksa='13.99'<br />

Das Leben ist schlecht: aber es hängt nicht von uns ab, es<br />

besser zu machen. Die Veränderung geht von Gesetzen aus,<br />

welche außer uns liegen. — Der Determinism der Wissenschaft<br />

Page Break KGW='VIII-2.342' KSA='13.100'<br />

und der Glaube an die That der Erlösung stehen darin auf<br />

gleichem Boden.<br />

Insgleichen darin, daß sie dem Menschen ein Recht auf<br />

Glück zugestehn; daß sie mit diesem Maßstabe das gegenwärtige<br />

Leben verurtheilen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11995 id='VIII.11[266]' kgw='VIII-2.342' ksa='13.100'<br />

Alle fragen: „warum ist das Leben nicht so, wie wir es<br />

wünschen und wann wird es so sein?“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11996 id='VIII.11[267]' kgw='VIII-2.342' ksa='13.100'<br />

NB. NB. „der Mensch, unschuldig, müssig, unsterblich,<br />

glücklich“ — diese Conception der „höchsten Wünschbarkeit“ ist vor<br />

allem zu kritisiren.<br />

Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das Leiden (und,<br />

christlich geredet, die Erkenntniß …) wider die höchste<br />

Wünschbarkeit?<br />

Die faulen christlichen Begriffe „Seligkeit“ „Unschuld“,<br />

„Unsterblichkeit“ — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11997 id='VIII.11[268]' kgw='VIII-2.342' ksa='13.100'<br />

Der „Friede der Menschen unter einander“: als das höchste


denkbare Gut: das Reich Gottes<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11998 id='VIII.11[269]' kgw='VIII-2.342' ksa='13.100'<br />

seid in Frieden mit aller Welt, betrachtet Niemanden, als<br />

sei er ein Nichts oder wie unsinnig! Wenn der Friede verletzt<br />

ist, thut Alles, ihn wieder herzustellen. Die Verehrung Gottes<br />

liegt ganz und gar in der Austilgung von Feindschaft unter den<br />

Menschen. Versöhnt euch bei der geringsten Diskussion, um nicht<br />

den inneren Frieden zu verlieren, welcher das wahre Leben<br />

ist. Was trübt vor allem den Frieden? Einmal die geschlechtliche<br />

Begierde: dagegen die Monogamie und zwar unlöslich. Die<br />

zweite Versuchung ist der Eid: er zieht den Menschen in Sünde:<br />

Page Break KGW='VIII-2.343' KSA='13.101'<br />

schwört niemandem und unter keinen Umständen einen Eid,<br />

damit ihr keinen Herrn über euch habt als Gott. Die dritte<br />

Versuchung ist die Rache, welche sich Gerechtigkeit heißt: ertragt<br />

die Unbilden und gebt nicht das übel mit dem übel heim! Die<br />

vierte Versuchung ist die Unterscheidung von Volksgenossen<br />

und Fremden; brecht mit Niemandem den Frieden auf Grund<br />

eurer Nationalität und Herkunft!<br />

Die Praktik dieser 5 Commandos bringt den Zustand herbei,<br />

den das menschliche Herz ersehnt: alle unter einander<br />

Brüder, jeder in Frieden mit jedem, jeder die Güter der Erde<br />

genießend bis zu seinem Ende …<br />

Luc. IV, 18<br />

„das angenehme Jahr des Herrn“ — die holdseligen Worte,<br />

die aus seinem Munde giengen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=11999 id='VIII.11[270]' kgw='VIII-2.343' ksa='13.101'<br />

der Mensch hat Recht auf Nichts, er hat Verpflichtungen für<br />

die Wohlthaten, die er empfangen hat: er hat mit Niemandem<br />

zu rechten. Selbst wenn er sein Leben gäbe, er würde nicht Alles<br />

zurückgeben, was er empfangen hat: deshalb kann sein Herr<br />

nicht ungerecht gegen ihn sein. Aber wenn der Mensch sein Recht<br />

auf das Leben geltend macht, wenn er rechtet mit dem Princip<br />

von Allem, von woher er das Leben hat, beweist er nur Eins —<br />

er begreift nicht den Sinn des Lebens. Die Menschen, nachdem<br />

sie eine Wohlthat empfangen haben, fordern noch etwas<br />

Anderes. Die Arbeiter der Parabel befanden sich müssig, unglücklich:<br />

der Herr giebt ihnen das höchste Glück des Lebens — die Arbeit.<br />

Sie nehmen die Wohlthat an und sind immer noch unzufrieden.<br />

Sie sind mit ihrer falschen Theorie vom Recht auf Arbeit<br />

gekommen, folglich mit einer Belohnung für ihre Arbeit. Sie


egreifen nicht, daß sie das höchste Gut umsonst bekommen<br />

haben, daß sie sich erkenntlich dafür zu zeigen haben — und<br />

nicht eine Bezahlung fordern. Matth. XX, 1 Luc. 17, 5, 10.<br />

Page Break KGW='VIII-2.344' KSA='13.102'<br />

Die Lehre besteht in der Verzichtleistung auf das persönliche<br />

Leben: und ihr verlangt den persönlichen Ruhm, — eine persönliche<br />

Belohnung … In der Welt giebt es Ruhm und persönliche<br />

Macht; ihr, meine Schüler, sollt wissen, daß der wahre Sinn des<br />

Lebens sich nicht im persönlichen Glück befindet, sondern darin,<br />

daß man Jedem dient und sich vor Jedem erniedrigt … Christus<br />

empfiehlt ihnen nicht zu glauben: er lehrt sie die wahre<br />

Unterscheidung von Gut und Böse, von Wichtig und Sekundär …<br />

Petrus begreift die Lehre nicht: daher sein Mangel an<br />

Glauben. Die Belohnung proportional der Arbeit<br />

hat nur Wichtigkeit in Hinsicht auf das persönliche Leben. Der<br />

Glaube an die Belohnung für die Arbeit, in Proportion der<br />

Arbeit, ist eine Folge der Theorie des persönlichen<br />

Lebens …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12000 id='VIII.11[271]' kgw='VIII-2.344' ksa='13.102'<br />

Der Glaube kann nicht kommen aus dem Vertrauen in seine<br />

Worte: er kann nur kommen aus Einsicht in unsere<br />

Lage. Man kann ihn nicht durch Versprechen von Belohnung<br />

und Strafe schaffen — der Glaube der „Berge versetzt“ kann<br />

nur sich auf das Bewußtsein unseres unvermeidlichen Schiffbruchs<br />

gründen, wenn wir nicht die Rettung acceptiren, die uns noch<br />

offen steht … — das Leben conform dem Willen des<br />

Herrn —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12001 id='VIII.11[272]' kgw='VIII-2.344' ksa='13.102'<br />

Matth. 21, 18<br />

— als er aber des Morgens wieder in die Stadt gieng,<br />

hungerte ihn. Und er sahe einen Feigenbaum am Wege und gieng hin<br />

und fand nichts daran, denn allein Blätter, und sprach zu ihm:<br />

Nun wachse auf dir hinfort nimmermehr eine Frucht. Und der<br />

Feigenbaum verdorrte alsobald. Und da das die Jünger sahen,<br />

verwunderten sie sich und sprachen: Wie ist doch der<br />

Feigenbaum so bald verdorret? —<br />

Page Break KGW='VIII-2.345' KSA='13.103'


<strong>Aphorism</strong> n=12002 id='VIII.11[273]' kgw='VIII-2.345' ksa='13.103'<br />

Die fünf Commandos: erzürnt euch nicht; begeht keinen<br />

Ehebruch; leistet keinen Eid; wehrt euch nicht durch Gewalt;<br />

zieht nicht in den Krieg: Ihr könnt, in Augenblicken, gegen diese<br />

Gebote fehlen, wie ihr jetzt gegen die Artikel des code civil und<br />

des code mondain fehlt. Aber, in Momenten der Ruhe, werdet<br />

ihr dann nicht das thun, was ihr jetzt thut: ihr werdet euch nicht<br />

eine Existenz organisiren, welche die Aufgabe so schwierig<br />

macht, nicht zu zürnen, nicht die Ehe zu brechen, nicht zu<br />

schwören, nicht sich mit Gewalt zu wehren, nicht in den Krieg zu<br />

ziehen. Organisirt euch vielmehr eine Existenz,<br />

welche es euch schwer machen würde, dies zu<br />

thun!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12003 id='VIII.11[274]' kgw='VIII-2.345' ksa='13.103'<br />

Für dieses euer jetziges Leben — sagt Tolstoi(1650) zu den<br />

Ungläubigen, zu uns Philosophen — vous n'avez actuellement<br />

aucune règle, sauf celles, qui sont rédigées par des hommes que<br />

vous n'estimez pas et mises en vigueur par la police. La doctrine<br />

de Jésus vous donne ces règles, qui, assurément, sont d'accord<br />

avec votre loi, parceque votre loi de „l'altruisme“ ou de la<br />

volonté unique n'est pas autre chose qu'une mauvaise paraphrase<br />

de cette même doctrine de Jésus.<br />

Tolstoi, ma religion. Moskau 22 Januar 1884<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12004 id='VIII.11[275]' kgw='VIII-2.345' ksa='13.103'<br />

Kein Gott für unsere Sünden gestorben; keine Erlösung durch<br />

den Glauben; keine Wiederauferstehung nach dem Tode — das<br />

sind alles Falschmünzereien des eigentlichen Christenthums, für<br />

die man jenen unheilvollen Querkopf verantwortlich machen<br />

muß;<br />

Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und<br />

Demuth; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten<br />

nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das<br />

Page Break KGW='VIII-2.346' KSA='13.104'<br />

Recht-behalten-wollen, auf Vertheidigung, auf Sieg im Sinne<br />

des persönlichen Triumphes; im Glauben an die Seligkeit hier,<br />

auf Erden, trotz Noth, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit,<br />

in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht<br />

belohnt werden wollen; Niemandem sich verbunden haben; die<br />

geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes Leben unter<br />

dem Willen zum armen und dienenden Leben.


Nachdem die Kirche die ganze christliche Praxis<br />

sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben im Staate,<br />

jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurtheilt hatte,<br />

sanktionirt hatte, mußte sie den Sinn des Christenthums<br />

irgendwo anders hin legen: in den Glauben an unglaubwürdige<br />

Dinge, in das Ceremoniell von Gebet, Anbetung, Fest<br />

usw. Die Begriffe „Sünde“, „Vergebung“, „Strafe“,<br />

„Belohnung“ — Alles ganz unbeträchtlich und fast<br />

ausgeschlossen vom ersten Christenthum, kommt jetzt in den<br />

Vordergrund.<br />

Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie<br />

und Judenthum; der Asketismus; das beständige Richten und<br />

Verurtheilen; die Rangordnung; — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12005 id='VIII.11[276]' kgw='VIII-2.346' ksa='13.104'<br />

Wenn man nicht begreift, daß die Kirche nicht nur die<br />

Carikatur des Christenthums, sondern der organisierte Krieg<br />

gegen das Christenthum ist: — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12006 id='VIII.11[277]' kgw='VIII-2.346' ksa='13.104'<br />

Tolstoi, p. 243<br />

„La doctrine de Jésus ne peut pas contrarier en aucune façon<br />

les hommes de notre siècle sur leur manière d'envisager le monde;<br />

elle est d'avance d'accord avec leur métaphysique, mais elle leur<br />

donne ce qu'ils n'ont pas, ce qui leur est indispensable et ce<br />

qu'ils cherchent: elle leur donne le chemin de la vie, non pas un<br />

chemin inconnu, mais un chemin exploré et familier à chacun.“<br />

Page Break KGW='VIII-2.347' KSA='13.105'<br />

p. 236<br />

L'antagonisme entre les explications de l'Église, qui passent<br />

pour la foi, et la vraie foi de notre génération, qui consiste à<br />

obéir aux lois sociales et à celle de l'État, est entré dans une<br />

phase aiguë, et la majorité des gens civilisés n'a pour régler sa<br />

vie que la foi dans le sergent de ville et la gendarmerie. Cette<br />

situation serait épouvantable, si elle était complétement telle;<br />

mais heureusement il y a des gens, les meilleurs de notre époque,<br />

qui ne se contentent pas de cette religion, mais qui ont une foi<br />

toute differente, relativement à ce que doit être la vie des<br />

hommes. Ces hommes sont considérés comme les plus malfaisants,<br />

les plus dangereux et principalement le plus incroyants de tous<br />

les êtres: et pourtant ce sont les seuls hommes de notre temps<br />

croyant à la doctrine évangélique, si ce n'est pas dans son<br />

ensemble, au moins en partie… Souvent même ils haïssent


Jésus… On aura beau le persécuter et les calomnier, ce sont les<br />

seuls, qui ne se soumettent point sans protester aux ordres du<br />

premier venu; par conséquent, ce sont les seuls à notre époque,<br />

qui vivent d'une vie raisonnée, non pas de la vie animale; ce<br />

sont les seuls, qui avent de la foi.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12007 id='VIII.11[278]' kgw='VIII-2.347' ksa='13.105'<br />

NB. Man kann nicht genug Achtung vor dem Menschen<br />

haben, sobald man ihn darauf hin ansieht, wie er sich<br />

durchzuschlagen, auszuhalten, die Umstände sich zu Nutze zu machen,<br />

Widersacher niederzuwerfen versteht; sieht man dagegen<br />

auf den Menschen, so fern er wünscht, ist er die<br />

absurdeste Bestie … Es ist gleichsam, als ob er einen<br />

Tummelplatz der Feigheit, Faulheit, Schwächlichkeit, Süßlichkeit,<br />

Unterthänigkeit zur Erholung für seine starken und männlichen<br />

Tugenden brauchte: siehe die menschlichen Wünschbarkeiten,<br />

seine „Ideale“. Der wünschende Mensch erholt<br />

sich von dem Ewig-Werthvollen an ihm, von seinem Thun: im<br />

Nichtigen, Absurden, Werthlosen, Kindischen. Die geistige<br />

Page Break KGW='VIII-2.348' KSA='13.106'<br />

Armut und Erfindungslosigkeit ist bei diesem so erfinderischen<br />

und auskunftsreichen Thier erschrecklich. Das „Ideal“ ist<br />

gleichsam die Buße, die der Mensch zahlt, für den ungeheuren<br />

Aufwand, den er in allen wirklichen und dringlichen Aufgaben zu<br />

bestreiten hat. Hört die Realität auf, so kommt der Traum, die<br />

Ermüdung, die Schwäche: „das Ideal“ ist geradezu eine Form<br />

von Traum, Ermüdung, Schwäche … Die stärksten und<br />

ohnmächtigsten Naturen werden sich gleich, wenn dieser Zustand<br />

über sie kommt: sie vergöttlichen das Aufhören der<br />

Arbeit, des Kampfes, der Leidenschaften, der Spannung, der<br />

Gegensätze, der „Realität“ in summa … des Ringens um<br />

Erkenntniß, der Mühe der Erkenntniß<br />

Unschuld: so heißen sie den Idealzustand der Verdummung<br />

Seligkeit: den Idealzustand der Faulheit<br />

Liebe: den Idealzustand des Heerdenthiers, das keinen Feind<br />

mehr haben will<br />

damit hat man alles, was den Menschen erniedrigt und<br />

herunterbringt, ins Ideal erhoben.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12008 id='VIII.11[279]' kgw='VIII-2.348' ksa='13.106'<br />

Jesus stellte ein wirkliches Leben, ein Leben in der Wahrheit<br />

jenem gewöhnlichen Leben gegenüber: nichts liegt ihm ferner als<br />

der plumpe Unsinn eines „verewigten Petrus“, einer ewigen


Personal-Fortdauer. Was er bekämpft, das ist die Wichtigthuerei<br />

der „Person“: wie kann er gerade die verewigen wollen?<br />

Er bekämpft insgleichen die Hierarchie innerhalb der<br />

Gemeinde: er verspricht nicht irgend eine Proportion von Lohn<br />

je nach der Leistung: wie kann er Strafe und Lohn im Jenseits<br />

gemeint haben!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12009 id='VIII.11[280]' kgw='VIII-2.348' ksa='13.106'<br />

Ich sehe nicht ab, wogegen der Aufstand gerichtet war, dessen<br />

Urheber Jesus ist: wenn er nicht der Aufstand gegen die jüdische<br />

Kirche war, — Kirche genau in dem Sinne verstanden, wie wir<br />

das Wort verstehn … Es war ein Aufstand gegen die „Guten<br />

Page Break KGW='VIII-2.349' KSA='13.107'<br />

und Gerechten“, gegen die „Heiligen Israels“, gegen die<br />

Hierarchie der Gesellschaft — nicht gegen deren Verderbniß,<br />

sondern gegen die Tyrannei der Kaste, der Sitte, der Formel, der<br />

Ordnung, des Privilegiums, des geistlichen Stolzes, des<br />

Puritanismus auf geistlichem Gebiete, — es war der Unglaube an die<br />

„höheren Menschen“, das Wort geistlich verstanden, der hier zur<br />

Empörung führte, ein Attentat auf Alles, was Priester und<br />

Theologe ist. Aber die Hierarchie, welche dergestalt in Frage<br />

gestellt wurde, war der Grundbau, auf dem das jüdische Volk<br />

überhaupt noch fortbestand, die mühsam errungene letzte<br />

Möglichkeit, übrig zu bleiben, die Reliquie seiner alten<br />

politischen Sonderexistenz: ein Angriff auf sie war ein Angriff auf<br />

den tiefsten nationalen Instinkt, auf den Willen der jüdischen<br />

Selbsterhaltung. Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk,<br />

die Ausgestoßenen und „Sünder“ zum Widerspruch gegen den<br />

„herrschenden Stand“ aufrief — mit einer Sprache, die auch<br />

heute noch nach Sibirien führen würde —, war ein politischer<br />

Verbrecher, soweit eben ein politisches Verbrechen unter diesen<br />

Umständen noch möglich war. Dies brachte ihn ans Kreuz: das<br />

Zeugniß dafür ist die Aufschrift des Kreuzes: der König der<br />

Juden. Es fehlt jeder Grund, mit Paulus zu behaupten, daß<br />

Jesus „für die Sünde Anderer“ gestorben sei … er starb für seine<br />

eigene „Sünde“. Unter andere Verhältnisse gestellt, zum Beispiel<br />

mitten in das heutige Europa hinein, würde dieselbe Art Mensch<br />

als Nihilist leben, lehren und reden: und auch in diesem Falle<br />

würde man seitens seiner Partei zu hören bekommen, ihr Meister<br />

sei für die Gerechtigkeit und die Liebe zwischen Mensch und<br />

Mensch gestorben — nicht um seiner Schuld willen, sondern um<br />

unserer Schuld willen ( — der jetzt regierenden Classen: insofern<br />

nämlich Regieren selbst schon bei Anarchisten als Schuld gilt.)


<strong>Aphorism</strong> n=12010 id='VIII.11[281]' kgw='VIII-2.349' ksa='13.107'<br />

Paulus, mit einem Instinkt für die Bedürfnisse der Nicht-Juden,<br />

übersetzte jene großen Symbole der ersten christlichen<br />

Page Break KGW='VIII-2.350' KSA='13.108'<br />

Bewegung ins Handgreifliche und Unsymbolische: einmal machte<br />

er aus dem Gegensatz des wahren und des falschen Lebens<br />

den Gegensatz dieses irdischen und jenes himmlischen jenseitigen,<br />

zu dem der Tod die Brücke ist ( — er stellte sie in die<br />

Bewegung der Zeit, als jetzt und als einstmals — ) Zu diesem<br />

Zwecke that er einen Griff ins volle Heidenthum und nahm die<br />

Personal-Unsterblichkeit, etwas ebenso Antijüdisches<br />

als Antichristliches. Aber in der ganzen Welt, wo es<br />

geheime Culte gab, glaubte man an diese Fortdauer, und zwar<br />

unter einer perspektive von Lohn und Strafe. Diese Verdüsterung<br />

des Heidenthums durch den Schatten der Schuld-Abzahlung<br />

im Jenseits war es z.B., was Epicur bekämpfte … Der Kunstgriff<br />

des Paulus war, den Glauben, daß Christus nach dem Tode<br />

wieder gesehen worden ist (d.h. die Thatsache einer<br />

Collektiv-Hallucination), aufzubauschen zu einer theologischen<br />

Logik, wie als ob die Unsterblichkeit und die Wiederauferstehung<br />

Hauptthatsachen wären und gleichsam der<br />

Schlußstein der Heils-Ordnung Jesu ( — dazu mußte die ganze<br />

Lehre und Praxis der alten Gemeinde auf den Kopf<br />

gestellt werden)<br />

Das ist der Humor der Sache, ein tragischer Humor:<br />

Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet, was<br />

Christus durch sein Leben annullirt hatte. Endlich, als die Kirche<br />

fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre<br />

Sanktion …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12011 id='VIII.11[282]' kgw='VIII-2.350' ksa='13.108'<br />

NB.: ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung,<br />

mitten aus dem eigentlichen Herde des ressentiment<br />

heraus … aber durch Paulus zu einer heidnischen<br />

Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen<br />

staatlichen Organisation vertragen lernt … und Kriege<br />

führt, verurtheilt, foltert, schwört, haßt.<br />

Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfniß der großen<br />

Page Break KGW='VIII-2.351' KSA='13.109'<br />

religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige<br />

Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der<br />

Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica<br />

mit dem „Opfer“


er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte<br />

Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Causalverbindung<br />

mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos,<br />

Mithras, Osiris)<br />

er hat nöthig, den Begriff Schuld und Sünde in den<br />

Vordergrund zu bringen, nicht eine neue Praxis (wie sie<br />

Jesus selbst zeigte und lehrte) sondern einen neuen Cultus,<br />

einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche<br />

Verwandlung („Erlösung“ durch den Glauben)<br />

er hat das große Bedürfniß der heidnischen<br />

Welt verstanden und aus den Thatsachen vom Leben und<br />

Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht,<br />

alles neu accentuirt, überall das Schwergewicht verlegt … er<br />

hat principiell das ursprüngliche Christenthum annullirt …<br />

Das Attentat auf Priester und Theologen mündete,<br />

Dank dem Paulus, in eine neue Priesterschaft und Theologie —<br />

einen herrschenden Stand, auch eine Kirche<br />

Das Attentat auf die übermäßige Wichtigthuerei der „Person“<br />

mündete(1651) in den Glauben an die „ewige Person“ (in die<br />

Sorge um's „ewige Heil“ …), in die paradoxeste übertreibung<br />

des Personal-Egoism.<br />

Man sieht, was mit dem Tode am Kreuze geschehen war.<br />

Als der Dämon des Dysangeliums erscheint Paulus …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12012 id='VIII.11[283]' kgw='VIII-2.351' ksa='13.109'<br />

Daß die Schädlichkeit eines Menschen bereits ein Einwand<br />

gegen ihn sein soll! … Als ob unter den großen Förderern des<br />

Lebens nicht auch der große Verbrecher Platz hätte! …<br />

Wir lassen die Thiere mit unseren Wünschen unangetastet;<br />

Page Break KGW='VIII-2.352' KSA='13.110'<br />

auch die Natur; aber die Menschen wollen wir schlechterdings<br />

anders …<br />

Die außerordentlichsten Menschen, gesetzt, daß zu ihrem<br />

Entstehen ein Wille, ein Beschlußnehmen, eine Abstimmung nöthig<br />

gemacht wären, würden nie erstrebt werden …<br />

So viel habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer<br />

und seltener Menschen abhängig gemacht hätte von der<br />

Zustimmung der Vielen (einbegriffen, daß diese wüßten, welche<br />

Eigenschaften zur Größe gehören und insgleichen auf wessen<br />

Unkosten alle Größe sich entwickelt) — nun, es hätte nie einen<br />

bedeutenden Menschen verhindert …<br />

Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung<br />

der Allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß<br />

einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen hat …


<strong>Aphorism</strong> n=12013 id='VIII.11[284]' kgw='VIII-2.352' ksa='13.110'<br />

In Marokko lernt man das Mittelalter kennen; in Corsika<br />

die jüdische und arabische Geschichte zur Zeit ihrer Concentration;<br />

in Arabien das patriarchalische Zeitalter; — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12014 id='VIII.11[285]' kgw='VIII-2.352' ksa='13.110'<br />

Sich stärker fühlen — oder anders ausgedrückt: die<br />

Freude — setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht<br />

nothwendig mit Anderen, sondern mit sich, inmitten eines<br />

Zustands von Wachsthum, ohne daß man erst wüßte, in wiefern<br />

man vergleicht — )<br />

— die künstliche Verstärkung: sei es durch aufregende<br />

Chemica, sei es durch aufregende Irrthümer („Wahnvorstellungen“)<br />

z.B. das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat.<br />

Er fühlt sich stark in seinem Vertrauen-dürfen, in seinem<br />

Geduldig- und Gefaßtsein-dürfen: er verdankt diese künstliche<br />

Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt zu sein<br />

z.B. das Gefühl der Überlegenheit z.B. wenn der<br />

Page Break KGW='VIII-2.353' KSA='13.111'<br />

Chalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen<br />

seine drei vereinigten Königreiche 4/5 der Oberfläche einnehmen<br />

z.B. das Gefühl der Einzigkeit z.B. wenn der Europäer<br />

sich einbildet, daß der Gang der Cultur sich in Europa<br />

abspielt und wenn er sich selber eine Art abgekürzter Weltprozeß<br />

scheint; oder der Christ alles Dasein überhaupt um das<br />

„Heil des Menschen“ sich drehen macht —<br />

Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit<br />

empfindet: je nach dem erzeugt sich ein andres Gefühl des<br />

Stärker-seins. Einem Philosophen ist z.B. inmitten(1652) der<br />

kühlsten transmontansten Abstraktions-Gymnastik zu Muthe<br />

wie einem Fisch der in sein Wasser kommt: während Farben<br />

und Töne ihn drücken, gar nicht zu reden von den dumpfen<br />

Begehrungen — von dem, was die Anderen „das Ideal“ nennen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12015 id='VIII.11[286]' kgw='VIII-2.353' ksa='13.111'<br />

Morphologie der Selbstgefühle:<br />

Erster Gesichtspunkt<br />

A: in wiefern die Mitgefühls- und Gemeinschafts-Gefühle<br />

die niedrigere, die vorbereitende Stufe<br />

sind, zur Zeit, wo das Personal-Selbstgefühl, die Initiative der


Werthsetzung im Einzelnen noch gar nicht möglich ist<br />

B: in wiefern die Höhe des Collektiv-Selbstgefühls,<br />

der Stolz auf die Distanz des Clans, das Sich-Ungleich-fühlen,<br />

die Abneigung gegen Vermittlung, Gleichberechtigung,<br />

Versöhnung eine Schule des Individual-Selbstgefühls<br />

ist: namentlich insofern sie den Einzelnen zwingt,<br />

den Stolz des Ganzen zu repräsentiren … Er muß reden<br />

und handeln mit einer extremen Achtung vor sich, insofern er<br />

die Gemeinschaft in Person darstellt …<br />

insgleichen: wenn das Individuum sich als Werkzeug<br />

und Sprachrohr der Gottheit fühlt<br />

C: in wiefern diese Formen der Entselbstung thatsächlich<br />

der Person eine ungeheure Wichtigkeit geben: insofern<br />

Page Break KGW='VIII-2.354' KSA='13.112'<br />

höhere Gewalten sich ihrer bedienen: religiöse Scheu vor sich<br />

selbst Zustand des Propheten, Dichters …<br />

D: inwiefern die Verantwortlichkeit für das Ganze dem<br />

Einzelnen einen weiten Blick, eine strenge und furchtbare Hand,<br />

eine Besonnenheit und Kälte und Großartigkeit der Haltung<br />

Gebärde anerzieht(1653) und erlaubt, welche er nicht<br />

um seiner selber willen sich zugestehen würde<br />

In summa: die Collektiv-Selbstgefühle sind die große<br />

Vorschule der Personal-Souveränität<br />

der vornehme Stand ist der, welcher die Erbschaft dieser<br />

übung macht —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12016 id='VIII.11[287]' kgw='VIII-2.354' ksa='13.112'<br />

In den Begriff der Macht, sei es eines Gottes, sei es eines<br />

Menschen, ist immer zugleich die Fähigkeit zu nützen und<br />

die Fähigkeit zu schaden eingerechnet. So bei den Arabern;<br />

so bei den Hebräern. So bei allen stark gerathenen Rassen.<br />

Es ist ein verhängnißvoller Schritt, wenn man dualistisch<br />

die Kraft zum Einen von der zum Anderen trennt …<br />

Damit wird die Moral zur Giftmischerin des Lebens …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12017 id='VIII.11[288]' kgw='VIII-2.354' ksa='13.112'<br />

Meine Freunde, heute muß man schon auf allen Vieren in<br />

diesem „Staat“ kriechen und wie ein Esel schreien: es thut Noth,<br />

der Seuche weiß zu machen, daß man ein Esel sei — einziges<br />

Mittel, sich von diesem Wahnsinn unangesteckt zu halten


<strong>Aphorism</strong> n=12018 id='VIII.11[289]' kgw='VIII-2.354' ksa='13.112'<br />

Heva ist die Schlange: sie steht an der Spitze der biblischen(1654)<br />

Genealogie (wie die Schlange auch als Eigenname bei den<br />

Hebräern gewöhnlich(1655) vorkommt)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12019 id='VIII.11[290]' kgw='VIII-2.354' ksa='13.112'<br />

Der Sinn der Beschneidung ist eine Probe der Mannhaftigkeit<br />

ersten Ranges (ein Maturitäts-Zeugniß, bevor man<br />

Page Break KGW='VIII-2.355' KSA='13.113'<br />

heirathen darf): die Araber heißen sie „Schindung“. Die Scene<br />

findet im Freien statt: der Vater und die Freunde umstehen den<br />

Jüngling. Der tonsor zieht das Messer und entblößt, nachdem<br />

er die Vorhaut abgeschnitten hat, das Glied (Schamtheil) samt<br />

dem Bauch vom Nabel aufwärts bis zu den Hüften von aller<br />

Haut. Der Jüngling schwingt dabei mit der Rechten ein Messer<br />

über dem Rücken des tonsor und schreit „schneide ohne Furcht!“<br />

Wehe, wenn der tonsor zögert und seine Hand zittert! Der<br />

Vater aber tödtet seinen Sohn auf der Stelle, wenn er vor<br />

Schmerz schreit. Schließlich stimmt der Jüngling ein gloria Deo<br />

an und begiebt sich ins Zelt, wo er vor Schmerz auf den Boden<br />

niederfällt. Manche gehen an der ungeheuren Eiterung zu<br />

Grunde, von zehn bleiben meistens acht übrig: die haben kein<br />

pecten und ihren Bauch deckt eine bleiche Haut. (bei den `Asîr)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12020 id='VIII.11[291]' kgw='VIII-2.355' ksa='13.113'<br />

barbarisch = unbeschnitten ist sowohl jüdisch wie arabisch<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12021 id='VIII.11[292]' kgw='VIII-2.355' ksa='13.113'<br />

Das Christenthum hat das Abendmahl nicht verstanden: die<br />

communio durch Fleisch und Trank, die sich auf natürlichem<br />

Wege in Fleisch und Blut transsubstantiiren —<br />

Alle Gemeinschaft ist Blutgemeinschaft. Diese ist nicht nur<br />

angeboren, sie wird auch erworben; ebenso wie das Blut nicht<br />

bloß angeboren ist, sondern auch erworben wird. Wer mit<br />

einander ißt und trinkt, erneuert sein Blut aus demselben Quell,<br />

bringt dasselbe Blut in seine Adern. Ein Fremder, sogar ein<br />

Feind, der unser Mahl theilt (auch ohne und gegen unseren<br />

Willen) wird dadurch, wenigstens für eine Weile, in die Gemeinschaft<br />

unseres Fleisches und Bluts aufgenommen.


<strong>Aphorism</strong> n=12022 id='VIII.11[293]' kgw='VIII-2.355' ksa='13.113'<br />

Gemeinsamer Blutgenuß das älteste Mittel der Verbündung,<br />

der Bundschließung. Die Eßgesellschaft ist Sakralgemeinschaft.<br />

Page Break KGW='VIII-2.356' KSA='13.114'<br />

Das Thier, welches das Bundesblut liefert, ist ein Opfer; die<br />

Bundschließung geschieht durch jedes Opfer.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12023 id='VIII.11[294]' kgw='VIII-2.356' ksa='13.114'<br />

Das „Christenthum“ ist etwas Grundverschiedenes von dem<br />

geworden, was sein Stifter that und wollte<br />

es ist die große antiheidnische Bewegung des Alterthums,<br />

formulirt mit Benutzung von Leben, Lehre und „Worten“<br />

des Stifters des Christenthums, aber in einer absolut<br />

willkürlichen Interpretation nach dem Schema grundverschiedener<br />

Bedürfnisse: übersetzt in die Sprache aller<br />

schon bestehenden unterirdischen Religionen —<br />

es ist die Heraufkunft des Pessimismus, während Jesus den<br />

Frieden und das Glück der Lämmer bringen wollte<br />

: und zwar des Pessimismus der Schwachen, der Unterlegenen,<br />

der Leidenden, der Unterdrückten<br />

ihr Todfeind ist 1) Macht in Charakter, Geist und<br />

Geschmack; die „Weltlichkeit“ 2) das klassische „Glück“, die<br />

vornehme Leichtfertigkeit und Skepsis, der harte Stolz, die<br />

excentrische Ausschweifung und die kühle Selbstgenügsamkeit des<br />

Weisen, das griechische Raffinement in Gebärde, Wort und Form,<br />

— ihr Todfeind ist der Römer ebensosehr als der Grieche.<br />

Versuch des Antiheidenthums, sich philosophisch<br />

zu begründen und möglich zu machen: Witterung für die<br />

zweideutigen Figuren der alten Cultur, vor allem für Plato, diesen<br />

Antihellenen und Semiten von Instinkt … Insgleichen für den<br />

Stoicismus, der wesentlich das Werk von Semiten ist ( — die<br />

„Würde“ als Strenge, Gesetz, die Tugend als Größe,<br />

Selbstverantwortung, Autorität, als höchste<br />

Personal-Souveränität — das ist semitisch:<br />

der Stoiker ist ein arabischer Sheik in griechische Windeln<br />

und Begriffe gewickelt<br />

Page Break KGW='VIII-2.357' KSA='13.115'


<strong>Aphorism</strong> n=12024 id='VIII.11[295]' kgw='VIII-2.357' ksa='13.115'<br />

Das Christenthum hat von vornherein das Symbolische in<br />

Cruditäten umgesetzt:<br />

1) der Gegensatz „wahres Leben“ und „falsches“ Leben:<br />

mißverstanden als „Leben diesseits“ und „Leben jenseits“<br />

2) der Begriff „ewiges Leben“ im Gegensatz zum Personal-Leben<br />

der Vergänglichkeit als „Personal-Unsterblichkeit“<br />

3) die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und<br />

Trank nach hebräisch-arabischer Gewohnheit als „Wunder<br />

der Transsubstantiation“<br />

4) die „Auferstehung“ — als Eintritt in das „wahre Leben“, als<br />

„Wiedergeboren“ — daraus: eine historische Eventualität,<br />

die irgendwann nach dem Tode eintritt<br />

5) die Lehre vom Menschensohn als dem „Sohn Gottes“, das<br />

Lebens-Verhältniß zwischen Mensch und Gott — daraus: die<br />

„zweite Person der Gottheit“ — gerade das<br />

weggeschafft: das Sohnverhältniß jedes Menschen zu Gott,<br />

auch des niedrigsten<br />

6) die Erlösung durch den Glauben, nämlich daß es keinen<br />

anderen Weg zur Sohnschaft Gottes giebt als die von Christus<br />

gelehrte Praxis des Lebens — umgekehrt in den Glauben,<br />

daß man an irgend eine wunderbare Abzahlung der<br />

Sünde zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen<br />

sondern durch die That Christi bewerkstelligt ist<br />

: damit mußte „Christus am Kreuze“ neu gedeutet werden.<br />

Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache … es<br />

war nur ein Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit,<br />

und Gesetze der Welt zu verhalten habe — nicht sich<br />

wehrend … Darin lag das Vorbild.<br />

Das Christenthum nimmt den Kampf nur auf, der schon<br />

gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion<br />

bestand<br />

Thatsächlich ist diese ganze Umbildung eine übersetzung<br />

Page Break KGW='VIII-2.358' KSA='13.116'<br />

in die Bedürfnisse und das Verständniß-Niveau der damaligen<br />

religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras,<br />

Dionysos, die „große Mutter“ glaubte und welche von<br />

einer Religion verlangte<br />

1) die Jenseits-Hoffnung<br />

2) die blutige Phantasmagorie des Opferthiers „das<br />

Mysterium“<br />

3) die erlösende That, die heilige Legende<br />

4) den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische<br />

„Reinigung“<br />

5) eine Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung<br />

kurz: das Christenthum paßt sich an das schon bestehende<br />

überall eingewachsene Anti-Heidenthum an, an die


Culte, welche von Epicur bekämpft worden sind … genauer, an<br />

die Religionen der niederen Masse der Frauen,<br />

der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.<br />

Wir haben also als Mißverständniß:<br />

1) die Unsterblichkeit der Person<br />

2) die angebliche andere Welt<br />

3) die Absurdität des Strafbegriffs und Sühnebegriffs im<br />

Centrum der Daseins-Interpretation<br />

4) die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung<br />

die Aufreißung der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder,<br />

nur die Prostration der tiefsten Selbstverachtung hinweghilft<br />

5) die ganze Welt der verdorbenen Imagination und des krankhaften<br />

Affekts, statt der liebevollen einfältigen Praxis, statt<br />

eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes …<br />

6) eine kirchliche Ordnung, mit Priesterschaft, Theologie,<br />

Cultus, Sakramenten; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth<br />

bekämpft hatte<br />

7) das Wunder in Allem und Jedem, der Aberglaube: während<br />

gerade das Auszeichnende des Judenthums und des<br />

Page Break KGW='VIII-2.359' KSA='13.117'<br />

ältesten Christenthums sein Widerwille gegen die<br />

Wunder ist, seine relative Rationalität<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12025 id='VIII.11[296]' kgw='VIII-2.359' ksa='13.117'<br />

Journal des Goncourt I.<br />

„ein Gott à l'américaine, der Gott auf eine ganz menschliche<br />

Weise ist, der Brille trägt, über den es Zeugnisse der kleinen<br />

Zeitungen giebt“ — ein Gott in Photographie —<br />

… sie verlangt Neuigkeiten über Ihre Seele „sind Sie im<br />

Zustand der Gnade?“, wie als ob sie fragte: „haben Sie<br />

Schnupfen?“<br />

Joubert: in seinen Gedanken fehlt die französische Bestimmtheit.<br />

Das ist weder klar noch franc. Das riecht nach der kleinen<br />

Genfer Schule: Mad. Necker, Tracy, Jouffroy. Der schlechte<br />

Sainte-Beuve kommt von da. Joubert dreht die Ideen, wie man<br />

du buis dreht.<br />

— man hat von Zeit zu Zeit das Bedürfniß d'un encanaillement<br />

de l'esprit<br />

— es fehlt der breite Pinsel in seinem Gespräch; lauter<br />

hübsche, kleine, schüchterne Dinge (von Sainte-Beuve)


— haben die Alten nach einer schönen Realität gearbeitet?<br />

waren sie vielleicht gar keine „Idealisten“?<br />

— sie suchen eine Null, um ihren Werth zu verzehnfachen<br />

— in früher Jugend, wenn die ganze Lebhaftigkeit der<br />

Expansion durch große Einsamkeit zurücktritt —<br />

Page Break KGW='VIII-2.360' KSA='13.118'<br />

„man fühlt sich in einer Synagoge wie im Orient, in einer<br />

glücklichen Religion. Eine Art Familiarität mit Gott, kein<br />

Gebet, wie in der christlichen Kirche, wo man immer etwas<br />

vergeben haben will …<br />

Die „4 Syndics“ von Rembrandt; die Marter des Heiligen<br />

Marc von Tintoretto — die schönsten Bilder der Welt<br />

für die Goncourt.<br />

Der englische Comfort ein wunderbares Verständniß für<br />

das leibliche Wohl, aber von einer Art Glück, wie es Blinde<br />

brauchen können: das Auge findet darin keine Genüge.<br />

NB: rien de si mal écrit qu'un beau discours.<br />

In Salammbô kommt Flaubert zum Vorschein, geschwollen,<br />

deklamatorisch, melodramatisch, verliebt in die dicke Farbe<br />

— der Einzige, der den Fund einer Sprache gemacht hat, mit<br />

der man von den alten Zeiten sprechen kann: Maurice de Guérin<br />

im „Centaur“<br />

— das Volk liebt weder das Wahre, noch das Einfache: es<br />

liebt den Roman und den Charlatan.<br />

Es ist sehr merkwürdig, daß die vier Männer les plus purs de<br />

tout métier et de tout industrialisme, les quatre plumes les plus<br />

entièrement vouées à l'art gerade vor die Banken der police<br />

correctionelle gekommen sind: Baudelaire, Flaubert und les<br />

Goncourt.<br />

Wir haben alle Verkehrsmittel verzehnfacht in der<br />

Geschwindigkeit: zugleich aber das Bedürfniß nach Schnelligkeit<br />

in uns verhundertfacht …<br />

Page Break KGW='VIII-2.361' KSA='13.119'<br />

Je hais tout ce qui est coeur imprimé, mis sur du papier.<br />

Gavarni.


Eine Corruption alter Civilisationen, nur noch an Werken<br />

des Menschen Vergnügen zu empfinden und à s'embêter des<br />

oeuvres de Dieu.<br />

wir sind le siècle des chefs-d'oeuvre de l'irrespect.<br />

das Glück im Licht von Algier, die schmeichlerische Art<br />

Licht: wie man Heiterkeit athmet …<br />

Die französische mélancholie contemporaine, une mélancolie(1656)<br />

non suicidante, non blasphématrice, non désespérée: une<br />

tristesse, qui n'est pas sans douceur et où rit un coin d'ironie.<br />

Melancholien von(1657) Hamlet, Lara, Werther, René selbst sind die<br />

Melancholien von nördlicheren Völkern als wir sind.<br />

Der Typus von 1830: energische Züge, milder Ausdruck, ein<br />

weiches Lächeln, das euch streichelt; gewöhnt an die Schlacht, an<br />

noble Kämpfe, an glühende Sympathien, an die laute Zustimmung<br />

eines jungen Publikums; und dabei im Grund von sich die<br />

Trauer und die Reue tragend, nicht zu trösten, zerrissenen<br />

Herzens; die politischen Ideen von 1848 haben ihn einen Augenblick<br />

wieder in Fieber gesetzt. Seitdem die Langeweile und die<br />

Nichtbeschäftigung seiner Gedanken und Aspirationen. Ein<br />

distinguirter Geist, an einem friedlichen Heimweh nach einem Ideal in<br />

Politik, Litteratur, Kunst leidend, sich mit halber Stimme<br />

beklagend und nur an sich selbst sich rächend für die Vision der<br />

unvollkommenheit der Dinge hier unten.<br />

Im modernen Gesetzbuch, im Code ist die Ehre ebenso<br />

vergessen wie la fortune. Pas un mot de l'arbitrage de l'honneur:<br />

Page Break KGW='VIII-2.362' KSA='13.120'<br />

das Duell usw. Was die fortune von heute betrifft, qui est presque<br />

toute in Börsenoperationen dans des opérations de bourse(1658), de<br />

courtage, d'agiotage, de coulisse ou d'agences de change, so ist<br />

nichts vorgesehen, es zu schützen und zu vertheidigen: keine<br />

Reglementation de ces trafics journaliers; die Tribunale<br />

incompetent für alle Börsen-Transaktionen; der Wechselagent giebt<br />

kein reçu.<br />

La Bruyère: „on peut se servir des coquins, mais l'usage en<br />

doit être discret.“<br />

Wie hat man den Muth, zu einem Theater-Publikum zu sprechen?<br />

Das Stück wird abgeschätzt durch eine masse d'humanité<br />

réunie, une bêtise agglomérée… (Vom Buche nimmt man in der<br />

Einsamkeit Kenntniß — )<br />

„Wenn man gut ist, so erscheint man feige: man muß böse<br />

sein, damit man für muthig gilt“: ein Thema für Napoleon III


„Vor einer guten Landschaft fühle ich mich mehr à la<br />

campagne als auf freiem Feld und im vollen Walde“ Wir sind zu<br />

civilisirt, zu alt, zu sehr verliebt in das factice und artificiel, daß<br />

wir durch das Grüne der Erde und Blaue des Himmels amüsirt<br />

würden.<br />

Flaubert insgleichen: horreur auf dem Rigi.<br />

Litteratur des 20. Jahrhunderts: verrückt und mathematisch<br />

zugleich, analytisch-phantastisch: die Dinge wichtiger und im<br />

Vordergrund, nicht mehr die Wesen; die Liebe abgeschafft (schon<br />

bei Balzac tritt das Geld in den Vordergrund): mehr von der<br />

Geschichte im Kopfe erzählend als von der im Herzen.<br />

Ces désespérances, ces doutes, non de nous, ni de nos<br />

ambitions, mais du moment et des moyens, au lieu de nous abaisser<br />

Page Break KGW='VIII-2.363' KSA='13.121'<br />

vers les concessions, font en nous, plus entière, plus intraitable,<br />

plus hérissée, la conscience littéraire. Et, un instant,<br />

nous agitons si nous ne devrions pas penser et écrire absolument<br />

pour nous, laissant à d'autres le bruit, l'éditeur, le public. Mais,<br />

comme dit Gavarni: on n'est pas parfait.<br />

Journal des Goncourt I, p. 147.<br />

das Café ein rudimentärer Zustand: für 40 ct. Heiterkeit,<br />

mit einem Gas vielleicht (gas exhilarant): une demi-tasse de<br />

paradis<br />

Gavami: das ist grausam, aber so ist es, ich habe nicht für<br />

zwei sous vénération in mir. (wohl aber sensitivité —)<br />

Flaubert: de la form naît l'idée, höchste Formel der Schule,<br />

nach Théophile Gautier<br />

il faut à des hommes comme nous, une femme peu élevée, peu<br />

éduquée, qui ne soit que gaieté et esprit naturel, parce que<br />

celle-là nous réjouira et nous charmera ainsi qu'un agréable animal,<br />

auquel nous pourrons nous attacher.<br />

Die Zeit, wo alle Männer lesen und alle Frauen Piano spielen<br />

werden, wird die Welt in voller Auflösung sein; sie hat ein Wort<br />

aus dem Testament des Cardinal de Richelieu vergessen: „ainsi<br />

qu'un corps qui auroit des yeux en toutes ses parties, seroit<br />

monstrueux, de même un État le seroit, si tout le sujets étoient<br />

savants. On y verroit aussi peu d'obéissance que l'orgueil et la<br />

présomption y seroient ordinaires.“<br />

Kein Maler mehr. Eine Armee von chercheurs d'idées ingénieuses.<br />

De l'esprit, non de touche, mais dans le choix du sujet.


Litteratur des Pinsels.<br />

Page Break KGW='VIII-2.364' KSA='13.122'<br />

Raphael hat den klassischen(1659) Typus der Jungfrau gefunden<br />

durch die Vollendung des vulgären Typus — durch den absoluten<br />

Gegensatz zur Schönheit, wie sie le Vinci suchte in dem<br />

Exquisen des Typus und der Seltenheit des Ausdrucks.<br />

Eine Art ganz menschlicher Heiterkeit, eine runde Schönheit,<br />

eine fast junonische Gesundheit. Sie wird ewig populär<br />

bleiben.<br />

Voltaire der letzte Geist des alten Frankreich, Diderot der<br />

erste des neuen. Voltaire hat das Epos, die Fabel, die kleinen<br />

vers, die Tragödie zu Grabe getragen. Diderot hat den modernen<br />

Roman, das Drama und die Kunstkritik inaugurirt.<br />

Skeptiker sein, den Skepticismus bekennen — ein schlechter<br />

Weg, seinen Weg zu machen! Das Mittel der Skepsis ist die<br />

Ironie, die Formel die am wenigsten aux épais, aux obtus, aux<br />

sots, aux niais, aux masses zugänglich ist? Dann choquirt diese<br />

Negation, dieser Zweifel an Allem, die Illusionen Aller, zum<br />

mindesten, die, welche alle affichiren: die Selbstzufriedenheit der<br />

Menschheit mit sich, welche die Zufriedenheit mit sich<br />

voraussetzt, — diesen Frieden des menschlichen Gewissens, welchen der<br />

bourgeois affektirt wie den Frieden seines persönlichen<br />

Gewissens auszugeben. —<br />

Im Grunde dieses metaphysischen Monologs fühle ich die<br />

Präoccupation — „la préoccupation et la terreur du au-delà de<br />

la mort, que donne aux esprits les plus émancipés l'éducation<br />

religieuse.“<br />

Der Mann hat das Weib gemacht, indem er ihr alle seine<br />

Poesien giebt … Gavarni<br />

Bei Clowns und Seiltänzern ihr Metier ihre Pflicht: die einzigen<br />

Akteure, deren Talent unbestritten und absolut ist, wie das<br />

Page Break KGW='VIII-2.365' KSA='13.123'<br />

der Mathematiker oder mehr noch comme le saut périlleux.<br />

Denn hierbei giebt es keinen falschen Anschein von Talent:<br />

entweder fällt man oder man fällt nicht.<br />

Rien de plus charmant, de plus exquis que l'esprit français<br />

des étrangers, l'esprit de Galiani, du prince de Ligne, de Henri<br />

Heine.<br />

Flaubert: „après tout, le travail, c'est encore le meilleur<br />

moyen d'escamoter la vie.“


Das, was bei Victor Hugo frappirt, der die Ambition hat, für<br />

einen Denker gelten zu wollen: das ist die Abwesenheit<br />

des Gedankens. Das ist kein Denker, das ist ein Naturwesen<br />

(un naturaliste sagt Flaubert): er hat den Saft der Bäume in<br />

den Adern —<br />

De l'amoureux à la mode. 1830 le ténébreux, nach dem<br />

Einfluß Antony's. Der dominirende Schauspieler giebt den Ton<br />

für die Verführung in der Liebe an. 1860 ist es der farceur (nach<br />

dem Vorbilde Grassot)<br />

Es giebt keine Arme mehr für die Landarbeit. Die Erziehung<br />

zerstört die Rasse der Arbeiter und folglich den Ackerbau …<br />

wahre Freiheit für das Individuum giebt es nur, so lange es<br />

noch nicht in eine vollkommen civilisirte Gesellschaft enrégimenté<br />

ist: in ihr verliert es den ganzen Besitz von sich, von seinen<br />

Gütern, von seinem Guten. Der Staat hat, von 1789 an,<br />

teufelsmäßig die Rechte von jedem absorbirt, und ich frage mich,<br />

ob nicht, unter dem Namen der vollkommenen Herrschaft des<br />

Staates, uns die Zukunft noch eine ganz andere Tyrannei<br />

vorbehält, servi par le despotisme d'une bureaucratie française —<br />

Page Break KGW='VIII-2.366' KSA='13.124'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12026 id='VIII.11[297]' kgw='VIII-2.366' ksa='13.124'<br />

Die halbseitige Tüchtigkeit: oder der gute Mensch.<br />

Einem Versuche, von der Gottheit alle „bösen“ Eigenschaften<br />

und Absichten wegzudenken, entspricht ein Versuch, den<br />

Menschen auf die Hälfte zu reduziren, welche seine guten<br />

Eigenschaften ausmachen: er soll unter keinen Umständen schaden,<br />

schaden wollen …<br />

Der Weg dazu: die Verschneidung der Möglichkeit zur<br />

Feindschaft, die Entwurzelung des ressentiment, der<br />

Frieden als der einzige und einzig gebilligte innere<br />

Zustand …<br />

Der Ausgangspunkt ist völlig ideologisch: man hat „Gut“<br />

und „Böse“ als Widerspruch angesetzt, man hält es nunmehr für<br />

folgerichtig, daß der Gute „dem Bösen“ bis in die letzte Wurzel<br />

entsagt und widerstrebt, man meint damit, zur Ganzheit, zur<br />

Einheit, zur Stärke zurückzukehren und seiner eigenen inneren<br />

Anarchie und Selbstauflösung zwischen entgegengesetzten<br />

Werth-Antrieben ein Ende zu machen.<br />

Aber: man hält den Krieg für böse — und führt doch<br />

Krieg! … Mit anderen Worten: man hört jetzt erst recht nicht


auf, zu hassen, Nein zu sagen, Nein zu thun: der Christ z.B.<br />

haßt die Sünde (nicht den Sünder: wie sie fromme List<br />

auseinanderhält) — Und gerade durch diese falsche Trennung „gut“<br />

und „böse“ ist die Welt des Hassenswerthen, Ewig-zu-Bekämpfenden<br />

ungeheuer angewachsen. In praxi sieht „der Gute“ sich<br />

umringt vom Bösen, sieht in allem Thun Böses — er endet damit,<br />

die Natur für böse, den Menschen für verdorben, das Gutsein<br />

als Gnade zu verstehn.<br />

— So entsteht ein mit Haß und Verachtung überladener<br />

Typus, der sich aber die Mittel abgeschnitten hat,<br />

Krieg in der That und mit Waffen zu führen: eine<br />

wurmstichige Art von „Auserwählten“, Friedensaposteln<br />

Page Break KGW='VIII-2.367' KSA='13.125'<br />

I. Der vollkommene „Hornochs“.<br />

Der stoische Typus. Oder: der vollkommene Hornochs.<br />

Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche,<br />

der Frieden als Unbeugsamkeit eines langen Willens — die tiefe<br />

Ruhe, der Vertheidigungszustand, der Berg, das kriegerische<br />

Mißtrauen — die Festigkeit der Grundsätze; die Einheit von<br />

Willen und Wissen die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus.<br />

Der consequente Typus: hier wird begriffen, daß man<br />

auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen<br />

dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe:<br />

daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt,<br />

nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven<br />

Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort<br />

und That; daß man durch eine Superfötation der friedlichen,<br />

gütigen, versöhnlichen, hülf- und liebreichen Zustände den Boden<br />

der anderen Zustände verarmt …, daß man eine fortwährende<br />

Praxis nöthig hat<br />

was ist hier erreicht? — Der buddhistische Typus: oder die<br />

vollkommene Kuh<br />

Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer<br />

Fanatismus herrscht d.h. wenn das Böse nicht um seiner selber<br />

willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgiebt zu<br />

Zuständen, welche uns wehe thun (Unruhe, Arbeit, Sorge,<br />

Verwicklung, Abhängigkeit.)<br />

Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht<br />

die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff „Sünde“.<br />

II.<br />

Der inconsequente Typus: man führt Krieg gegen das<br />

Böse — man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen<br />

nicht die moralische und Charakter-Consequenz habe, die sonst<br />

der Krieg mit sich bringt (und derentwegen man ihn als böse<br />

verabscheut) Thatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das<br />

Page Break KGW='VIII-2.368' KSA='13.126'


Böse viel gründlicher als irgend eine Feindseligkeit von Person<br />

zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar „die Person“ als<br />

Gegner wenigstens imaginär wieder ein (der Teufel, die bösen<br />

Geister usw.) Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spioniren<br />

gegen alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs<br />

sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten<br />

Verfassung: so daß jetzt „Wunder“, Lohn, Ekstase,<br />

Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden …<br />

Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12027 id='VIII.11[298]' kgw='VIII-2.368' ksa='13.126'<br />

Wie falsch, wie verlogen waren die Menschen immer über<br />

die Grundthatsachen ihrer inneren Welt! Hier kein Auge zu<br />

haben, hier den Mund halten oder den Mund aufthun —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12028 id='VIII.11[299]' kgw='VIII-2.368' ksa='13.126'<br />

Die großen Worte<br />

Die großen Männer<br />

Die großen Zeiten.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12029 id='VIII.11[300]' kgw='VIII-2.368' ksa='13.126'<br />

„Objektivität“ am Philosophen: moralischer Indifferentism<br />

gegen sich, Blindheit gegen die guten und schlimmen Folgen:<br />

Unbedenklichkeit im Gebrauch gefährlicher Mittel; Perversität<br />

und Vielheit des Charakters als Vorzug errathen und<br />

ausgenützt —<br />

Meine tiefe Gleichgültigkeit gegen mich: ich will keinen<br />

Vortheil aus meinen Erkenntnissen und weiche auch den Nachtheilen<br />

nicht aus, die sie mit sich bringen — hier ist eingerechnet<br />

das, was man Verderbniß des Charakters nennen könnte;<br />

diese Perspektive liegt außerhalb: ich handhabe meinen Charakter,<br />

aber denke weder daran, ihn zu verstehen, noch ihn zu<br />

verändern — der persönliche calcul der Tugend ist mir nicht<br />

einen Augenblick in den Kopf gekommen. Es scheint mir, daß<br />

Page Break KGW='VIII-2.369' KSA='13.127'<br />

man sich die Thore der Erkenntniß zumacht, sobald man sich<br />

für seinen persönlichen Fall interessirt — oder gar für das „Heil“<br />

seiner Seele! … Man muß seine Moralität nicht zu wichtig<br />

nehmen und sich ein bescheidenes Anrecht auf deren Gegentheil


nicht nehmen lassen …<br />

Eine Art Erbreichthum an Moralität wird hier<br />

vielleicht vorausgesetzt: man wittert, daß man viel davon<br />

verschwenden und zum Fenster hinauswerfen kann, ohne dadurch<br />

sonderlich zu verarmen. Niemals sich versucht fühlen, „schöne<br />

Seelen“ zu bewundern. Sich ihnen immer überlegen wissen. Den<br />

Tugend-Ungeheuern mit einem innerlichen Spott begegnen;<br />

déniaiser la vertu — geheimes Vergnügen.<br />

Sich um sich selber rollen; kein Wunsch „besser“ oder<br />

überhaupt nur „anders“ zu werden; zu interessirt, um nicht Fangarme<br />

und Netze jeder Moralität nach den Dingen auszuwerfen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12030 id='VIII.11[301]' kgw='VIII-2.369' ksa='13.127'<br />

Diese Figur ist nicht aus einem Guß. Nicht nur daß man sie<br />

mit allerlei Weisheit- und Sprüchwort-Biedermännerei verkleidet<br />

hat, so daß sie beinahe zum „Moralisten“ vulgarisirt ist: das<br />

Schlimme ist, daß man den Typus selbst nicht unangetastet hat.<br />

Man erräth, wie früh diese Figur verschiedenen Absichten von<br />

vornherein hat dienen müssen: in kurzer Zeit schon gab es bloß<br />

noch eine Tradition dieser bereits zurechtgemachten Figur. Es<br />

scheint, daß der alte typische Prophet Israels stark auf diese<br />

Zeichnung abgefärbt hat: die unevangelischen Züge, der Zorn,<br />

die Verfluchungen, die ganze so unwahrscheinliche Prophezeiung<br />

des „Gerichts“, der ganze Wüsten-Typus, die zügellose Sprache<br />

gegen Pharisäer und Schriftgelehrte, das Austreiben aus dem<br />

Tempel<br />

— auch die Verfluchung des Feigenbaums — der typische Fall,<br />

wo und wie man nicht ein Wunder thun soll<br />

Du sollst nicht fluchen. Du sollst nicht zaubern. Du sollst<br />

keine Rache üben. Du sollst nicht lügen ( — denn daß eine Sache,<br />

Page Break KGW='VIII-2.370' KSA='13.128'<br />

bloß deshalb, weil sie für wahr gehalten wird, die Gefälligkeit<br />

hätte, zur Wahrheit zu werden, ist eine Lüge: man erlebt die<br />

demonstratio ad absurdum jeden Tag zu drei Malen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12031 id='VIII.11[302]' kgw='VIII-2.370' ksa='13.128'<br />

Hier ist jedes Wort Symbol; es giebt im Grunde keine Realität<br />

mehr. Die Gefahr ist außerordentlich, sich über diese Symbole<br />

zu vergreifen. Fast alle kirchlichen Begriffe und Werthungen<br />

führen irre: man kann das neue Testament gar nicht gründlicher<br />

mißverstehen als es die Kirche mißverstanden hat. Ihr<br />

fehlten alle Voraussetzungen zu einem Verständniß: die<br />

Historiker-Neutralität, welche sich den Teufel darum kümmert, ob „das


Heil der Seele“ am Worte hängt<br />

Die Kirche hat nie den guten Willen gehabt, das neue<br />

Testament zu verstehen: sie hat sich mit ihm beweisen wollen. Sie<br />

suchte und sucht hinter demselben ein theologisches System: sie<br />

setzt es voraus, — sie glaubt an die Eine Wahrheit. Es bedurfte<br />

erst des neunzehnten Jahrhunderts — le siècle de l'irrespect —<br />

um einige der vorläufigsten Bedingungen wieder zu gewinnen,<br />

um das Buch als Buch (und nicht als Wahrheit) zu lesen, um<br />

diese Geschichte nicht als „heilige Geschichte“, sondern als eine<br />

Teufelei von Fabel, Zurechtmachung, Fälschung, Palimpsest,<br />

Wirrwarr, kurz als Realität wieder zu erkennen …<br />

Man giebt sich nicht genug Rechenschaft darüber, in welcher<br />

Barbarei der Begriffe wir Europäer noch leben.<br />

NB: Daß man hat glauben können, „das Heil der Seele“<br />

hänge an einem Buche! … Und man sagt mir, man glaube das<br />

heute noch.<br />

Was hilft alle wissenschaftliche Erziehung, alle Kritik und<br />

Hermeneutik, wenn ein solcher Widersinn von Bibel-Auslegung,<br />

wie ihn die Kirche aufrecht erhält, noch nicht die Schamröthe zur<br />

Leibfarbe gemacht hat?<br />

Page Break KGW='VIII-2.371' KSA='13.129'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12032 id='VIII.11[303]' kgw='VIII-2.371' ksa='13.129'<br />

Liebe<br />

Seht hinein: diese Liebe, dieses Mitleid der Weiber — giebt<br />

es etwas Egoistischeres? … Und wenn sie sich opfern, ihre Ehre,<br />

ihren Ruf, wem opfern sie sich? dem Mann? oder nicht vielmehr<br />

einem zügellosen Bedürfnisse?<br />

— das sind genau so selbstsüchtige Begierden: ob sie nun<br />

Anderen wohlthun und Dankbarkeit anpflanzen …<br />

— in wiefern eine derartige Hyperfötation Einer Werthung<br />

alles übrige heiligen kann!!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12033 id='VIII.11[304]' kgw='VIII-2.371' ksa='13.129'<br />

Wir würden Recht haben, davon chokirt zu sein: ein solcher<br />

Enthusiasmus wie der Theklas ist etwas, das man unmöglich im<br />

Princip gutheißen kann. Wir können uns durch das Talent des<br />

Dichters dazu fortreißen lassen, mit einem einzelnen Individuum<br />

zu sympathisiren, das ihn erfährt: aber er kann nicht als Basis<br />

für ein allgemeines System dienen et nous n'aimons en France<br />

que ce qui peut être d'une application universelle.<br />

Die Theater-Moral in Frankreich ist viel rigoröser als die<br />

in Deutschland. Cela tient à ce, que les Allemands prennent le


sentiment pour base de la morale, tandis que pour nous cette<br />

base est la raison. Un sentiment sincère, complet, sans bornes,<br />

leur paraît, non seulement excuser ce qu'il inspire, mais l'ennoblir<br />

et, si j'ose employer cette expression, le sanctifier. Wir haben viel<br />

strengere Principien und wir entfernen uns von ihnen niemals<br />

in der Theorie. Das Gefühl, das eine Pflicht verkennt, scheint<br />

uns nur ein Fehler mehr; wir würden leichter dem Interesse<br />

verzeihen, weil das Interesse in seine überschreitungen mehr<br />

Geschick und Decenz legt. Das Gefühl fordert die Meinung<br />

heraus, brave l'opinion, und sie wird dadurch gereizt; das<br />

Interesse zucht sie zu täuschen, indem es sie schont, und selbst<br />

wenn sie die Täuschung entdeckt, weiß sie ihren Dank für diese<br />

Art Huldigung.<br />

Page Break KGW='VIII-2.372' KSA='13.130'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12034 id='VIII.11[305]' kgw='VIII-2.372' ksa='13.130'<br />

Nous n'envisageons l'amour que comme les passions humaines,<br />

c'est-à-dire ayant pour effet d'égarer notre raison, ayant<br />

pour but de nous procurer des jouissances. B. Constant.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12035 id='VIII.11[306]' kgw='VIII-2.372' ksa='13.130'<br />

Die Regel der Einheiten macht die Composition sehr schwierig:<br />

elles circonscrivent les tragédies, surtout historiques, dans<br />

un espace. — Sie zwingen den Dichter oft, in den Ereignissen<br />

und den Charakteren, die Wahrheit der Gradation, die Delikatesse<br />

der nuances zu vernachlässigen; es giebt Lücken, zu<br />

brüske übergänge.<br />

Die Franzosen malen nur Ein Faktum oder Eine Leidenschaft.<br />

Sie haben ein Bedürfniß nach Einheit. Ils repoussent des<br />

caractères tout ce qui ne sert pas à faire ressortir la passion<br />

qu'ils veulent peindre; ils suppriment de la vie antérieure de<br />

leurs héros tout ce qui ne s'enchaîne pas nécessairement au fait,<br />

qu'ils ont choisi.<br />

Das französische System präsentirt le fait qui forme le sujet<br />

und ebenso la passion, qui est le mobile de chaque tragédie, in<br />

einem vollkommenen isolement. Einheit des Interesses,<br />

der Perspektive. Der Zuschauer erkennt, daß das<br />

nicht eine historische Personnage ist, sondern un héros factice,<br />

une créature d'invention —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12036 id='VIII.11[307]' kgw='VIII-2.372' ksa='13.130'


Bedarf die Liebe der Unruhe und Ängste? ist ihr die<br />

Eifersucht als Dünger nöthig? strebt sie sanft in die reine und<br />

friedliche Luft der Träume? — Im anderen Falle wäre ein<br />

geschickter und desinteressirter Egoism die erste der<br />

Tugenden, le plus raisonnable des devoirs —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12037 id='VIII.11[308]' kgw='VIII-2.372' ksa='13.130'<br />

Les circonstances sont bien peu de chose, le caractère est tout.<br />

Page Break KGW='VIII-2.373' KSA='13.131'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12038 id='VIII.11[309]' kgw='VIII-2.373' ksa='13.131'<br />

On change de situation; on ne se corrige pas en se deplaçant.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12039 id='VIII.11[310]' kgw='VIII-2.373' ksa='13.131'<br />

Die ganze Auffassung vom Rang der Leidenschaften:<br />

wie als ob das Rechte und Notmale sei, von der Vernunft<br />

geleitet zu werden — während die Leidenschaften das<br />

Unnormale, Gefährliche, Halbthierische sind, überdies, ihrem Ziele<br />

nach, nichts anderes als Lust-Begierden …<br />

Die Leidenschaft ist entwürdigt 1) wie als ob sie nur<br />

ungeziemender Weise, und nicht nothwendig und immer das<br />

mobile sei 2) insofern sie etwas in Aussicht nimmt, was keinen<br />

hohen Werth hat, ein Vergnügen …<br />

Die Verkennung von Leidenschaft und Vernunft, wie<br />

als ob letztere ein Wesen für sich sei und nicht vielmehr ein<br />

Verhältnißzustand verschiedener Leidenschaften und Begehrungen;<br />

und als ob nicht jede Leidenschaft ihr Quantum Vernunft in<br />

sich hätte …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12040 id='VIII.11[311]' kgw='VIII-2.373' ksa='13.131'<br />

Indem man nur Eine Leidenschaft malt (und nicht einen<br />

ganzen individuellen Charakter) erhält man tragische Wirkungen,<br />

weil die individuellen Charaktere, die immer gemischt<br />

sind, der Einheit des Eindrucks schaden. Aber die Wahrheit<br />

verliert dabei. Man fragt sich, was von den Heroen übrigbleiben<br />

würde, wenn sie nicht von dieser Leidenschaft bewegt<br />

wären: sicherlich nur wenig … Der Charaktere sind<br />

unzählige. Die Theater-Leidenschaften eine geringe Zahl.


„Polyphonte le tyran („der Tyrann“) est un genre: le tyran<br />

Richard III un individu“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12041 id='VIII.11[312]' kgw='VIII-2.373' ksa='13.131'<br />

Zukünftiges. Gegen die Romantik der großen „Passion“.<br />

Zu begreifen, wie zu jedem „klassischen“ Geschmack ein<br />

Quantum Kälte, Lucidität, Härte hinzugehört: Logik vor allem,<br />

Page Break KGW='VIII-2.374' KSA='13.132'<br />

Glück in der Geistigkeit, „drei Einheiten“, Concentration —<br />

Haß gegen Gefühl, Gemüth, esprit, Haß gegen das Vielfache,<br />

Unsichere, Schweifende, Ahnende so gut als gegen das Kurze<br />

Spitze Hübsche Gütige<br />

Man soll nicht mit künstlerischen Formeln spielen: man soll<br />

das Leben umschaffen, daß es sich nachher formuliren muß …<br />

Es ist eine heitere Comödie, über die erst jetzt wir lachen<br />

lernen, die wir jetzt erst sehen: daß die Zeitgenossen Herders,<br />

Winckelmanns, Goethes und Hegels in Anspruch nahmen, das<br />

klassische Ideal wieder entdeckt zu haben …<br />

Und zu gleicher Zeit Shakespeare!<br />

— und dasselbe Geschlecht hatte sich von der klassischen<br />

Schule der Franzosen auf schnöde Art losgesagt!<br />

— als ob nicht das Wesentliche so gut hier wie dorther hätte<br />

gelernt werden können! …<br />

Aber man wollte die „Natur“, die „Natürlichkeit“: oh<br />

Stumpfsinn! man glaubte, die Classicität sei eine Art<br />

Natürlichkeit!<br />

Ohne Vorurtheil und Weichlichkeit zu Ende denken, auf<br />

welchem Boden ein klassischer Geschmack wachsen kann.<br />

Verhärtung, Vereinfachung, Verstärkung, Verböserung des<br />

Menschen: so gehört es zusammen. Die logisch-psychologische<br />

Vereinfachung. Die Verachtung des Details, des Complexen, des<br />

Ungewissen —<br />

Die Romantiker in Deutschland protestirten nicht gegen<br />

den Classicismus, sondern gegen Vernunft, Aufklärung,<br />

Geschmack, 18. Jahrhundert.<br />

Die Sensibilität der romantisch-Wagnerischen Musik:<br />

Gegensatz, die klassische Sensibilität …<br />

der Wille zur Einheit (weil die Einheit tyrannisirt: nämlich<br />

die Zuhörer, Zuschauer) aber Unfähigkeit, sie in der Hauptsache<br />

tyrannisiren zu lassen: nämlich in Hinsicht auf das Werk selbst<br />

(auf Verzichtleisten, Kürzen, Klären, Vereinfachen.<br />

Page Break KGW='VIII-2.375' KSA='13.133'


die überwältigung durch Masse (Wagner, Victor Hugo,<br />

Zola, Taine) und nie mit der Größe<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12042 id='VIII.11[313]' kgw='VIII-2.375' ksa='13.133'<br />

„Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen, in Wüsten<br />

fliehen, weil nicht alle Blüthenträume reiften?“ — sagt der<br />

Prometheus Goethes.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12043 id='VIII.11[314]' kgw='VIII-2.375' ksa='13.133'<br />

Die Wagnersche Kunst: ein Compromiß zwischen den drei<br />

modernsten Bedürfnissen: nach Krankhaftem, nach Brutalem<br />

und nach Unschuldigem (Idiotischem) …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12044 id='VIII.11[315]' kgw='VIII-2.375' ksa='13.133'<br />

Warum kulminirt die deutsche Musik zur Zeit der deutschen<br />

Romantik? Warum fehlt Goethe in der deutschen Musik? Wie<br />

viel Schiller, genauer wie viel „Thekla“ ist dagegen in Beethoven!<br />

— Schumann hat Eichendorff, Uhland, Heine, Hoffmann,<br />

Tieck in sich<br />

— Richard Wagner hat Freischütz, Hoffmann, Grimm, die<br />

romantische Sage, den mystischen Katholizismus des Instinkts,<br />

den Symbolismus, die „Freigeisterei der Leidenschaft“,<br />

Rousseau's Absichten<br />

Der „fliegende Holländer“ schmeckt nach Frankreich, wo le<br />

ténébreux 1830 der Verführer-Typus war<br />

— Cultus der Musik: die revolutionäre Romantik<br />

der Form<br />

Wagner resümirt die Romantik, die deutsche und die<br />

französische —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12045 id='VIII.11[316]' kgw='VIII-2.375' ksa='13.133'<br />

Die großen Worte:<br />

„Frieden der Seele“<br />

die „Liebe“<br />

der „klassische Geschmack“<br />

Page Break KGW='VIII-2.376' KSA='13.134'


<strong>Aphorism</strong> n=12046 id='VIII.11[317]' kgw='VIII-2.376' ksa='13.134'<br />

Der Nationalism hat in Frankreich den Charakter, in<br />

Deutschland den Geist und Geschmack verdorben: um eine<br />

große Niederlage — und zwar eine definitive — zu vertragen,<br />

muß man jünger und gesünder sein als der Sieger<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12047 id='VIII.11[318]' kgw='VIII-2.376' ksa='13.134'<br />

Der Exotism Wagners unter den Anhängern der „Deutschthümelei“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12048 id='VIII.11[319]' kgw='VIII-2.376' ksa='13.134'<br />

Der Humor der europäischen Cultur: man hält das für wahr,<br />

aber thut jenes z.B. was hilft alle Kunst des Lesens und der<br />

Kritik, wenn die kirchliche Interpretation der Bibel, (die<br />

protestantische so gut wie die katholische) nach wie vor aufrecht<br />

erhalten wird!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12049 id='VIII.11[320]' kgw='VIII-2.376' ksa='13.134'<br />

Der Wagnerianer, mit seiner voreiligen Bewunderung für<br />

alles, was an Wagner durchaus nicht wunderbar ist, vielmehr<br />

„Wagnerisch“ —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12050 id='VIII.11[321]' kgw='VIII-2.376' ksa='13.134'<br />

— diese unsinnige überladung mit Details, diese Unterstreichung<br />

der kleinen Züge, der Mosaik-Effekt: Paul Bourget<br />

Der Ehrgeiz des großen Stils — und dabei<br />

Nicht-Verzichtleisten-wollen auf das, was er besser machte, auf das<br />

Kleine, das Kleinste; dieses überladen mit Details; diese<br />

Ciseleur-Arbeit in Augenblicken, wo Niemand für Kleines Augen haben<br />

dürfte; diese Unruhe des Auges, welches bald für Mosaik<br />

und bald für verwegen hingeworfene Wand-Fresken eingestellt<br />

werden soll<br />

ich habe die eigenthümliche Qual, welche mir das Anhören<br />

Page Break KGW='VIII-2.377' KSA='13.135'


Wagnerscher(1660) Musik erregt, darauf zurückgeführt, daß diese<br />

Musik einem Gemälde gleicht, welches mir nicht erlaubt, auf<br />

Einem Platz zu bleiben … daß beständig das Auge, um zu<br />

verstehen, sich anders einstellen muß: bald myopisch, damit ihm<br />

die raffinirteste Mosaik-Ciseleurarbeit nicht entgeht, bald für<br />

verwegene und brutale Fresken, welche sehr aus der Ferne<br />

gesehen werden wollen. Das Nicht-festhalten-können einer<br />

bestimmten Optik macht den Stil der Wagnerschen Musik aus:<br />

Stil hier im Sinne von Stil-Unfähigkeit gebraucht<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12051 id='VIII.11[322]' kgw='VIII-2.377' ksa='13.135'<br />

Wagner: 1) nicht sich täuschen lassen durch die, deutsche<br />

Tendenz<br />

— seine Sensibilität ist so wenig deutsch als<br />

möglich; dagegen um so deutscher seine Art Geist und<br />

Geistigkeit (den Stil eingerechnet)<br />

— er hat die tiefste Sympathie für die großen<br />

Symbole des mittelalterlichen Europa und<br />

sucht deren „Träger“ —<br />

— der Typus seiner Helden ist so wenig deutsch als<br />

möglich: Tannhäuser, der fliegende Holländer,<br />

Rienzi, Lohengrin, Elsa, Tristan, Siegfried, Parsifal:<br />

man versuche doch die — — —: bleibt der<br />

„Meistersinger“<br />

— der Cultus der „Passion“ ist nicht deutsch<br />

— der Cultus des „Dramas“ ist nicht deutsch:<br />

er hat eine ungeheure überzeugungskraft durch<br />

Wucht und Furchtbarkeit der Gebärde.<br />

2) was ist deutsch?<br />

— die ungewisse Symbolik, die Lust am<br />

Ungenau-Gedachten, der falsche „Tiefsinn“, das<br />

Willkürliche, der Mangel an Feuer, Witz und Anmuth,<br />

die Unfähigkeit zur großen Linie, zum Nothwendigen<br />

in — — —<br />

Page Break KGW='VIII-2.378' KSA='13.136'<br />

3) man muß in der Hauptsache sich nicht irreführen<br />

lassen: das musikalische Drama Wagners(1661) ist ein<br />

Rückschritt, schlimmer, eine Decadence-Form der<br />

Musik —<br />

— er hat alles Musikalische, die Musik geopfert,<br />

um aus ihr eine Kunst des Ausdrucks, der<br />

Verstärkung, der Suggestion, des<br />

Psychologisch-Pittoresken zu machen<br />

der außerordentliche Schauspieler- und Theater-Instinkt<br />

war bisher insgleichen nicht deutsch ( — man versteht nichts von<br />

Wagner, wenn man nicht in diesem Instinkt seine faculté


maîtresse, seinen dominirenden Instinkt begreift)<br />

die deutsche Tiefe, Vielheit, Willkür, Fülle, Ungewißheit:<br />

die großen Symbole und Räthsel, mit sanftem Donner aus<br />

ungeheurer Ferne laut werdend: der deutsche graue und bösartige<br />

Himmel, der das Glück nur als Carikatur und Wunsch kennt —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12052 id='VIII.11[323]' kgw='VIII-2.378' ksa='13.136'<br />

Woher nimmt er seinen Anhang? Aus der überzahl der<br />

Unmusikalischen, Halbmusikalischen, Dreiviertel-Gebildeten<br />

beiderlei Geschlechts, deren Eitelkeit es schmeichelt, Wagner zu<br />

verstehen<br />

Sieg des unmusikalischen, halbmusikalischen<br />

Bildungs-Schwärmers, dem die große Attitüde Wagner's schmeichelt,<br />

wie als ob es ein Zeichen von Superiorität sei, hier zu<br />

„verstehen“<br />

: er appellirt an die schönen Gefühle und den gehobenen<br />

Busen<br />

er erregt namentlich das, was eine schwärmerische — die<br />

deutsche — Naturempfindung — — —<br />

— er hypnotisirt die mystisch-erotischen Weibchen, indem<br />

seine Musik den Geist eines Magnetiseurs bis in ihr Rückenmark<br />

hinein fühlbar macht ( — man beobachte das Lohengrin-Vorspiel<br />

Page Break KGW='VIII-2.379' KSA='13.137'<br />

in seinen physiologischen Einwirkungen auf die Sekretion<br />

und — — —<br />

— er erreicht jedes Mal die Höhe des Pathos zugleich mit<br />

einer Breite und Strom-Ausdehnung, welche ihn in Gegensatz<br />

zu allen Kurzathmigen und Augenblicks-Dramatikern stellt<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12053 id='VIII.11[324]' kgw='VIII-2.379' ksa='13.137'<br />

die Mißverständnisse der Kirche<br />

das Abendmahl<br />

„der Sohn Gottes“<br />

der Tod am Kreuz als Abzahlung<br />

der Sündenfalls-Geschichte<br />

des „Glaubens“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12054 id='VIII.11[325]' kgw='VIII-2.379' ksa='13.137'<br />

Zur Kritik des guten Menschen<br />

Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit,


Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen — sind<br />

wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um<br />

ihrer selber willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an<br />

sich werthindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter<br />

irgend welchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Werth bekommen?<br />

— Liegt der Werth dieser Eigenschaften in ihnen oder in<br />

dem Nutzen, Vortheil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint,<br />

zu folgen erwartet wird)?<br />

Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und<br />

alter in der Beurtheilung: die Frage ist, ob die Folgen es<br />

sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die<br />

Umgebung, Gesellschaft, „Menschheit“, derentwegen diese<br />

Eigenschaften Werth haben sollen: oder ob sie an sich selbst Werth<br />

haben …<br />

Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die<br />

entgegengesetzten Eigenschaften verurtheilen, bekämpfen,<br />

verneinen heißt ( — unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit,<br />

Page Break KGW='VIII-2.380' KSA='13.138'<br />

Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit — )? Ist das Wesen solcher<br />

Eigenschaften oder nur die Consequenz solcher Eigenschaften<br />

verurtheilt?<br />

Anders gesagt: wäre es wünschbar, daß Menschen dieser<br />

zweiten Eigenschaften nicht existirten? — Das wird jedenfalls<br />

geglaubt —<br />

aber hier steckt der Irrthum, die Kurzsichtigkeit, die<br />

Bornirtheit des Winkel-Egoismus.<br />

Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen,<br />

in denen der ganze Vortheil auf Seiten der Rechtschaffenen<br />

ist — so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte<br />

entmuthigt würden und langsam ausstürben?<br />

— dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der<br />

Aesthetik: wäre es wünschbar, daß die „achtbarste“ d.h.<br />

langweiligste Species Mensch übrig bliebe? die Rechtwinkligen,<br />

die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden,<br />

die „Hornochsen“?<br />

— denkt man sich die ungeheure überfülle der „Anderen“<br />

weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein<br />

Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nöthig — und hier begreift<br />

man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche<br />

Tugend zu Ehren gebracht hat.<br />

Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten<br />

Seite: Zustände schaffen, bei denen der „rechtschaffene<br />

Mensch“ in die bescheidene Stellung eines „nützlichen Werkzeugs“<br />

herabgedrückt wird — als das „ideale Heerdenthier“,<br />

bestenfalls Heerden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die<br />

obere Ordnung zu stehen kommt —: welche andere<br />

Eigenschaften verlangt —


<strong>Aphorism</strong> n=12055 id='VIII.11[326]' kgw='VIII-2.380' ksa='13.138'<br />

Rubriken.<br />

1 Zur Kritik des „guten Menschen“.<br />

2 Aus der Schule der Starken.<br />

Page Break KGW='VIII-2.381' KSA='13.139'<br />

3 Die grossen Worte.<br />

4 Zur Kritik der „Christlichkeit“.<br />

5 Wie man die Tugend zur Herrschaft bringt.<br />

6 Die aesthetischen Werthe; deren Herkunft und Zukunft.<br />

7 Die Heraufkunft des Nihilismus.<br />

8 Zur „Modernität“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12056 id='VIII.11[327]' kgw='VIII-2.381' ksa='13.139'<br />

Tagebuch des Nihilisten …<br />

der Schauder über die entdeckte „Falschheit“<br />

leer: kein Gedanke mehr; die starken Affekte um Objekte ohne<br />

Werth sich drehend:<br />

— Zuschauer für diese absurden Regungen für und wider<br />

— überlegen, höhnisch, kalt gegen sich<br />

— die stärksten Regungen erscheinen wie Lügner: als ob<br />

wir an ihre Objekte glauben sollten, als ob sie uns<br />

verführen wollten —<br />

— die stärkste Kraft weiß nicht mehr, wozu?<br />

— es ist Alles da, aber keine Zwecke —<br />

der Atheismus als die Ideallosigkeit<br />

Phase des leidenschaftlichen Neins und Neinthuns: in ihm<br />

entladet sich die aufgespeicherte Begierde nach Bejahung,<br />

nach Anbetung …<br />

Phase der Verachtung selbst gegen das Nein …<br />

selbst gegen den Zweifel …<br />

selbst gegen die Ironie …<br />

selbst gegen die Verachtung …<br />

Katastrophe:<br />

ob nicht die Lüge etwas Göttliches ist …<br />

ob nicht der Werth aller Dinge darin<br />

beruht, daß sie falsch sind? …<br />

ob nicht die Verzweiflung bloß die Folge<br />

eines Glaubens an die Gottheit der<br />

Wahrheit ist<br />

Page Break KGW='VIII-2.382' KSA='13.140'<br />

ob nicht gerade das Lügen und Falschmachen


(Umfälschen) das Sinn-Einlegen<br />

ein Werth, ein Sinn, ein Zweck<br />

ist<br />

ob man nicht an Gott glauben sollte, nicht<br />

weil er wahr ist (sondern weil<br />

er falsch — ?<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12057 id='VIII.11[328]' kgw='VIII-2.382' ksa='13.140'<br />

I.<br />

Begriff des Nihilismus.<br />

Zur Psychologie des Nihilisten.<br />

Zur Geschichte des europäischen Nihilism<br />

Kritik der „Modernität“<br />

Die großen Worte.<br />

Aus der Schule der Starken.<br />

Der gute Mensch.<br />

Die Christlichkeit<br />

Genealogie des Ideals<br />

Die Circe der Philosophen<br />

Die aesthetischen Werthe: Herkunft und Kritik<br />

Kunst und Künstler: neue Fragezeichen.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12058 id='VIII.11[329]' kgw='VIII-2.382' ksa='13.140'<br />

NB. Kritik der Vaterländerei (zu „Modernität“).<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12059 id='VIII.11[330]' kgw='VIII-2.382' ksa='13.140'<br />

Winckelmanns und Goethes Griechen, V. Hugo's Orientalen,<br />

Wagners Edda-Personnagen, W. Scotts Engländer des<br />

13. Jahrhunderts — irgend wann wird man die ganze Komödie<br />

entdecken: es war Alles über alle Maaßen historisch falsch,<br />

aber — modern, wahr!<br />

Page Break KGW='VIII-2.383' KSA='13.141'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12060 id='VIII.11[331]' kgw='VIII-2.383' ksa='13.141'<br />

Bési.


Niemanden anklagen —<br />

Meine Wünsche haben nicht genug Kraft, um mich zu<br />

leiten —<br />

selbst gegen diese négateurs eifersüchtig: eifersüchtig auf ihre<br />

Hoffnungen — daß sie einen Haß so ernst nehmen können!<br />

„Wozu diese Kraft verwenden?“ —<br />

Mit ihnen mich zu verbinden, daran verhinderte mich nicht<br />

die Furcht vor dem Lächerlichen — darüber bin ich hinaus —<br />

sondern der Haß und die Verachtung, die sie mir einfloßen. Ich<br />

habe, trotz allem, die Gewohnheiten eines homme, comme il<br />

faut, und ihr Verkehr widersteht mir.<br />

„Hätte ich noch mehr Haß und Eifersucht in Hinsicht auf sie<br />

empfunden, vielleicht hätte ich mich mit ihnen ins Einvernehmen<br />

gesetzt.“<br />

„Ich habe Furcht vor dem Selbstmord, denn ich fürchte Größe<br />

der Seele zu zeigen … Ich sehe, daß das noch eine tromperie sein<br />

würde, — eine letzte Lüge zu allen zahllosen von Ehedem! —<br />

Welchen Vortheil gäbe es darin, sich selbst zu betrügen, einzig<br />

um den Großartigen zu spielen? — Da ich immer der Entrüstung<br />

und der Scham fremd war, werde ich niemals mehr die<br />

Verzweiflung kennen lernen …“<br />

Bemerken Sie auch, daß ich kein Mitleid mit Ihnen habe, um<br />

Sie zu rufen; und Sie nicht schätze, um Sie zu erwarten …<br />

Indessen rufe ich Sie und erwarte Sie —<br />

Page Break KGW='VIII-2.384' KSA='13.142'<br />

Ich kann, wie ich das immer gekonnt habe, das Bedürfniß<br />

haben, eine gute That zu thun und ich habe Vergnügen daran;<br />

nebenbei aber wünsche ich auch, übel zu thun und habe ebenfalls<br />

Genugthuung dabei. Alle diese Eindrücke, wenn sie überhaupt<br />

entstehen, was selten genug ist, sind, wie immer, sehr leicht …<br />

„On peut traverser une rivière sur une poutre et non sur un<br />

copeau.“ Ich habe die débauche experimentirt im großen Stile<br />

und meine Kräfte dabei erschöpft; aber ich liebe sie nicht, sie war<br />

nicht mein Ziel.<br />

Wenn man sich nicht mehr an sein Vaterland attachirt, hat<br />

man keine Götter mehr, das heißt keine Ziele mehr in der<br />

Existenz …<br />

Man kann unendlich über Alles diskutiren, aber aus mir ist<br />

nur eine Negation ohne Größe und ohne Kraft


hervorgegangen. Zuletzt schmeichle ich mir noch, indem ich so<br />

rede. Alles ist immer faible et mou.<br />

Der großherzige Kiriloff ist durch einen Gedanken besiegt<br />

worden: er hat sich erschossen. Ich sehe die Größe seiner Seele<br />

darin, daß er den Kopf verloren hat. Niemals würde ich so<br />

handeln können. Niemals würde ich an eine Idee so leidenschaftlich<br />

glauben können … Mehr noch, es ist mir unmöglich, mich mit<br />

Ideen auf einen solchen Punkt zu beschäftigen … Niemals,<br />

niemals würde ich mich erschießen können …<br />

Ich weiß, daß ich mich tödten sollte, daß ich die Erde von<br />

mir reinigen sollte, wie von einem miserablen Insekt.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12061 id='VIII.11[332]' kgw='VIII-2.384' ksa='13.142'<br />

Zur Psychologie des Nihilisten.<br />

„das Verehrungswürdigste am Menschen, nach Goethe:<br />

— — — Folgerichtigkeit, das gehört dem Nihilisten zu.<br />

Page Break KGW='VIII-2.385' KSA='13.143'<br />

Um diese Zeit überredet er sich zur Ausschweifung. Man<br />

unterschätze die Logik darin nicht; man muß Philosoph sein(1662),<br />

um das zu verstehen. Die Ideen sind Täuscherei; die Sensationen<br />

sind die letzte Realität … Es ist der letzte Hunger nach<br />

„Wahrheit“, der die Ausschweifung anräth — Es könnte nicht<br />

„die Liebe“ sein: es müssen alle die Schleier und Verschönerungen<br />

d.h. Fälschungen abgewischt werden(1663): deshalb muß es die<br />

Ausschweifung, der Schmerz und die Combination von Ausschweifung<br />

und Schmerz sein.<br />

Eine Steigerung: der Schmerz ist realer als die Lust … Das<br />

bejahende Element in der letzteren hat den Charakter der<br />

Werthschätzung, der Betrügerei und übertreibung …<br />

der Schmerz berauscht nicht leicht, seine Nüchternheit …<br />

— Vorsicht vor den berauschenden und umnebelnden<br />

Schmerzen …<br />

— der Schmerz, den man zufügt, ist realer als der, den man<br />

leidet —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12062 id='VIII.11[333]' kgw='VIII-2.385' ksa='13.143'<br />

Die absolute Veränderung, welche mit der Negation Gottes<br />

eintritt —<br />

Wir haben absolut keinen Herrn mehr über uns; die alte<br />

Werthungs-Welt ist theologisch — sie ist umgeworfen —


Kürzer: es giebt keine höhere Instanz über uns: so weit<br />

Gott sein könne, sind wir selbst jetzt Gott …<br />

Wir müssen uns die Attribute zuschreiben, die wir Gott<br />

zuschrieben …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12063 id='VIII.11[334]' kgw='VIII-2.385' ksa='13.143'<br />

Die Logik des Atheismus.<br />

Wenn Gott existirt, hängt Alles von seinem Willen ab und<br />

ich bin nichts außer seinem Willen. Wenn er nicht existirt,<br />

Page Break KGW='VIII-2.386' KSA='13.144'<br />

so hängt Alles von mir ab, und ich muß meine Unabhängigkeit<br />

beweisen —<br />

Der Selbstmord die completeste Art, seine Unabhängigkeit<br />

zu beweisen —<br />

Gott ist nothwendig, folglich muß er existiren<br />

Aber er existirt nicht<br />

Also kann man nicht mehr leben.<br />

dieser Gedanke hat auch Stavrogin verzehrt: „wenn er<br />

glaubt, glaubt er nicht, daß er glaubt. Wenn er nicht glaubt,<br />

glaubt er nicht, daß er nicht glaubt.“<br />

die klassische Formel Kiriloffs bei Dostojewsky:<br />

Ich bin gehalten, meinen Unglauben zu affirmiren; in<br />

meinen Augen giebt es keine größere Idee als die Leugnung<br />

Gottes. Was ist die Geschichte der Menschheit? Der Mensch hat<br />

nichts gemacht als Gott erfinden, um sich nicht zu tödten. Ich,<br />

als der Erste, stoße die Fiktion Gottes zurück …<br />

Einen anderen tödten — das wäre die Unabhängigkeit in der<br />

niedrigsten Form: ich will den höchsten Punkt der Unabhängigkeit<br />

erreichen<br />

Die früheren Selbstmörder hatten Gründe dazu; ich aber habe<br />

keinen Grund, einzig, um meine Unabhängigkeit zu beweisen —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12064 id='VIII.11[335]' kgw='VIII-2.386' ksa='13.144'<br />

der Anfang des Nihilismus<br />

die Ablösung, der Bruch mit der Scholle<br />

unheimisch beginnts<br />

unheimlich endets


<strong>Aphorism</strong> n=12065 id='VIII.11[336]' kgw='VIII-2.386' ksa='13.144'<br />

Wenn die Natur selbst ihr Meisterstück nicht geschont hat,<br />

wenn sie Jesus hat leben lassen in mitten der Lüge und für eine<br />

Lüge ( — und ihm schuldet die Erde Alles, was sie hat leben<br />

Page Break KGW='VIII-2.387' KSA='13.145'<br />

lassen — ) ohne ihn wäre der Planet, mit Allem, was darauf ist,<br />

bloße Thorheit, nun, so ruht der Planet auf einer Lüge, auf einer<br />

dummen Verspottung. Folglich sind die Gesetze der Natur selbst<br />

eine Imposture und eine diabolische farce. Warum also leben,<br />

wenn du ein Mensch bist? …<br />

„Wenn Sie aber enttäuscht sind? wenn Sie begriffen haben,<br />

daß der ganze Irrthum im Glauben an den alten Gott lag?“<br />

Das Heil der Menschheit hängt davon ab, ihr diesen<br />

Gedanken zu beweisen —<br />

Ich begreife nicht, wie bisher ein Atheist hat wissen können,<br />

daß es keinen Gott giebt und sich nicht sofort getödtet hat …<br />

„Fühlen daß Gott nicht ist und nicht zugleich fühlen, daß<br />

man eben damit Gott geworden ist, ist eine Absurdität:<br />

andernfalls würde man nicht verfehlen, sich zu tödten. Wenn du das<br />

fühlst, bist du tzar, und, fern davon dich zu tödten, wirst du<br />

auf dem Gipfel der Glorie leben …<br />

„Ich bin Gott nur durch Zwang und ich bin unglücklich, denn<br />

ich bin verpflichtet, meine Freiheit zu beweisen. Alle sind<br />

unglücklich, weil sie Furcht haben, ihre Freiheit zu beweisen.<br />

Wenn der Mensch bis jetzt so unglücklich und so arm war, so<br />

geschah dies, weil er nicht wagte, sich in der höchsten Bedeutung<br />

des Wortes frei zu zeigen, weil er sich mit einer schülermäßigen<br />

Insubordination begnügte … Denn ich bin schrecklich unglücklich,<br />

denn ich habe schrecklich Furcht. Die Furcht ist der<br />

Fluch des Menschen —<br />

Dies wird alle Menschen retten und physisch die folgende<br />

Generation umbilden: denn, nach mir zu urtheilen, kann unter<br />

seiner gegenwärtigen physischen Form der Mensch des<br />

alten Gottes nicht entrathen … Ich suche seit 3 Jahren das<br />

Attribut meiner Göttlichkeit: und ich habe es gefunden — die<br />

Unabhängigkeit. Ich will mich tödten, um meine Insubordination<br />

zu beweisen, meine neue und schreckliche Freiheit“ —<br />

Page Break KGW='VIII-2.388' KSA='13.146'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12066 id='VIII.11[337]' kgw='VIII-2.388' ksa='13.146'<br />

Fünf, sechs Sekunden und nicht mehr: da fühlt ihr plötzlich<br />

die Gegenwart der ewigen Harmonie. Der Mensch kann, in seiner


sterblichen Hülle, das nicht aushalten; er muß sich physisch<br />

umformen oder sterben. Es ist ein klares und indiskutables<br />

Gefühl. Ihr scheint euch in Contakt mit der ganzen Natur und ihr<br />

sagt: „Ja, dies ist wahr!“ Als Gott die Welt geschaffen hatte,<br />

sagte er am Ende jedes Tags: „Ja, dies ist wahr, dies ist gut!“<br />

Das ist nicht Rührung, das ist Freude. Ihr verzeiht nichts, weil<br />

es nichts zu verzeihen giebt. Ihr liebt nicht mehr — oh, dies<br />

Gefühl ist höher als die Liebe. Das schrecklichste ist die schauerliche<br />

Bestimmtheit, mit der es sich ausdrückt und die<br />

Freude, mit der es erfüllt. Wenn das länger dauerte, könnte die<br />

Seele es nicht aushalten, sie müßte verschwinden — In diesen<br />

5 Sekunden lebe ich eine ganze Menschen-Existenz, für sie würde<br />

ich mein ganzes Leben geben, es wäre nicht zu theuer bezahlt. Um<br />

dies länger zu ertragen, müßte man sich physisch transformiren.<br />

Ich glaube, der Mensch hört auf zu zeugen. Wozu Kinder,<br />

wenn das Ziel erreicht ist? —<br />

Verständniß des Auferstehungs-Symbols:<br />

„Nach der Auferstehung wird man nicht mehr zeugen, man<br />

wird sein, wie die Engel Gottes“ d.h. das Ziel ist erreicht:<br />

wozu Kinder? … Im Kinde drückt sich die Unbefriedigung(1664)<br />

des Weibes aus …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12067 id='VIII.11[338]' kgw='VIII-2.388' ksa='13.146'<br />

Wenn die Menschen Consequenz im Leibe hätten, hätten sie<br />

auch Consequenz im Kopfe. Aber ihr Mischmasch …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12068 id='VIII.11[339]' kgw='VIII-2.388' ksa='13.146'<br />

Woran mir am meisten Verdruß entstanden ist? Zu sehen,<br />

daß Niemand mehr den Muth hat, zu Ende zu denken …<br />

Page Break KGW='VIII-2.389' KSA='13.147'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12069 id='VIII.11[340]' kgw='VIII-2.389' ksa='13.147'<br />

Die Vorzeichen einer großen Revolte: ein Cynismus auf<br />

Befehl, ein Durst nach Skandal, agaçant, irritation, lassitude.<br />

Das Publikum entnervt, auf falschen Wegen erkannte sich nicht<br />

mehr<br />

In Momenten der Crisis fühlt man eine Menge Individuen<br />

aus den tiefsten Schichten der Bevölkerung auftauchen, die kein<br />

Ziel, keine Idee irgend einer Art haben und die sich nur durch<br />

die Liebe zum désordre unterscheiden. Fast immer stehen sie


unter dem Antrieb der kleinen Gruppe der „avancés“, welche aus<br />

ihnen machen, was sie wollen …<br />

Die gens de rien bekamen eine plötzliche Wichtigkeit, sie<br />

kritisirten laut alle respektablen Dinge, sie, die bisher nicht den<br />

Mund zu öffnen gewagt hatten, und die Begabtesten hörten ihnen<br />

schweigend zu, oft selbst mit einem kleinen Lächeln der<br />

Zustimmung.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12070 id='VIII.11[341]' kgw='VIII-2.389' ksa='13.147'<br />

— eine verbrecherische Solidarität suchend und seine<br />

Herrschaft über ihn gewinnend?<br />

Die Spionage. In seinem System hat jedes Mitglied das Auge<br />

auf das andere, die Delation ist Pflicht. Jeder gehört Allen und<br />

Alle Jedem. Alle sind Sklaven und gleich in der Sklaverei. Die<br />

Verleumdung und das Assassinat in den äußersten Fällen, aber<br />

überall die „Gleichheit“. Vorerst das Niveau der wissenschaftlichen<br />

Cultur und der Talente niedriger machen, herunterbringen!<br />

Ein wissenschaftliches Niveau ist nur höheren Intelligenzen<br />

zugänglich; aber es darf keine höhere Intelligenz geben.<br />

Menschen von hohen Fähigkeiten haben sich immer der Macht<br />

bemächtigt und sind immer Despoten gewesen. Sie können gar<br />

nicht anders als Despoten sein, sie haben immer mehr übel als<br />

Gutes gethan; man treibe sie aus oder man überliefere sie au<br />

supplice. Cicero die Zunge abschneiden, Copernikus blenden,<br />

Shakespeare steinigen … Sklaven dürfen gleich sein: ohne Despotism<br />

Page Break KGW='VIII-2.390' KSA='13.148'<br />

hat es noch niemals weder Freiheit noch Gleichheit gegeben,<br />

aber in einer Heerde darf Gleichheit herrschen<br />

… Man muß die Berge ebnen; nieder mit Unterricht und<br />

Wissenschaft! Man hat dafür genug für ein Jahrtausend; aber<br />

man muß den Gehorsam organisiren, die einzige<br />

Sache, die in der Welt fehlt. Der Durst nach Studium ist ein<br />

aristokratischer Durst. Mit der Familie oder der Liebe verschwindet<br />

der Durst nach Eigenthum. Wir werden diesen Durst tödten: wir<br />

werden die Trunkenheit, den Lärm, die Delation begünstigen,<br />

wir werden eine Ausschweifung ohne Gleichen propagiren, wir<br />

werden die Geniés in der Wiege ersticken. „Reduktion von Allen<br />

au même dénominateur, vollkommene Gleichheit!“<br />

„Wir haben ein Handwerk gelernt und sind honnete Leute;<br />

wir haben nichts Andres nöthig“ — haben jüngst englische<br />

Arbeiter gesagt. Das Nothwendige allein ist nothwendig, das soll die<br />

Devise des Erdballs von jetzt ab sein. Aber man hat auch<br />

Convulsionen nöthig, dafür werden wir sorgen, wir anderen Leiter<br />

und Lenker … Die Sklaven müssen Herren haben. Vollständiger<br />

Gehorsam, vollständige Entpersönlichung: aber alle dreißig Jahre<br />

wird man das Signal zu Convulsionen geben und alle werden


sich plötzlich daran machen, sich gegenseitig aufzufressen, bis zu<br />

einem gewissen Punkt natürlich, zu dem einzigen Zweck, sich nicht<br />

zu langweilen. Die Langeweile ist ein aristokratisches(1665)<br />

Gefühl; in dem Socialism wird es keine Begierde geben. Wir<br />

reserviren uns den Schmerz und die Begierde, die Sklaven werden<br />

den Socialism haben … Ich habe daran gedacht, die Welt dem<br />

Papst zu überliefern. Er möge mit bloßen Füßen aus seinem<br />

Palaste heraustreten und zum Volke sagen: „darauf hat man mich<br />

reduzirt!“ — Alles, auch die Armée, wird sich zu seinen Füßen<br />

niederwerfen. Der Papst oben, wir um ihn und unter uns der<br />

Socialism… Die Internationale muß sich mit dem Papst<br />

verständigen: er wird gleich zustimmen, er hat keinen anderen<br />

Ausweg…<br />

Sie sind schön! Sie vergessen bisweilen, was es Exquisites an<br />

Page Break KGW='VIII-2.391' KSA='13.149'<br />

Ihnen giebt! Selbst Bonhomie und Naivetät! Sie leiden ohne<br />

Zweifel, Sie leiden tief, auf Grund dieser Bonhomie. Ich bin<br />

Nihilist, aber ich liebe die Schönheit — je suis nihiliste, mais<br />

j'aime la beauté. Lieben die Nihilisten sie nicht? Das, was sie<br />

nicht lieben, das sind Götzenbilder: ich, ich liebe Götzenbilder<br />

und Sie sind das meinige!<br />

Sie beleidigen Niemanden und sind allgemein verabscheut;<br />

Sie betrachten alle Menschen wie Ihres Gleichen, und Alle haben<br />

Furcht vor Ihnen: so ist es Recht. Niemand wird wagen Ihnen<br />

auf die Schulter zu schlagen. Sie sind ein schrecklicher Aristokrat,<br />

und wenn er zu Demokraten kommt, so ist der Aristokrat un<br />

charmeur. Es ist Euch gleichmäßig gleichgültig Euer Leben oder<br />

das Andrer zu opfern. Sie sind präcis der Mann, den man nöthig<br />

hat…<br />

Wir dringen in das Volk selbst ein, wir sind jetzt schon<br />

furchtbar stark. Nicht nur die sind die Unsrigen, welche erwürgen,<br />

Feuer anzünden und klassische coups machen. Diese hemmen<br />

uns mehr… Ich begreife nichts ohne Disciplin. Ich habe sie<br />

alle gezählt: der Lehrer, der sich mit den Kindern über ihren<br />

Gott und ihre Wiege moquirt; der Advokat, der einen<br />

wohlgebildeten Meuchelmörder vertheidigt, der beweist, daß er eine<br />

bessere Erziehung hatte als sein Opfer und daß er, um sich Geld<br />

zu verschaffen, kein andres Mittel hatte, als zu tödten; die<br />

Studenten, die, um eine Sensation zu erproben, einen Bauern tödten;<br />

die Geschworenen, die systematisch alle Verbrecher freisprechen;<br />

der Procurator, der vor dem Tribunal zittert, sich nicht liberal<br />

genug zu zeigen… Unter der Verwaltung, unter den Gelehrten<br />

— wie Viele gehören zu uns! ( — und sie wissen es nicht!)…<br />

Anderseits, überall eine unermeßliche Eitelkeit, ein bestialischer<br />

appétit… Wissen Sie, wie viel wir den berühmten Theorien<br />

danken? Als ich Rußland verließ, machte die Theorie Littré's,<br />

der das Verbrechen der Narrheit annäherte, furore; ich komme<br />

zurück, und schon ist das Verbrechen nicht mehr eine Narrheit,<br />

sondern der bon sens selbst, fast eine Pflicht, zum allermindesten


Page Break KGW='VIII-2.392' KSA='13.150'<br />

ein nobler Protest. „Hé bien, wie wird ein aufgeklärter Mann<br />

nicht meucheln, wenn er Geld nöthig hat?“ Aber das ist noch<br />

nichts. Der russische Gott hat dem Getränk Platz gemacht; alles<br />

ist Trinker, die Kirchen sind leer… Wenn wir die Herren sind,<br />

werden wir sie kuriren… nöthigenfalls relegiren wir sie für<br />

40 Jahre in eine Thebaide. Aber für 2 Generationen ist die<br />

débauche nothwendig, eine débauche(1666) ignoble, inouïe, sale, die<br />

thut noth!… Bis jetzt hat das russische Volk, trotz der Derbheit<br />

seines Ingrimm-Vokabulärs, nicht den Cynism gekannt. Wissen<br />

Sie, daß der Leibeigene sich mehr respektirte als sich Turgenjef<br />

respektirt?… Man schlug ihn(1667), aber er blieb seinen Göttern<br />

treu — und Turgenjef(1668) hat die seinen verlassen…<br />

Das Volk muß glauben, daß wir alle das Ziel wissen. Wir<br />

werden die Zerstörung predigen: diese Idee ist so verführerisch.<br />

Wir werden die Feuersbrunst zu Hülfe rufen — Und Pistolenschüsse…<br />

Il se cache… Es bedarf einer unerhörten Kraft…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12071 id='VIII.11[342]' kgw='VIII-2.392' ksa='13.150'<br />

Die Theatromanie<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12072 id='VIII.11[343]' kgw='VIII-2.392' ksa='13.150'<br />

„ceci tuera cela“<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12073 id='VIII.11[344]' kgw='VIII-2.392' ksa='13.150'<br />

Der Dekabrist (russischer Aufstand von 1825) hat sein ganzes<br />

Leben die Gefahr gesucht: das Gefühl der Gefahr berauschte<br />

ihn und war ein Bedürfniß seiner Natur geworden… Die<br />

Tapferen der Legende waren sicher in hohem Grad zugänglich<br />

der Furcht: andernfalls würden sie viel ruhiger gewesen sein und<br />

nicht das Gefühl der Gefahr in ein Bedürfniß ihrer Natur<br />

umgewandelt haben. Aber in sich la poltronnerie besiegen, mit<br />

Bewußtsein dieses Siegs und denken daß nichts sie zurückscheuchen<br />

könnte — das hat sie verführt!… Einbegriffen den Kampf<br />

unter allen Formen; nicht nur in der Bärenjagd und im Duell<br />

schätzte er bei sich den Stoicismus und die Charakterstärke.<br />

Page Break KGW='VIII-2.393' KSA='13.151'<br />

Aber die nervöse Disposition des neueren Geschlechts läßt


nicht mehr das Bedürfniß dieser freien und unmittelbaren<br />

Sensationen zu, welche mit solcher Gluth einige unruhige Personnagen<br />

der guten alten Zeit suchten. Nicolas(1669) wäre ebenso tapfer in<br />

allen Fällen gewesen, wie jener Decabrist: nur, er hätte kein<br />

Vergnügen in diesem Kampfe gefunden; er würde ihn mit Indolenz<br />

und Langeweile acceptirt haben, wie man sich einer unangenehmen<br />

Nothwendigkeit unterzieht. Für den Zorn, konnte ihm<br />

Niemand verglichen werden: er war kalt, ruhig, raisonnable<br />

— folglich war er schrecklicher als irgend ein anderer.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12074 id='VIII.11[345]' kgw='VIII-2.393' ksa='13.151'<br />

Rom predigte einen Christus, der der dritten Versuchung<br />

nachgegeben hat; es hat erklärt, daß er eines irdischen Reichs<br />

nicht entrathen könne und hat ebendamit den Antichrist<br />

proklamirt…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12075 id='VIII.11[346]' kgw='VIII-2.393' ksa='13.151'<br />

Gott als Attribut der Nationalität<br />

Das Volk, das ist der Leib Gottes. Eine Nation verdient<br />

diesen Namen nur, so lange sie einen eignen Gott hat und hartnäckig<br />

alle anderen von sich stößt; so lange nur als sie rechnet,<br />

mit ihrem Gott zu siegen und die fremden Götter aus der ganzen<br />

Welt fortzujagen.<br />

Die Völker bewegen sich durch die Kraft eines unersättlichen<br />

Bedürfnisses zum Ziel zu kommen: es ist die unermüdliche<br />

beständige Affirmation seiner Existenz und Negation des<br />

Todes. „Der Geist des Lebens“, der „Strom lebendigen Wassers“,<br />

das aesthetische oder moralische Prinzip der Philosophen, la<br />

„recherche de Dieu“. Bei jedem Volke, auf jeder Phase seiner<br />

Existenz, ist das Ziel seiner Bewegung la recherche de Dieu,<br />

eines Gottes für sich, an den es als den allein wahren glaubt.<br />

Gott ist die synthetische Person eines ganzen Volkes, betrachtet<br />

von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Wenn die Culte anfangen<br />

sich zu generalisiren, ist die Destruktion der Nationalitäten<br />

Page Break KGW='VIII-2.394' KSA='13.152'<br />

nahe. Wenn die Götter ihren Einzel-Charakter verlieren,<br />

sterben sie und mit ihnen die Völker. Je stärker eine Nation,<br />

um so stärker unterscheidet sich ihr Gott. Man hat niemals<br />

ein Volk ohne Religion gefunden (d.h. ohne den Begriff<br />

von Gut und Böse) Jedes Volk versteht diese Worte auf<br />

seine Manier. Wenn diese Ideen auf gleiche Weise bei mehreren<br />

Völkern verstanden werden, so sterben sie und die Differenz<br />

zwischen Gut und Böse beginnt zu erlöschen und zu verschwinden.


Die Vernunft hat diese Begriffe nie definiren können, und<br />

selbst nicht einmal sie auch nur annähernd trennen: immer<br />

hat sie dieselben auf eine schmähliche Weise vermengt: la<br />

science a conclu en faveur de la force brutale. Das ist namentlich<br />

durch die Halb-Wissenschaft geschehen, der größte<br />

Fluch, der Despot, vor dem sich Alles neigt, selbst die<br />

Wissenschaft…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12076 id='VIII.11[347]' kgw='VIII-2.394' ksa='13.152'<br />

Die Juden haben nur gelebt, um den wahren Gott zu erwarten;<br />

die Griechen haben die Natur vergöttlicht und haben der<br />

Welt ihre Religion, das heißt die Philosophie und die Kunst,<br />

vererbt. Rom hat das Volk im Staate vergöttlicht.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12077 id='VIII.11[348]' kgw='VIII-2.394' ksa='13.152'<br />

„Si un grand peuple ne croit pas qu'en lui seul se trouve la<br />

vérité, s'il ne se croit pas seul appelé à ressusciter et à sauver<br />

l'univers par sa vérité, il cesse immédiatement d'être un grand<br />

peuple pour devenir une matière éthnographique.“<br />

Ein wahrhaft großes Volk hat sich niemals mit einer sekundären<br />

Rolle begnügt, eine selbst einflußreiche Rolle genügt ihm<br />

nicht; es bedarf unbedingt der ersten. Die Nation, die auf diese<br />

überzeugung verzichtet, verzichtet auf die Existenz…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12078 id='VIII.11[349]' kgw='VIII-2.394' ksa='13.152'<br />

il y a là un audacieux défi au sens commun: das hat Euch<br />

verführt!…<br />

Page Break KGW='VIII-2.395' KSA='13.153'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12079 id='VIII.11[350]' kgw='VIII-2.395' ksa='13.153'<br />

Die zweite Hälfte des Lebens besteht aus den Gewohnheiten,<br />

die man in der ersten contrahirt hat.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12080 id='VIII.11[351]' kgw='VIII-2.395' ksa='13.153'<br />

il faut être un grand homme pour savoir resister au bon sens:


un grand homme ou un imbécile.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12081 id='VIII.11[352]' kgw='VIII-2.395' ksa='13.153'<br />

Malebranche hat gesagt, Gott, weil er Gott sei, habe nur mit<br />

den einfachsten Mitteln handeln können<br />

„Dieu, parce qu'il était Dieu, ne pouvait agir que par les<br />

voies les plus simples“<br />

Folglich — giebt es keinen Gott.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12082 id='VIII.11[353]' kgw='VIII-2.395' ksa='13.153'<br />

„Seinem Gefühle folgen?“<br />

Daß man, einem genereusen Gefühle nachgebend, sein<br />

Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks:<br />

das ist wenig werth… und charakterisirt nicht einmal…<br />

in der Fähigkeit dazu sind sich Alle gleich — und in der<br />

Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit und Corse<br />

uns honneten Menschen gewiß…<br />

Die höhere Stufe ist: auch diesen Andrang bei sich zu<br />

überwinden und die heroische That nicht auf Impulse hin zu<br />

thun, — sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische<br />

überwallen von Lustgefühlen dabei …<br />

Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst habituell durch die<br />

raison durchgesiebt sein, im anderen Fall ist es so gefährlich,<br />

wie irgend ein Affekt…<br />

Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen Affekt, sehr<br />

gleichgültig, ob es ein genereuser und mitleidiger oder feindseliger<br />

ist, ist die Ursache der größten Übel…<br />

Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese<br />

Page Break KGW='VIII-2.396' KSA='13.154'<br />

Affekte nicht besitzt — im Gegentheil, man hat sie im furchtbarsten<br />

Grade: aber daß man sie am Zügel führt… und auch<br />

das noch ohne Lust an dieser Bändigung, sondern bloß weil…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12083 id='VIII.11[354]' kgw='VIII-2.396' ksa='13.154'<br />

Christliche Mißverständnisse<br />

Der Schächer am Kreuz: — wenn der Verbrecher<br />

selbst, der einen schmerzhaften Tod leidet, urtheilt: „so, wie<br />

dieser Jesus, ohne Revolte, ohne Feindschaft, gütig, ergehen, leidet<br />

und stirbt, so allein ist es das Rechte“: hat er das Evangelium<br />

bejaht: und damit ist er im Paradiese…


Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens ( — von den<br />

Kindern wird gesagt „denn ihrer ist das Himmelreich“); nichts,<br />

was „über der Erde“ ist.<br />

Das Reich Gottes „kommt“ nicht chronologisch-historisch,<br />

nicht nach dem Kalender, etwas, das eines Tages da wäre und<br />

Tags vorher nicht: sondern es ist eine „Sinnes-Änderung im<br />

Einzelnen“, etwas das jeder Zeit kommt und jeder Zeit noch nicht<br />

da ist…<br />

Moral: der Stifter des Christenthums hat es büßen müssen,<br />

daß er sich an die niedrigste Schicht der jüdischen Gesellschaft<br />

und Intelligenz gewendet hat…<br />

— sie hat ihn nach dem Geiste concipirt, den sie begriff…<br />

— es ist eine wahre Schande, eine Heilsgeschichte, einen<br />

persönlichen Gott, einen persönlichen Erlöser, eine persönliche<br />

Unsterblichkeit herausfabrizirt zu haben und die ganze Mesquinerie<br />

der „Person“ und der „Historie“ übrig behalten zu haben aus<br />

einer Lehre, die allem Persönlichen und Historischen die Realität<br />

bestreitet…<br />

Die Heils-Legende an Stelle der symbolischen Jetzt- und<br />

Allzeit, Hier und überall, das Mirakel an Stelle des psychologischen<br />

Symbols<br />

Page Break KGW='VIII-2.397' KSA='13.155'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12084 id='VIII.11[355]' kgw='VIII-2.397' ksa='13.155'<br />

Wenn ich irgend etwas von diesem großen Symboliker<br />

verstehe, so ist es dies, daß er nur innere Realitäten sah und<br />

anerkannte: daß er den Rest (alles Natürliche, Historische,<br />

Politische) nur als Zeichen und Gelegenheit zum Gleichniß<br />

verstand — nicht als Realität, nicht als „wahre Welt“…<br />

Insgleichen ist der Menschen-Sohn nicht eine concrete Person<br />

der Geschichte sondern ein „ewiges Faktum“, ein nicht in die<br />

Zeit eingesperrtes psychologisches Symbol…<br />

Dasselbe gilt endlich im höchsten Grade noch einmal vom<br />

Gott dieses typischen Symbolikers… vom Reich Gottes, vom<br />

„Himmelreich“…<br />

der „Vater“ und der „Sohn“: letzterer drückt den Eintritt<br />

in jenen Gesammtverklärungs-zustand aller Dinge aus, ersterer<br />

ist eben dieser…<br />

— und diese Vorstellung hat man so weit mißverstanden,<br />

daß man die Amphitryon-Geschichte (einen schlecht maskirten<br />

Ehebruch) an die Spitze des neuen Glaubens gestellt hat (nebst<br />

der abscheulichen Vorstellung einer unbefleckten Empfängniß:<br />

wie als ob an sich die Empfängniß etwas Beflecktes wäre — )<br />

Die tiefe Entartung 1) durch das Historisch-Verstehen-wollen<br />

2) durch das Mirakel-Sehen-wollen<br />

( — wie als ob es sich um<br />

durchbrochene und überwundene


Naturgesetze handelte!)<br />

3) — — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12085 id='VIII.11[356]' kgw='VIII-2.397' ksa='13.155'<br />

Man kann das Christenthum gar nicht mehr mißverstehen,<br />

als wenn man annimmt, daß zu Anfang die grobe<br />

Wunderthäter- und Erlöser-Geschichte steht und daß das<br />

Spiritual- und Symbolisch-Nehmen erst eine spätere Form der<br />

Metamorphose ist…<br />

Page Break KGW='VIII-2.398' KSA='13.156'<br />

Umgekehrt: die Geschichte des Christenthums ist die<br />

Geschichte des schrittweisen immer gröberen<br />

Mißverstehen-müssens eines sublimen Symbolismus…:<br />

mit jeder Ausbreitung des Christenthums über immer<br />

breitere und rohere Massen, die den Ursprungs-Instinkten des<br />

Christenthums fern standen ( — denen alle Voraussetzungen<br />

abgiengen, es zu verstehen — ) ist eine Legendengeschichte, eine<br />

Theologie, eine Kirchen-Gründung zum Vorschein gekommen —:<br />

das Bedürfniß der niedrigsten, später der barbarischen Schichten<br />

brachte die Nothwendigkeit mit sich, das Christenthum erst zu<br />

vulgarisiren, dann zu barbarisiren…<br />

Die Kirche ist der Wille, die Vulgär- und Barbaren-Sprache<br />

des Christenthums als „die Wahrheit“ aufrecht zu erhalten —<br />

… und heute noch!<br />

Der Paulinische, der Augustinische Platonismus —: bis<br />

endlich diese schamlose Carikatur von Philosophie und Rabbinismus<br />

fertig geworden ist, die christliche Theologie…<br />

die unwürdigen Bestandtheile des Christenthums:<br />

das Wunder<br />

die Hierarchie der Seelen, die Rangordnung<br />

die Heilsgeschichte und der Glaube an sie…<br />

der Begriff der „Sünde“<br />

die Geschichte des Christenthums ist die Nothwendigkeit,<br />

daß ein Glaube selbst so niedrig und vulgär wird, als die<br />

Bedürfnisse sind, die mit ihm befriedigt werden sollen —<br />

…man denke an Luther! Was könnte eine mit so groben<br />

Begierden überladene Natur mit dem ursprünglichen Christenthum<br />

anfangen!<br />

die jüdische Stufe der Entnatürlichung: „Abfall,<br />

Unglück, Buße, Versöhnung“ als übrig gebliebenes Schema, —<br />

im übrigen Haß gegen die „Welt“<br />

Jesus geht direkt auf den Zustand los, das „Himmelreich“ im<br />

Herzen und findet die Mittel nicht in der Observanz der<br />

jüdischen Kirche — er rechnet selbst die Realität des Judenthums<br />

Page Break KGW='VIII-2.399' KSA='13.157'


(seine Nöthigung, sich zu erhalten) für nichts; er ist rein<br />

innerlich —<br />

ebenso macht er sich nichts aus den sämmtlichen groben<br />

Formeln im Verkehr mit Gott: er wehrt sich gegen die ganze<br />

Buß- und Versöhnungs-Lehre; er zeigt, wie man leben muß, um sich<br />

als „vergöttlicht“ zu fühlen — und wie man nicht mit Buße und<br />

Zerknirschung über seine Sünden dazu kommt: „es liegt<br />

nichts an Sünde“ ist sein Haupturtheil. Um „göttlich“ zu<br />

werden, ist die Hauptsache, daß man sich satt hat: insofern ist<br />

sogar der Sünder besser denn als der Gerechte…<br />

Sünde, Buße, Vergebung, — das gehört Alles nicht her…<br />

das ist eingemischtes Judenthum, oder es ist heidnisch<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12086 id='VIII.11[357]' kgw='VIII-2.399' ksa='13.157'<br />

der tiefe Instinkt dafür, wie man leben müsse, um sich „im<br />

Himmel“ zu fühlen, während man sich im anderen Falle durchaus<br />

nicht im Himmel fühlt… das ist die psychologische Realität<br />

des Christenthums<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12087 id='VIII.11[358]' kgw='VIII-2.399' ksa='13.157'<br />

Unser neunzehntes Jahrhundert hat endlich die Voraussetzung,<br />

um etwas zu verstehen, das neunzehn Jahrhunderte im<br />

Grunde mißverstanden worden ist — das Christenthum…<br />

Man war unsäglich fern von jener liebevollen und gewissenhaften<br />

Neutralität — Zustand voller Sympathie und Zucht des<br />

Geistes — man war in einer schmählichen Weise, zu allen Zeiten<br />

der Kirche, egoistisch-blind, zudringlich, unverschämt, immer<br />

mit der Miene unterwürfigster Verehrung<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12088 id='VIII.11[359]' kgw='VIII-2.399' ksa='13.157'<br />

der Symbolism des Christenthums ruht auf dem jüdischen,<br />

der auch schon die ganze Realität (Historie, Natur)<br />

in eine heilige Unnatürlichkeit und Unrealität aufgelöst<br />

hatte… der die wirkliche Geschichte nicht mehr sehen wollte —,<br />

der sich für den natürlichen Erfolg nicht mehr interessirte —<br />

Page Break KGW='VIII-2.400' KSA='13.158'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12089 id='VIII.11[360]' kgw='VIII-2.400' ksa='13.158'


Man soll dem, der böse gegen uns ist, weder durch die That,<br />

noch im Herzen Widerstand leisten.<br />

Man soll keinen Grund anerkennen, sich von seinem Weibe<br />

zu scheiden. Vielleicht auch: „man soll sich verschneiden“.<br />

Man soll keinen Unterschied zwischen(1670) Fremden und<br />

Einheimischen, Ausländern und Volksgenossen machen.<br />

Man soll sich gegen Niemanden erzürnen, man soll Niemanden<br />

geringschätzen… Gebt Almosen im Verborgenen — man<br />

soll nicht reich werden wollen —<br />

Man soll nicht schwören — Man soll nicht richten — Man<br />

soll sich versöhnen, man soll vergehen — betet nicht öffentlich —<br />

Lasset eure guten Werke sehen, lasset euer Licht leuchten!<br />

Wer wird in den Himmel kommen? Der den Willen meines<br />

Vaters im Himmel thut…<br />

Die „Seligkeit“ ist nichts Verheißenes: sie ist da, wenn<br />

man so und so lebt und thut:<br />

Ist nicht die Kirche genau das: „falsche Propheten in<br />

Schafskleidern, inwendig reißende Wölfe“?…<br />

„Weissagen, Wunderthun, Teufel-Austreiben — das ist Alles<br />

nichts“…<br />

Auf eine ganz absurde Weise ist die Lohn- und Straf-Lehre<br />

hineingemengt: es ist Alles damit verdorben.<br />

Insgleichen ist die Praxis der ersten ecclesia militans, des<br />

Apostels und sein Verhalten auf eine ganz verfälschende Weise<br />

als geboten, als voraus festgesetzt dargestellt…<br />

die nachträgliche Verherrlichung des thatsächlichen Lebens<br />

und Lehrens der ersten Christen: wie als ob alles so<br />

vorgeschrieben… und bloß befolgt wäre…<br />

die ganze Propheten- und Wunderthäter-Attitüde, der Zorn,<br />

die Heraufbeschwörung des Gerichts ist eine abscheuliche<br />

Verderbniß (z.B. Marc. 6, 11 „und die welche euch nicht<br />

aufnehmen… ich sage euch, wahrlich, es wird Sodom und Gomorrha<br />

usw.“)<br />

Page Break KGW='VIII-2.401' KSA='13.159'<br />

der Feigenbaum<br />

„Ein Prophet gilt nirgends weniger, als daheim, als bei den<br />

Seinen“: ist Unsinn, das Gegentheil ist die Wahrheit…<br />

Nun gar die Erfüllung der Weissagungen: was<br />

ist da Alles gefälscht und zurecht gemacht worden!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12090 id='VIII.11[361]' kgw='VIII-2.401' ksa='13.159'<br />

NB. Schopenhauer hatte, aus seinem Nihilismus heraus, ein<br />

vollkommenes Recht darauf, das Mitleiden allein als Tugend<br />

übrig zu behalten: mit ihm wird in der That die Verneinung des<br />

Willens zum Leben am kräftigsten gefördert. Das Mitleiden, die


caritas kreuzt, indem es den Deprimirten und Schwachen<br />

gestattet fortzuleben und Nachkommenschaft zu haben? die<br />

natürlichen Gesetze der Entwicklung: es beschleunigt den Verfall, es<br />

zerstört die Gattung, — es verneint das Leben. Warum<br />

erhalten sich die anderen Thier-Gattungen gesund? Weil ihnen<br />

das Mitleiden abgeht.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12091 id='VIII.11[362]' kgw='VIII-2.401' ksa='13.159'<br />

NB. Der antisociale Hang, die Geistesstörung, der Pessimismus:<br />

die drei typischen Formen der décadence. Das Christenthum,<br />

als eine Religion der décadence, wuchs auf<br />

einem Boden auf, der von Degenerirten aller drei Arten<br />

wimmelte<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12092 id='VIII.11[363]' kgw='VIII-2.401' ksa='13.159'<br />

Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es<br />

bleibt übrig, seinen Werth zu bestimmen.<br />

1. Welche Werthe werden durch dasselbe negirt: was<br />

enthält das Gegensatz-Ideal?<br />

Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den<br />

übermuth, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und<br />

eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft,<br />

Page Break KGW='VIII-2.402' KSA='13.160'<br />

der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers,<br />

der Erkenntniß …<br />

: das vornehme Ideal wird negirt: Schönheit, Weisheit,<br />

Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele<br />

setzende, der „zukünftige“ Mensch ( — hier ergiebt sich die<br />

Christlichkeit als Schlußfolgerung des Judenthums — )<br />

2. Ist es realisirbar?<br />

Ja, doch klimatisch bedingt… Ähnlich wie das indische…<br />

Es fehlt die Arbeit… — es löst heraus aus Volk, Staat,<br />

Cultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das<br />

Wissen, die Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den<br />

Handel ab… es löst alles ab, was den Nutzen und Werth des<br />

Menschen ausmacht — es schließt ihn durch eine<br />

Gefühls-Idiosynkrasie ab — unpolitisch, antinational, weder<br />

aggressiv, noch defensiv, — nur möglich innerhalb des festgeordnetsten<br />

Staats- und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen<br />

Parasiten auf allgemeine Unkosten wuchern läßt…<br />

3. es bleibt eine Consequenz des Willens zur Lust — und<br />

zu nichts weiter! „die Seligkeit“ gilt als Etwas, das sich selbst<br />

beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht, — alles übrige


(die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck…<br />

— Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem<br />

Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbniß selbst als<br />

ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen… Dies ist eine<br />

arme Denkweise… Zeichen einer erschöpften Rasse…<br />

Man soll sich nicht täuschen lassen („werdet wie die Kinder“) —<br />

die verwandten Naturen: Franz von Assisi (neurotisch,<br />

epileptisch, Visionär, wie Jesus)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12093 id='VIII.11[364]' kgw='VIII-2.402' ksa='13.160'<br />

Zur Geschichte des Christenthums.<br />

Fortwährende Veränderung des milieu: die christliche Lehre<br />

verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht…<br />

Page Break KGW='VIII-2.403' KSA='13.161'<br />

die Begünstigung der niederen und kleinen Leute…<br />

die Entwicklung der caritas…<br />

der Typus „Christ“ nimmt schrittweise Alles wieder an, was<br />

er ursprünglich negirte (in dessen Negation er<br />

bestand — )<br />

der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson, Arbeiter,<br />

Handelsmann, Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirth,<br />

Künstler, Patriot, Politiker, „Fürst“… er nimmt alle<br />

Thätigkeiten wieder auf, die er abgeschworen hat ( — die<br />

Selbstvertheidigung, das Gerichthalten, das Strafen, das<br />

Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das<br />

Geringschätzen, das Zürnen…)<br />

Das ganze Leben des Christen ist endlich genau das Leben,<br />

von dem Christus die Loslösung predigte…<br />

Die Kirche gehört so gut zum Triumph des Antichristlichen,<br />

wie der moderne Staat, der moderne Nationalismus…<br />

Die Kirche ist die Barbarisirung des Christenthums.<br />

über das Christenthum Herr geworden: der Judaism<br />

(Paulus) der Platonism (Augustin) die Mysterienkulte (Erlösungslehre,<br />

Sinnbild des „Kreuzes“) der Asketismus ( — Feindschaft<br />

gegen die „Natur“, „Vernunft“, „Sinne“, — Orient…)<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12094 id='VIII.11[365]' kgw='VIII-2.403' ksa='13.161'<br />

es fehlt der excentrische Begriff der „Heiligkeit“ —<br />

„Gott“ und „Mensch“ sind nicht auseinander gerissen<br />

das „Wunder“ fehlt — es giebt gar nicht jene Sphäre…<br />

— die einzige, die in Betracht kommt, ist die „geistliche,<br />

(d.h. symbolisch-psychologische) als décadence: Seitenstück zum


„Epicureismus“… das Paradies, nach griechischem Begriff,<br />

auch ein „Garten Epicurs“<br />

es fehlt die Aufgabe in einem solchen Leben<br />

: es will nichts…<br />

Page Break KGW='VIII-2.404' KSA='13.162'<br />

: eine Form der „epikurischen Götter“ —<br />

: es fehlt aller Grund, noch Ziele zu setzen: Kinder zu<br />

haben… alles ist erreicht…<br />

Das Christenthum ist jeden Augenblick noch möglich… Es<br />

ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich<br />

mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre<br />

vom persönlichen Gott, noch von der Sünde, noch<br />

von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung,<br />

noch vom Glauben, es hat schlechterdings keine Metaphysik<br />

nöthig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche<br />

„Naturwissenschaft“…<br />

Wer jetzt sagte „ich will nicht Soldat sein“, „ich kümmere<br />

mich nicht um die Gerichte“, „die Dienste der Polizei werden<br />

von mir nicht in Anspruch genommen“ — der wäre Christ…<br />

„ich will nichts thun, was den Frieden in mir selbst stört: und<br />

wenn ich daran leiden muß, nichts wird mehr mir den Frieden<br />

erhalten als Leiden“…<br />

Die ganze christliche Lehre von dem, was geglaubt werden<br />

soll, die ganze christliche „Wahrheit“ ist eitel Lug und Trug:<br />

und genau das Gegentheil von dem, was den Anfang der christlichen<br />

Bewegung gegeben hat…<br />

das gerade, was im kirchlichen Sinn das Christliche<br />

ist, ist das Antichristliche von Vornherein: lauter Sachen<br />

und Personen statt der Symbole, lauter Historie statt der ewigen<br />

Thatsachen, lauter Formeln, Riten, Dogmen statt einer Praxis<br />

des Lebens… Christlich ist die vollkommene Gleichgültigkeit<br />

gegen Dogmen, Cultus, Priester, Kirche, Theologie.<br />

Die Praxis des Christenthums ist keine Phantasterei, so wenig<br />

die Praxis des Buddhismus sie ist: sie ist ein Mittel, glücklich<br />

zu sein…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12095 id='VIII.11[366]' kgw='VIII-2.404' ksa='13.162'<br />

Unser Zeitalter ist in einem gewissen Sinne reif (nämlich<br />

décadent), wie es die Zeit Buddha's war…<br />

Page Break KGW='VIII-2.405' KSA='13.163'<br />

Deshalb ist eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen<br />

möglich…<br />

die widerlichsten Ausgeburten des antiken Hybridism<br />

Die Barbarisirung der Christlichkeit


<strong>Aphorism</strong> n=12096 id='VIII.11[367]' kgw='VIII-2.405' ksa='13.163'<br />

Christianismi et buddhismi Essentia.<br />

(Vergleichung des ersten Buddhismus und der ersten<br />

Christlichkeit)<br />

Buddhismus Christlichkeit sind Schluß-Religionen:<br />

jenseits der Cultur, der Philosophie, der Kunst, des Staates<br />

A. Gemeinsam: der Kampf gegen die feindseligen Gefühle, —<br />

diese als Quell des übels erkannt. Das „Glück“: nur als<br />

innerlich, — Indifferenz gegen den Anschein und Prunk des<br />

Glückes.<br />

Buddhism: loskommen-wollen vom Leben, philosophische<br />

Klarheit; einem hohen Grad von Geistigkeit<br />

entsprungen, mitten aus den höheren Ständen…<br />

Christlichkeit: will im Grunde dasselbe ( —schon „die<br />

jüdische Kirche“ ist ein décadence-Phänomen des Lebens),<br />

aber, gemäß einer tiefen Unkultur, ohne Wissen um das,<br />

was man will… hängen bleibend bei der „Seligkeit“ als<br />

Ziel…<br />

B. die kräftigsten Instinkte des Lebens nicht mehr als lustvoll<br />

empfunden vielmehr als Leidens-Ursachen<br />

für den Buddhisten: insofern diese Instinkte zum Handeln<br />

antreiben (das Handeln aber als Unlust gilt…)<br />

für den Christen: insofern sie Anlaß zur Feindschaft und<br />

Widerspruch geben (das Feindsein, das Wehe-thun aber<br />

als Unlust, als Störung des „Seelen-Friedens“ gilt)<br />

(Ein tüchtiger Soldat hat umgekehrt keine Freude außer in<br />

einem rechtschaffenen Kriegführen und Feindseinwollen.)<br />

Page Break KGW='VIII-2.406' KSA='13.164'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12097 id='VIII.11[368]' kgw='VIII-2.406' ksa='13.164'<br />

Der Typus Jesus.<br />

Man vergreift sich, wenn man sich ein fanatisches<br />

Element in Jesus hineindenkt… „impérieux“ Renan<br />

— es fehlt alle Tortur im Glauben, es ist eine gute<br />

Botschaft und der Zustand eines „guten Botschafters“…<br />

— dieser Glaube ist nicht erkämpft, hat keine Entwicklung,<br />

keine Katastrophe… vielmehr kindlich… die Kindheit ist bei<br />

solchen Naturen wie eine Krankheit zurückgetreten —<br />

— dieser Glaube zürnt nicht, tadelt nicht, straft nicht, wehrt<br />

sich nicht —<br />

— dieser Glaube bringt nicht „das Schwert“… er ahnt nicht,<br />

daß er trennen könnte…<br />

— dieser Glaube beweist sich weder durch Wunder, noch


durch Versprechung auf Lohn… er selbst ist jeden Augenblick<br />

sein Beweis, sein Lohn, sein Wunder —<br />

— dieser Glaube formulirt sich nicht, weil er lebt —… er<br />

hält nichts sonst für real… „wahr“ d.h. lebendig…<br />

— die Zufälle der Vorbildung, der Lektüre (die Propheten)<br />

bestimmen seine Begriffs-Sprache: das Jüdische am Christenthum<br />

ist vor allem die jüdische Begriffswelt. Vehikel, die jüdische<br />

Psychologie: aber man hüte sich hier zu verwechseln —: ein<br />

Christ in Indien hätte sich der Formeln der Sankhya-Philosophie<br />

bedient, in China der des Laotse — darauf kommt gar<br />

nichts an —<br />

Christus(1671) als „freier Geist“: er macht sich aus allem<br />

Festen nichts (Wort, Formel, Kirche, Gesetz, Dogmen) „alles,<br />

was fest ist, tödtet…“ er glaubt nur ans Leben und Lebendige<br />

— und das „ist“ nicht, das wird…<br />

: er steht außerhalb aller Metaphysik, Religion, Historie,<br />

Naturwissenschaft, Psychologie, Ethik —: er hat nie geahnt,<br />

daß es dergleichen giebt…<br />

: er redet bloß vom Innersten, von Erlebnissen: alles<br />

Übrige hat den Sinn eines Zeichens und eines Sprachmittels —<br />

Page Break KGW='VIII-2.407' KSA='13.165'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12098 id='VIII.11[369]' kgw='VIII-2.407' ksa='13.165'<br />

Zum Typus Jesus.<br />

— Was abzuziehen bleibt? die ganze Art Motivirung<br />

der Weisheit Christi, insgleichen seiner Lebensakte… letztere<br />

sollen als Gehorsam gegen die Verheißungen gethan sein; er<br />

erfüllt, er hat ein Schema von alle dem, was der Messias zu thun<br />

und zu leiden hat, ein Programm… Andererseits ist jedes „denn“<br />

im Munde Jesus unevangelisch… Nutzen, Schlauheit,<br />

Lohn, Strafe…<br />

— Was abzuziehen bleibt: das reichliche Maaß<br />

Galle, was aus dem erregten Zustand der ersten Propaganda<br />

auf den Typus ihres Meisters übergeflossen ist… sie machte ihn<br />

nach ihrem Bilde, sie rechtfertigte sich, indem sie sich einen<br />

richtenden, hadernden, zürnenden, hassenden Propheten aus ihm<br />

zurecht machte … sie brauchte ein solches „Vorbild“—:<br />

insgleichen den Glauben an die „Wiederkunft“, an das „Gericht“<br />

( — das ist jüdisch, s. Apocalypse)<br />

Der psychologische Aberwitz und Widerspruch<br />

in der Attitüde Jesus wider die Cleriker und Theologen<br />

der jüdischen Kirche…<br />

Insgleichen in dem richterlichen Gebahren in Hinsicht auf die,<br />

welche ihn nicht annehmen…<br />

Insgleichen in der typischen Geschichte vom Feigenbaum —<br />

Das psychologische Problem in Hinsicht auf den<br />

Lehrer einer solchen Lehre ist exakt: „wie verhält er sich zu


anderen Lehren und Lehrern?“<br />

Seine Lehre selbst ist nicht aus dem Gegensatz und Widerspruch<br />

gewachsen: ich zweifle, daß eine solche Natur um den Gegensatz und<br />

Widerspruch zu seiner Lehre wissen kann… Es fehlt ihr absolut die<br />

freie Imagination des Anders-Werthen- und -Wollen-könnens…<br />

sie kann das gegentheilige Urtheilen sich nicht vorstellen…<br />

Wo sie es trifft, wird sie mit dem innerlichsten Mitgefühl nur über<br />

eine „Blindheit“ trauern, aber nicht dagegen sprechen…<br />

Page Break KGW='VIII-2.408' KSA='13.166'<br />

Es fehlt die Dialektik, es fehlt der Glaube an irgend eine<br />

Beweisbarkeit der Lehre, außer der durch „innerliche Wirkungen“<br />

(„Früchte“, „Beweis der Kraft“<br />

ein solcher Lehrer kann nicht widersprechen… er versteht<br />

gar nicht, wie man den Irrthum bekämpfen dürfe… er<br />

vertheidigt sich nicht, er greift nicht an…<br />

Dagegen ist das Erklären, Fortsetzen, Subtilisiren,<br />

Transfiguriren des Alten seine Sache… das Abkürzen…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12099 id='VIII.11[370]' kgw='VIII-2.408' ksa='13.166'<br />

eine nihilistische Religion, einem greisenhaft-zähen,<br />

alle starken Instinkte überlebt habenden Volke entsprungen und<br />

gemäß — Schritt für Schritt in andre milieu's übertragen,<br />

endlich in die jungen, noch gar nicht gelebt habenden<br />

Völker eintretend —<br />

sehr seltsam! eine Schluß- Hirten- Abend-Glückseligkeit<br />

Barbaren, Germanen gepredigt! Wie mußte das alles erst<br />

germanisirt, barbarisirt werden! solchen, die ein Walhall<br />

geträumt hatten… —: die alles Glück im Kriege fanden! — eine<br />

übernationale Religion in ein Chaos hinein gepredigt, wo<br />

noch nicht einmal Nationen da waren —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12100 id='VIII.11[371]' kgw='VIII-2.408' ksa='13.166'<br />

: diese nihilistische Religion sucht sich die<br />

Decadence-Elemente und Verwandtes im Alterthum<br />

zusammen, nämlich:<br />

a) die Partei der Schwachen und Mißrathenen…<br />

(den Ausschuß der antiken Welt: das, was sie am kräftigsten<br />

von sich stieß…<br />

b) die Partei der Vermoralisirten und Antiheidnischen…<br />

c) die Partei der Politisch-Ermüdeten und Indifferenten<br />

(blasirte Römer…) der Entnationalisirten,<br />

denen eine Leere geblieben war


Page Break KGW='VIII-2.409' KSA='13.167'<br />

d) die Partei derer, die sich satt haben, — die gern an einer<br />

unterirdischen Verschwörung mit arbeiten —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12101 id='VIII.11[372]' kgw='VIII-2.409' ksa='13.167'<br />

das Christenthum war im Alterthum die große nihilistische<br />

Bewegung, die damit endete, daß sie siegte: und<br />

nun mehr regierte sie…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12102 id='VIII.11[373]' kgw='VIII-2.409' ksa='13.167'<br />

Die beiden großen nihilistischen Bewegungen: a) der<br />

Buddhism b) das Christenthum: letzteres hat erst jetzt ungefähr<br />

Cultur-Zustände erreicht, in denen es seine ursprüngliche<br />

Bestimmung erfüllen kann — ein Niveau, zu dem es<br />

gehört… in dem es sich rein zeigen kann…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12103 id='VIII.11[374]' kgw='VIII-2.409' ksa='13.167'<br />

Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung,<br />

wir können nachrechnen, wie nie nachgerechnet worden<br />

ist: wir sind das Selbstbewußtsein der Historie überhaupt…<br />

Wir genießen anders, wir leiden anders: die Vergleichung<br />

eines unerhört Vielfachen ist unsere instinktivste Thätigkeit…<br />

Wir verstehen Alles, wir leben Alles, wir haben kein<br />

feindseliges Gefühl mehr zurück… Ob wir selbst dabei schlecht<br />

wegkommen, unsere entgegenkommende und beinahe liebevolle<br />

Neugierde geht ungescheut auf die gefährlichsten Dinge los…<br />

„Alles ist gut“ — es kostet uns Mühe, zu verneinen…<br />

Wir leiden, wenn wir einmal so unintelligent werden, Partei<br />

gegen etwas zu nehmen…<br />

Im Grunde erfüllen wir Gelehrten heute am besten die Lehre<br />

Christi — —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12104 id='VIII.11[375]' kgw='VIII-2.409' ksa='13.167'<br />

Zur Kritik der griechischen Philosophie<br />

Das Erscheinen der griechischen Philosophen(1672) von Socrates<br />

an ist ein Symptom der décadence; die antihellenischen Instinkte<br />

kommen oben auf…


Page Break KGW='VIII-2.410' KSA='13.168'<br />

Noch ganz hellenisch ist der „Sophist“ — eingerechnet<br />

Anaxagoras, Demokrit, die großen Jonier —<br />

Aber als übergangsform: die Polis verliert ihren Glauben an<br />

ihre Einzigkeit(1673) der Cultur, an ihr Herren-Recht über jede<br />

andere Polis…<br />

man tauscht die Cultur d.h. „die Götter“ aus, — man<br />

verliert dabei den Glauben an das Allein-Vorrecht des deus<br />

autochthonus…<br />

das Gut und Böse verschiedener Abkunft mischt sich: die<br />

Grenze zwischen Gut und Böse verwischt sich…<br />

Das ist der „Sophist“ —<br />

Der „Philosoph“ dagegen ist die Reaktion: er will die<br />

alte Tugend…<br />

— er sieht die Gründe des Verfalls(1674) im Verfall der<br />

Institutionen, er will alte Institutionen —<br />

— er sieht den Verfall im Verfall der Autorität: er sucht<br />

nach neuen Autoritäten (Reisen ins Ausland, in fremde Litteraturen,<br />

in exotische Religionen…)<br />

— er will die ideale Polis, nachdem der Begriff „Polis“<br />

sich überlebt hatte (ungefähr wie die Juden sich als „Volk“<br />

festhielten, nachdem sie in Knechtschaft gefallen waren)<br />

: sie interessiren sich für alle Tyrannen: sie wollen die<br />

Tugend mit force majeure wiederherstellen —<br />

— allmählich wird alles Ächthellenische verantwortlich<br />

gemacht für den Verfall (und Plato ist genau so<br />

undankbar gegen Homer, Tragödie, Rhetorik, Pericles, wie die<br />

Propheten gegen David und Saul)<br />

— der Niedergang von Griechenland wird<br />

als Einwand gegen die Grundlagen der hellenischen<br />

Cultur verstanden: Grundirrthum der<br />

Philosophen —<br />

Schluß: die griechische Welt geht zu Grunde. Ursache:<br />

Homer, der Mythos, die antike Sittlichkeit usw.<br />

Page Break KGW='VIII-2.411' KSA='13.169'<br />

Die antihellenische Entwicklung des Philosophen-Werthurtheils:<br />

: das Aegyptische („Leben nach dem Tode“ als Gericht…)<br />

: das Semitische (die „Würde des Weisen“, der „Sheikh“ —<br />

: die Pythagoreer, die unterirdischen Culte, das Schweigen,<br />

die Jenseits-Furchtmittel; die Mathematik: religiöse Schätzung,<br />

eine Art Verkehr mit dem kosmischen All<br />

: das Priesterliche, Asketische, Transscendente —<br />

: die Dialektik, — ich denke, es ist eine abscheuliche<br />

und pedantische Begriffsklauberei schon in Plato?<br />

Niedergang des guten geistigen Geschmacks: man empfindet<br />

das Häßliche und Klappernde aller direkten Dialektik bereits<br />

nicht mehr.


Neben einander gehen die beiden décadence-Bewegungen<br />

und Extreme:<br />

a) die üppige, liebenswürdig-boshafte, prunk- und<br />

kunstliebende décadence,<br />

b) und die Verdüsterung des religiös-moralischen Pathos, die<br />

stoische Selbst-Verhärtung, die platonische Sinnen-Verleumdung,<br />

die Vorbereitung des Bodens für das Christenthum…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12105 id='VIII.11[376]' kgw='VIII-2.411' ksa='13.169'<br />

NB unsere heiligsten überzeugungen, unser unwandelbares<br />

in Hinsicht der obersten Werthe sind Urtheile unserer<br />

Muskeln.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12106 id='VIII.11[377]' kgw='VIII-2.411' ksa='13.169'<br />

Aus J. Wellhausen<br />

Gerechtigkeit als sociales Erforderniß:<br />

„die Gerechtigkeit der Bergpredigt kann erst an die Reihe<br />

kommen, wenn die bürgerliche Rechtsordnung selbstverständlich<br />

ist“…<br />

die Juden haben mit dem Hochmuth einer geistlichen Aristokratie<br />

als Fundament, auf dem ihr künstliches Gebilde von<br />

Page Break KGW='VIII-2.412' KSA='13.170'<br />

Theokratie erst möglich war, den Staat verachtet… Ohne den<br />

Staat kann keine „Kirche“ bestehen… Die Fremdherrschaft hält<br />

das Pathos der Distanz aufrecht.<br />

die Stufen der Entnatürlichung:<br />

: durch die Aufrichtung des Königthums gab es erst eine<br />

Nation, eine Einheit, ein Gesammt-Selbstbewußtsein: aber<br />

damit war der „Gott der Wüste“ und ebenso der (Kanaaniten-)<br />

übernommene Naturgott des Ackerbaus und der Viehzucht<br />

(Baal-Dionysus) — — — Der Festcultus blieb zwar noch lange<br />

halb-heidnisch; aber bezog sich immer mehr auf die Schicksale<br />

der Nation und streifte seinen Naturcharakter ab. Javeh zu Volk<br />

und Reich in nothwendiger Beziehung: dieser Glaube stand auch<br />

den schlimmsten Götzendienern fest: von Niemandem anderen<br />

kam Sieg und Heil. Der bürgerliche Staat war das Wunder,<br />

war „die Hülfe Gottes“: „die obrigkeitliche Vorsehung“<br />

blieb ihnen ein Ideal ( — offenbar weil sie ihnen fehlte…)<br />

Als das Reich in Spaltung und Gefahr geräth, als man in<br />

einer Anarchie und äußeren Zertrümmerung fortlebt, in Furcht<br />

vor dem Assyrer, träumt man um so stärker die Wiederkehr<br />

des vollkommenen königlichen Regiments, des nationalen<br />

Staates in aller Unabhängigkeit: diese Art Phantasie


ist die prophetische. Jesaia ist höchster Typus mit seinen<br />

sogenannten messianischen Weissagungen — Propheten<br />

waren Kritiker und Satyriker, Anarchisten; im Grunde hatten<br />

sie nichts zu sagen, die Leitung war in anderen Händen; sie<br />

wollen die Wiederaufrichtung des bürgerlichen Staates; sie wünschen<br />

durchaus kein „goldenes Zeitalter“, sondern ein straffes und<br />

strenges Regiment, einen Fürsten mit militärischen und religiösen<br />

Instinkten, der das Vertrauen in Jahve wieder aufrichtet.<br />

Das ist der „Messias“: jeder moderne Souverän hätte der<br />

Sehnsucht der Propheten genug gethan, vielleicht zu sehr selbst: wie<br />

man fürchten muß…<br />

Aber es erfüllte sich Nichts. Man hatte die Wahl, seinen alten<br />

Gott aufzugeben oder aus ihm etwas Anderes zu machen. Letzteres<br />

Page Break KGW='VIII-2.413' KSA='13.171'<br />

thaten z.B. Elias und Amos: sie zerschnitten das Band,<br />

genauer die Einheit von Volk und Gott; sie trennten nicht nur,<br />

sondern sie hoben die eine Seite hoch empor und drückten die<br />

andere herab: sie concipirten ein neues Verhältniß zwischen<br />

beiden Theilen, ein Versöhnungsverhältniß. Jahve war<br />

bisher der Gott Israels und folglich Gott der Gerechtigkeit: jetzt<br />

wurde er zuerst und -oberst der Gott der Gerechtigkeit<br />

und, abseits davon erst, der Gott Israels. Die Thora Jahves,<br />

ursprünglich wie all sein Thun ein Helfen, ein Rechtschaffen,<br />

Wegweisen, Lösen verwickelter Probleme wurde Inbegriff seiner<br />

Forderungen, von denen seine Beziehung zu Israel abhieng.<br />

Ein Gesetz wurde dadurch rechtskräftig, daß die, denen es<br />

galt, sich verpflichteten, es zu halten. „Vertrag“ für Gesetz.<br />

Ursprünglich hatten die verschiedenen Vertreter des Volkes sich<br />

verpflichtet zur Haltung des „Gesetzes“, jetzt sollen Jahve und<br />

Israel die Contrahenten sein… Seit dem feierlichen Akt, durch<br />

den Josia das Gesetz einführte, trat die Idee der Bundschließung<br />

zwischen Jahve und Israel in die Mitte der religiösen Reflexion.<br />

Das babylonische wie das assyrische Exil hat beigetragen, daß<br />

man sich mit der Idee der Bedingtheit, der eventuellen Lösung<br />

vertraut machte.<br />

Der Untergang des Reichs gab den schwärmerischen Phantasien<br />

freien Lauf: das Gegensatz-Gefühl gegen den<br />

ganzen Rest breitet sich aus: seit dem Exil wird von einer<br />

allgemeinen Vereinigung aller Völker gegen das „neue Jerusalem“<br />

phantasirt. Früher war der nationale Staat der höchste<br />

Wunsch, jetzt wird von einer universalen Weltherrschaft<br />

geträumt, welche über den Trümmern der heidnischen Reiche sich<br />

in Jerusalem erheben sollte.<br />

Die Gefahr war, daß die jüdischen Exulanten, wie vorher die<br />

samarischen, von den Heiden absorbirt würden. Man organisirt<br />

nun den heiligen Rest, damit er übrig bleibt, als Träger der<br />

Verheißung und die Stürme der Zwischenzeit überdauert…<br />

Gleichberechtigung der contrahirenden Theile nicht


Page Break KGW='VIII-2.414' KSA='13.172'<br />

wesentlich: das Wort berith auch von der Capitulation, deren<br />

Bedingungen der stärkere auflegt —<br />

Fortsetzung: Wellhausen.<br />

Worauf hin konnte man organisiren? Die Wiedererrichtung<br />

eines wirklichen Staates war unmöglich; die Fremdherrschaft ließ<br />

eine solche nicht zu. Da zeigte sich die Wichtigkeit der<br />

Institutionen.<br />

Das alte Gemeinwesen der Königszeit stand bei den<br />

Männern der Restauration in schlimmem Rufe: ersichtlich war es<br />

durch Jahve verworfen… Man erinnerte sich an die<br />

Propheten, welche sagten, Festungen, Rosse, Kriegsleute, Könige,<br />

Fürsten — das hilft Alles nichts…<br />

Der jüdische Reichstempel in Jerusalem — unter dem Schatten<br />

des Königthums waren die Priester von Jerusalem groß<br />

geworden. Je schwächer der Staat, je höher das Ansehen des<br />

Tempels, desto selbstständiger die Macht der Priesterschaft.<br />

Aufschwung des Cultus im siebenten Jahrhundert, Einführung<br />

kostspieligen Materials z.B. Weihrauchs, Bevorzugung der<br />

schweren Leistungen (Kinder- und Sühnopfer) Blutiger<br />

Ernst in der Ausübung des Gottesdienstes<br />

Als das Reich zusammenbrach, waren im Stand der Priester<br />

die Elemente vorhanden zur Organisirung der „Gemeinde“.<br />

Die Bräuche und Ordnungen waren in der Hauptsache da: sie<br />

wurden systematisirt, als Mittel zur Herstellung einer<br />

Organisation des Restes…<br />

Die „heilige Verfassung des Judenthums“: das Kunstprodukt…<br />

Israel darauf reduzirt, ein „Reich von Priestern<br />

und ein heiliges Volk zu sein“. Früher hatte die natürliche<br />

Ordnung der Gesellschaft ihren Halt im Gottesglauben; jetzt<br />

sollte der Gottesstaat sichtbar dargestellt werden in einer<br />

künstlichen Sphäre, jedenfalls im gewöhnlichen Volksleben. Die Idee,<br />

die früher die Natur durchdrang, sollte jetzt einen eigenen<br />

heiligen Körper haben. Ein äußerlicher Gegensatz von Heilig<br />

Page Break KGW='VIII-2.415' KSA='13.173'<br />

und Profan entstand, man gränzte ab, man drängte das<br />

Naturgebiet immer weiter zurück… (Ressentiment<br />

thätig — ) Die Heiligkeit, leer, antithetisch, wird der regierende<br />

Begriff: ursprünglich = göttlich, jetzt gleich priesterlich,<br />

geistlich, — als sei das Göttliche dem Weltlichen,<br />

Natürlichen durch äußere Merkmale entgegengesetzt —<br />

Hierocratie… unter ungünstigen Bedingungen mit ewig<br />

staunenswürdiger Energie durchgesetztes Kunstprodukt, unpolitisch:<br />

die mosaische Theokratie, das residuum eines untergegangenen<br />

Staates — sie hat die Fremdherrschaft zur Voraussetzung.<br />

Nächstverwandt mit der altkatholischen Kirche, in der That<br />

deren Mutter…


Worin der Rückschritt lag. Jahves Gesetz bedeutete die<br />

jüdische Eigenthümlichkeit im Gegensatz zu den Heiden. Diese<br />

lag in Wahrheit nicht im Cultus: man kann zwischen griechischen<br />

und hebräischen Riten keine wesentliche Differenz ausfindig<br />

machen. Der Cultus ist das Heidnische in der Religion Israels:<br />

im Priestercodex wird er die Hauptsache. Ist das nicht ein<br />

Rückschritt ins Heidenthum? — es ist das, was die<br />

Propheten am Gründlichsten bekämpft haben. — Ebenfalls: der<br />

Cultus ist durch die Priestergesetzgebung seinem eignen Wesen<br />

entfremdet und in sich überwunden. Die Feste haben alle Erinnerung<br />

an Ernte und Viehzucht verloren, sie sind zu historischen<br />

Erinnerungstagen geworden; sie verleugnen ihre Herkunft aus<br />

der Natur, sie feiern die Stiftung einer übernatürlichen Religion<br />

und der Gnadenthaten Jahve's. Das allgemein Menschliche, das<br />

Freiwüchsige geht davon, sie werden statutarisch und spezifisch<br />

israelitisch… Sie ziehen nicht mehr die Gottheit ins irdische Leben,<br />

daß sie an dessen Freud und Leid theilnehme, sie sind keine<br />

Versuche mehr, ihr etwas zu Gute zu thun und sie gnädig zu<br />

stimmen. Nichts als göttliche Gnadenmittel, die<br />

Jahve, als Sakramente der Hierarchie, eingesetzt hat. Sie<br />

gründen sich nicht auf den inneren Werth der Sache, auf frische<br />

Page Break KGW='VIII-2.416' KSA='13.174'<br />

Anlässe, sondern auf den peinlich-genauen Befehl eines unmotivirten<br />

Willens. Das Band zwischen Cult und Sinnlichkeit zerschnitten.<br />

Der Cult eine übung der Gottseligkeit; keine natürliche<br />

sondern nur eine transscendente, unvergleichliche und<br />

unangebbare Bedeutung. Seine Hauptwirkung die Sühne. Seit dem<br />

Exil ist das Sündenbewußtsein permanent; Israel von Gottes<br />

Angesicht verworfen…<br />

Das Werthvolle in den Darbringungen nicht in ihnen selbst,<br />

sondern im Gehorsam gegen Vorschriften; das Schwergewicht<br />

des Cultus in ein ihm fremdes Reich, die Moral verlegt.<br />

Opfer und Gaben treten zurück hinter asketischen<br />

Leistungen, die mit der Moral in noch einfacherer Verbindung<br />

stehen. Vorschriften, die ursprünglich größtentheils die Heiligung<br />

der Priester zu gottesdienstlichen Funktionen im Auge<br />

hatten, wurden auf die Laien ausgedehnt; die Beobachtung der<br />

Gebote der leiblichen Reinigkeit war von größerer durchgreifender<br />

Bedeutung als der große öffentliche Cultus und führte auf<br />

geradem Wege zum Ideal der Heiligkeit und des allgemeinen<br />

Priesterthums. Das ganze Leben ward in eine heilige Bahn<br />

eingeengt, indem stets ein göttliches Gebot zu erfüllen war.<br />

das hielt ab, den eigenen Gedanken und Herzenswünschen<br />

nachzuschweifen. Dieser kleine, fortwährend in Anspruch nehmende<br />

Privatcultus hielt das Gefühl der Sünde im Einzelnen<br />

wach und rege.<br />

Der große Patholog des Judenthums hat Recht: der Cultus ist<br />

zum Zuchtmittel geworden. Dem Herzen ist er fremd: er wurzelt<br />

nicht mehr im naiven Sinn: er ist todtes Werk, trotz aller


Wichtigkeit, oder gerade wegen der Peinlichkeit und<br />

Gewissenhaftigkeit. Die alten Bräuche sind zu einem System<br />

zusammengeflickt, zu einem System, das als Form, als harte Schale<br />

diente, um Edleres darin zu retten. Das Heidenthum auf seinem<br />

eigenen Gebiete, im Cult überwunden: der Cultus ist, nachdem<br />

die Natur darin ertödtet war, bloß der Panzer eines<br />

übernatürlichen Monotheismus — Schluss<br />

Page Break KGW='VIII-2.417' KSA='13.175'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12107 id='VIII.11[378]' kgw='VIII-2.417' ksa='13.175'<br />

Meine Theorie vom Typus Jesu.<br />

Der Typus des „Erlösers“ verdorben, ja zerstört…<br />

Ursachen: das geistige Niveau, in dem sich fortwährend<br />

Alles vergröbert, verstellt, verschiebt, die absolute Blindheit<br />

gegen sich selbst ( — hier ist noch nicht einmal der Anfang<br />

der Selbsterkenntniß gemacht — ), die ungeheure Unbedenklichkeit<br />

aller Sektirer, sich ihres Meisters wie ihrer Apologie zu<br />

bedienen… der Verbrecher-Tod Christi als Räthsel…<br />

Es wird im Typus rückständig sein: die Crudität des<br />

Geistes: man wandelt nicht ungestraft unter Fischern<br />

: die falsche Generalisirung zum Allerwelts-Typus des<br />

Wundermanns, Propheten, Messias —<br />

: die nachträgliche Geschichte und Psychologie der jungen<br />

Gemeinde, welche ihre stärksten Affekte in das Bild ihres<br />

Meisters eintrug —<br />

: die kranke ausschweifende Gefühlsamkeit und Verwöhnung<br />

statt aller Vernunft: so daß die Instinkte sofort wieder<br />

Herr werden — es ist nicht die kleinste Spur von Geistigkeit,<br />

von Zucht und Strenge im Geistigen, von Gewissenhaftigkeit.<br />

Wie Schade, daß nicht ein Dostoiewsky unter dieser Gesellschaft<br />

war: in der That gehört die ganze Geschichte am besten in<br />

einen russischen Roman — Krankhaftes, Rührendes,<br />

einzelne Züge sublimer Fremdheit, mitten unter Wüstem<br />

und Schmutzig-Pöbelhaftem… (wie Maria von Magdala<br />

Erst der Tod, der unerwartete schmähliche Tod, erst das<br />

Kreuz, das im Allgemeinen der Canaille aufgespart blieb, — erst<br />

diese schauerlichste Paradoxie brachte die Jünger vor das<br />

eigentliche Räthsel: „wer war das?“, „was war das?“<br />

Das erschütterte und im Tiefsten beleidigte Gefühl, der<br />

Argwohn, es möchte ein solcher Tod die Widerlegung einer<br />

Sache sein, das schreckliche Fragezeichen „warum so?“ — denn<br />

hier mußte Alles nothwendig sein, Sinn, Vernunft, höchste<br />

Vernunft haben —: die Liebe eines Jüngers kennt keinen Zufall:<br />

Page Break KGW='VIII-2.418' KSA='13.176'<br />

erst jetzt trat die Kluft auseinander: „wer hat ihn getödtet?“


„wer war der natürliche Feind?“ Antwort: das herrschende<br />

Judenthum, sein erster Stand<br />

— Man empfand sich selbst im Aufruhr gegen<br />

die „Ordnung“<br />

— man verstand hinterdrein Jesus als im Aufruhr<br />

gegen die Ordnung<br />

Bis dahin fehlte dieser kriegerische Zug in Jesus: mehr<br />

noch, er war unmöglich bei seiner Denkart. Praktisch war auch<br />

sein Verhalten bei der Verurtheilung und dem Tod wohl das<br />

ganze Gegentheil(1675): er widersteht nicht, er vertheidigt sich nicht,<br />

er bittet für sie. Die Worte an den Schächer am Kreuz heißen<br />

nichts anders: wenn du fühlst, daß das das Rechte ist,<br />

nicht-sich-wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen, vielmehr<br />

leiden, mitleiden, vergeben, beten für die, welche uns verfolgen<br />

und tödten: nun, so hast du das Eine, was noth thut, den Frieden<br />

der Seele — so bist du im Paradiese —<br />

Offenbar verstand man gerade die Hauptsache nicht: das<br />

Vorbild von dieser Freiheit von allem Ressentiment:<br />

wieder hat ja der Tod Christi keinen Sinn als das stärkste<br />

Vorbild und die stärkste Erprobung seiner<br />

Lehre zu sein…<br />

Seine Jünger waren alle fern davon, diesen Tod zu verzeihen:<br />

das am meisten unevangelische Gefühl, die Rache kam<br />

obenauf…<br />

Unmöglich konnte die Sache zu Ende sein: man brauchte eine<br />

„Vergeltung“, ein „Gericht“ ( — und nichts ist weniger<br />

evangelisch als Lohn und Strafe!)<br />

Jetzt erst kamen die populären Erwartungen eines Messias<br />

wieder in den Vordergrund: einen historischen Augenblick<br />

erwartend, wo „der Richter“ zu Gericht kommt über seine Feinde…<br />

: jetzt erst mißverstand man das Kommen des „Reichs<br />

Gottes“ wie als Prophezeiung über einen Schlußakt der<br />

Geschichte<br />

Page Break KGW='VIII-2.419' KSA='13.177'<br />

: jetzt erst trug man die ganze Verachtung und Bitterkeit<br />

gegen die Pharisäer und Theologen hinein in den Typus des<br />

Meisters<br />

: man verstand nicht die Hauptsache: daß eben ein solcher<br />

Tod selbst der höchste Sieg über die „Welt“ war (über die<br />

Gefühle von Feindschaft, Rache usw.) — über das Böse, über<br />

den Bösen, dies immer nur als innerliche psychologische<br />

Realität verstanden<br />

: die Verehrung dieser ganz aus dem Gleichgewicht gerathenen<br />

Seelen hielt es nicht aus, jene gültige Gleichberechtigung<br />

von Jedermann zum „Sohn Gottes“, wie sie Jesus gelehrt hatte,<br />

zu glauben: ihre Rache war, auf eine ausschweifende Manier<br />

Jesus emporzuheben ( — ganz so wie die Juden die Rolle<br />

von Israel in die Höhe gehoben hatten, wie als ob der ganze<br />

Rest Welt sein Feind sei. Ursprung der absurden Theologie von


Einem Gott und seinem Einen Sohn —<br />

Problem „wie konnte Gott das zulassen?“ Darauf fand<br />

man die absurde Antwort „er gab seinen Sohn zur Vergebung<br />

der Sünden, als Opfer“. Wie war Alles mißverstanden!!!<br />

Nichts ist unevangelischer als das Schuldopfer und gar das des<br />

Unschuldigen für die Sünden des Schuldigen;<br />

: aber Jesus hatte ja die Sünde abgeschafft! — nicht durch<br />

den „Glauben“, sondern durch das Gefühl der Göttlichkeit,<br />

Gottgleichheit.<br />

Es tritt in den Typus hinein:<br />

a) die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft<br />

b) die Lehre vom Tode als Opfer<br />

c) die Lehre von der Auferstehung: wodurch die ganze<br />

„Seligkeit“, der ganze Sinn des Evangeliums auf einmal eskamotirt<br />

wird zu Gunsten eines Zustandes — „nach dem Tode“…<br />

Paulus, mit rabbinischer Frechheit diese Auffassung<br />

logisirend: „wenn Christus nicht auferstanden ist von den Todten,<br />

so ist unser Glaube eitel“<br />

: zuletzt gar noch die „Unsterblichkeit der Person“<br />

Page Break KGW='VIII-2.420' KSA='13.178'<br />

Und so hatte man in der zweiten Generation nach Jesus<br />

bereits alles das als christlich, was am tiefsten den evangelischen<br />

Instinkten zuwider ging<br />

das Opfer, sogar das Blutopfer, als Erstlingsopfer<br />

Strafe, Lohn, Gericht…<br />

ein Auseinanderhalten von Diesseits und Jenseits, von Zeit<br />

und Ewigkeit<br />

eine Theologie statt einer Praxis, ein „Glaube“ statt einer<br />

Lebensweise<br />

eine tiefe und tödtliche Feindseligkeit gegen alles<br />

Nichtchristliche<br />

die ganze Nothlage des Missionars hat sich in die<br />

Lehre Jesus hineingetragen: alle die harten und bösen<br />

Dinge, gegen die, welche seine Missionare nicht annehmen,<br />

sollen jetzt vom Meister schon proklamirt sein<br />

nachdem einmal in der Hauptsache Gericht, Strafe, Lohn<br />

wieder acceptirt waren, wurde die ganze Lehre und<br />

Sprüchwortweisheit Jesus damit durchtränkt…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12108 id='VIII.11[379]' kgw='VIII-2.420' ksa='13.178'<br />

Der Nihilist.<br />

Das Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und<br />

Armen ein Zugang zum Glück offen steht, — daß man nichts zu<br />

thun hat als sich von der Institution, der Tradition, der<br />

Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist die<br />

Heraufkunft des Christenthums nichts weiter als die typische


Socialisten-Lehre.<br />

Eigenthum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale,<br />

Polizei, Staat, Kirche, Unterricht, Kunst, Militärwesen: Alles<br />

ebenso viele Verhinderungen des Glücks, Irrthümer, Verstrickungen,<br />

Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht ankündigt…<br />

Alles typisch für die Socialistenlehre.<br />

Im Hintergrunde der Aufruhr, die Explosion eines<br />

aufgestauten Widerwillens gegen die „Herren“, der Instinkt dafür,<br />

Page Break KGW='VIII-2.421' KSA='13.179'<br />

wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen<br />

liegen könnte…<br />

Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten zu<br />

menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen<br />

verbotenes Glück bereits auf der Zunge schmecken… Nicht der<br />

Hunger erzeugt Revolutionen, sondern daß das Volk en<br />

mangeant Appetit bekommen hat…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12109 id='VIII.11[380]' kgw='VIII-2.421' ksa='13.179'<br />

Die angebliche Jugend<br />

Man betrügt sich, wenn man hier von einem naiven und jungen<br />

Volks-Dasein träumt, das sich gegen eine alte Cultur abhebt;<br />

es geht der Aberglaube, als ob in diesen Schichten des niedersten<br />

Volkes, wo das Christenthum wuchs und Wurzeln schlug, die<br />

tiefere Quelle des Lebens wieder emporgesprudelt sei: man<br />

versteht nichts von der Psychologie der Christlichkeit, wenn man<br />

sie als Ausdruck einer neu heraufkommenden Volks-Jugend und<br />

Rassen-Verstärkung nimmt. Vielmehr: es ist eine typische<br />

décadence-Form; die Moral-Verzärtlichung und Hysterie einer<br />

müde und ziellos gewordenen, krankhaften Mischmasch-Bevölkerung.<br />

Diese wunderliche Gesellschaft, welche hier um diesen<br />

Meister der Volks-Verführung sich zusammenfindet, gehört<br />

eigentlich sammt und sonders in einen russischen Roman: alle<br />

Nervenkrankheiten geben sich bei ihnen ein Rendez-vous… die<br />

Abwesenheit von Aufgaben, der Instinkt, daß Alles eigentlich<br />

am Ende sei, daß sich Nichts mehr lohne, die Zufriedenheit in<br />

einem dolce far niente<br />

: die Macht und Zukunfts-Gewißheit des jüdischen Instinkts,<br />

das Ungeheure seines zähen Willens zu Dasein und Macht liegt<br />

in seiner herrschenden Classe; die Schichten, welche das junge<br />

Christenthum emporhebt, sind durch Nichts schärfer gezeichnet<br />

als durch die Instinkt-Ermüdung. Man hat es satt: das ist das<br />

Eine — und man ist zufrieden, bei sich, in sich, für sich — das ist<br />

das Andre.<br />

Page Break KGW='VIII-2.422' KSA='13.180'


<strong>Aphorism</strong> n=12110 id='VIII.11[381]' kgw='VIII-2.422' ksa='13.180'<br />

Unfähigkeit, politische(1676) Ideale anders als mit religiösen<br />

Formeln auszudrücken<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12111 id='VIII.11[382]' kgw='VIII-2.422' ksa='13.180'<br />

Renan.<br />

Im Orient ist der Narr ein priviligirtes Wesen; er tritt ein vor<br />

die höchsten Räthe, ohne daß Jemand ihn aufzuhalten wagt;<br />

man hört ihn, man befragt ihn. Das ist ein Wesen, das man Gott<br />

näher glaubt, weil man, da seine individuelle Vernunft erloschen<br />

ist, voraussetzt, daß er theil hat an der göttlichen. Der esprit,<br />

der durch einen feinen Spott jeden Fehler des raisonnements<br />

heraushebt, fehlt in Asien.<br />

Man hat weniger Werth auf diese Schriften gelegt als auf die<br />

mündliche Tradition: und das noch in der ersten Hälfte des<br />

2. Jahrhunderts. Daher das Wenige von Autorität dieser Schriften:<br />

man machte sie sich zurecht, ergänzte sie, die Einen aus den<br />

Anderen —<br />

Im Johannes-Evangelium fehlen die Parabeln, die<br />

Exorcismen…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12112 id='VIII.11[383]' kgw='VIII-2.422' ksa='13.180'<br />

Ego:<br />

„Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich nicht gespeiset<br />

— geht hin von mir, ihr Verfluchten usw.“ Matth. 25, 41 usw.<br />

diese empörende Sprache „was ihr nicht gethan habt einem<br />

unter diesen Geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir auch<br />

nicht gethan“<br />

„der Geist der Propaganda“, der sich als Geist Christi<br />

präsentirt…<br />

„der Geist der unbefriedigten Rachsucht“, der in Worten,<br />

Flüchen und Voraussagungen von Gerichtsscenen austobt…<br />

„der Geist des Asketismus“ („das Halten der Gebote“ als<br />

Mittel der Zucht, als Weg zur jenseitigen Belohnung, wie im<br />

Judenthum) statt jenes christlichen Indifferentism,<br />

Page Break KGW='VIII-2.423' KSA='13.181'<br />

der alle diese Güter von sich weist, aus „Seligkeit“… die<br />

Essener, Johannes usw.<br />

„der Geist des Sündengefühls und der Nothwendigkeit der<br />

Erlösung“


Mit dem Tode Christi und der psychologischen Nöthigung,<br />

hierin keinen Schluß zu sehen, waren sämmtliche Populär-Tendenzen<br />

wieder hergestellt: alle die Cruditäten,<br />

welche in Geist umzuwandeln die Arbeit jenes typischen<br />

Spiritualisten war —<br />

: der Messianismus, das Kommen vom „Reiche Gottes“, der<br />

Geist der Feindschaft und Rachsucht, die Erwartung des „Lohns“<br />

und der „Strafe“, der Hochmuth der „Auserwählten“ (sie<br />

richten, fluchen, verurtheilen, die Opfer-Idee des Judenthums… die<br />

socialistische Tendenz zu Gunsten der Armen, der „Unehrlichen“,<br />

der Verachteten)<br />

Jesus, der als Erfüllung aller populären Erwartungen<br />

lebte, der nichts anderes that als sagen: „hier ist das<br />

Himmelreich“, der die Crudität dieser Erwartungen in Geist<br />

verwandelte:<br />

— aber mit dem Tode war Alles vergessen (auf deutsch:<br />

widerlegt) man hatte keine Wahl, entweder den Typus<br />

zurückübersetzen in die Populär-Vorstellung des „Messias“,<br />

des zukünftigen „Richters“, des Propheten im Kampfe — ——<br />

Als Nachwirkung dieses Schlags, dem diese ungewisse und<br />

schwärmerische Bande nicht gewachsen war, trat sofort die<br />

vollkommene Entartung ein: es war Alles umsonst<br />

gewesen…<br />

eine absurde Vergröberung aller geistlichen Werthe<br />

und Formeln<br />

die anarchistischen Instinkte gegen die herrschende<br />

Classe treten unverschämt in den Vordergrund.<br />

Page Break KGW='VIII-2.424' KSA='13.182'<br />

: der Haß gegen die Reichen, die Mächtigen, die Gelehrten —<br />

mit dem „Himmelreich“, mit dem „Frieden auf Erden“ war es<br />

zu Ende: aus einer psychologischen Realität wird ein<br />

Glaube, eine Erwartung an eine irgendwann<br />

kommende Realität, „eine Wiederkunft“: ein Leben<br />

in der Imagination ist die ewige Form der „Erlösung“ — oh<br />

wie anders hatte das Jesus verstanden!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12113 id='VIII.11[384]' kgw='VIII-2.424' ksa='13.182'<br />

Die erste Entartung des Christenthums ist der Einschlag des<br />

Judain, — eine Rückbildung in überwundene Formen…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12114 id='VIII.11[385]' kgw='VIII-2.424' ksa='13.182'


„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“<br />

„ich werde den Tempel Gottes zerstören und in drei Tagen<br />

wieder auferbauen“<br />

die Prozedur gegen den „Verführer“ (mesith), der die<br />

Religion in Frage stellt: die Steinigung war im Gesetz vorgesehen<br />

— gegen(1677) jeden Propheten, jeden Wunderthäter, der das<br />

Volk vom alten Glauben entfernte —<br />

„ce grand maître en ironie“<br />

Renan findet es billig, daß er diesen Triumph mit dem<br />

Leben zahlte.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12115 id='VIII.11[386]' kgw='VIII-2.424' ksa='13.182'<br />

„er ist nur disputeur, wenn er gegen die Pharisäer argumentirt:<br />

der Gegner zwingt ihn, wie das fast immer geschieht, seinen<br />

eigenen Ton anzunehmen“ —<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12116 id='VIII.11[387]' kgw='VIII-2.424' ksa='13.182'<br />

Renan I, 346<br />

Ses exquises moqueries, ses malignes provocations frappaient<br />

toujours au coeur. Stigmates éternelles, elles sont restées figées<br />

dans la plaie. Cette tunique de Nessus du ridicule, que le juif,<br />

fils des pharisiens, traîne en lambeaux après lui depuis dixhuit<br />

Page Break KGW='VIII-2.425' KSA='13.183'<br />

siècles, c'est Jésus, qui l'a tissée avec un artifice divin.<br />

Chefs-d'oeuvre de haute raillerie, ses traits se sont inscrits en lignes<br />

de feu sur la chair de l'hypocrite et du faux dévot. Traits<br />

incomparables, traits dignes d'un fils de Dieu! Un dieu seul sait<br />

tuer de la sorte. Socrate et Molière ne font qu'effleurer la peau.<br />

Celui-ci porte jusqu'au fond des os le feu et la rage.<br />

Und das ist dasselbe, das von sich Isaias 42, 2—3 sagen<br />

konnte!!<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12117 id='VIII.11[388]' kgw='VIII-2.425' ksa='13.183'<br />

Er hatte nie einen Begriff von „Person“, „Individuum“:<br />

man ist eins, wenn man sich liebt, wenn man nur vom andern<br />

lebt. Seine Schüler und er waren Eins.


<strong>Aphorism</strong> n=12118 id='VIII.11[389]' kgw='VIII-2.425' ksa='13.183'<br />

Daß er Gott sei, gottgleich sei, war als Verleumdung der<br />

Juden dargestellt (vgl. Johannes V, 18; X, 33). Er ist weniger als<br />

der Vater: der Vater hat ihm nicht Alles offenbart. Er wehrt<br />

sich, gottgleich genannt zu werden. Er ist Gottes Sohn: alle<br />

können es werden ( — so ist es jüdisch: die göttliche Sohnschaft<br />

wird mehreren Personen im alten Testament zugetheilt, von<br />

denen man durchaus nicht prätendirt, daß sie gottgleich sind)<br />

„Sohn“ in den semitischen Sprachen ist ein äußerst vager,<br />

freier Begriff<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12119 id='VIII.11[390]' kgw='VIII-2.425' ksa='13.183'<br />

Die große umbrische Bewegung des XIII. Jahrhunderts, am<br />

verwandtesten mit der des Galiläers, geschah im Namen der<br />

Armut:<br />

Franz von Assisi: exquise bonté, sa communion délicate fine<br />

et tendre avec la vie universelle<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12120 id='VIII.11[391]' kgw='VIII-2.425' ksa='13.183'<br />

in der rabbinischen Sprache dieser Zeit ist „Himmel“<br />

gleichbedeutend mit „Gott“: dessen Namen man vermied.<br />

Page Break KGW='VIII-2.426' KSA='13.184'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12121 id='VIII.11[392]' kgw='VIII-2.426' ksa='13.184'<br />

„Das Reich Gottes ist unter uns“ Luc. 17, 20.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12122 id='VIII.11[393]' kgw='VIII-2.426' ksa='13.184'<br />

„selig sind die Gottes Worte hören und thun.“ Luc. 11,<br />

27 etc.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12123 id='VIII.11[394]' kgw='VIII-2.426' ksa='13.184'<br />

es fehlt ganz und gar der Begriff „Natur“, „Naturgesetz“:<br />

alles geht moralisch zu, „Wunder“ sind nichts „Widernatürliches“<br />

(weil es keine Natur giebt)


<strong>Aphorism</strong> n=12124 id='VIII.11[395]' kgw='VIII-2.426' ksa='13.184'<br />

„Das Gesetz ist vernichtet: er ist es, der es vernichten wird“:<br />

Spaltung unter seinen ersten Schülern, von denen ein beträchtlicher<br />

Theil jüdisch blieb… Der Prozeß gegen ihn läßt keinen<br />

Zweifel…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12125 id='VIII.11[396]' kgw='VIII-2.426' ksa='13.184'<br />

„der Nächste“ im jüdischen Sinn ist der Glaubensgenosse<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12126 id='VIII.11[397]' kgw='VIII-2.426' ksa='13.184'<br />

es giebt gar keinen unevangelischeren Typus als<br />

den der Gelehrten der griechischen Kirche, die vom IV.<br />

Jahrhundert an das Christenthum auf den Weg einer absurden<br />

Metaphysik drängen; und insgleichen die Scholastiker des<br />

lateinischen Mittelalters.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12127 id='VIII.11[398]' kgw='VIII-2.426' ksa='13.184'<br />

Renan I, 461<br />

… le sentiment que Jésus a introduit dans le monde est bien<br />

le nôtre. Son parfait idéalisme est la plus haute règle de la vie<br />

détachée et vertueuse. Il a créé le ciel des âmes pures, où se<br />

trouve ce qu'on demande en vain à la terre, la parfaite noblesse<br />

Page Break KGW='VIII-2.427' KSA='13.185'<br />

des enfants de Dieu, la sainteté accomplie, la totale abstraction<br />

des souillures du monde, la liberté enfin, que la société réelle<br />

exclut comme une impossibilité et qui n'a toute son amplitude<br />

que dans le domaine de la pensée. Le grand maître de ceux qui<br />

se réfugient dans ce paradis idéal est encore Jésus. Le premier, il<br />

a proclamé la royauté de l'esprit: le premier, il a dit, au moins<br />

par ses actes: „mon royaume n'est pas de ce monde“. La fondation<br />

de la vraie religion est bien son oeuvre…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12128 id='VIII.11[399]' kgw='VIII-2.427' ksa='13.185'


„Christenthum“ ist synonym mit „Religion“ geworden: alles<br />

was man außerhalb der großen und guten christlichen Tradition<br />

thut, wird unfruchtbar sein.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12129 id='VIII.11[400]' kgw='VIII-2.427' ksa='13.185'<br />

Unsere Civilisation, regiert durch eine minutieuse Polizei,<br />

giebt keinen Begriff davon, was der Mensch in Epochen thut, wo<br />

die Originalität eines Jeden freieren Spielraum hat.<br />

Nos petites tracasseries préventives, bien plus meurtrières<br />

que les supplices pour les choses de l'esprit, n'existaient pas.<br />

Jesus konnte, drei Jahre lang ein Leben führen, welches ihn, in<br />

unseren Gesellschaften, zwanzig Mal vor das Tribunal gebracht<br />

hätte…<br />

Dégagées de nos conventions polies, exemptes de l'éducation<br />

uniforme, qui nous raffine, mais qui diminue si fort notre<br />

individualité, ces âmes entières portaient dans l'action une énergie<br />

surprenante… Le souffle de Dieu était libre chez eux; chez nous,<br />

il est enchaîné par les liens de fer d'une société mesquine et<br />

condamnée à une irrémédiable médiocrité.<br />

Plaçons donc au plus haut sommet de la grandeur humaine<br />

la personne de Jésus: fordert uns Herr Renan auf.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12130 id='VIII.11[401]' kgw='VIII-2.427' ksa='13.185'<br />

Die Medizin, die in einer gewissen moralischen délicatesse<br />

den Anfang d'étisie sieht… (de phtisie?)<br />

Page Break KGW='VIII-2.428' KSA='13.186'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12131 id='VIII.11[402]' kgw='VIII-2.428' ksa='13.186'<br />

La philosophie ne suffit pas au grand nombre. Il lui faut la<br />

sainteté. — Eine artige Bosheit Renan's.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12132 id='VIII.11[403]' kgw='VIII-2.428' ksa='13.186'<br />

Qui n'aimerait mieux être malade comme Pascal que bien<br />

portant comme le vulgaire? Renan.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12133 id='VIII.11[404]' kgw='VIII-2.428' ksa='13.186'


Qu'on se figure Jésus, réduit à porter jusqu'à soixante ou<br />

soixante-dix ans le fardeau de sa divinité, perdant sa flamme<br />

céleste, s'usant peu à peu sous les nécessités d'un rôle inouï!<br />

Renan.<br />

Voué sans réserve à son idée, il y a subordonné toute chose<br />

à un tel degré que l'univers n'exista plus pour lui. C'est par cet<br />

accès de volonté héroïque, qu'il a conquis le ciel. Il n'y a pas eu<br />

d'homme, Çakia-Mouni peut-être excepté, qui ait à ce point<br />

foulé aux pieds la famille, les joies de ce monde, tout soin<br />

temporel… Pour nous, éternels enfants, condamnés à l'impuissance,<br />

inclinons-nous devant ces demi-dieux! Renan.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12134 id='VIII.11[405]' kgw='VIII-2.428' ksa='13.186'<br />

Renan, p. 187<br />

Le mouvement démocratique le plus exalté, dont l'humanité<br />

ait gardé le souvenir, agitait depuis longtemps la race juive. La<br />

pensée que Dieu est le vengeur du pauvre et du faible contre le<br />

riche et le puissant se retrouve à chaque page des écrits de<br />

l'Ancien Tcstament. L'histoire d'Israël est de toutes les histoires celle<br />

où l'esprit populaire a le plus constamment dominé. Les prophètes,<br />

vrais tribuns et, on peut le dire, les plus hardis des tribuns,<br />

avaient tonné sans cesse contre les grands et établi une étroite<br />

relation entre les mots de „pauvre, doux, humble, pieux“ et de<br />

l'autre entre les mots „riche, impie, violent, méchant“. Sous les<br />

Séleucides, les aristocrates ayant presque tous apostasié et passé<br />

Page Break KGW='VIII-2.429' KSA='13.187'<br />

à l'hellénisme, ces associations d'idées ne firent que se fortifier.<br />

Le livre d'Hénoch contiens des malédictions plus violentes<br />

encore que celles de l'Évangile contre le monde, les riches, les<br />

puissants. Le nom de „pauvre“ (ébion) était devenu synonyme de<br />

„saint“, d'„ami de Dieu“.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12135 id='VIII.11[406]' kgw='VIII-2.429' ksa='13.187'<br />

Pierre Loti, Pêcheurs d'Islande.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12136 id='VIII.11[407]' kgw='VIII-2.429' ksa='13.187'<br />

Der Staat oder die organisirte Unmoralität …<br />

inwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel,


Familie<br />

auswendig: als Wille zur Macht, zum Kriege, zur<br />

Eroberung, zur Rache<br />

wie wird es erreicht, daß eine große Menge Dinge<br />

thut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde?<br />

— durch Zertheilung der Verantwortlichkeit<br />

— des Befehlens und der Ausführung<br />

— durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams,<br />

der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe<br />

die Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge, der Stärke,<br />

des Hasses, der Rache, kurz aller typischen Züge, welche dem<br />

Heerdentypus widersprechen…<br />

Die Kunstgriffe, um Handlungen, Maaßregeln, Affekte<br />

zu ermöglichen, welche, individuell gemessen, nicht mehr<br />

„statthaft“ sind, — auch nicht mehr „schmackhaft“ sind —<br />

— die Kunst „macht sie uns schmackhaft“, die uns in solche<br />

„entfremdete“ Welten eintreten läßt<br />

— der Historiker zeigt ihre Art Recht und Vernunft;<br />

die Reisen; der Exotismus; die Psychologie; Strafrecht; Irrenhaus;<br />

Verbrecher; Sociologie<br />

— die „Unpersönlichkeit“: so daß wir als Media<br />

eines Collektivwesens uns diese Affekte und Handlungen<br />

Page Break KGW='VIII-2.430' KSA='13.188'<br />

gestatten (Richtercollegien, Jury, Bürger, Soldat, Minister, Fürst,<br />

Societät, „Kritiker“) … giebt uns das Gefühl als ob wir ein<br />

Opfer brächten …<br />

Die Aufrechterhaltung des Militär-Staates<br />

ist das allerletzte Mittel, die große Tradition sei es<br />

aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten<br />

Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe,<br />

die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen,<br />

dürfen darauf hin sanktionirt erscheinen …<br />

z.B. Nationalismus, Schutzzoll, — — —<br />

der starke Typus wird aufrechterhalten als<br />

wertbestimmend …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12137 id='VIII.11[408]' kgw='VIII-2.430' ksa='13.188'<br />

Man soll das Christenthum nicht schmücken und<br />

herausputzen (wie es dieser zweideutige Herr Renan thut): es hat<br />

einen Todkrieg gegen den starken Typus Mensch gemacht<br />

es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann gelegt<br />

es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen<br />

herausfabrizirt<br />

: der starke Mensch als der typisch verwerfliche und<br />

verworfene Mensch


es hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißrathenen<br />

genommen<br />

: es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die<br />

Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht …<br />

: es hat die Vernunft selbst der geistigsten Menschen<br />

verdorben, indem es die obersten Instinkte der Geistigkeit als sündhaft,<br />

als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte…<br />

das jammervollste Beispiel — die Verderbniß Pascals, der<br />

an die Verderbniß seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubt:<br />

während sie nur durch sein Christenthum ihm verdorben ist…<br />

Page Break KGW='VIII-2.431' KSA='13.189'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12138 id='VIII.11[409]' kgw='VIII-2.431' ksa='13.189'<br />

Autoren, an denen heute noch Wohlgefallen zu haben, ein für<br />

alle Mal compromittirt: Rousseau, Schiller, George Sand,<br />

Michelet, Buckle, Carlyle, die imitatio<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12139 id='VIII.11[410]' kgw='VIII-2.431' ksa='13.189'<br />

NB. Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem<br />

Wege. Der Wille zum System ist, für einen Denker wenigstens,<br />

etwas, das compromittirt, eine Form der Unmoralität …<br />

Vielleicht erräth man bei einem Blick unter und hinter dies Buch,<br />

welchem Systematiker es selbst mit Mühe ausgewichen ist — mir<br />

selber…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12140 id='VIII.11[411]' kgw='VIII-2.431' ksa='13.189'<br />

Vorrede.<br />

1.<br />

Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder<br />

groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld.<br />

2.<br />

Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei<br />

Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders<br />

kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus.<br />

Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die<br />

Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon<br />

in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für<br />

diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere<br />

ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer


Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst,<br />

wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt:<br />

wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr<br />

besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.<br />

Page Break KGW='VIII-2.432' KSA='13.190'<br />

3.<br />

— Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt Nichts bisher<br />

gethan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler<br />

aus Instinkt, der seinen Vortheil im Abseits, im Außerhalb,<br />

in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit<br />

fand; als ein Wage- und — Versucher-Geist, der sich<br />

schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein<br />

Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt,<br />

was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas,<br />

der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat,<br />

— der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat …<br />

4.<br />

Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit<br />

dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. „Der Wille<br />

zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“ — mit<br />

dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck<br />

gebracht, in Absicht auf Princip und Aufgabe: eine Bewegung,<br />

welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus<br />

ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und<br />

psychologisch, welche schlechterdings nur auf ihn und aus<br />

ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des<br />

Nihilismus nunmehr nothwendig? Weil unsere bisherigen Werthe<br />

selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der<br />

Nihilism die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werthe<br />

und Ideale ist, — weil wir den Nihilismus erst erleben müssen,<br />

um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser<br />

„Werthe“ war … Wir haben, irgendwann, neue Werthe<br />

nöthig …<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12141 id='VIII.11[412]' kgw='VIII-2.432' ksa='13.190'<br />

Bücher lesen, welche von Vielen geschrieben sein könnten: sie<br />

verrathen am deutlichsten die intellektuellen Gewohnheiten des<br />

Gelehrten-Typus einer Zeit, sie sind „unpersönlich“.<br />

Page Break KGW='VIII-2.433' KSA='13.191'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12142 id='VIII.11[413]' kgw='VIII-2.433' ksa='13.191'


Der übermensch<br />

: es ist nicht meine Frage, was den Menschen ablöst:<br />

sondern welche Art Mensch als höherwerthige gewählt, gewollt,<br />

gezüchtet werden soll …<br />

Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren;<br />

oder Stärkeren; oder Höheren dar; in dem Sinne, in dem es<br />

heute geglaubt wird: der Europäer des 19. Jahrhunderts ist, in<br />

seinem Werthe, bei weitem unter dem Europäer der Renaissance;<br />

Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher<br />

Nothwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung…<br />

in einem andrem Sinne giebt es ein fortwährendes Gelingen<br />

einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde<br />

und aus den verschiedensten Culturen heraus, in denen in der<br />

That sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das<br />

im Verhältniß zur Gesammt-Menschheit eine Art „übermensch“<br />

ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer<br />

möglich und werden vielleicht(1678) immer möglich sein. Und selbst<br />

ganze Stämme, Geschlechter, Völker können unter Umständen<br />

einen solchen Treffer darstellen…<br />

Von den ältesten uns errathbaren Zeiten der indischen,<br />

ägyptischen und chinesischen Cultur bis heute ist der höhere<br />

Typus Mensch viel gleichartiger als man denkt…<br />

Man vergißt, wie wenig die Menschheit in eine einzige<br />

Bewegung hineingehört, wie Jugend, Alter, Untergang durchaus<br />

keine Begriffe sind, die ihr als Ganzem zukommen<br />

Man vergißt, um ein Beispiel zu geben, wie unsere europäische<br />

Cultur erst heute sich wieder jenem Zustand von philosophischer<br />

Mürbigkeit und Spätcultur annähert, aus dem die Entstehung<br />

eines Buddhism begreiflich wird.<br />

Wenn es einmal möglich sein wird, isochronische Cultur-Linien<br />

durch die Geschichte zu ziehen, so wird der moderne<br />

Begriff Fortschritt artig auf den Kopf zu stehen kommen: — und<br />

der Index selbst, nach dem er gemessen, der Demokratismus<br />

Page Break KGW='VIII-2.434' KSA='13.192'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12143 id='VIII.11[414]' kgw='VIII-2.434' ksa='13.192'<br />

Vorrede.<br />

Was ist gut? — Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen<br />

zur Macht, die Macht selbst im Menschen steigert.<br />

Was ist schlecht? — Alles, was aus der Schwäche stammt.<br />

Was ist Glück? — Das Gefühl davon, daß die Macht wächst,<br />

— daß ein Widerstand überwunden wird.<br />

Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Frieden<br />

überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit<br />

(Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend.)<br />

Die Schwachen und Mißrathenen sollen zu Grunde gehn:


erster Satz der Gesellschaft. Und man soll ihnen dazu noch<br />

helfen.<br />

Was ist schädlicher als irgend ein Laster? — Das Mitleiden<br />

der That mit allem Mißrathenen und Schwachen, — „das<br />

Christenthum“…<br />

Nicht was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der<br />

Wesen, ist mein Problem, das ich hiermit stelle; sondern welchen<br />

Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den<br />

höherwertigen, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren.<br />

Dieser höherwerthigere Typus ist oft genug schon dagewesen:<br />

aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, — niemals als<br />

gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden,<br />

er war bisher beinahe das Furchtbare: und aus der Furcht<br />

heraus hat man den umgekehrten Typus gewollt, gezüchtet,<br />

erreicht: das Hausthier, das Heerdenthier, das Thier der<br />

„gleichen Rechte“, das schwache Thier Mensch, — den<br />

„Christen“…<br />

Der Wille zur Macht.<br />

Versuch einer Umwerthung aller Werthe.<br />

Page Break KGW='VIII-2.435' KSA='13.193'<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12144 id='VIII.11[415]' kgw='VIII-2.435' ksa='13.193'<br />

Die Conception der Welt, auf welche man in dem Hintergrunde<br />

dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm:<br />

unter den bisher bekannt gewordenen Typen des Pessimismus<br />

scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu<br />

haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und scheinbaren<br />

Welt: es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam,<br />

widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn… Eine so beschaffene<br />

Welt ist die wahre Welt… Wir haben Lüge nöthig, um<br />

über diese Realität, diese „Wahrheit“ zum Sieg zu kommen das<br />

heißt, um zu leben… Daß die Lüge nöthig ist, um zu leben,<br />

das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen<br />

Charakter des Daseins…<br />

Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft —<br />

sie werden in diesem Buche nur als verschiedene Formen der Lüge<br />

in Betracht gezogen: mit ihrer Hülfe wird ans Leben geglaubt.<br />

„Das Leben soll Vertrauen einflößen“: die Aufgabe,<br />

so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch von<br />

Natur schon ein Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch<br />

Künstler sein… Und er ist es auch: Metaphysik, Moral,<br />

Religion, Wissenschaft — Alles nur Ausgeburten seines Willens zur<br />

Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der „Wahrheit“, zur Verneinung<br />

der „Wahrheit“. Dies Vermögen selbst, dank dem er die<br />

Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses


Künstler-Vermögen par excellence des Menschen — er<br />

hat es noch mit Allem, was ist, gemein: er selbst ist ja ein Stück<br />

Wirklichkeit, Wahrheit, Natur — er selbst ist auch ein Stück<br />

Genie der Lüge…<br />

Daß der Charakter des Daseins verkannt wird — tiefste<br />

und höchste Geheim-Absicht der(1679) Wissenschaft, Frömmigkeit,<br />

Künstlerschaft. Vieles niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles<br />

hinzusehn… Oh wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man<br />

am fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die<br />

Begeisterung, „Gott“ — lauter Feinheiten des letzten<br />

Page Break KGW='VIII-2.436' KSA='13.194'<br />

Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben! In Augenblicken, wo<br />

der Mensch zum Betrogenen wird, wo er wieder ans Leben<br />

glaubt, wo er sich überlistet hat: oh wie schwillt es da ihm auf!<br />

Welches Entzücken! Welches Gefühl der Macht! Wie viel<br />

Künstler-Triumph im Gefühl der Macht!… Der Mensch ward wieder<br />

einmal Herr über den „Stoff“ — Herr über die Wahrheit!…<br />

Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche<br />

in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als<br />

Macht. Die Lüge ist die Macht…<br />

Die Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist die große<br />

Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große<br />

Stimulans zum Leben…<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12145 id='VIII.11[416]' kgw='VIII-2.436' ksa='13.194'<br />

Umwerthung der Werthe.<br />

Buch 1: der Antichrist.<br />

Buch 2: der Misosoph.<br />

Buch 3: der Immoralist<br />

Buch 4: Dionysos.<br />

Umwerthung aller Werthe.<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12146 id='VIII.11[417]' kgw='VIII-2.436' ksa='13.194'<br />

ich habe den Deutschen(1680) das tiefste Buch gegeben, das sie<br />

besitzen, meinen Zarathustra — ich gebe ihnen heute das<br />

unabhängigste. Wie? sagt mir dazu mein schlechtes Gewissen, wie<br />

willst du Perlen vor die Deutschen werfen!…<br />

Page Break KGW='VIII-2.437' KSA='13.195'


[ 12 = W II 4. Anfang 1888 ]<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12147 id='VIII.12[1]' kgw='VIII-2.437' ksa='13.195'<br />

Register zum ersten Buch.<br />

(1) Die ganze bisherige Entwicklungsgeschichte der IV<br />

Philosophie als Entwicklungsgeschichte des Willens zur<br />

Wahrheit.<br />

(2) Zeitweiliges überwiegen der socialen Werthgefühle IV<br />

begreiflich, um einen Unterbau herzustellen.<br />

(3) Kritik des guten Menschen, nicht der Hypokrisie II<br />

der Guten…<br />

(4) Werth Kants I<br />

(5) Zur Charakteristik des nationalen Genies. I<br />

(6) Aesthetica III<br />

(7) „Geistigkeit“, nicht bloß befehlend und führend III<br />

(8) Formulirung Gottes als Culminations-Punkt; Rückgang III<br />

von ihm<br />

(9) Offenbach Musik IV<br />

(10) Priester II<br />

(11) Zur Kritik der christlichen Moral des neuen II<br />

Testaments.<br />

(12) jede verstärkte Art Mensch auf dem Niveau IV<br />

einer niedrigeren stehend<br />

(13) Krieg gegen das christliche Ideal, nicht bloß II<br />

gegen den christlichen Gott<br />

Page Break KGW='VIII-2.440' KSA='13.196'<br />

(14) Franz von Assisi gegen die Hierarchie kämpfend II<br />

(15) Socrates gegen die vornehmen Instinkte, gegen II<br />

die Kunst<br />

(16) die Laster und die Cultur II<br />

(17) die großen Lügen in der Historie II<br />

(18) die christliche Interpretation des Sterbens II<br />

(19) das Ewig-Gleichbleibende, Werthfrage III<br />

(20) Ersatz der Moral durch den Willen zu unserem IV<br />

Ziele und folglich zu dessen Mitteln<br />

Auf Lob verzichten…<br />

(21) Fälschungen in der Psychologie. II<br />

(22) Renan vergreift sich über „Wissenschaft“ I<br />

(23) Berichtigung des Begriffs „Egoismus“ IV<br />

(24) militärische Ausdrücke<br />

(25) Zukunft der Askese IV<br />

(26) Zukunft des Arbeiters IV<br />

(27) Nihilismus I<br />

(28) „Wahrheit“, unsre Erhaltungsbedingungen als III<br />

Prädikate des Seins projicirt<br />

(29) Maaß des Unglaubens, von zugelassener „Freiheit IV


des Geistes“ als Macht-Maaß<br />

(30) Kritik und Ablehnung des Begriffs „objektiv“ III<br />

(31) extremste Form des Nihilism: in wiefern eine göttliche IV<br />

Denkweise<br />

(32) dionysisch: neuer Weg zu einem Typus des Göttlichen; IV<br />

mein Unterschied gegen Schopenhauer von<br />

Anfang an.<br />

(33) „wozu?“ die Frage des Nihilismus und die Versuche, I<br />

Antworten zu bekommen<br />

(34) die Rangordnung fehlt, Ursache des Nihilismus. I<br />

die Versuche, höhere Typen auszudenken…<br />

(35) was der große Mensch gekostet hat. IV<br />

(36) der Wille zur Wahrheit III<br />

Page Break KGW='VIII-2.441' KSA='13.197'<br />

(37) Feststellen und Sinn-hineinlegen III<br />

(38) mehr Kind seiner Großeltern<br />

(39) neues Testament: Vorsicht! II<br />

(40) moderne Verurtheilung des Willens zur Macht IV<br />

(41) der Muth als Grenze, wo das „wahre“ anerkannt III<br />

wird…<br />

(42) Musik — die starke Tradition. Offenbach; gegen die<br />

deutsche Musik als eine entartende.<br />

(43) der Werth eines Menschen nicht nach IV<br />

seinen Wirkungen meßbar. „Vornehm“<br />

(44) Philosophie Kunst des Lebens, nicht Kunst zur IV<br />

Entdeckung der Wahrheit Epicur.<br />

Zur Geschichte der Philosophie.<br />

(45) gute Ausdrücke…<br />

(46) Wille zur Wahrheit: ungeheure Selbstbesinnung. IV<br />

(46) Wille zur Wahrheit III<br />

(47) die erkenntnißtheoretischen Grundstellungen und ihr III<br />

Verhältniß zu den obersten Werthen<br />

(48) Colportage-Philosophie. Zum Ideale des Psychologen IV<br />

(49) welchen Sinn es hat, Werthe umwerthen. IV<br />

(50) Larochefoucauld und J. Mill: letzterer absolut flach, III<br />

ersterer naiv…<br />

„Selbstsucht“<br />

(51) „Nutzen“ abhängig von „Zielen“: Utilitarism. III<br />

(52) die Angst Gottes vor dem Menschen III<br />

Erkenntniß als Mittel zur Macht, zur „Gottgleichheit“.<br />

Werth. Zur Geschichte der Philosophie —<br />

(53) Scheinbarkeit, Sinnlosigkeit, das „Wirkliche“ III<br />

(54) Zur Charakteristik der „Starken“ IV<br />

(55) die „Posthumen“ — Frage der Verständlichkeit und II<br />

der Autorität<br />

(56) Voraussetzung für eine Umwerthung der Werthe IV<br />

(57) Wie der Ruhm der Tugend entsteht II<br />

Page Break KGW='VIII-2.442' KSA='13.198'


(58) das Lob, die Dankbarkeit — als Wille zur<br />

III<br />

Macht<br />

(59) die psychologischen Fälschungen unter der II<br />

Herrschaft des Heerdeninstinkts<br />

(60) Heerdeninstinkt: welche Zustände und Begierden er II<br />

lobt.<br />

(61) Die Entnatürlichung der Moral und ihre II<br />

Schritte<br />

(62) die unterdrückte Moral II<br />

(63) das neue Testament II<br />

(64) Erkenntniß und Werden III<br />

(65) Bekämpfung des Determinism III<br />

(66) Wiederherstellung der Ascetik. IV<br />

(67) Satz vom Widerspruch III<br />

(68) Ableitung unsres Glaubens an die Vernunft III<br />

(69) Aberglaube der „Gattung“ II<br />

(70) Aesthetica III<br />

(71) zum Plane I<br />

(71) „Subjekt“, Ding an sich III<br />

(72) Nihilismus I<br />

(73) Zukunft der Juden<br />

(74) Das Beschreibende, das Pittoreske — sein I<br />

nihilistisches Element.<br />

(75) Aesthetica III<br />

(76) zum Plane.<br />

(77) das 18te Jahrhundert. I<br />

(78) Zukunft der Kunst IV<br />

(79) der große Mensch, der Verbrecher III<br />

(80) Fortschritt der Vernatürlichung des 19. Jahrhunderts. I<br />

(81) mein „Nihilismus“ I<br />

(82) Moral als Mittel der Verführung, II<br />

als Wille zur Macht<br />

(83) Voltaire und Rousseau I<br />

(84) Hauptsymptome des Pessimism I<br />

Page Break KGW='VIII-2.443' KSA='13.199'<br />

(85) kritische Spannung: Extreme im Übergewicht. I<br />

19. Jahrhundert.<br />

(86) Kritik des modernen Menschen, seine psychologische I<br />

Verlogenheit — seine romantische Attitüde<br />

(87) 18. Jahrhundert. I<br />

(88) Thierry, der Volksaufstand selbst in der Wissenschaft. I<br />

(89) Zukunft der Erziehung: Cultur der Ausnahme IV<br />

(90) „vor seinem Gewissen verantwortlich“ Luthers II<br />

Schlauheit: sein Wille zur Macht<br />

(91) Instinkt der civilisirten Menschheit gegen die III<br />

großen Menschen<br />

(92) alles Gute ein dienstbar gemachtes Böse von Ehedem III<br />

(93) zur Rechtfertigung der Moral. Recapitulation. IV


(94) moderne Laster<br />

I<br />

(95) „Cultur“ im Gegensatz zu „Civilisation“ I<br />

(96) neues Testament und Petronius. II<br />

(97) zur logischen Scheinbarkeit III<br />

(98) Morphologie des Willens zur Macht II<br />

(99) gegen Rousseau I<br />

(100) wie eine Tugend zur Macht kommt II<br />

(101) Metamorphosen und Sublimirungen (die Grausamkeit, II<br />

Lüge usw.<br />

(102) wie lebensfeindliche Tendenzen zu Ehren kommen. II<br />

(103) Optik der Werthschätzung III<br />

(104) Zweiheit, physiologisch, als Folge des Willens zur III<br />

Macht<br />

(105) die Starken der Zukunft IV<br />

(106) das Wachsthum ins Hohe und ins Schlimme gehört III<br />

zusammen<br />

(107) Tugend ohne Schätzung heute: es müßte sie denn IV<br />

Einer als Laster in Umlauf bringen<br />

(108) die großen Fälschungen in der Psychologie II<br />

(109) principielle Fälschung der Geschichte, damit sie II<br />

einen Beweis für die Moral abgiebt<br />

Page Break KGW='VIII-2.444' KSA='13.200'<br />

(110) Gesammt-Abrechnung mit der Moral: was will in ihr III<br />

zur Macht?<br />

(111) die moralischen(1681) Werthe in der Theorie der III<br />

Erkenntniß<br />

(112) die moralischen(1682) Werthe Herr über die Aesthetischen II<br />

(113) Ursachen für die Heraufkunft des Pessimism I<br />

(114) die großen Fälschungen unter der Herrschaft der II<br />

Moral: Schema.<br />

(115) Modernität I<br />

(116) classisch: zur zukünftigen Aesthetik IV<br />

(117) Modern die Händler und Zwischenpersonen I<br />

(118) Modernität I<br />

(119) 18tes Jahrhundert und Schopenhauer I<br />

(120) moderne Falschmünzerei der Künstler. I<br />

(121) moderne Abtrennung von „Publikum“ und „Coenakel“ I<br />

(122) zur Vorrede. Tiefste Besinnung. Vor.<br />

(123) wessen Selbstsucht ihre Rechnung findet in der II<br />

Aufrechterhaltung der Moral-Tyrannei<br />

(124) rechtfertigender Rückblick auf die schlimme IV<br />

Consequenz der Moral-Tyrannei.<br />

(125) das Patronat der Tugend (Habsucht, Herrschsucht II<br />

usw.<br />

(126) Spinoza als der Heilige Goethes<br />

(127) zum Schluß: ein Goethischer Blick voll Liebe, wirkliche IV<br />

Überwindung des Pessimism<br />

(128) die 3 Jahrhunderte I<br />

(129) Goethes Versuch zu einer Überwindung des 18. IV


Jahrhunderts<br />

warum fehlt Goethe als Ausdruck des 19.<br />

IV<br />

Jahrhunderts?<br />

(130) die deutsche starke Art IV<br />

(131) Hohn auf die Systematiker<br />

Page Break KGW='VIII-2.445' KSA='13.201'<br />

(132) Schopenhauer als der, welcher Pascal wieder I<br />

aufnimmt<br />

(133) das 17te und 18te Jahrhundert. I<br />

(134) Rousseau und Voltaire c. 1760; Einfluß Rousseaus(1683) I<br />

auf die Romantik.<br />

(135) das Problem der “Civilisation“ I<br />

(136) Frage nach dem Werth des modernen Menschen? I<br />

Ob seine starke und schwache Seite zu einander gehören.<br />

2 tes Buch.<br />

(137) meine fünf Neins: zur Vorrede? IV<br />

(138) mein neuer Weg zum Ja IV<br />

(139) wie man Herr geworden ist über das Ideal der I<br />

Rénaissance<br />

(140) zu Ehren des 19ten Jahrhunderts. IV<br />

(141) sich schämen, Christ zu sein IV<br />

(142) Nachwirkung der christlichen Providenz I<br />

was man dem Christenthum verdankt…<br />

(143) zur Rechtfertigung der Moral IV<br />

(144) „reaktiver“ Idealism und sein Gegenstück II<br />

(145) die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale IV<br />

(146) Nutzbarmachung des Menschen durch die Tugend: IV<br />

Maschinen-Tugend<br />

(147) der Altruism in der Biologie! III<br />

(148) Vortheil des continuums IV<br />

(149) „niedere“ und „höhere“ Existenz? IV<br />

(150) Ausscheidung von Luxus-Überschuß der Menschheit. IV<br />

die zwei Bewegungen<br />

(151) „Modernität“ I<br />

(152) Subjekt, Substanz III<br />

(153) Sympathie als unverschämtheit I<br />

insgleichen „Objektivität“ des Kritikers<br />

Page Break KGW='VIII-2.446' KSA='13.202'<br />

(154) Pessimismus der Stärke. I<br />

(155) Gesammt-Einsicht über Nihilismus I<br />

(156) Gesammt-Einsicht über den zweideutigen Charakter I<br />

unsrer modernen Welt<br />

(157) Mit der Kunst gegen die Vermoralisirung kämpfen IV<br />

(158) romantisme: die falsche Verstärkung I<br />

(159) Die Regel rechtfertigen IV<br />

(160) Wissenschaft, zwei Werthe IV


(161) Culturcomplex, nicht Gesellschaft IV<br />

(162) Barbarei nicht Sache des Beliebens IV<br />

(163) Zunahme der Gesammt-Macht des Menschen: in IV<br />

wiefern sie alle Art Niedergang bedingt.<br />

(164) Zur Politik der Tugend: II<br />

wie sie zur Macht kommt<br />

wie sie, wenn die Macht erreicht ist, herrscht<br />

(165) Künstler nicht die Menschen der großen Leidenschaft<br />

(166) Mittel, eine Tugend zum Sieg zu bringen II<br />

(167) lascive Schwermuth des maurischen Tanzes: der I<br />

moderne Fatalism.<br />

(168) die moderne Kunst, als Kunst zu tyrannisiren. I<br />

(169) Mittel, eine Tugend zum Sieg zu bringen. II<br />

(170) Heerden-Instinkt: Schätzung des Mittleren II<br />

(171) das Weib, die Litteratur, die Kunst (neunzehntes I<br />

Jahrhundert, Verhäßlichung<br />

(172) Zu I. Nihilismus. Plan I<br />

(173) Vollkommenheit des Nihilisten. I<br />

(174) Affekte als Wehr und Waffe: was wird aus dem IV<br />

Menschen ohne Nöthigung zu Wehr und Waffen?<br />

(175) Gebiets-Verkleinerung der Moral: Fortschritt IV<br />

(176) Stufen der Entnatürlichung der Moral II<br />

(177) Wiederherstellung der „Natur“ in der Moral II<br />

(178) Glaube oder Werke? Luther. Reformation. II<br />

„Selbstverächter“.<br />

(179) Problem des Verbrechers IV<br />

Page Break KGW='VIII-2.447' KSA='13.203'<br />

(180) Metamorphosen der Sinnlichkeit III<br />

(181) Nihilism der Artisten I<br />

(182) die Vernatürlichung des Menschen des 19. IV<br />

Jahrhunderts.<br />

(183) Protestantism im 19ten Jahrhundert. I<br />

(184) Zum Ideal des Philosophen. Schluss IV<br />

(185) Geschichte der Moralisirung und Entmoralisirung III<br />

(186) Plan des 1. Buchs „Plan“ I<br />

(187) Rangordnung der Menschen IV<br />

(188) Musik gegen Wort I<br />

(189) wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat IV<br />

(190) Hohn auf den Idealism, der die Mediokrität nicht I<br />

medioker haben will: zur Kritik des „Idealisten“.<br />

(191) das tragische Zeitalter IV<br />

(192) der „Idealist“ (Ibsen) I<br />

(193) nicht „besser, machen wollen, sondern stärker IV<br />

(194) die christliche Verleumdungs-Kunst II<br />

(195) nicht uniformiren! „Tugend“ nichts Mittelmäßiges, IV<br />

etwas Tolles<br />

(196) Ehe, Geschlechtstrieb III<br />

(197) die Judenklugheit der ersten Christen II<br />

(198) das neue Testament als Verführungs-Buch II


(199) die drei Elemente im Christenthum. Sein Fortschritt II<br />

zur Demokratie: als vernatürlichtes Christenthum.<br />

(200) das Christenthum als Fortsetzer des Judenthums II<br />

(201) Ironie auf die kleinen Christen II<br />

(202) Individualismus als „Wille zur Macht, III<br />

Zu Metamorphosen des Willens zur Macht.<br />

(203) Ironie auf die Tugendhaften III<br />

Kritik des „guten Menschen“<br />

(204) der Umfang der moralischen Hypothese III<br />

(205) Kritik des „guten Menschen“ II<br />

Page Break KGW='VIII-2.448' KSA='13.204'<br />

(206) gegen Jesus von Nazareth als Verführer… II<br />

(207) Die Probe der Kraft IV<br />

(208) Die Ehe als Concubinat II<br />

(209) Princip der Rangordnung… IV<br />

(210) Begriff Gottes, nach Abrechnung mit den „Guten“ IV<br />

(211) das Christenthum als emancipirtes Judenthum II<br />

(212) das jüdische Leben als Hintergrund der „ersten II<br />

Christengemeinden“<br />

(213) Petronius II<br />

(214) ob die Fürsten uns Immoralisten entbehren können? IV<br />

(215) Christ: Ideal der unvornehmen Art Mensch. II<br />

(216) wir Erkennenden — wie unmoralisch! IV<br />

(217) Protest gegen Christ als Typus des Menschen: während IV<br />

er nur eine Carikatur ist…<br />

(218) die Entnatürlichung des Genies (Schopenhauer) II<br />

unter dem Einfluß der Moral.<br />

(219) was Schopenhauer mit dem alten Testament II<br />

aussöhnt: der Sündenfall-mythus<br />

(220) Register zu machen für meine Ja, meine Neins, meine IV<br />

Fragezeichen.<br />

(221) Typus meiner „Jünger“ IV<br />

(222) gegen Schopenhauer der Schurken und Gänse castriren IV<br />

will. Zur „Rangordnung“.<br />

(223) zur Stärke des 19. Jahrhunderts. IV<br />

(224) ob ich der Tugend geschadet habe? IV<br />

(225) gegen die Reue IV<br />

(226) Die Tugend ins Vornehme übersetzt IV<br />

(227) meine Art Rechtfertigung der Tugend IV<br />

(228) zur Rangordnung IV<br />

(229) die Kraft zur Carikatur in jeder Gesellschafts-Werthung: II<br />

Mittel ihres Willens zur Macht<br />

(230) zur Kritik der Idealisten: als Gegensatz zu mir IV<br />

(231) Krieg gegen „vornehm“ im IV<br />

weichlich-weiblich-weibischen Sinn<br />

Page Break KGW='VIII-2.449' KSA='13.205'<br />

(232) unsere Musik, zum Begriff „klassisch“ „genial“ usw. IV


(233) in wiefern ich nicht die Vernichtung der Ideale IV<br />

wünsche, die ich bekämpfe — ich will nur Herr über<br />

sie werden…<br />

(234) meine Stellung und die Schopenhauers eine Controverse, IV<br />

verse, zu Kant insgleichen, zu Hegel, Comte, Darwin,<br />

zu den Historikern usw.<br />

(235) ich knüpfe an die starken Seiten des Jahrhunderts an. IV<br />

(236) was bedeutet die Moral-Idiosynkrasie selbst bei einem II<br />

außerordentlichen Individuum, wie Pascal?<br />

(237) in wiefern ich der Mittelmäßigkeit zu neuen Ehren IV<br />

verhelfe.<br />

(238) die Moral-Scholastik ist die längst-dauernde. III<br />

(239) die Naivetät in Hinsicht auf die letzten IV<br />

„Wünschbarkeiten“ während man das „Warum?“ des<br />

Menschen nicht kennt.<br />

(240) Wiederherstellung des richtigen Begriffs der „guten III<br />

hülfreichen wohlwollenden Gesinnung“: nicht<br />

um des Nutzens willen geehrt, sondern von denen<br />

aus, die sie empfanden<br />

(241) gegen den Altruism der Schwäche III<br />

(242) gegen die Präokkupation mit sich und dem „ewigen III<br />

Heile“<br />

(243) Mißverständniß der Liebe, des Mitleidens, der II<br />

Gerechtigkeit unter dem Druck der Entselbstungs-Moral.<br />

(244) Cultus-Gebote in Cultur-Gebote übergehend<br />

(245) nützlich sind alle Affekte: hier kein Werthmaaß. III<br />

(246) welchen Sinn die myopische Perspektive der II<br />

Gesellschaft hat in Hinsicht auf „Nützlichkeit“<br />

(247) wo heute „Christlichkeit“ absolut kein Recht mehr II<br />

hat… In der Politik…<br />

(248) gegen die Überschätzung der „Gattung“ und III<br />

Unterschätzung des „Individuums“ in der<br />

Naturwissenschaft<br />

Page Break KGW='VIII-2.450' KSA='13.206'<br />

(249) die „bewußte Welt“ kann nicht als Werthausgangspunkt IV<br />

gelten: Nothwendigkeit einer „objektiven<br />

Werthsetzung“.<br />

(250) „Gott“ als Maximal-Zustand IV<br />

(251) sich des Unglücks schämen IV<br />

(252) wir Erkennenden — unsre letzte Art der IV<br />

Selbstüberwindung<br />

(253) die Sublimirungen z.B. der Dyspepsie. II<br />

(254) meine Gesichtspunkte der Werthe IV<br />

(255) nicht bornirt genug zum System<br />

(256) Moral als höchste Abwerthung selbst noch im I<br />

Schopenhauerschen Nihilismus.<br />

(257) absolute Herrschaft der Moral über alle anderen<br />

Werthe: in der Conception Gottes<br />

(258) die Einbuße aller natürlichen Dinge durch Ansetzung


von angeblich höheren Sphären — bis zur Herrschaft<br />

des „Widernatürlichen“<br />

(259) die Überreste der Natur-Entwerthung durch<br />

Moral-Transcendenz.<br />

(260) meine Absicht, die absolute Homogeneität alles IV<br />

Geschehens: die moralische Unterscheidung nur eine<br />

Perspektivische<br />

(261) Musik-Pessimism I<br />

(262) Ehe, Ehebruch IV<br />

(263) der christlich-buddhistische Castratismus als „Ideal“: II<br />

woher der Verführungsreiz?<br />

(264) die „Scheinbarkeit“ des Gedankens… III<br />

(265) Verstellungskunst zunehmend, in der Rangordnung III<br />

der Wesen. Zum „Denken“…<br />

(266) die Moral-Fanatiker, nachdem man sich von der<br />

Religion emancipirt hat: darauf bestehn, daß die<br />

Moral mit dem christlichen Gott fällt…<br />

(267) „die Herrschaft des Guten“ Ironie, als unökonomisch,<br />

wie „gutes Wetter“<br />

Page Break KGW='VIII-2.451' KSA='13.207'<br />

(268) was verdorben worden ist durch das christliche Ideal<br />

Askese, Fasten, Kloster, Fest, Glaube an sich, der<br />

Tod…<br />

(269) Proben moralistischer Verleumdungskunst<br />

(270) Zur Entstehung des Schönen: Kritik seiner III<br />

Werth-Urtheile<br />

(271) der tragische Künstler IV<br />

(272) die verstecktere Form des christlichen Ideals z.B. im<br />

Natur-Cultus, Socialism, „Metaphysik der Liebe“<br />

usw.<br />

(273) unsre wohlwollende Abschätzung des Menschen, I<br />

im Verhältniß zur moralisch(1684) christlichen.<br />

die moralistische Liberalität als Zeichen der Zunahme IV<br />

an Cultur<br />

(274) der moralischste Mensch als der mächtigste, II<br />

göttlichste: die gesammte Erkenntniß war<br />

darauf aus, dies zu beweisen.<br />

dies Verhältniß zur Macht hat die Moral über alle<br />

Werthe gehoben<br />

(275) das christliche Ideal jüdisch-klug II<br />

(276) die Selbstvergötterung der kleinen Leute (80 a) II<br />

(277) Paulus: Zurechtmachung der Geschichte, um zu II<br />

beweisen…<br />

(278) die Realität hinter den christlichen Gemeinden:(1685) die II<br />

kleine jüdische Familie<br />

(279) erster Eindruck des neuen Testaments. Man nimmt II<br />

Partei für Pilatus und dann, beinahe, für die<br />

Schriftgelehrten und Pharisäer…<br />

(280) zur Psychologie des neuen Testaments II


(281) „Geist“ im neuen Testament II<br />

(282) in wiefern das Christenthum von den herrschenden II<br />

Ständen patronisirt werden konnte.<br />

(283) Paulus II<br />

(284) Buddhism und Christenthum II<br />

Page Break KGW='VIII-2.452' KSA='13.208'<br />

(285) ich vertrage keinen Compromiß mit dem IV<br />

Christenthum —<br />

(286) zum Plane des ersten Buchs I<br />

(287) Heidnisch — christlich<br />

(288) Form der „Entnatürlichung“: das Gute um des Guten, II<br />

das Schöne um des Schönen, das Wahre um der<br />

Wahrheit willen —<br />

(289) die psychologische Fälschung unter der Nothwendigkeit, II<br />

für sein Ideal zu kämpfen<br />

(290) meine absolute Vereinsamung: zur Einleitung. IV<br />

(291) seid „natürlich“! I<br />

(292) „lasset die Kindlein“: oh<br />

(293) die psychologische Voraussetzung des Christenthums. II<br />

(294) Kritik der Bergpredigt-Idealität II<br />

(295) die antike Dummheit gegen das Christenthum(1686) II<br />

(296) „Ding an sich“ widersinnig III<br />

(297) die Götter-Conception, warum vermoralisirt? II<br />

(298) die Unbescheidenheit des Mitredenwollens im neuen II<br />

Testament<br />

(299) Naivetät Kants, Dasein zu behaupten III<br />

(300) die Intoleranz der Moral ganz allgemein IV<br />

beurtheilt — Ausdruck von Schwäche des Menschen<br />

(301) vorangehn? nein, für-sich-gehn<br />

(302) mit Menschen fürlieb nehmen<br />

(303) Künstler: Form: Inhalt<br />

(304) Sainte-Beuve<br />

(305) George Sand<br />

III:22<br />

IV:73<br />

(306) Menschen, die Schicksale sind<br />

(307) „Modernes Weib“ Duc de Morny<br />

(308) das Weib und der Künstler<br />

(309) Höchster Punkt der Betrachtung<br />

Page Break KGW='VIII-2.453' KSA='13.209'<br />

(310) die stärkere Art im Europa der Zukunft<br />

(311) „Hirt“: der große Durchschnittliche<br />

(312) Stendhal: „der Starke lügt“<br />

(313) zur Geschichte der Romantik<br />

(314) Heidnisch<br />

(315) unser Pessimismus (zum Recept-Buche)<br />

(316) daß man etwas aufs Spiel setzt, warum? (zum


Recept-Buche)<br />

(317) Emerson, Carlyle<br />

(318) Skepsis, der große Mensch (zum Receptbuche)<br />

(319) Bizet: die afrikanische Sensibilität („maurisch“)<br />

(320) wie man die Tugend zur Herrschaft bringt<br />

(321) das Christenthum: wie es Pascal zerstört.<br />

(322) Taine, Zola: die Tyrannei<br />

(323) der „Idealist“<br />

(324) das Litteratur-Weib<br />

(325) der moderne „Arbeiter“<br />

(326) gegen den Pessimism des Herrn von Hartmann: Lust<br />

als Maaßstab<br />

(327) Der Schauspieler (Talma) —<br />

das, was wahr werden soll, darf nicht wahr<br />

sein…<br />

(328) der „gute Geschmack“: Urtheil Sainte-Beuve's.<br />

(329) Lust und unlust sekundär.<br />

(330) kein Ziel — kein Schlußzustand: dieser Thatsache<br />

gerecht werden!<br />

(331) „Werthe“: in Hinsicht worauf?<br />

(332) Werthe: in Hinsicht worauf nicht?<br />

(333) nicht „der Wille“ will Befriedigung, nicht das ist „Lust“<br />

(334) die Unbefriedigung lustvoll<br />

(335) das Maaß der nothwendigen Unlust als Zeichen<br />

der Kraftgrade<br />

(336) weshalb wir Tragödien erleben (Recept-Buch)<br />

(337) Cäsar Hygiene (Receptbuch)<br />

Page Break KGW='VIII-2.454' KSA='13.210'<br />

(338) Receptbuch: Vorsicht<br />

(339) wonach sich der Werth mißt? nicht nach dem Bewußtsein<br />

(340) die Speise-Ordnungen enthalten Offenbarungen über<br />

„Culturen“<br />

(341) die königliche Freigebigkeit des Menschen<br />

(342) religiöses Bedürfniß als Musik maskirt<br />

(343) Liebe, Uneigennützigkeit, Vortheil —<br />

(344) Prostitution, Ehe<br />

(345) „Dünger“: womit man nicht fertig wird —<br />

(346) „Vergänglichkeit“: Werth —<br />

(347) Voltaires letzte Worte: christlich und klassisch<br />

(348) Werth alles Abwerthens<br />

(349) Hintersinn des philosophischen Nihilismus<br />

(350) Werth der „Vergänglichkeit“<br />

(351) Ursachen des Nihilismus! Schluß-Resümé!<br />

(352) Nihilism als Zwischenzustand<br />

(353) gegen die Reue (Receptbuch)<br />

(354) „nil“ admirari (Receptbuch)<br />

(355) Arten des Unglaubens: Symptom des beginnenden<br />

Nihilismus<br />

(356) nicht nach Glück strebt der Mensch! sondern nach


Macht!<br />

(357) die Herausforderung des Unglücks (Receptbuch)<br />

(358) zur Erkenntnißlehre: innere Phänomenalität<br />

(359) Wahrhaftigkeit — was sie ist?<br />

(360) Freude, überall die Immoralität wieder zu entdecken<br />

(361) der wirkliche Mensch mehr werth als der wünschbare!<br />

(362) Vorrede: Heraufkunft des Nihilismus(1687)<br />

(363) Subjekt, Objekt<br />

(364) „Hunger“ im Protoplasm<br />

(365) der Widersinn im Gottesbegriff: wir leugnen „Gott“<br />

in Gott<br />

Page Break KGW='VIII-2.455' KSA='13.211'<br />

(366) der praktische Nihilist<br />

(367) Wir — enttäuscht über das „Ideal“<br />

(368) Spott: „seid einfach!“<br />

(369) Auswahl der Gleichen, der „Auszug“, die Isolation<br />

(Receptbuch)<br />

(370) gegen die „Gerechtigkeit“ (Receptbuch)<br />

(371) Volk: Verwandtschaft-Instinkt<br />

(372) die drei Ideale<br />

heidnisch; anämisch; widernatürlich<br />

<strong>Aphorism</strong> n=12148 id='VIII.12[2]' kgw='VIII-2.455' ksa='13.211'<br />

12. 4. Lebens-Recepte für uns.<br />

1. 1. Der Nihilismus, vollkommen zu Ende<br />

gedacht.<br />

2 1. Cultur, Civilisation, die Zweideutigkeit des<br />

„Modernen“.<br />

3. 2. Die Herkunft des Ideals.<br />

4. 2. Kritik des christlichen Ideals.<br />

5. 2. Wie die Tugend zum Siege kommt.<br />

6. 2. Der Heerden-Instinkt.<br />

10. 4. Die „ewige Wiederkunft“<br />

11. 4. Die große Politik.<br />

7. 3. Der „Wille zur Wahrheit“.<br />

8. 3. Moral als Circe der Philosophen<br />

9. 3. Psychologie des „Willens zur Macht“<br />

(Lust, Wille, Begriff usw.<br />

Page Break KGW='VIII-2.456' KSA='13.212'<br />

VIII-3<br />

Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889<br />

[ 13 = Z II 3b. Anfang 1888 bis Frühjahr 1888 ]<br />

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