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Seltsames Loos des Menschen! Er lebt 70 Jahr und meint, etwas ...

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von Zarathustra lernt?<br />

Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter <strong>Menschen</strong> bin,<br />

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dass ich sehe „Diesem fehlt ein Auge <strong>und</strong> Jenem ein Ohr <strong>und</strong><br />

einem Dritten das Bein, <strong>und</strong> Andre giebt es, die verloren die<br />

Zunge oder die Nase oder den Kopf.“<br />

Ich sehe <strong>und</strong> sah Schlimmeres <strong>und</strong> mancherlei so Abscheuliches,<br />

dass ich nicht von Jeglichem reden <strong>und</strong> von Einigem nicht<br />

einmal schweigen möchte: nämlich <strong>Menschen</strong>, denen es an Allem<br />

fehlt, ausser dass sie Eins zuviel haben — <strong>Menschen</strong>, welche<br />

Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein grosses Maul<br />

oder ein grosser Bauch oder irgend <strong>etwas</strong> Grosses, — umgekehrte<br />

Krüppel heisse ich Solche.<br />

Und als ich aus meiner Einsamkeit kam <strong>und</strong> zum ersten Male<br />

über diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht <strong>und</strong><br />

sah hin, <strong>und</strong> wieder hin, <strong>und</strong> sagte endlich „das ist ein Ohr!<br />

Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!“ Ich sah noch besser hin:<br />

<strong>und</strong> wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum<br />

<strong>Er</strong>barmen klein <strong>und</strong> ärmlich <strong>und</strong> schmächtig war. Und wahrhaftig,<br />

das ungeheure Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele,<br />

— der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge<br />

nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen;<br />

auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele baumelte.<br />

Das Volk sagte mir aber, das grosse Ohr sei nicht nur ein Mensch,<br />

sondern ein grosser Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem<br />

Volke niemals, wenn es von grossen <strong>Menschen</strong> redete — <strong>und</strong><br />

behielt meinen Glauben bei, dass es ein umgekehrter Krüppel<br />

sei, der an Allem zu wenig <strong>und</strong> an Einem zu viel habe.“<br />

Als Zarathustra so zu dem Bucklichten geredet hatte <strong>und</strong> zu<br />

Denen, welchen er M<strong>und</strong>stück <strong>und</strong> Fürsprecher war, wandte er<br />

sich mit tiefem Unmuthe zu seinen Jüngern <strong>und</strong> sagte:<br />

„Wahrlich, meine Fre<strong>und</strong>e, ich wandle unter den <strong>Menschen</strong><br />

wie unter den Bruchstücken <strong>und</strong> Gliedmaassen von <strong>Menschen</strong>!<br />

Diess ist meinem Auge das Fürchterliche, dass ich den <strong>Menschen</strong><br />

zertrümmert finde <strong>und</strong> zerstreuet wie über ein Schlacht- <strong>und</strong><br />

Schlächterfeld hin.<br />

Und flüchtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals: es findet<br />

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immer das Gleiche: Bruchstücke <strong>und</strong> Gliedmaassen <strong>und</strong> grause<br />

Zufälle — aber keine <strong>Menschen</strong>!<br />

Das Jetzt <strong>und</strong> das Ehemals auf <strong>Er</strong>den — ach! meine Fre<strong>und</strong>e<br />

— das ist mein Unerträglichstes; <strong>und</strong> ich wüsste nicht zu leben,<br />

wenn ich nicht noch ein Seher wäre, <strong>des</strong>sen, was kommen<br />

muss.<br />

Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber

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