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Seltsames Loos des Menschen! Er lebt 70 Jahr und meint, etwas ...

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<strong>und</strong> sie erheben sich nur, um Andre zu erniedrigen.<br />

Und wiederum giebt es Solche, die sitzen in ihrem Sumpfe <strong>und</strong><br />

reden also heraus aus dem Schilfrohr: „Tugend — das ist still<br />

im Sumpfe sitzen.<br />

Wir beissen Niemanden <strong>und</strong> gehen Dem aus dem Wege, der<br />

beissen will; <strong>und</strong> in Allem haben wir die Meinung, die man uns<br />

giebt.“<br />

Und wiederum giebt es Solche, die lieben Gebärden <strong>und</strong> denken:<br />

Tugend ist eine Art Gebärde.<br />

Ihre Kniee beten immer an, <strong>und</strong> ihre Hände sind Lobpreisungen<br />

der Tugend, aber ihr Herz weiss Nichts davon.<br />

Und wiederum giebt es Solche, die halten es für Tugend, zu<br />

sagen: „Tugend ist nothwendig“; aber sie glauben im Gr<strong>und</strong>e<br />

nur daran, dass Polizei nothwendig ist.<br />

Und Mancher, der das Hohe an den <strong>Menschen</strong> nicht sehen<br />

kann, nennt es Tugend, dass er ihr Niedriges allzunahe sieht:<br />

also heisst er seinen bösen Blick Tugend.<br />

Und Einige wollen erbaut <strong>und</strong> aufgerichtet sein <strong>und</strong> heissen<br />

es Tugend; <strong>und</strong> Andre wollen umgeworfen sein — <strong>und</strong> heissen<br />

es auch Tugend.<br />

Und derart glauben fast Alle daran, Antheil zu haben an der<br />

Tugend; <strong>und</strong> zum Min<strong>des</strong>ten will ein Jeder Kenner sein über<br />

„gut“ <strong>und</strong> „böse“.<br />

Aber nicht dazu kam Zarathustra, allen diesen Lügnern <strong>und</strong><br />

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Narren zu sagen: „was wisst ihr von Tugend! Was könntet<br />

ihr von Tugend wissen!“ —<br />

Sondern, dass ihr, meine Fre<strong>und</strong>e, der alten Worte müde würdet,<br />

welche ihr von den Narren <strong>und</strong> Lügnern gelernt habt:<br />

Müde würdet der Wort „Lohn," „Vergeltung,“ „Strafe,“<br />

„Rache in der Gerechtigkeit“ —<br />

Müde würdet zu sagen „dass eine Handlung gut ist, das<br />

macht, sie ist selbstlos.“<br />

Ach, meine Fre<strong>und</strong>e! Dass euer Selbst in der Handlung sei,<br />

wie die Mutter im Kinde ist: das sei mir euer Wort von<br />

Tugend!<br />

Wahrlich, ich nahm euch wohl h<strong>und</strong>ert Worte <strong>und</strong> eurer Tugend<br />

liebste Spielwerke; <strong>und</strong> nun zürnt ihr mir, wie Kinder<br />

zürnen.<br />

Sie spielten am Meere, — da kam die Welle <strong>und</strong> riss ihnen ihr<br />

Spielwerk in die Tiefe: nun weinen sie.<br />

Aber die selbe Welle soll ihnen neue Spielwerke bringen <strong>und</strong><br />

neue bunte Muscheln vor sie hin ausschütten!<br />

So werden sie getröstet sein; <strong>und</strong> gleich ihnen sollt auch ihr,<br />

meine Fre<strong>und</strong>e, eure Tröstungen haben — <strong>und</strong> neue bunte Muscheln!<br />

—<br />

Also sprach Zarathustra.

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