Leseproben Jane Austen E-Book - Reclam
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<strong>Leseproben</strong><br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
Die Romane<br />
Aus dem Englischen übersetzt von<br />
Ursula und Christian Grawe<br />
Nachwort und Anmerkungen<br />
von Christian Grawe<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
© 2012 Philipp <strong>Reclam</strong> jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart<br />
Gesamtherstellung: <strong>Reclam</strong>, Ditzingen<br />
Made in Germany 2012<br />
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp <strong>Reclam</strong> jun. GmbH &<br />
Co. KG, Stuttgart<br />
www.reclam.de
Kapitel 1<br />
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle<br />
im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender<br />
braucht als eine Frau.<br />
Zwar sind die Gefühle oder Ansichten eines solchen<br />
Mannes bei seinem Zuzug in eine neue Gegend meist unbekannt,<br />
aber diese Wahrheit sitzt in den Köpfen der ansässigen<br />
Familien so fest, dass er gleich als das rechtmäßige<br />
Eigentum der einen oder anderen ihrer Töchter gilt.<br />
»Mein lieber Mr. Bennet«, 1 sagte seine Gemahlin eines<br />
Tages zu ihm, »hast du schon gehört, dass Netherfield Park<br />
endlich vermietet ist?«<br />
Das habe er nicht, antwortete Mr. Bennet.<br />
»Doch, doch«, erwiderte sie, »Mrs. Long war nämlich<br />
gerade hier und hat es mir lang und breit erzählt.«<br />
Mr. Bennet gab keine Antwort.<br />
»Willst du denn gar nicht wissen, an wen?«, rief seine<br />
Frau ungeduldig.<br />
»Du willst es mir erzählen; ich habe nichts dagegen, es<br />
mir anzuhören.«<br />
Das genügte ihr als Aufforderung.<br />
»Stell dir vor, mein Lieber, Mrs. Long sagt, dass ein<br />
junger Mann aus dem Norden Englands mit großem Vermögen<br />
Netherfield gemietet hat; dass er am Montag in einem<br />
Vierspänner heruntergekommen ist, um sich den Besitz<br />
anzusehen, und so entzückt war, dass er mit Mr. Morris<br />
sofort einig geworden ist; noch vor Oktober will er angeb-
lich einziehen, und ein Teil seiner Dienerschaft soll schon<br />
Ende nächster Woche im Haus sein.«<br />
»Wie heißt er denn?«<br />
»Bingley.«<br />
»Ist er verheiratet oder ledig?«<br />
»Na, ledig natürlich! Ein Junggeselle mit großem Vermögen;<br />
vier- oder fünftausend pro Jahr. Ist das nicht schön<br />
für unsere Mädchen!«<br />
»Wieso? Was hat das mit ihnen zu tun?«<br />
»Mein lieber Mr. Bennet«, erwiderte seine Frau. »Wie<br />
kannst du nur so schwerfällig sein! Du musst dir doch<br />
denken können, dass er eine von ihnen heiraten soll.«<br />
»Ist er deshalb hierhergezogen?«<br />
»Deshalb! Unsinn, wie kannst du nur so etwas sagen!<br />
Aber es könnte doch gut sein, dass er sich in eine von ihnen<br />
verliebt, und darum musst du ihm einen Antrittsbesuch<br />
machen, sobald er kommt.«<br />
»Dazu sehe ich gar keine Veranlassung. Warum gehst<br />
du nicht mit den Mädchen hin, oder besser noch, schick sie<br />
allein, sonst wirft Mr. Bingley noch ein Auge auf dich; so<br />
hübsch wie sie bist du allemal.«<br />
»Du schmeichelst mir, mein Lieber. Meine Schönheit –<br />
das war einmal, aber jetzt halte ich mir darauf nicht mehr<br />
viel zugute. Wenn eine Frau fünf erwachsene Töchter hat,<br />
sollte sie nicht mehr von ihrer eigenen Schönheit reden.«<br />
»In solchen Fällen ist ihre Schönheit oft auch nicht<br />
mehr der Rede wert.«<br />
»Trotzdem, mein Lieber, du musst unbedingt Mr. Bingley<br />
besuchen, wenn er eingezogen ist.«<br />
»Das ist mehr, als ich versprechen kann.«<br />
»Aber denk doch an deine Töchter. Was für eine Partie<br />
wäre das für eine von ihnen. Sogar Sir William und Lady<br />
Lucas wollen bei ihm vorsprechen, und zwar nur deshalb,
denn im Allgemeinen machen sie neuen Nachbarn ja keine<br />
Besuche. Du musst einfach hingehen. Wie können wir ihn<br />
denn besuchen, wenn du nicht gehst.«<br />
»Du hast zu viele Bedenken. Ich bin überzeugt, Mr. Bingley<br />
freut sich über euren Besuch. Ich gebe dir ein paar<br />
Zeilen mit meiner herzlichen Zustimmung mit, diejenige<br />
meiner Töchter zu heiraten, die ihm am besten gefällt. Allerdings<br />
muss ich ein gutes Wort für meine kleine Lizzy<br />
einlegen.«<br />
»Das wirst du nicht tun. Lizzy ist keinen Deut besser<br />
als die anderen; wenn du mich fragst, ist sie bei weitem<br />
nicht so hübsch wie <strong>Jane</strong> und bei weitem nicht so vergnügt<br />
wie Lydia. Aber immer ziehst du sie vor.«<br />
»Keine von ihnen ist besonders empfehlenswert«, antwortete<br />
er; »sie sind alle genauso albern und dumm wie<br />
andere Mädchen. Nur begreift Lizzy etwas schneller als<br />
ihre Schwestern.«<br />
»Mr. Bennet, wie kannst du nur über deine eigenen Kinder<br />
so abfällig reden! Es macht dir Spaß, mich zu ärgern. Mit<br />
meinen armen Nerven hast du wohl gar kein Mitleid.«<br />
»Du missverstehst mich, meine Liebe. Ich habe großen<br />
Respekt vor deinen Nerven. Sie und ich sind alte Freunde.<br />
Seit mindestens zwanzig Jahren höre ich dich von ihnen<br />
mit großer Besorgnis sprechen.«<br />
»Oh, du ahnst ja nicht, was ich durchmache!«<br />
»Ich hoffe, du wirst es überleben und noch viele junge<br />
Männer mit viertausend pro Jahr hierherziehen sehen.«<br />
»Da du sie nicht besuchen willst, werden uns auch<br />
zwanzig nicht retten.«<br />
»Sei überzeugt, meine Liebe, wenn zwanzig da sind, besuche<br />
ich sie einen nach dem anderen.«<br />
In Mr. Bennet vereinigten sich Schlagfertigkeit, sarkastischer<br />
Humor, Gelassenheit und kauzige Einfälle zu einer
so merkwürdigen Mischung, dass es seiner Frau auch in<br />
dreiundzwanzig Ehejahren nicht gelungen war, ihn zu begreifen.<br />
Ihr Gemüt war leichter zu durchschauen. Sie war<br />
eine Frau von geringer Einsicht, wenig Weltkenntnis und<br />
vielen Launen. Wenn sie unzufrieden war, glaubte sie, nervöse<br />
Zustände zu haben. Ihre Lebensbeschäftigung war die<br />
Verheiratung ihrer Töchter, Besuche und Neuigkeiten waren<br />
ihr Lebenstrost.<br />
Kapitel 2<br />
Mr. Bennet war einer der Ersten, die Mr. Bingley ihre Aufwartung<br />
machten. Er hatte von Anfang an vorgehabt, ihn<br />
aufzusuchen, obwohl er seiner Frau bis zuletzt das Gegenteil<br />
versichert hatte; und bis zum Abend nach dem Besuch wusste<br />
sie auch nichts davon. Dann aber kam es folgendermaßen<br />
ans Licht: Mr. Bennet sah seiner zweiten Tochter beim Annähen<br />
eines Hutbandes zu und sagte plötzlich zu ihr:<br />
»Hoffentlich gefällt der Hut Mr. Bingley, Lizzy.«<br />
»Wie sollen wir denn wissen, was Mr. Bingley gefällt«,<br />
sagte ihre Mutter pikiert, »wenn wir ihn nicht besuchen<br />
dürfen.«<br />
»Aber vergiss nicht, Mama«, sagte Elizabeth, »dass wir<br />
ihm in Gesellschaft begegnen werden und Mrs. Long versprochen<br />
hat, ihn uns vorzustellen.«<br />
»Mrs. Long wird nichts dergleichen tun. Sie hat selbst<br />
zwei Nichten und ist eine egoistische Heuchlerin. Ich halte<br />
gar nichts von ihr.«<br />
»Ich auch nicht«, sagte Mr. Bennet, »und wie ich glücklicherweise<br />
sagen kann, werdet ihr auf die Gefälligkeit<br />
auch nicht angewiesen sein.«
Mrs. Bennet ließ sich zu keiner Antwort herab, aber da<br />
sie sich nicht beherrschen konnte, fing sie an, eine ihrer<br />
Töchter auszuschimpfen.<br />
»Hör auf zu husten, Kitty, um Himmels willen! Nimm<br />
ein bisschen Rücksicht auf meine Nerven. Du trampelst<br />
auf ihnen herum.«<br />
»Kittys Husten ist wirklich rücksichtslos«, sagte ihr Vater,<br />
»sie hustet zur falschen Zeit.«<br />
»Ich huste ja schließlich nicht zum Vergnügen«, antwortete<br />
Kitty ärgerlich.<br />
»Wann ist dein nächster Ball, Lizzy?«<br />
»Morgen in vierzehn Tagen.«<br />
»Ach, richtig«, rief ihre Mutter, »und Mrs. Long<br />
kommt erst am Tag vorher zurück, und deshalb kann sie<br />
ihn uns auch nicht vorstellen, denn sie kennt ihn selbst<br />
noch nicht.«<br />
»Dann, meine Liebe, wirst du deiner Freundin zuvorkommen<br />
und das Vergnügen haben, Mr. Bingley ihr vorzustellen.«<br />
»Ausgeschlossen, Mr. Bennet, ausgeschlossen, wenn ich<br />
ihn doch selbst nicht kenne. Du willst uns auf den Arm<br />
nehmen.«<br />
»Deine Umsicht ehrt dich. Eine vierzehntägige Bekanntschaft<br />
ist natürlich nicht viel. Nach vierzehn Tagen<br />
kennt man einen Menschen ja kaum. Aber wenn wir es<br />
nicht wagen, wird es jemand anders tun; schließlich müssen<br />
auch Mrs. Long und ihre Nichten ihre Chance wahrnehmen,<br />
und deshalb wäre sie dir für diesen Liebesdienst<br />
sicher dankbar. Wenn du es also ablehnst, werde ich es in<br />
die Hand nehmen.«<br />
Die Mädchen starrten ihren Vater an. Mrs. Bennet sagte<br />
nur: »Unsinn, Unsinn!«<br />
»Darf ich auch den Sinn dieser so entschiedenen Ableh-
nung erfahren?«, rief er. »Hältst du die gesellschaftlichen<br />
Umgangsformen für Unsinn? Legst du gar keinen Wert<br />
auf eine korrekte Vorstellung? Da kann ich dir nicht ganz<br />
zustimmen. Was meinst du, Mary? Du bist doch eine<br />
grundgescheite junge Dame, liest gewichtige Bücher und<br />
machst dir Auszüge daraus.«<br />
Mary hätte gerne etwas Tiefsinniges gesagt, aber es fiel<br />
ihr nichts ein.<br />
»Wir wollen«, fuhr er fort, »während Mary ihre Gedanken<br />
zurechtlegt, zu Mr. Bingley zurückkehren.«<br />
»Ich habe genug von Mr. Bingley!«, rief seine Frau.<br />
»Das zu hören, bedaure ich. Aber warum hast du mir<br />
das nicht vorher gesagt? Wenn ich das heute Morgen gewusst<br />
hätte, hätte ich ihm meine Aufwartung gar nicht<br />
erst gemacht. Eine unglückliche Situation, aber da ich ihn<br />
nun schon einmal aufgesucht habe, lässt sich die Bekanntschaft<br />
nicht mehr umgehen.«<br />
Das Erstaunen der Damen war ganz nach seinem<br />
Wunsch. Mrs. Bennets Überraschung war vielleicht am<br />
größten, aber als der erste Freudentaumel vorüber war, erklärte<br />
sie, genau das habe sie die ganze Zeit erwartet.<br />
»Wie nett von dir, mein lieber Mr. Bennet. Aber ich<br />
wusste, ich würde dich zu guter Letzt herumkriegen. Ich<br />
habe mir gleich gedacht, dass du deine Töchter zu sehr<br />
liebst, um dir solche Bekanntschaft entgehen zu lassen.<br />
Nein, wie mich das freut! Und es ist ein köstlicher Witz,<br />
dass du heute Morgen hingegangen bist und uns bis eben<br />
nichts davon gesagt hast.«<br />
»Jetzt kannst du so viel husten, wie du willst, Kitty«,<br />
sagte Mr. Bennet und, erschöpft von den Gefühlsausbrüchen<br />
seiner Frau, verließ er mit diesen Worten das Zimmer.<br />
»Was habt ihr doch für einen großartigen Vater, ihr<br />
Mädchen!«, sagte sie, als die Tür wieder geschlossen war.
»Ich weiß gar nicht, wie ihr ihm seine Fürsorge je vergelten<br />
wollt – von meiner ganz zu schweigen. In unserem<br />
Alter ist es weiß Gott kein Vergnügen, jeden Tag neue<br />
Bekanntschaften zu machen; aber für euch tun wir ja alles.<br />
Lydia, mein Kind, du bist zwar die Jüngste, aber Mr. Bingley<br />
wird bestimmt auf dem nächsten Ball mit dir tanzen.«<br />
»Na und!«, sagte Lydia beherzt, »davor habe ich gar<br />
keine Angst; ich bin zwar die Jüngste, aber auch die Größte.«<br />
Den Rest des Abends verbrachten sie mit Überlegungen,<br />
wie bald er wohl Mr. Bennets Besuch erwidern würde<br />
und wann sie ihn zum Essen einladen sollten.<br />
Kapitel 3<br />
Trotz aller Fragen, die Mrs. Bennet mit Unterstützung ihrer<br />
fünf Töchter zu diesem Thema stellte, ließ sich ihr<br />
Mann keine befriedigende Beschreibung von Mr. Bingley<br />
entlocken. Dabei versuchten sie es mit allen Mitteln: Sie<br />
überfielen ihn mit unverhohlenen Fragen, mit listigen<br />
Unterstellungen und mit weit hergeholten Vermutungen.<br />
Aber er ließ sich trotz all ihrer Geschicklichkeit nicht in<br />
die Falle locken, und so mussten sie zu guter Letzt dankbar<br />
für die Informationen aus zweiter Hand sein, die ihnen<br />
ihre Nachbarin, Lady Lucas, gab. Ihr Bericht fiel ausgesprochen<br />
günstig aus. Sir William war entzückt von Mr.<br />
Bingley gewesen. Er war jung, sah hinreißend aus, war äußerst<br />
umgänglich, und, um allem die Krone aufzusetzen,<br />
er hatte vor, zum nächsten Ball mit großer Gesellschaft<br />
zu kommen. Nichts hätte vielversprechender sein können.<br />
Gerne tanzen hieß schon halb verliebt sein; und so machte
Nachwort<br />
»Of all great writers she is the most<br />
difficult to catch in the act of greatness.«<br />
Virginia Woolf über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
1<br />
»Pride and Prejudice. Ein Roman. In drei Bänden. Von der<br />
Autorin von Sense and Sensibility« erschien anonym zum<br />
Preise von 18 Shilling und in 1500 Exemplaren Ende Januar<br />
1813 in London. Das Buch war innerhalb von sechs Monaten<br />
ausverkauft, so dass noch im selben Jahr eine zweite<br />
Auflage herausgebracht werden konnte – bei Publikum<br />
und Kritik, soweit sie damals Romane zur Kenntnis nahmen,<br />
durchaus ein Erfolg für die Autorin. Aber wer war<br />
sie? Auch auf dem Titelblatt ihres ersten, zwei Jahre vorher<br />
erschienenen Romans hatte es nur geheißen: »by a<br />
lady«, von einer Dame. Und sie genoss ihre Anonymität.<br />
Es traf sich nämlich, dass bei der Ankunft ihrer Belegexemplare<br />
von Pride and Prejudice eine Nachbarin zu Besuch<br />
war, der die Autorin und ihre Mutter das Geheimnis<br />
nicht verrieten, aber aus dem brandneuen Roman vorlasen:<br />
»Sie fand es ganz witzig, die arme Seele. Das konnte sie<br />
denn doch nicht verhindern bei zwei Leuten, die sie so zum<br />
Lachen anregten, aber Elizabeth gefällt ihr anscheinend<br />
wirklich gut. Ich muss selbst sagen, ich finde sie eine der<br />
hinreißendsten Gestalten, die je gedruckt erschienen sind,<br />
und ich habe keine Ahnung, wie ich mit denen gnädig sein<br />
soll, die nicht wenigstens sie leiden mögen.«<br />
Aber zu dieser Befürchtung war wenig Anlass. Elizabeth<br />
Bennet – so meint <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Biographin E. Jenkins –
»hat vielleicht mehr Verehrer als jede andere Heldin in der<br />
englischen Literatur«. R. L. Stevenson ging sogar so weit<br />
zu sagen, jedes Mal wenn Elizabeth Bennet den Mund aufmache,<br />
würde er am liebsten vor ihr niederknien. Dabei<br />
war schon zur Zeit ihres Erscheinens die Konkurrenz groß:<br />
Es wimmelte von Damen, die Romane schrieben, und<br />
von Heldinnen mit den atemberaubendsten Schicksalen<br />
und so exotischen Namen wie Belinda, Evelina, Cecilia und<br />
Emmeline. Aber schon ein Teil der Zeitgenossen spürte,<br />
dass Elizabeth Bennets Geschichte nicht einer der gängigen<br />
Frauenromane der Zeit war, und kein Geringerer als Walter<br />
Scott hat es 1816 als Erster ausgesprochen: »Statt der großartigen<br />
Szenen einer Phantasiewelt eine nicht übertriebene<br />
und treffende Darstellung dessen, was Tag für Tag um [den<br />
Leser] vorgeht.« Das Sensationelle in <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Romanen<br />
war, dass darin nichts Sensationelles geschah. Schon<br />
die alltäglichen Namen ihrer Heldinnen sind Teil dieses<br />
Protests gegen die artifizielle Welt des Romans der Zeit. Er<br />
brachte den Lesern oder eher Leserinnen das Gruseln bei<br />
oder ließ sie sentimentale Frauenschicksale miterleben –<br />
oder beides zugleich.<br />
Die ›Gothic Novel‹, der gotische Roman, war im<br />
Schwange. Grauenhaftes widerfuhr darin unschuldigen<br />
jungen Damen von grausamen Verwandten oder frustrierten<br />
Liebhabern in unheimlichen alten Schlössern, auf<br />
Friedhöfen oder in finsteren Wäldern. Anne Radcliffe war<br />
die erfolgreiche Meisterin des Genres, und unsere Autorin<br />
hat sie in Northanger Abbey köstlich parodiert: Die arglose<br />
junge Catherine Morland liest gerade Mysteries of Udolpho<br />
(1794) der Anne Radcliffe und hofft, bei ihrem Besuch<br />
auf einem alten Herrensitz ebenso schreckliche Familiengeheimnisse<br />
zu entdecken wie in dem Buch – hat der Hausherr<br />
seine Frau ermordet, oder hält er sie in einem dunklen
Verlies gefangen? –, aber der zweite Sohn des Hauses heilt<br />
sie von ihrem Wahn, gotische Romane für Wirklichkeit zu<br />
halten und – heiratet sie. Es ist die Autorin selbst, die mit<br />
der Heldin denkt: »So reizend all die Werke von Mrs. Radcliffe<br />
und so reizend sogar die Werke all ihrer Nachahmer<br />
waren, nach der Wirklichkeitstreue der Charaktere (›human<br />
nature‹) durfte man darin nicht fragen.«<br />
Nicht minder beliebt war der sentimentale Frauenroman<br />
in der Nachfolge der für uns heute so langatmigen<br />
Briefromane Samuel Richardsons. Ein armes Mädchen,<br />
wenn möglich Waise, wird darin meist in die große Welt<br />
eingeführt und entpuppt sich gern als reiche Erbin. Die populären<br />
Vertreterinnen dieses Genres waren die melodramatische<br />
Elizabeth Inchbald, Fanny Burney, die von der<br />
Autorin von Pride and Prejudice geschätzt wurde, und Maria<br />
Edgeworth, deren Anerkennung sie suchte und nicht<br />
fand und die das Verdienst hat, mit Castle Rackrent (1800)<br />
das irische Lokalkolorit – wie Scott das schottische – für die<br />
Literatur entdeckt zu haben, was etwa bei Charles Maturins<br />
Melmouth the Wanderer (1820) und William Thackerays<br />
Barry Lyndon (1844) weiterwirkt. Die Frivolität des städtischen<br />
Lebens wird darin mit leichtem Schaudern ausgemalt,<br />
zarte Gefühle werden ausgiebig beschrieben, und Damen<br />
brechen gern in Tränen aus oder fallen in Ohnmacht.<br />
Die sanfte und naive Heldin begegnet dem charmanten Bösewicht<br />
und der raffinierten Dame von Welt, ist aber keineswegs<br />
korrumpierbar und findet schließlich ihr Glück.<br />
Mrs. Burneys Evelina (1778) heißt schon im Untertitel<br />
»Geschichte einer jungen Dame beim Eintritt in die Gesellschaft«,<br />
und auch M. Edgeworths Belinda (1801) wird im<br />
Laufe der Handlung »eine junge Dame, die gerade in die<br />
Gesellschaft eintritt« genannt. Die kühle Elizabeth Bennet<br />
ist auch hier ein Gegentyp.
Die drei erfolgreichen Schreiberinnen solcher Romane<br />
waren in aller Munde, aber wer war die Verfasserin von<br />
Pride and Prejudice? Mr. Clarke, der Bibliothekar des<br />
Prinzregenten, wusste es durch ihren Bruder. Er war wie<br />
sein Herr ein Bewunderer ihrer Romane und schrieb ihr,<br />
nachdem er sie kurz vorher bei ihrem Besuch in London<br />
auf ausdrücklichen Wunsch Seiner Königlichen Hoheit<br />
durch deren Bibliothek geführt hatte, im Herbst 1815, ob<br />
sie nicht einen Roman ȟber die Lebensgewohnheiten, den<br />
Charakter und den beruflichen Enthusiasmus eines Geistlichen«<br />
schreiben könne? Die englische Literatur habe es<br />
bisher versäumt, diesem Berufsstand den ihm gebührenden<br />
Tribut zu zollen. – (Trotz Goldsmiths The Vicar of<br />
Wakefield, Mr. Clarke?) – Die Autorin antwortete ihm auf<br />
diesen Brief, dem J. B. Priestley »wegen seines pompösen<br />
Schwachsinns« Unsterblichkeit gewünscht hat, dazu sei sie<br />
nicht imstande: »Eine humanistische Bildung oder wenigstens<br />
eine ausgedehnte Kenntnis der älteren und neueren<br />
englischen Literatur erscheint mir unerlässlich für die Romangestalt,<br />
die Ihrem Geistlichen gerecht würde […]. Ich<br />
aber kann mich in aller Eitelkeit rühmen, die ungebildetste<br />
und unwissendste Frau zu sein, die sich je ans Romanschreiben<br />
gewagt hat.«<br />
Das war übertrieben; und Mr. Clarke hatte wohl das<br />
1814 erschienene Mansfield Park nicht sorgsam genug gelesen,<br />
denn darin ist in der Gestalt Edmund Bertrams die<br />
Würdigung des Geistlichen schon enthalten. Oder forderte<br />
er, der selber Geistlicher war, Wiedergutmachung für die<br />
groteske Figur des Mr. Collins? Jedenfalls gab er nicht auf.<br />
Unterdessen mit dem neuesten Roman der Autorin, Emma,<br />
vertraut, der Seiner Königlichen Hoheit auf deren eigenen<br />
Wunsch gewidmet war, und seit kurzem Privatsekretär des<br />
Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg, dessen Hochzeit mit
der Tochter des Regenten bevorstand, wandte er sich noch<br />
einmal an die Autorin und riet ihr zu einem historischen<br />
Liebesroman (›historic romance‹), der dem Hause Coburg<br />
Ehre antue und diesmal dem Prinzen gewidmet sein dürfe.<br />
Nun musste die zurückhaltende Schriftstellerin deutlicher<br />
werden: »Ich glaube schon«, schrieb sie ihm im Frühjahr<br />
1816, »dass ein historischer Liebesroman über das<br />
Haus Coburg profitabler und populärer wäre als die häuslichen<br />
Szenen auf dem Lande, mit denen ich mich beschäftige.<br />
Aber ich könnte einen Liebesroman ebenso wenig<br />
schreiben wie ein Versepos […]. Nein, ich muss bei meinem<br />
Metier bleiben und meinen eigenen Weg gehen, auch<br />
wenn mir Erfolg dabei nie wieder zuteilwird; auf jede andere<br />
Weise würde ich meiner Meinung nach unweigerlich<br />
scheitern.«<br />
Die häuslichen Szenen auf dem Lande – »Drei oder vier<br />
Familien in einem Dorf auf dem Lande, das ist der ideale<br />
Romanstoff (›the very thing to work on‹)« –, die heute zu<br />
den Höhepunkten der englischen Prosaliteratur gehören,<br />
wurden in der Hand der Autorin zu sublimen Kunstwerken.<br />
Wie gut, dass sie auf Mr. Clarkes Vorschläge nicht einging,<br />
dass sie ihren literarischen Weg unbeirrt verfolgte.<br />
Aber wer war sie? Die Öffentlichkeit erfuhr es offiziell<br />
erst ein halbes Jahr nach ihrem Tode, als ihr Bruder ihre<br />
beiden vollendeten nachgelassenen Romane publizierte und<br />
mit einer biographischen Notiz versah. Alle vier zu ihren<br />
Lebzeiten veröffentlichten Bücher erschienen anonym, obwohl<br />
ihr Name ein offenes Geheimnis zu werden begann,<br />
als <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> 1817 im Alter von 42 Jahren starb.
Kapitel 1<br />
Sir Walter Elliot von Kellynch Hall in Somersetshire 1 war<br />
ein Mann, der außer dem Adelskalender nie ein Buch zum<br />
Vergnügen in die Hand nahm; dabei aber fand er Beschäftigung<br />
in müßigen und Trost in trübsinnigen Stunden; dabei<br />
erregte der Gedanke an den ausgesuchten Kreis der<br />
noch überlebenden ältesten Adelsfamilien Bewunderung<br />
und Ehrfurcht in ihm; dabei verwandelten sich alle unangenehmen<br />
Empfindungen, die wohl mit seinen häuslichen<br />
Umständen zusammenhingen, unweigerlich in Mitleid und<br />
Verachtung, wenn er die schier endlosen Adelsverleihungen<br />
des letzten Jahrhunderts durchblätterte; und dabei las<br />
er, wenn alle anderen Seiten des Buches ihre Wirkung verfehlten,<br />
mit nie versagendem Interesse seine eigene Geschichte.<br />
Dies war die Stelle, an der sich sein Lieblingsbuch<br />
unterdessen ganz von selbst aufschlug.<br />
Elliot von Kellynch Hall<br />
»Walter Elliot, geb. 1. März 1760, verh. 15. Juli 1784<br />
mit Elizabeth, Tochter von James Stevenson, wohlgeb.,<br />
von Southpark in der Grafschaft Gloucester.<br />
Seine Gemahlin (die 1800 starb) gebar ihm folgende<br />
Kinder: Elizabeth (1. Juni 1785), Anne (9. August<br />
1787), einen totgeborenen Sohn (5. November<br />
1789), Mary (20. November 1791).«<br />
Genau so war der Absatz ursprünglich aus den Händen<br />
des Druckers gekommen, aber Sir Walter hatte ihn da-
durch verbessert, dass er zu seiner eigenen Information<br />
und zu der seiner Familie hinter Marys Geburtsdatum die<br />
Worte »verh. 16. Dezember 1810 mit Charles, Sohn und<br />
Erbe von Charles Musgrove, wohlgeb., von Uppercross in<br />
der Grafschaft Somerset« ergänzt und präzise Tag und<br />
Monat eingetragen hatte, an dem ihm seine Frau gestorben<br />
war.<br />
Dann folgten in den üblichen Formulierungen Geschichte<br />
und Aufstieg der alten und angesehenen Familie:<br />
wie sie sich ursprünglich in Cheshire niedergelassen hatten,<br />
wie sie in Dugdale als höchste königliche Beamte der<br />
Grafschaft und als Abgeordnete in drei aufeinanderfolgenden<br />
Parlamenten mit ihrem Eifer im Dienst der Krone und<br />
der Verleihung der Baronatswürde im ersten Jahr der<br />
Herrschaft Karls II. und all den Marys und Elizabeths, die<br />
sie geheiratet hatten, erwähnt wurden – was alles in allem<br />
zwei eindrucksvolle Duodezseiten füllte und nach dem<br />
Wappen und dem Wahlspruch abschloss mit: »Hauptsitz:<br />
Kellynch Hall in der Grafschaft Somerset«, und dem folgenden<br />
Zusatz, wieder in Sir Walters eigener Handschrift:<br />
»Erbe: William Walter Elliot, hochwohlgeb., Urenkel des<br />
zweiten Sir Walter.«<br />
Eitelkeit war das A und O von Sir Walters Charakter –<br />
persönliche und gesellschaftliche Eitelkeit. Er hatte in seiner<br />
Jugend bemerkenswert gut ausgesehen und war mit<br />
vierundfünfzig noch immer ein ausgesprochen ansehnlicher<br />
Mann. Nur wenige Frauen verschwendeten wohl<br />
mehr Gedanken an ihre äußere Erscheinung als er, und<br />
nicht einmal der Kammerdiener irgendeines gerade geadelten<br />
Lords hätte begeisterter über seine Stellung in der Gesellschaft<br />
sein können. Seiner Meinung nach wurde der<br />
Segen der Schönheit nur vom Segen eines Baronats übertroffen,<br />
und der Sir Walter, der diese Gaben in sich ver-
einigte, war der ständige Gegenstand seiner tiefsten Ehrfurcht<br />
und Anbetung.<br />
In einer Hinsicht war sein Stolz auf sein gutes Aussehen<br />
und seinen Rang berechtigt, denn nur ihnen verdankte er<br />
wohl eine Frau, die charakterlich allen Ansprüchen, die er<br />
diesbezüglich stellen durfte, unendlich überlegen war. Lady<br />
Elliot war eine großartige Frau gewesen, vernünftig und liebenswert;<br />
und wenn man ihr die jugendliche Verblendung<br />
vergeben kann, durch die sie Lady Elliot wurde, so waren<br />
ihr Urteil und ihre Haltung später auf Nachsicht keineswegs<br />
angewiesen. Sie hatte die Schwächen ihres Mannes<br />
hingenommen oder gemildert oder zugedeckt und siebzehn<br />
Jahre lang zu seinem Ansehen beigetragen; und obwohl sie<br />
in ihrem Leben nicht gerade glücklich gewesen war, hatten<br />
ihre Pflichten, ihre Freunde und ihre Kinder ihr das Leben<br />
lebenswert und keineswegs gleichgültig erscheinen lassen,<br />
als die Abschiedsstunde nahte. Drei Mädchen zu hinterlassen,<br />
die älteren sechzehn und vierzehn, war ein furchtbares<br />
Vermächtnis für eine Mutter, ja mehr, es war eine furchtbare<br />
Belastung, sie der Autorität und dem Schutz eines eitlen,<br />
oberflächlichen Vaters anzuvertrauen. Sie hatte allerdings<br />
eine enge Freundin, eine vernünftige, verdienstvolle Frau,<br />
die sich aus Anhänglichkeit zu ihr ganz in ihrer Nähe, im<br />
Dorf Kellynch, niedergelassen hatte und auf deren Verständnis<br />
und Rat bei der Verwirklichung all der soliden<br />
Grundsätze und Anordnungen, auf die sie bei ihren Töchtern<br />
solchen Wert gelegt hatte, sie sich vor allem verließ.<br />
Diese Freundin und Sir Walter heirateten aber trotz allem,<br />
was ihre Bekannten in dieser Hinsicht vorausgesagt<br />
hatten, nicht. Dreizehn Jahre waren seit Lady Elliots Tod<br />
vergangen, und sie waren immer noch enge Nachbarn und<br />
gute Freunde, und der eine blieb Witwer und die andere<br />
Witwe.
Dass Lady Russell bei ihrem gefestigten Alter und Charakter<br />
und ihrer finanziellen Unabhängigkeit an eine zweite<br />
Ehe nicht dachte, bedarf keiner Entschuldigung in den<br />
Augen der Öffentlichkeit, die eher dazu neigt, unvernünftige<br />
Entrüstung zu zeigen, wenn eine Frau tatsächlich wieder<br />
heiratet, als wenn sie es nicht tut; aber dass Sir Walter<br />
weiter allein blieb, verlangt eine Erklärung. Es sei deshalb<br />
angemerkt, dass Sir Walter (nachdem er bei sehr unvernünftigen<br />
Heiratsanträgen ein oder zwei persönliche Enttäuschungen<br />
erfahren hatte) wie jeder gute Vater stolz darauf<br />
war, um seiner lieben Töchter willen unverheiratet zu<br />
bleiben. Für eine Tochter, für seine älteste, hätte er wirklich<br />
auf alles verzichtet – ein Gedanke, der ihm sonst gar<br />
nicht nahelag. Elizabeth hatte mit sechzehn, soweit irgend<br />
möglich, die Rechte und die gesellschaftliche Stellung ihrer<br />
Mutter übernommen; und da sie sehr schön und ihm selbst<br />
sehr ähnlich war, war ihr Einfluss auf ihn immer groß gewesen,<br />
und sie hatten sich immer glänzend verstanden.<br />
Seine beiden anderen Kinder bedeuteten ihm sehr viel weniger.<br />
Mary hatte sich auf Umwegen ein bisschen Bedeutung<br />
erworben, indem sie Mrs. Charles Musgrove geworden<br />
war, aber Anne mit ihrer geistigen Überlegenheit und<br />
ihrem ausgeglichenen Charakter, die ihr die Achtung aller<br />
wirklich einsichtigen Menschen einbringen mussten, bedeutete<br />
weder ihrem Vater noch ihrer Schwester etwas; ihr<br />
Wort zählte nicht, auf ihre Bequemlichkeit kam es nicht<br />
an; sie war nur Anne.<br />
Aber sie war Lady Russells geliebte und hochgeschätzte<br />
Patentochter, Favoritin und Freundin. Lady Russell liebte<br />
sie alle, aber nur in Anne sah sie das leibhaftige Ebenbild<br />
ihrer Mutter.<br />
Vor ein paar Jahren war Anne Elliot ein sehr hübsches<br />
Mädchen gewesen, aber ihre Schönheit war früh vergan-
gen; und da sie für ihren Vater auch in ihrer vollen Blüte<br />
wenig Bewundernswertes gehabt hatte (so völlig verschieden<br />
waren ihre feinen Züge und freundlichen dunklen Augen<br />
von seinen eigenen), besaß sie jetzt, wo sie verwelkt<br />
und dünn war, nichts mehr, was seinen Beifall fand. Er hatte<br />
sich nie großen Hoffnungen hingegeben und hegte jetzt<br />
gar keine mehr, ihren Namen je auf einer weiteren Seite<br />
seines Lieblingsbuches zu sehen. Eine ebenbürtige Heirat<br />
kam nur für Elizabeth in Frage, denn Mary hatte lediglich<br />
in eine alteingesessene Gutsbesitzerfamilie von Ansehen<br />
und großem Vermögen eingeheiratet und war deshalb<br />
durch ihre Heirat nicht im Rang gestiegen, sondern gesunken.<br />
Elizabeth würde irgendwann einmal angemessen heiraten.<br />
Es kommt manchmal vor, dass eine Frau mit neunundzwanzig<br />
hübscher ist als zehn Jahre zuvor; und wenn sie<br />
nicht unter Krankheit oder Kummer gelitten hat, handelt<br />
es sich im Allgemeinen um einen Zeitpunkt im Leben, an<br />
dem sie kaum an Charme eingebüßt hat. So war es mit Elizabeth<br />
– immer noch dieselbe schöne Miss Elliot, zu der sie<br />
vor dreizehn Jahren herangewachsen war, und man konnte<br />
es Sir Walter deshalb verzeihen, dass er ihr Alter vergaß,<br />
oder ihn jedenfalls nicht für ganz so naiv halten, wenn er<br />
sich und Elizabeth, während das gute Aussehen aller anderen<br />
dahin war, blühend fand wie eh und je, denn er konnte<br />
deutlich sehen, wie der Rest seiner Familie und seiner Bekanntschaft<br />
alterte. Anne hager, Mary gewöhnlich, jedes<br />
Gesicht in der Nachbarschaft heruntergekommen, und die<br />
rapide Vermehrung von Krähenfüßen in Lady Russells<br />
Augenwinkeln beobachtete er seit langem mit Beklommenheit.<br />
Elizabeth besaß nicht ganz die Selbstgefälligkeit ihres<br />
Vaters. Seit dreizehn Jahren war sie Herrin von Kellynch
Hall und herrschte und lenkte mit einer Besonnenheit und<br />
Entschiedenheit, die niemals den Gedanken nahelegten, sie<br />
sei jünger, als sie tatsächlich war. Dreizehn Jahre lang hatte<br />
sie die Rolle der Gastgeberin gespielt und die häusliche<br />
Ordnung bestimmt und war zur vierspännigen Kutsche<br />
vorausgeschritten und hatte unmittelbar hinter Lady Russell<br />
alle Wohnzimmer und Esszimmer in der Gegend verlassen.<br />
Dreizehnmal hatte der wiederkehrende Winterfrost<br />
sie jeden standesgemäßen Ball eröffnen sehen, den eine<br />
dünngesäte Nachbarschaft zustande brachte; und dreizehnmal<br />
hatte der Frühling seine Blüten gezeigt, wenn sie mit<br />
ihrem Vater nach London reiste, um jährlich ein paar Wochen<br />
die große Welt zu genießen. Sie lebte in der Erinnerung<br />
daran. Sie lebte in dem Bewusstsein, neunundzwanzig<br />
zu sein; und beides verursachte ihr ein gewisses Bedauern<br />
und eine gewisse Beklemmung. Sie war durchaus<br />
überzeugt, dass sie immer noch so schön war wie eh und<br />
je, aber sie spürte, dass sie sich den gefährlichen Jahren näherte;<br />
und die Gewissheit, dass jemand von Adel im Laufe<br />
der nächsten ein oder zwei Jahre förmlich um ihre Hand<br />
anhalten würde, hätte sie unendlich erleichtert. Dann<br />
könnte sie das Buch der Bücher wieder mit der gleichen<br />
Freude in die Hand nehmen wie in Kindertagen. Aber jetzt<br />
hatte sie eine Abneigung dagegen. Immer mit dem eigenen<br />
Geburtsdatum konfrontiert zu werden und keine Heirat<br />
folgen zu sehen als die ihrer jüngsten Schwester verleidete<br />
ihr das Buch; und wenn ihr Vater es offen in ihrer Nähe<br />
auf dem Tisch liegengelassen hatte, hatte sie es mehr als<br />
einmal mit abgewandtem Blick zugeklappt und von sich<br />
geschoben.<br />
Sie hatte darüber hinaus eine Enttäuschung erlebt, deren<br />
Erinnerung das Buch und besonders die Geschichte ihrer<br />
eigenen Familie immer wachhalten würden. Der Erbe,
genau jener William Walter Elliot, hochwohlgeb., dessen<br />
Ansprüche so großzügig von ihrem Vater unterstützt worden<br />
waren, hatte sie enttäuscht.<br />
Schon als sehr junges Mädchen, sobald sie wusste, dass<br />
er der zukünftige Baron sein würde, wenn sie keinen Bruder<br />
haben sollte, hatte sie beschlossen, ihn zu heiraten; und<br />
ihr Vater hatte sie in diesem Entschluss immer bestärkt.<br />
Sie hatten ihn als Jungen nicht gekannt, aber bald nach<br />
Lady Elliots Tod hatte Sir Walter sich um die Bekanntschaft<br />
seines Neffen bemüht; und obwohl seine Annäherungsversuche<br />
nicht auf Begeisterung gestoßen waren,<br />
hatte er seine Bemühungen fortgesetzt, wobei er ihm die<br />
bescheidene Zurückhaltung der Jugend zugutehielt; und<br />
bei einem ihrer Frühjahrsausflüge nach London, als Elizabeth<br />
in ihrer ersten Blüte war, hatten sie Mr. Elliot ihre<br />
Bekanntschaft aufgezwungen.<br />
Er war zu der Zeit noch ein sehr junger Mann, der gerade<br />
sein Jurastudium absolvierte. Elizabeth fand ihn ungewöhnlich<br />
anziehend, und sein persönlicher Eindruck bestätigte<br />
sie in ihren Absichten. Er wurde nach Kellynch Hall<br />
eingeladen. Man sprach von ihm und erwartete ihn für den<br />
Rest des Jahres, aber er kam nie. Im folgenden Frühjahr<br />
traf man ihn wieder in London, fand ihn nicht minder anziehend,<br />
ermutigte ihn, lud ihn ein und erwartete ihn, und<br />
wieder kam er nicht; und als Nächstes kam die Nachricht,<br />
dass er verheiratet war. Statt sein Glück auf dem Wege zu<br />
suchen, der für den Erben des Hauses Elliot vorgezeichnet<br />
war, hatte er sich seine Unabhängigkeit durch eine Verbindung<br />
mit einer reichen Frau von niederer Herkunft erkauft.<br />
Sir Walter hatte es ihm verübelt. Als Haupt der Familie<br />
fand er, man hätte seinen Rat einholen sollen, besonders<br />
nachdem er sich mit dem jungen Mann in aller Öffentlich-
keit gezeigt hatte. Denn man müsse sie zusammen gesehen<br />
gaben, bemerkte er, einmal bei Tattersall 2 und zweimal in<br />
der Vorhalle des Unterhauses. Er gab seiner Missbilligung<br />
Ausdruck, aber offenbar ohne jeden Erfolg. Mr. Elliot hatte<br />
sich zu keiner Entschuldigung veranlasst gesehen und sich<br />
so wenig an weiteren Aufmerksamkeiten von Seiten der<br />
Familie interessiert gezeigt, wie Sir Walter ihn für ihrer<br />
unwürdig hielt; jeder Verkehr zwischen ihnen wurde eingestellt.<br />
Diese sehr peinliche Geschichte mit Mr. Elliot erfüllte<br />
Elizabeth, die den jungen Mann um seiner selbst willen<br />
und mehr noch, weil er der Erbe ihres Vaters war, gemocht<br />
hatte und deren ausgeprägter Familienstolz nur in ihm<br />
eine angemessene Partie für Sir Walters älteste Tochter sehen<br />
konnte, noch nach Ablauf mehrerer Jahre mit Ärger.<br />
Es gab von A bis Z keinen Baron, den sie so bereitwillig als<br />
gleichberechtigt empfunden hätte. Aber er hatte sich so<br />
schäbig benommen, dass sie sich trotz der Trauerbinde, die<br />
sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt (im Sommer 1814) um<br />
seiner Frau willen trug, nicht gestatten konnte, ihn noch<br />
einmal in Erwägung zu ziehen. Die Schande seiner ersten<br />
Ehe hätte man, da kein Grund zu der Annahme bestand,<br />
dass sie durch Nachkommen fortgesetzt worden war, verschmerzt,<br />
wäre es nicht noch schlimmer gekommen. Aber<br />
er hatte, wie sie durch die übliche Einmischung wohlmeinender<br />
Freunde erfahren hatten, sehr abfällig von ihnen<br />
allen, sehr beleidigend von dem Blut, zu dem er gehörte,<br />
und dem Titel gesprochen, der später auf ihn übergehen<br />
würde. So etwas war unverzeihlich.<br />
Das waren Elizabeths Gesinnungen und Gefühle. Das<br />
waren die Sorgen und Aufregungen, die Eintönigkeit und<br />
Vornehmheit, Luxus und Nichtigkeit ihres alltäglichen Lebens<br />
erträglicher und abwechslungsreicher machen sollten.
Das waren die Empfindungen, die einem langen, ereignislosen<br />
Aufenthalt in dem immer gleichen ländlichen Zirkel<br />
Interesse geben, die Leere beseitigen sollten, wo nützliche<br />
Tätigkeiten außerhalb, Begabungen und Talente innerhalb<br />
des Hauses fehlten, um sie zu füllen.<br />
Aber jetzt begann eine neue Aufgabe und Sorge ihre<br />
Gedanken zu beschäftigen. Ihr Vater geriet immer mehr in<br />
finanzielle Schwierigkeiten. Sie wusste, dass er den Adelskalender<br />
nur noch in die Hand nahm, um die hohen Rechnungen<br />
seiner Lieferanten und die unangenehmen Anspielungen<br />
von Mr. Shepherd, seinem Rechtsanwalt, darüber<br />
zu vergessen. Der Besitz von Kellynch war ertragreich,<br />
aber den Ansprüchen, die Sir Walter an den Lebensstil seines<br />
Besitzers stellte, nicht gewachsen. Solange Lady Elliot<br />
lebte, hatten Überlegung, Bescheidenheit und Sparsamkeit<br />
geherrscht, so dass er mit seinen Einkünften gerade auskam.<br />
Aber mit ihr war auch alle Rechtschaffenheit dahingegangen,<br />
und seit der Zeit hatte er ständig über seine<br />
Verhältnisse gelebt. Er hatte es nicht fertiggebracht, weniger<br />
auszugeben; er hatte nur getan, wozu Sir Walter Elliot<br />
unbedingt verpflichtet war. Aber schuldlos, wie er war, geriet<br />
er nicht nur immer tiefer in Schulden, sondern bekam<br />
es auch so oft zu hören, dass es aussichtslos wurde, es auch<br />
nur teilweise länger vor seiner Tochter zu verheimlichen.<br />
Er hatte ihr gegenüber im letzten Frühjahr in London einige<br />
Andeutungen gemacht. Er war sogar so weit gegangen<br />
zu fragen: »Können wir uns einschränken? Meinst du, dass<br />
wir uns irgendwo einschränken können?« – und Elizabeth,<br />
das muss man ihr lassen, hatte im ersten Eifer weiblicher<br />
Panik ernsthaft darüber nachgedacht, was zu tun sei, und<br />
schließlich die beiden folgenden Sparmaßnahmen vorgeschlagen:<br />
einige unnötige Wohltätigkeitsspenden zu streichen<br />
und von einer Neumöblierung des Wohnzimmers ab-
zusehen, wozu ihr später noch der glückliche Einfall kam,<br />
Anne diesmal, wie es sonst ihr jährlicher Brauch gewesen<br />
war, kein Geschenk mitzubringen. Aber diese Maßnahmen,<br />
so sinnvoll sie auch sein mochten, wurden dem tatsächlichen<br />
Ausmaß des Übels, das in seiner ganzen Tragweite<br />
ihr zu gestehen Sir Walter sich bald danach genötigt<br />
sah, bei weitem nicht gerecht. Elizabeth hatte keine tiefergreifenden<br />
Hilfsmittel vorzuschlagen. Sie fühlte sich genau<br />
wie ihr Vater missbraucht und unglücklich; und sie<br />
waren beide außerstande, Wege zu finden, ihre Ausgaben<br />
einzuschränken, ohne auf unerträgliche Weise ihre Würde<br />
zu beeinträchtigen oder auf ihre Bequemlichkeit zu verzichten.<br />
Es gab nur einen kleinen Teil seines Besitzes, den Sir<br />
Walter veräußern konnte. Aber hätte er sich von jedem<br />
Stückchen Erde trennen können, es hätte nichts genutzt.<br />
Er hatte sich, soweit es in seiner Macht stand, zu Hypotheken<br />
herabgelassen, aber er würde sich nie dazu herablassen<br />
zu verkaufen. Nein, so weit würde er den Familiennamen<br />
nicht entehren. Der Besitz von Kellynch würde heil und<br />
ganz, so wie er ihn übernommen hatte, weitergegeben<br />
werden.<br />
Ihre beiden engsten Freunde, Mr. Shepherd, der in der<br />
nächsten Kleinstadt wohnte, und Lady Russell, wurden<br />
um ihren Rat gebeten, und sowohl Vater als auch Tochter<br />
erwarteten anscheinend, dass einer von beiden einen Einfall<br />
haben würde, wie man ihnen aus der Verlegenheit helfen<br />
und ihre Ausgaben verringern könne, ohne dass ihre<br />
Ansprüche an Geschmack oder Stolz Abbruch erleiden<br />
würden.
Nachwort<br />
»Her circle may be restricted, but it is complete.<br />
Her world is a perfect orb, and vital.«<br />
George H. Lewes (1817–1878) über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
1<br />
Persuasion ist der letzte von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s sechs Romanen.<br />
Sie schrieb daran von Mitte 1815 bis Mitte 1816, glättete<br />
dann den Text, arbeitete den Schluss völlig um (s. Abschn. 4)<br />
und konnte im März 1817 einer ihrer Nichten berichten, sie<br />
habe etwas zur Veröffentlichung fertig, was in etwa einem<br />
Jahr erscheinen solle. Aber als die Autorin diesen Brief<br />
schrieb, war sie schon unheilbar krank und hatte nur noch<br />
vier Monate zu leben. Das Erscheinen des Romans hat sie<br />
nicht mehr erlebt. Sie starb am 27. Juli 1817 im Alter von<br />
nur 42 Jahren. Persuasion wurde zusammen mit Northanger<br />
Abbey postum erst 1818 herausgegeben.<br />
Die Heldin des Buches, Anne Elliot, hat in den letzten<br />
Jahrzehnten in der englischen und amerikanischen Literaturforschung<br />
unter anderem deshalb viel Aufmerksamkeit<br />
gefunden, weil sie so anders ist als die weiblichen Hauptgestalten<br />
der fünf früheren Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s. Während<br />
Anne und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice, Elinor<br />
und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility, Fanny<br />
Price in Mansfield Park, Emma Woodhouse in Emma und<br />
Catherine Morland in Northanger Abbey um die zwanzig,<br />
zum Teil sogar erst siebzehn Jahre alt sind, geht Anne Elliot<br />
auf die Dreißig zu. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt,<br />
hat ihren jugendlichen Charme verloren und resigniert.<br />
Während in den anderen Romanen das Handlungszentrum
die erste und einzige große Liebe der Heldin bildet, hat<br />
Anne diese schon lange hinter sich. Die vor acht Jahren<br />
eingegangene Verlobung hat sie nach wenigen Monaten<br />
aufgelöst, weil ihre adelsstolze Familie und ihre mütterliche<br />
Freundin Lady Russell, die ebenfalls »Vorurteile in<br />
Fragen des Standes« (Kap. 2) hat, den unvermögenden bürgerlichen<br />
jungen Marineoffizier Wentworth für eine Tochter<br />
von Sir Walter Elliot aus altem englischen Adel nicht<br />
akzeptierten und mit ihrer »unbilligen Überredung« (im<br />
Original unübersetzbar over-persuasion), den geliebten<br />
Mann aufzugeben – worauf sich der Titel des Buches vor<br />
allem bezieht – Erfolg hatten. Anne hat sich ihrem Urteil<br />
gebeugt, aber die ihrer Überzeugung und ihrer Liebe widersprechende<br />
Nachgiebigkeit bitter bereut. Sie hat einen<br />
ihr zwei Jahre später von einem anderen Mann gemachten<br />
Heiratsantrag abgelehnt, sich schweren Herzens mit ihrem<br />
Schicksal abgefunden und geht nun einem trostlosen, einsamen<br />
Alter entgegen.<br />
Während also die anderen Heldinnen <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s das<br />
Leben vor sich haben, scheint es hinter Anne Elliot zu liegen.<br />
An einer Kleinigkeit wird dieser Unterschied besonders<br />
greifbar. Die jungen Protagonistinnen der anderen fünf Romane<br />
tanzen liebend gern, wobei eine ältere Dame die Musik<br />
macht; ja, der Tanz hat für die Begegnung mit dem geliebten<br />
Mann in mehreren Werken eine besondere Bedeutung,<br />
so der Ball zu Ehren von Fanny Price in Mansfield<br />
Park (Kap. 28), Elizabeth Bennets ironisches Wortgeplänkel<br />
mit Darcy beim Tanz in Pride and Prejudice (Kap. 18) oder<br />
Catherine Morlands erster Tanz mit Henry Tilney, der sie<br />
mit seiner gespielten Geckenhaftigkeit verwirrt, in Northanger<br />
Abbey (Kap. 3). In Persuasion aber ist es Anne Elliot,<br />
die am Klavier sitzt und spielt, während ihre Schwester und<br />
ihre Schwägerinnen sich beim Tanzen amüsieren:
»Der Abend endete mit Tanz. Als der Vorschlag gemacht<br />
wurde, bot Anne wie üblich ihre Dienste an, und<br />
obwohl sich ihre Augen gelegentlich mit Tränen füllten,<br />
als sie am Instrument saß, war sie erleichtert, beschäftigt<br />
zu sein, und wünschte sich zur Belohnung<br />
nichts, als unbeobachtet zu bleiben.« (Kap. 8)<br />
Anne weint, weil der immer noch geliebte Kapitän Wentworth,<br />
von dem sie annehmen muss, dass sie seine Achtung<br />
verloren hat, mit unter den Tanzenden ist. Er fragt<br />
seine Partnerin, ob Anne denn nie tanze, und muss hören,<br />
dass sie es ganz aufgegeben habe – sie wird nicht mehr zur<br />
Jugend gezählt und zählt sich selbst nicht mehr dazu.<br />
Anders als die anderen Romane beginnt Persuasion also<br />
damit, dass die Heldin intensiv leidet. Sie ist um ihre Liebe<br />
betrogen, ihre Schönheit ist früh verblüht, und ihr Vater<br />
und ihre ältere Schwester betrachten sie nur als unliebsames<br />
Anhängsel, weil sie einem Schönheitskult huldigen und<br />
Menschen geringschätzen, deren Äußeres ihrem überkritischen<br />
Auge nicht standhält. Da die Elliot-Schwestern anders<br />
als <strong>Jane</strong> und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice und<br />
Elinor und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility<br />
sich nicht gut verstehen, ist Anne zudem mit ihrem Kummer<br />
ganz allein. Ihre ältere Schwester ist kalt und hochmütig<br />
und ihre jüngere egoistisch und wehleidig. Die eine zieht<br />
eine recht ordinäre und durchtriebene geschiedene Frau ihrer<br />
eigenen Schwester vor, und die andere benutzt sie nur<br />
als eine Art Haushaltshilfe und Kindermädchen. Anne hat<br />
allen Grund, ihre Schwägerinnen Henrietta und Louisa<br />
Musgrove um ihr ungetrübtes Einvernehmen zu beneiden.<br />
A. W. Letz (s. Literaturhinweise: Southam) hat in der<br />
Einsamkeit Anne Elliots einen dem modernen Leser besonders<br />
zugänglichen Aspekt von Persuasion gesehen:
»Man könnte aus Persuasion eine Liste von Begriffen<br />
zusammenstellen, die den Roman wie ein Lehrbuch der<br />
modernen Soziologie klingen lassen: Sich Auseinanderleben,<br />
Gefangensein, Entfremdung, Entfernung.«<br />
Der Ton dieses Romans ist daher insgesamt, bedingt durch<br />
die melancholische Stimmung, die Anne Elliot umgibt, gedämpfter.<br />
Die Wehmut der unerfüllten Liebe liegt über<br />
dem größeren Teil des Buches, aber das bedeutet nicht,<br />
dass die Autorin darauf verzichtet, menschliche und gesellschaftliche<br />
Schwächen mit gewohnt spitzer Feder dem Gelächter<br />
oder dem Schmunzeln des Lesers preiszugeben. Es<br />
wimmelt von grotesken Charakteren und Situationen.<br />
Das schönste Beispiel für dieses Karikieren scheint mir<br />
die Geschichte vom toten Sohn der Musgroves zu sein, der<br />
als Taugenichts, solange er lebte, ein Alptraum der Familie<br />
war, aber nach seinem Tod von seiner korpulenten Mutter<br />
zu einem Helden verklärt wird. Vor allem die Szene, in der<br />
sich Mrs. Musgrove bei Williams früherem Kommandanten<br />
Wentworth ausweint, zeigt <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> von ihrer bissigsten<br />
Seite, wobei sie aber zugleich Annes Unbehagen<br />
über die Nähe des Kapitäns einfängt:<br />
»Sie saßen tatsächlich beide auf demselben Sofa, denn<br />
Mrs. Musgrove hatte bereitwillig Platz für ihn gemacht<br />
– sie waren nur durch Mrs. Musgrove getrennt. Es war<br />
allerdings keine unerhebliche Barriere. Mrs. Musgrove<br />
war von gemütlichem, beträchtlichem Umfang, von der<br />
Natur viel eher dazu bestimmt, Heiterkeit und gute<br />
Laune auszustrahlen als Zärtlichkeit und Gefühl; und<br />
da man darauf vertrauen darf, dass die Erregung in Annes<br />
schlanker Gestalt und nachdenklichem Gesicht dadurch<br />
vollständig abgeschirmt war, muss man Kapitän
Wentworth etwas zugutehalten für die Selbstbeherrschung,<br />
mit der er ihren herzzerreißenden, fetten Seufzern<br />
über das Schicksal eines Sohnes zuhörte, für den<br />
sich zu seinen Lebzeiten niemand interessiert hatte.<br />
Körperlicher Umfang und seelischer Schmerz stehen<br />
natürlich nicht unbedingt in einem bestimmten Verhältnis<br />
zueinander. Eine umfangreiche, üppige Figur<br />
hat das gleiche Recht auf tiefen Seelenschmerz wie das<br />
graziöseste Ensemble von Gliedern. Aber, ob recht und<br />
billig oder nicht, es gibt unvorteilhafte Kombinationen,<br />
für die sich der Verstand vergeblich einsetzt – die der<br />
Geschmack nicht dulden kann – die der Lächerlichkeit<br />
zum Opfer fallen.« (Kap. 8)<br />
Dem melancholischen Seelenzustand Annes zu Anfang des<br />
Buches entsprechen die herbstliche Stimmung in der Natur,<br />
der »Anblick des letzten herbstlichen Lächelns, das<br />
auf rostbraunen Blättern und verwelkten Hecken liegt«,<br />
und der traurige Abschied von Kellynch, dem stolzen alten<br />
Familiensitz, der der Verschwendungssucht Sir Walters<br />
zum Opfer fällt. Anne selbst spricht »von der passenden<br />
Analogie zwischen dem sich neigenden Jahr und dem<br />
sich neigenden Glück«, als sie in Gedanken Herbstgedichte<br />
rezitiert.<br />
Der Umzug der Familie nach Bath, der Anne traurig<br />
stimmt und dem sie ohne jedes Gefühl der Erwartung, ja<br />
mit Widerwillen entgegenblickt, auch wenn sie die finanzielle<br />
Notwendigkeit dazu einsieht, spiegelt offenbar <strong>Jane</strong><br />
<strong>Austen</strong>s eigene Vorbehalte gegen die Übersiedlung ihrer<br />
eigenen Familie in den modischen Kurort, wo die Autorin<br />
von 1802 bis 1806 ungern lebte.
Kapitel 1<br />
Die Familie Dashwood war seit langem in Sussex ansässig.<br />
Ihr Besitz war ausgedehnt, und ihr Herrenhaus lag in Norland<br />
Park, im Zentrum ihrer Ländereien, wo sie viele Generationen<br />
lang auf so achtbare Weise gelebt hatten, dass<br />
sie bei den Bekannten in der Umgebung allgemein in hohem<br />
Ansehen standen. Der vorherige Eigentümer des Besitzes<br />
war ein Junggeselle, der ein sehr hohes Alter erreicht<br />
und in seiner Schwester viele Jahre lang eine ständige<br />
Gefährtin und Haushälterin gehabt hatte. Aber ihr Tod,<br />
der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, brachte große<br />
Veränderungen in seinem Haus mit sich, denn um ihren<br />
Verlust zu ersetzen, lud er die Familie seines Neffen Mr.<br />
Henry Dashwood ein, des gesetzlichen Erben von Norland,<br />
dem er den Besitz ohnehin vermachen wollte, in seinem<br />
Haus zu leben. In der Gesellschaft seines Neffen und seiner<br />
Nichte und ihrer Kinder verbrachte der alte Herr seine<br />
Tage in großer Behaglichkeit. Alle wuchsen sie ihm mehr<br />
und mehr ans Herz. Die ständige Sorge von Mr. und Mrs.<br />
Henry Dashwood um sein Wohlergehen, die nicht bloßem<br />
Eigennutz, sondern echter Herzensgüte entsprang, gewährte<br />
ihm all die Bequemlichkeit, die er in seinem Alter<br />
brauchte, und die Ausgelassenheit der Kinder gab seinem<br />
Leben einen zusätzlichen Reiz.<br />
Aus einer früheren Ehe hatte Mr. Henry Dashwood einen<br />
Sohn, von seiner jetzigen Gemahlin drei Töchter. Der<br />
Sohn, ein zuverlässiger, angesehener junger Mann, war
durch das beträchtliche Vermögen seiner Mutter, das bei<br />
seiner Volljährigkeit zur Hälfte in seinen Besitz gekommen<br />
war, großzügig versorgt. Durch seine eigene Heirat, die<br />
kurz darauf stattfand, vergrößerte er sein Vermögen noch<br />
weiter. Die Nachfolge auf Norland war also für ihn nicht so<br />
unbedingt wichtig wie für seine Schwestern, denn ihr Vermögen<br />
würde ohne das, was ihnen durch den Anspruch ihres<br />
Vaters auf den Besitz zufallen würde, nur gering sein.<br />
Ihre Mutter hatte nichts, und ihr Vater nur siebentausend<br />
Pfund zu seiner eigenen Verfügung, denn die restliche<br />
Hälfte des Vermögens seiner ersten Frau sollte ebenfalls an<br />
ihren Sohn übergehen, und er verfügte darüber nur zu seinen<br />
Lebzeiten.<br />
Der alte Herr starb, sein Testament wurde eröffnet und<br />
gab wie fast alle Testamente ebenso Anlass zu Enttäuschung<br />
wie zu Freude. Er war weder so ungerecht noch so<br />
undankbar, seinem Neffen den Besitz vorzuenthalten, aber<br />
er vermachte ihn ihm unter Bedingungen, die das Erbe zur<br />
Hälfte wieder entwerteten. Mr. Dashwood war daran mehr<br />
um seiner Frau und seiner Töchter willen als seinet- und<br />
seines Sohnes wegen gelegen gewesen, aber eben an diesen<br />
Sohn und dessen Sohn, ein Kind von vier Jahren, ging der<br />
Besitz über, und zwar so, dass der Vater keine Möglichkeit<br />
hatte, durch eine finanzielle Belastung des Grundbesitzes<br />
oder durch den Verkauf seines wertvollen Holzbestandes<br />
für die zu sorgen, die ihm am nächsten standen und die<br />
seine Fürsorge am dringlichsten brauchten. Alles sollte eines<br />
Tages diesem Kind zugutekommen, das bei den gelegentlichen<br />
Besuchen mit seinem Vater und seiner Mutter<br />
durch Reize, die bei zwei- oder dreijährigen Kindern<br />
durchaus nicht ungewöhnlich sind, wie eine kindliche Aussprache,<br />
den unbeirrbaren Wunsch, seinen Willen durchzusetzen,<br />
viele ausgelassene Streiche und eine Menge
Krach, die Zuneigung seines Großonkels so weit gewonnen<br />
hatte, dass all die Fürsorge, die dieser jahrelang von seiner<br />
Nichte und ihren Töchtern empfangen hatte, sie nicht aufwogen.<br />
Er hatte allerdings nicht die Absicht, lieblos zu<br />
sein, und als Beweis seiner Zuneigung zu den drei Mädchen<br />
hinterließ er jeder eintausend Pfund.<br />
Mr. Dashwoods Enttäuschung war zuerst empfindlich.<br />
Aber er war von Natur heiter und optimistisch und hatte<br />
allen Grund zu der Hoffnung, noch viele Jahre zu leben<br />
und durch sparsames Wirtschaften eine erhebliche Summe<br />
aus dem Ertrag eines Besitzes beiseitezulegen, der ohnehin<br />
schon ergiebig war und fast von heute auf morgen noch<br />
ertragreicher gemacht werden konnte. Aber der Reichtum,<br />
der so lange auf sich hatte warten lassen, sollte ihm nur<br />
ein Jahr lang zugutekommen. Länger überlebte er seinen<br />
Onkel nicht, und zehntausend Pfund, einschließlich der<br />
Summe an die Mädchen, war alles, was für seine Witwe<br />
und seine Töchter übrig blieb.<br />
Sobald sein Gesundheitszustand erkannt war, wurde<br />
sein Sohn gerufen, und mit all der Überzeugungskraft und<br />
Eindringlichkeit, die er bei seiner Krankheit aufbringen<br />
konnte, legte ihm Mr. Dashwood die Sorge um seine Stiefmutter<br />
und seine Schwestern ans Herz.<br />
Mr. John Dashwood ließ sich nicht so von Gefühlen leiten<br />
wie der Rest der Familie. Aber ein solcher Wunsch zu<br />
einer solchen Zeit verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht,<br />
und er versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun,<br />
um ihnen das Leben zu erleichtern. Sein Vater fühlte sich<br />
durch diese Versicherung von einer Last befreit, und Mr.<br />
John Dashwood hatte nun Muße, darüber nachzudenken,<br />
wie weit er bei aller Vorsicht in seiner Hilfsbereitschaft gehen<br />
konnte.<br />
Er hatte keinen schlechten Charakter, es sei denn, man
hielte eine gewisse Gefühlskälte und einen gewissen Egoismus<br />
für einen Mangel an Charakter, aber er war im Allgemeinen<br />
recht angesehen, denn er ließ es bei der Erfüllung<br />
seiner alltäglichen Pflichten an Anstand nicht fehlen. Hätte<br />
er eine liebenswürdigere Frau geheiratet, hätte er sich vielleicht<br />
zu einem noch angeseheneren, hätte er sich vielleicht<br />
sogar zu einem liebenswürdigen Menschen entwickelt,<br />
denn er war noch sehr jung, als er heiratete, und<br />
hing sehr an seiner Frau. Aber Mrs. John Dashwood war<br />
eine ausgesprochene Karikatur seiner selbst: nur noch engstirniger<br />
und egoistischer.<br />
Als er seinem Vater sein Versprechen gab, dachte er<br />
daran, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk<br />
von je eintausend Pfund zu vergrößern. Er glaubte<br />
damals selbst, es über sich bringen zu können. Die Aussicht<br />
auf viertausend Pfund pro Jahr zusätzlich zu seinem<br />
gegenwärtigen Einkommen, dazu die restliche Hälfte aus<br />
dem Vermögen seiner Mutter, erwärmte ihm das Herz und<br />
gab ihm das Gefühl, er könne sich Großzügigkeit leisten.<br />
Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben, das wäre generös<br />
und nobel! Es wäre genug, um sie aller Sorgen zu<br />
entheben. Dreitausend Pfund! Er könnte eine so erhebliche<br />
Summe ohne große Einschränkungen entbehren. Er dachte<br />
den ganzen Tag und noch viele weitere Tage darüber nach<br />
und bereute nichts.<br />
Kaum war das Begräbnis seines Vaters vorüber, als Mrs.<br />
John Dashwood, ohne ihre Schwiegermutter vorher von<br />
ihrer Absicht in Kenntnis zu setzen, mit ihrem Kind und<br />
ihrem Personal eintraf. Niemand konnte ihr das Recht zu<br />
kommen streitig machen; das Haus gehörte unmittelbar<br />
mit dem Tod seines Vaters ihrem Mann. Die Ungehörigkeit<br />
ihres Benehmens wurde außerordentlich stark empfunden<br />
und wäre für jede Frau in Mrs. Dashwoods Lage,
die auch nur ein Fünkchen Zartgefühl gehabt hätte, äußerst<br />
unangenehm gewesen. Aber sie selbst besaß ein so<br />
ausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Großzügigkeit,<br />
dass eine derartige Beleidigung, gleichgültig, wer sie<br />
verursachte oder wem sie zugefügt wurde, sie mit unüberwindlicher<br />
Abscheu erfüllte. Mrs. John Dashwood war bei<br />
der Familie ihres Mannes nie sehr beliebt gewesen. Aber<br />
sie hatte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Gelegenheit<br />
gehabt, ihnen zu zeigen, mit wie wenig Rücksicht auf<br />
das Wohlergehen anderer sie handeln konnte, wenn die<br />
Umstände es erforderten.<br />
So empfindlich traf Mrs. Dashwood dieses unfreundliche<br />
Verhalten und so gründlich verachtete sie ihre Schwiegertochter<br />
dafür, dass sie bei ihrer Ankunft auf der Stelle<br />
ausgezogen wäre, wenn das Zureden ihrer ältesten Tochter<br />
sie nicht veranlasst hätte, erst noch einmal über die Richtigkeit<br />
ihrer Abreise nachzudenken, und wenn ihre eigene<br />
zärtliche Liebe für alle drei Kinder sie anschließend nicht<br />
bewogen hätte, zu bleiben und um ihretwillen den Bruch<br />
mit ihrem Stiefsohn zu vermeiden.<br />
Elinor, die älteste Tochter, deren Rat befolgt wurde, besaß<br />
einen so klaren Verstand und ein so nüchternes Urteilsvermögen,<br />
die sie trotz ihrer neunzehn Jahre zur Ratgeberin<br />
ihrer Mutter machten und es ihr häufig erlaubten,<br />
zum Vorteil aller, der Impulsivität von Mrs. Dashwood<br />
entgegenzuwirken, die sonst zu vorschnellem Handeln geführt<br />
hätte. Sie war ein hochherziger Mensch, liebevoll<br />
von Natur, mit starken Empfindungen, aber sie wusste sich<br />
zu beherrschen – eine Kunst, die ihre Mutter noch lernen<br />
musste und die eine ihrer Schwestern entschlossen war,<br />
sich niemals beibringen zu lassen.<br />
Mariannes Fähigkeiten standen denen Elinors keineswegs<br />
nach. Sie war gefühlvoll und gescheit, aber in allem
überspannt. Ihr Schmerz und ihre Freude kannten kein<br />
Maß. Sie war großzügig, liebenswürdig, interessant, sie<br />
war alles – außer besonnen. Die Ähnlichkeit zwischen ihr<br />
und ihrer Mutter war auffallend groß.<br />
Elinor betrachtete das Übermaß von Empfindsamkeit<br />
bei ihrer Schwester mit Sorge. Aber von Mrs. Dashwood<br />
wurde es geschätzt und ermutigt. Die beiden bestärkten<br />
sich nun gegenseitig in ihrem heftigen Schmerz. Der grenzenlose<br />
Jammer, der sie zuerst überwältigt hatte, wurde<br />
neu belebt, absichtlich erneuert, wurde immer wieder aufgerührt.<br />
Sie gaben sich ihrem Kummer völlig hin, suchten<br />
ihr Elend durch jedes Thema zu steigern, das sich dazu anbot,<br />
und waren entschlossen, auch in Zukunft für keinen<br />
Trost empfänglich zu sein. Auch Elinor litt sehr, aber sie<br />
konnte sich wehren, sie konnte sich überwinden. Sie konnte<br />
Beratungen mit ihrem Bruder führen, ihre Schwägerin<br />
bei ihrer Ankunft empfangen und mit der nötigen Aufmerksamkeit<br />
behandeln, ihre Mutter zu ähnlicher Selbstüberwindung<br />
aufrütteln und zu ähnlicher Nachsicht ermuntern.<br />
Margaret, die dritte Schwester, war ein gutmütiges,<br />
zugängliches Mädchen. Aber da bereits eine Menge von<br />
Mariannes Schwärmerei auf sie abgefärbt hatte, ohne dass<br />
sie deren Einsicht besaß, waren mit dreizehn ihre Aussichten,<br />
es später im Leben mit ihren Schwestern aufnehmen<br />
zu können, gering.
Kapitel 2<br />
Mrs. John Dashwood ließ sich nun als Hausherrin in Norland<br />
nieder, und ihre Schwiegermutter und Schwägerinnen<br />
wurden zu bloßen Besuchern herabgesetzt. Als solche wurden<br />
sie von ihr allerdings mit reservierter Höflichkeit und<br />
von ihrem Mann mit so viel Wohlwollen behandelt, wie er<br />
für Menschen außer sich selbst, seiner Frau und seinem<br />
Kind aufzubringen vermochte. Er drang sogar mit einer<br />
gewissen Ehrlichkeit in sie, Norland als ihr Zuhause zu betrachten,<br />
und da sich Mrs. Dashwood keine bessere Möglichkeit<br />
bot, als zu bleiben, bis sie ein Haus in der Nachbarschaft<br />
gefunden hatte, wurde seine Einladung angenommen.<br />
Weiter an einem Ort zu leben, wo alles sie an früheres<br />
Glück erinnerte, war genau das, was sie in ihrer Gemütsverfassung<br />
brauchte. An heiteren Tagen strahlte niemand so<br />
viel Heiterkeit aus wie sie oder war in solchem Maße von jener<br />
unerschütterlichen Glückserwartung erfüllt, die schon<br />
das Glück selbst bedeutet. Aber im Schmerz ließ sie sich<br />
ebenso von ihrer Einbildungskraft hinreißen und war für<br />
Trost so unzugänglich, wie sie im Glück unbeirrbar war.<br />
Mrs. John Dashwood billigte ganz und gar nicht, was<br />
ihr Mann für seine Schwestern zu tun beabsichtigte. Das<br />
Vermögen ihres lieben kleinen Jungen um dreitausend<br />
Pfund zu schmälern, würde ihn auf den trostlosesten Grad<br />
von Armut reduzieren! Sie drang in ihren Mann, sich die<br />
Sache noch einmal zu überlegen. Wie konnte er es vor sich<br />
selbst verantworten, sein Kind, und noch dazu sein einziges<br />
Kind, einer solchen riesigen Summe zu berauben? Und<br />
welchen Anspruch an seine Großzügigkeit auf eine so große<br />
Summe hatten denn die Miss Dashwood überhaupt, die<br />
doch nur seine Stiefschwestern waren, was sie als Ver-
wandtschaftsbeziehung gar nicht gelten ließ? Alle Welt<br />
wusste doch, dass von Anhänglichkeit zwischen den Kindern<br />
eines Mannes aus verschiedenen Ehen keine Rede<br />
sein konnte, und warum wollte er sich und ihren armen<br />
kleinen Harry ruinieren und all sein Geld an seine Stiefschwestern<br />
verschenken?<br />
»Es war meines Vaters letzter Wunsch an mich«, erwiderte<br />
ihr Mann, »dass ich seiner Witwe und seinen Töchtern<br />
beistehe.«<br />
»Er wusste doch gar nicht, was er sagt. Zehn zu eins, er<br />
war zu der Zeit gar nicht mehr zurechnungsfähig. Wäre er<br />
bei Sinnen gewesen, dann wäre er gar nicht darauf gekommen,<br />
dir zuzumuten, das halbe Vermögen deines eigenen<br />
Kindes zu verschenken.«<br />
»Er hat auf keiner bestimmten Summe bestanden, meine<br />
liebe Fanny, er hat mich nur ganz allgemein gebeten,<br />
ihnen beizustehen und ihnen das Leben angenehmer zu<br />
machen, als er es vermochte. Vielleicht hätte er die Angelegenheit<br />
lieber ganz und gar mir überlassen sollen. Er<br />
konnte sich ja denken, dass ich sie nicht zu kurz kommen<br />
lassen würde. Aber da er auf dem Versprechen bestand,<br />
konnte ich es ihm schlecht abschlagen – jedenfalls schien<br />
es mir damals so. Nun ist das Versprechen einmal gegeben<br />
und muss gehalten werden. Es muss etwas für sie getan<br />
werden, wenn sie Norland einmal verlassen und sich in einem<br />
neuen Haus einrichten sollten.«<br />
»Also gut, dann soll eben etwas für sie getan werden,<br />
aber dieses Etwas braucht doch keine dreitausend Pfund zu<br />
sein. Bedenke doch«, fügte sie hinzu, »wenn man sich erst<br />
einmal von dem Geld getrennt hat, ist es ein für allemal<br />
verloren. Deine Schwestern werden heiraten, und dann bist<br />
du es für immer los. Wenn man es allerdings unserem armen<br />
kleinen Jungen wieder zukommen lassen könnte …«
»Allerdings«, sagte ihr Mann sehr nachdenklich, »dann<br />
sähe die Sache ganz anders aus. Vielleicht kommt einmal<br />
der Zeitpunkt, wo Harry es bedauert, dass wir uns von einer<br />
so großen Summe getrennt haben. Sollte er zum Beispiel<br />
eine zahlreiche Familie haben, dann wäre dieses Geld<br />
eine sehr willkommene Ergänzung.«<br />
»Allerdings.«<br />
»Vielleicht wäre es dann für alle Beteiligten besser,<br />
wenn man die Summe um die Hälfte verringerte. Fünfhundert<br />
Pfund wären ein beträchtlicher Zuwachs ihres<br />
Vermögens.«<br />
»Oh, über alle Maßen! Welcher Bruder würde auch nur<br />
halb so viel für seine Schwestern tun, selbst wenn sie seine<br />
richtigen Schwestern wären! Und wie die Dinge liegen –<br />
nur Stiefschwestern! Aber du bist von Natur so großzügig.«<br />
»Ich möchte auf keinen Fall kleinlich sein«, entgegnete<br />
er. »Man tut bei solchen Gelegenheiten lieber zu viel als<br />
zu wenig. Wenigstens kann niemand behaupten, ich hätte<br />
nicht genug für sie getan. Sogar sie selbst können kaum<br />
mehr erwarten.«<br />
»Was sie erwarten, das weiß man nie«, sagte die Gemahlin,<br />
»aber über ihre Erwartungen brauchen wir uns<br />
nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Frage ist, was du erübrigen<br />
kannst.«<br />
»Natürlich, und ich glaube, ich kann fünfhundert<br />
Pfund für jede erübrigen. Wie die Dinge liegen, wird jede<br />
ohne meine Unterstützung beim Tod ihrer Mutter mehr<br />
als dreitausend Pfund haben – ein sehr anständiges Vermögen<br />
für eine junge Frau.«<br />
»Allerdings, und wenn ich es recht bedenke, dann finde<br />
ich, dass sie deine Unterstützung gar nicht brauchen. Sie<br />
besitzen gemeinsam zehntausend Pfund. Wenn sie heiraten,<br />
machen sie bestimmt eine gute Partie, und wenn nicht,
dann können sie alle zusammen sehr anständig von den<br />
Zinsen ihrer zehntausend Pfund leben.«<br />
»Eigentlich hast du recht, und deshalb weiß ich nicht,<br />
ob es alles in allem nicht ratsamer wäre, etwas für die<br />
Mutter zu ihren Lebzeiten statt für die Mädchen zu tun –<br />
ich denke an so etwas wie eine Leibrente. Das käme meinen<br />
Schwestern genauso zugute wie ihr selbst. Mit einhundert<br />
Pfund pro Jahr hätten sie ein ausgesprochen anständiges<br />
Auskommen.«<br />
Seine Frau zögerte jedoch ein wenig, diesem Plan ihre<br />
Zustimmung zu geben.<br />
»Allerdings«, sagte sie, »ist das besser, als sich auf einmal<br />
von fünfzehnhundert Pfund zu trennen. Aber was,<br />
wenn Mrs. Dashwood noch fünfzehn Jahre lebt, dann sind<br />
wir ganz und gar die Dummen.«<br />
»Fünfzehn Jahre! Meine liebe Fanny, ihr Leben kann<br />
doch höchstens halb so lange dauern.«<br />
»Sicher, aber achte einmal darauf: Leute leben immer<br />
ewig, wenn es darum geht, ihnen eine Leibrente zu zahlen.<br />
Und sie ist sehr robust und gesund und noch keine vierzig.<br />
Eine Leibrente ist eine ernste Angelegenheit, sie will Jahr<br />
für Jahr gezahlt sein, und man wird sie nie wieder los. Du<br />
ahnst ja nicht, worauf du dich da einlässt. Ich habe eine<br />
Menge Ärger mit Leibrenten erlebt, denn für meine Mutter<br />
war die im Testament meines Vaters festgelegte Zahlung<br />
an drei alte, arbeitsunfähige Diener ein wahrer Klotz<br />
am Bein, und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lästig<br />
ihr das war. Zweimal im Jahr mussten die Leibrenten gezahlt<br />
werden, und dann wusste man nicht, wie man ihnen<br />
das Geld zukommen lassen sollte, und dann war angeblich<br />
einer gestorben, und hinterher stellte sich heraus, dass es<br />
gar nicht stimmte. Meine Mutter war die Sache gründlich<br />
leid. Bei diesen ständigen Forderungen, sagte sie, war sie
nicht Herr über ihr eigenes Geld. Und es war um so rücksichtsloser<br />
von meinem Vater, als das Geld meiner Mutter<br />
sonst ausschließlich zur Verfügung gestanden hätte, ohne<br />
irgendwelche Einschränkungen. Ich habe seitdem einen<br />
solchen Horror vor Leibrenten, dass ich mich um nichts in<br />
der Welt auf eine solche Zahlung festnageln lassen würde.«<br />
»Es ist zweifellos eine unangenehme Sache«, erwiderte<br />
Mr. Dashwood, »sein jährliches Einkommen auf diese Weise<br />
zu belasten. Wie deine Mutter ganz richtig sagt, ist man<br />
nicht Herr über sein eigenes Vermögen. Zur regelmäßigen<br />
Zahlung einer solchen Summe verpflichtet zu sein, an jedem<br />
Zahltag, ist nicht gerade wünschenswert. Es raubt<br />
einem die Unabhängigkeit.«<br />
»Zweifellos, und man erntet noch nicht einmal Dank<br />
dafür. Sie haben ausgesorgt, du hast ja nur deine Pflicht<br />
getan, und von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Wenn<br />
ich du wäre, würde ich mir bei allem, was ich täte, völlige<br />
Handlungsfreiheit bewahren. Ich würde mich nicht darauf<br />
festlegen, ihnen jährlich etwas zukommen zu lassen. Es<br />
mögen Jahre kommen, wo uns die Ausgabe von hundert, ja<br />
sogar fünfzig Pfund von unserem eigenen Geld sehr ungelegen<br />
kommt.«<br />
»Ich glaube, du hast recht, mein Schatz. Es ist wohl<br />
besser, wenn von einer Leibrente gar nicht die Rede ist.<br />
Wenn ich ihnen von Zeit zu Zeit etwas gebe, kommt ihnen<br />
das mehr zugute als eine jährliche Rente, denn ihr Lebensstil<br />
würde nur aufwendiger werden, wenn sie sich auf ein<br />
größeres Einkommen verlassen könnten, und am Ende des<br />
Jahres wären sie keinen Pfennig reicher. Das ist auf jeden<br />
Fall die beste Lösung. Hin und wieder ein Geschenk von<br />
fünfzig Pfund wird sie, glaube ich, vor allen Geldsorgen<br />
bewahren und das Versprechen meinem Vater gegenüber<br />
voll und ganz erfüllen.«
»Allerdings. Ja, um die Wahrheit zu gestehen, ich bin<br />
innerlich davon überzeugt, dass dein Vater gar nicht daran<br />
gedacht hat, dass du ihnen überhaupt Geld gibst. Die Unterstützung,<br />
die er im Sinn hatte, bezog sich bestimmt nur<br />
auf das, was im Rahmen des Vernünftigen von dir erwartet<br />
werden kann. Zum Beispiel, sich nach einem kleinen Haus<br />
für sie umzusehen, ihnen beim Umzug zu helfen und Fisch<br />
und Wild und so weiter als Geschenk zu schicken, wann<br />
immer sie verfügbar sind. Ich lege meine Hand dafür ins<br />
Feuer, dass er weiter nichts im Sinn hatte, ja, es wäre sehr<br />
merkwürdig und unvernünftig, wenn es anders wäre. Bedenke<br />
doch nur, mein lieber Mr. Dashwood, wie überaus<br />
anständig deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zinsen<br />
der siebentausend Pfund leben können, abgesehen von<br />
den eintausend Pfund der einzelnen Mädchen, die ihnen je<br />
fünfzig Pfund pro Jahr einbringen und wovon sie ihrer<br />
Mutter natürlich den Unterhalt bezahlen. Alles in allem<br />
haben sie gemeinsam fünfhundert Pfund pro Jahr, und<br />
wozu um alles in der Welt brauchen vier Frauen mehr? Sie<br />
haben doch keine Ausgaben. Ihr Lebensunterhalt ist nicht<br />
der Rede wert. Sie haben keine Kutsche, keine Pferde und<br />
kaum Personal; sie haben keine gesellschaftlichen Verpflichtungen<br />
und können deshalb keinerlei Ausgaben haben.<br />
Denk doch nur, wie anständig sie leben können! Fünfhundert<br />
pro Jahr! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie<br />
auch nur die Hälfte davon ausgeben wollen. Und was den<br />
Zuschuss von dir angeht, so ist der Gedanke daran absurd.<br />
Viel eher könnten sie dir etwas abgeben.«<br />
»Tatsächlich«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, du<br />
hast völlig recht. Mein Vater hatte mit seinem Wunsch bestimmt<br />
nichts anderes im Sinn, als du sagst. Mir ist es jetzt<br />
völlig klar, und ich werde meine Verpflichtungen Punkt<br />
für Punkt erfüllen, indem ich ihnen mit hilfreichen und
freundlichen Gesten, wie du sie beschrieben hast, unter die<br />
Arme greife. Wenn meine Mutter umzieht, will ich ihr, soweit<br />
ich kann, bereitwillig zur Seite stehen. Vielleicht ist<br />
dann auch das eine oder andere Möbelstück als Geschenk<br />
angebracht.«<br />
»Natürlich«, entgegnete Mrs. John Dashwood. »Aber<br />
wie auch immer, eins darf man nicht vergessen. Als dein<br />
Vater und deine Mutter nach Norland zogen, wurden zwar<br />
die Möbel von Stanhill verkauft, aber das ganze Geschirr,<br />
Silber und die ganze Tisch- und Bettwäsche wurden behalten,<br />
und nun hat sie deine Mutter geerbt. Ihr Haus<br />
wird deshalb fast vollständig eingerichtet sein, sobald sie<br />
einzieht.«<br />
»Das ist zweifellos ein wesentlicher Gesichtspunkt.<br />
Eine wahrhaft wertvolle Erbschaft! Und einiges von dem<br />
Silber wäre eine sehr erfreuliche Ergänzung unserer eigenen<br />
Sammlung hier gewesen.«<br />
»Ja, und das Frühstücksgeschirr ist zweimal so hübsch<br />
wie das, was in dieses Haus gehört. Meiner Meinung nach<br />
bei weitem zu hübsch für die Häuser, die sie sich je werden<br />
leisten können. Aber wie auch immer, so ist es nun einmal.<br />
Dein Vater hat nur an sie gedacht. Und eins muss ich noch<br />
betonen: Du brauchst ihm weder besonders dankbar zu<br />
sein noch auf seine Wünsche Rücksicht zu nehmen, denn<br />
wir wissen genau, wenn er gekonnt hätte, hätte er fast<br />
alles, was er hatte, ihnen hinterlassen.«<br />
Dieses Argument war unwiderlegbar. Es gab seinen Absichten<br />
die Entschlossenheit, die ihnen bisher noch gefehlt<br />
hatte, und er war schließlich überzeugt, dass es völlig unnötig,<br />
wenn nicht höchst ungehörig war, der Witwe und<br />
den Kindern seines Vaters mehr zu helfen als durch solche<br />
Gesten nachbarlichen Wohlwollens, wie seine eigene Frau<br />
sie angedeutet hatte.
Nachwort<br />
»She cannot be said to have created or invented;<br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> had an infinitely rarer gift – she saw.«<br />
Julia Kavanagh (1824–1877) über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
1<br />
Zusammen mit Pride and Prejudice und Northanger Abbey<br />
bildet Sense and Sensibility das Trio der frühen Romane<br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s. Sie wurden alle zwischen 1795 und 1798<br />
von der gut Zwanzigjährigen geschrieben, aber vor ihrer<br />
Veröffentlichung etwa 15 bis 20 Jahre später umgearbeitet,<br />
Sense and Sensibility sogar zweimal. Wie bei allen <strong>Austen</strong>-Romanen<br />
sind allerdings die früheren Fassungen auch<br />
hier verloren. Das Buch hieß ursprünglich Elinor and Marianne<br />
und war ein Briefroman. Aus der Kenntnis der endgültigen<br />
Fassung klingt das recht unwahrscheinlich, denn<br />
die beiden Schwestern, die doch den Hauptteil der Briefe<br />
hätten schreiben müssen, weil nur sie ihre Empfindungen<br />
mitteilen können, sind dort niemals getrennt. Vermutlich<br />
schon 1797 wurde diese früheste Version in die jetzige Erzählform<br />
umgegossen, die dann aber etwa 1809 bis 1810<br />
noch einmal revidiert wurde, bevor das Buch 1811 anonym<br />
– »by a lady« – und auf eigene Kosten der Autorin in London<br />
erschien. Als einziger Roman <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s wurde<br />
Sense and Sensibility dann zu ihren Lebzeiten nach der<br />
Erstausgabe noch einmal bearbeitet. 1813 kam nach der<br />
Veröffentlichung von Pride and Prejudice eine zweite Auflage<br />
heraus, die einige, wenn auch nicht tiefgreifende Änderungen<br />
vornahm. Wie die meisten englischen Ausgaben<br />
– auch Chapmans autoritative – bietet die vorliegende
Übersetzung, von geringfügigen Korrekturen abgesehen,<br />
den Text der zweiten Auflage, gewissermaßen der »Ausgabe<br />
letzter Hand«.<br />
Mit den beiden anderen frühen Romanen verbindet<br />
Sense and Sensibility aber mehr als die äußere Entstehungsgeschichte.<br />
Es ist wie Northanger Abbey aus der Parodie<br />
einer zeitgenössischen Mode hervorgegangen, in diesem<br />
Falle der Empfindsamkeit, einem in der Literatur und<br />
im Leben zur Schau getragenen Gefühlsüberschwang, der<br />
das eigene Lieben und Leiden zum Mittelpunkt der Welt<br />
macht. Der deutsche Leser braucht nur an Goethes Die Leiden<br />
des jungen Werthers erinnert zu werden, wo das Thema<br />
mit höchster geistiger Durchdringung behandelt wird.<br />
Während aber Northanger Abbey den Roman im Wesentlichen<br />
um die parodistischen Elemente baut, vor allem um<br />
die Mode des »Gotischen«, und den humoristischen Ton<br />
weitgehend wahrt, entwickelt Sense and Sensibility nicht so<br />
sehr die komödiantischen Züge, sondern erfasst in der an<br />
Marianne kritisierten Empfindsamkeit, die sie blind für alles<br />
außer ihrer von Illusionen genährten Liebe macht, Haltungen<br />
und Einstellungen zum Leben und setzt die Heldinnen<br />
einem intensiven Leiden aus, das sich in Mariannes Fall<br />
in einer beinahe tödlichen körperlichen Krankheit äußert.<br />
Diese ernstere Entwicklung des Themas nun wieder<br />
verbindet diesen Roman mit Pride and Prejudice, mit dem<br />
es schon den alliterierenden Titel gemeinsam hat, dessen<br />
Begriffe auf menschliche Verhaltensweisen und damit auf<br />
Tugenden oder Verfehlungen der Romanfiguren hinweisen.<br />
Im Zentrum beider Romane steht im Gegensatz zu<br />
Northanger Abbey auch ein Schwesternpaar, dessen Liebeserwartung,<br />
-enttäuschung und -erfüllung die eigentliche<br />
Handlung bildet. In Sense and Sensibility lässt sich das<br />
schon aus dem Aufbau des Buches ablesen. Der Roman er-
schien, wie das damals üblich war, in mehreren Bänden,<br />
und zwar in diesem Fall in drei, deren Kapitel einzeln gezählt<br />
wurden (Kap. 1–22 = 1. Band, Kap. 1–22; Kap. 23–37<br />
= 2. Band, Kap. 1–14; Kap. 38–51 = 3. Band, Kap. 1–14),<br />
und die oben angegebenen Stichwörter für die Entwicklung<br />
der Liebesgeschichte entsprechen den einzelnen Bänden:<br />
Im ersten Band lernen Elinor und Marianne ihre Verehrer<br />
kennen und erhoffen sich die Heirat. Um die Handlungsspannung<br />
zu erhalten, erscheint dabei Willoughby erst, als<br />
Edward vorübergehend von der Bildfläche verschwunden<br />
ist, so dass die so gegensätzlichen Liebeserlebnisse der<br />
Mädchen nacheinander berichtet werden. Als Willoughby<br />
dann abreist, taucht Edward wieder auf. Im zweiten Band,<br />
der vor allem in London spielt, verlieren beide Schwestern<br />
vorübergehend ihren Geliebten an andere Frauen und erleben<br />
ihre Krise. Im dritten Band gewinnt Elinor ihren Edward<br />
wieder, und Marianne heiratet ausgerechnet Brandon<br />
statt Willoughby – ein Zeichen, dass sie von ihren Gefühlsillusionen<br />
geheilt ist, denn wie er für sie, ist sie für<br />
ihn eine zweite Liebe, also etwas, was nach Mariannes ursprünglicher<br />
Einstellung gar nicht existieren kann. Sie verbindet<br />
sich nun mit dem Mann, von dem sie behauptet hat,<br />
er sei seines Alters wegen unfähig, tief zu empfinden, sei<br />
überhaupt zu alt zum Heiraten, habe Rheumatismus und<br />
trage Wollwesten – mit dem Mann also, der den Träumen<br />
einer Siebzehnjährigen so ganz und gar nicht entspricht.<br />
Während aber in Sense and Sensibility die beiden<br />
Schwestern die in den Titelbegriffen angesprochenen Eigenschaften<br />
repräsentieren und sich damit beide gleichgewichtig<br />
als Protagonistinnen gegenüberstehen, hat Pride<br />
and Prejudice trotz der zwei liebenden Schwestern nur<br />
eine Heldin, Elizabeth Bennet, und die Titelbegriffe beziehen<br />
sich auf sie und die Spannungen mit ihrem Verehrer
Darcy. Erst dieser zweite Roman entwickelt also die dann<br />
für alle weiteren Romane von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> typische Erzählperspektive,<br />
bei der der Leser die Welt durch die Augen<br />
und mit dem Herzen der Heldin erlebt und nur mit ihr<br />
empfindet. Wohl identifiziert sich die Autorin in Sense and<br />
Sensibility deutlich mit Elinor und nicht mit Marianne, die<br />
ja von ihren Irrtümern geheilt werden muss, aber die Erzählperspektive<br />
schwankt noch.<br />
Man hat das als Mangel betrachtet, und überhaupt wird<br />
von der Literaturwissenschaft Sense and Sensibility öfter<br />
als das schwächste der Bücher <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s angesehen:<br />
»Keiner würde dies als seinen Lieblingsroman von <strong>Jane</strong><br />
<strong>Austen</strong> wählen, während jeder andere seine Fanatiker hat,<br />
die gerade ihn allen anderen vorziehen.« (F. Farren, 1917,<br />
in: B. C. Southam, vgl. Literaturhinweise, S. 444.) Zu diesen<br />
künstlerischen Schwächen kann man etwa die gelegentlich<br />
gouvernantenhaft moralisierende Art Elinors, die<br />
funktionslose Blässe der jüngsten Dashwood-Schwester<br />
Margaret oder den unerklärlichen Wandel zählen, den<br />
Mrs. Jennings im Laufe des Buches durchmacht, die zu<br />
Anfang der Handlung eine unausstehlich penetrante<br />
Klatschbase ist, sich später aber als mutige, kritische und<br />
gütige ältere Dame entpuppt.<br />
2<br />
Andererseits sollte man über den künstlerischen Mängeln<br />
aus heutiger sozialkritisch geschulter Sicht nicht übersehen,<br />
dass Sense and Sensibility das mutigste und enthüllendste<br />
Buch <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s, ihre gnadenloseste Darstellung<br />
von gewissen sozialen Sünden ist. In keinem ihrer anderen<br />
Romane wird menschliches Fehlverhalten mit so distan-
Kapitel 1<br />
Wer Catherine Morland als Kind gesehen hatte, wäre nie<br />
auf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldin<br />
bestimmt war. Ihre Lebensumstände, der Charakter ihres<br />
Vaters und ihrer Mutter, ihre äußere Erscheinung und ihr<br />
Naturell – alles sprach gleichermaßen gegen sie. Ihr Vater<br />
war Pfarrer, dabei aber durchaus nicht zu kurz gekommen<br />
oder verarmt, sondern ein sehr angesehener Mann, obwohl<br />
er Richard hieß 1 – und eine Schönheit war er auch nie gewesen.<br />
Er besaß neben seinen beiden einträglichen Pfarrstellen<br />
ein beträchtliches Vermögen und hatte ganz und<br />
gar nicht die Angewohnheit, seine Töchter hinter Schloss<br />
und Riegel zu sperren. Ihre Mutter war eine schlichte, lebenstüchtige<br />
Frau von gleichmäßiger Freundlichkeit und –<br />
man höre und staune – unverwüstlicher Konstitution. Sie<br />
hatte schon drei Söhne, als Catherine zur Welt kam, und<br />
anstatt, wie man doch wohl erwarten durfte, bei ihrer Geburt<br />
zu sterben, lebte sie einfach weiter – lebte weiter und<br />
gebar sechs weitere Kinder, sah sie alle um sich herum aufwachsen<br />
und erfreute sich dabei selbst auch noch bester<br />
Gesundheit. Eine Familie mit zehn Kindern kann immer<br />
Anspruch auf das Wort »stattlich« erheben; dafür sorgt<br />
schließlich schon die Zahl der Köpfe und Arme und Beine,<br />
aber bei den Morlands gründete sich das Anrecht auf diese<br />
Auszeichnung auf wenig anderes, denn sie waren im Großen<br />
und Ganzen recht bieder, und ausgesprochen bieder<br />
war viele Jahre lang auch Catherine. Sie war mager und
ungelenk, hatte einen blassen, glanzlosen Teint, glattes,<br />
dunkles Haar und ausgeprägte Züge. Soweit ihre äußere<br />
Erscheinung; ihre geistigen Gaben ließen die zukünftige<br />
Romanheldin auch nicht gerade ahnen. Sie liebte alle Jungenspiele<br />
und zog Cricket bei weitem nicht nur Puppen,<br />
sondern auch den Kindheitsvergnügen vor, mit denen sich<br />
Romanheldinnen im Allgemeinen die Zeit vertreiben, wie<br />
der Pflege einer kleinen Hausmaus, dem Füttern eines Kanarienvogels<br />
oder dem Gießen eines Rosenstrauchs. Ohnehin<br />
hatte sie mit Gärten nichts im Sinn, und wenn sie<br />
überhaupt Blumen pflückte, dann hauptsächlich aus Schabernack<br />
– jedenfalls musste man das daraus schließen, dass<br />
sie immer gerade die aussuchte, die sie auf keinen Fall nehmen<br />
sollte. So stand es um ihre Neigungen; um ihre Talente<br />
war es nicht minder vielversprechend bestellt. Sie lernte<br />
oder verstand nie etwas, bevor man es ihr erklärte – und<br />
manchmal nicht einmal dann, denn sie war oft unaufmerksam<br />
und gelegentlich sogar begriffsstutzig. Ihre Mutter<br />
brauchte volle drei Monate dazu, ihr »Des Bettlers Bitte«<br />
beizubringen, und sogar dann konnte ihre nächstjüngere<br />
Schwester Sally es immer noch besser als sie. Aber nicht,<br />
dass Catherine durchweg begriffsstutzig war, keineswegs;<br />
sie lernte die Fabel vom »Hasen und seinen vielen Freunden«<br />
im Handumdrehen. 2 Ihre Mutter wollte, dass sie Klavierspielen<br />
lerne, und Catherine war Feuer und Flamme,<br />
denn es machte ihr großen Spaß, auf dem alten, unbenutzt<br />
herumstehenden Spinett zu klimpern, und so fing sie mit<br />
acht Jahren an. Nach einem Jahr war’s mit der Lust vorbei,<br />
und Mrs. Morland, die nicht darauf bestand, dass ihre<br />
Töchter sich trotz mangelnder Begabung und mangelndem<br />
Geschmack Bildung aneigneten, erlaubte ihr, damit aufzuhören.<br />
Der Tag, an dem ihr Klavierlehrer entlassen wurde,<br />
war einer der glücklichsten in Catherines Leben. Auch ihr
Talent zum Zeichnen war nicht überragend, obwohl sie<br />
sich damit alle Mühe gab und mehr oder minder gleich<br />
aussehende Häuser und Bäume, Hühner und Küken zeichnete,<br />
wenn sie der Rückseite eines Briefes ihrer Mutter<br />
habhaft werden oder irgendein anderes Stück Papier erwischen<br />
konnte. Schreiben und Rechnen lernte sie von ihrem<br />
Vater, Französisch von ihrer Mutter, aber in keinem waren<br />
ihre Kenntnisse überwältigend, und sie schwänzte die Stunden,<br />
wann immer sie konnte. Was für ein sonderbarer, unergründlicher<br />
Charakter! Denn trotz all dieser Anzeichen<br />
von Verworfenheit im zarten Alter von zehn Jahren hatte<br />
sie weder ein schlechtes Herz noch einen schlechten Charakter,<br />
war selten bockig, fast nie unverträglich und trotz<br />
gelegentlicher tyrannischer Anfälle rührend zu den Kleinen;<br />
obendrein war sie laut und wild, hasste Stubenarrest<br />
und Sauberkeit und liebte es über alle Maßen, den grünen<br />
Abhang hinter dem Haus hinunterzurollen.<br />
So war Catherine Morland mit zehn. Mit fünfzehn<br />
wuchs sie sich zurecht; sie fing an, sich Locken zu drehen<br />
und für Bälle zu interessieren; ihr Teint wurde klarer; Fülle<br />
und Farbe machten ihre Züge weicher; ihre Augen wurden<br />
lebhafter und ihre Figur betonter. Ihre Vorliebe für<br />
Schmutz wich der Freude an Samt und Seide, und mit dem<br />
Verstand kam auch die Sauberkeit. Mit Vergnügen hörte<br />
sie nun manchmal ihre Eltern sagen, wie sehr sie sich zu<br />
ihrem Vorteil verändert habe. »Catherine wird ein richtig<br />
gutaussehendes Mädchen. Heute sieht sie beinahe hübsch<br />
aus«, fing sie jetzt von Zeit zu Zeit auf, und solche Sätze<br />
waren Musik in ihren Ohren. Beinahe hübsch zu sein, bereitet<br />
einem Mädchen, das die ersten fünfzehn Jahre ihres<br />
Lebens unscheinbar war, größeres Entzücken als jemandem,<br />
der schon in der Wiege als Schönheit galt.<br />
Mrs. Morland war eine herzensgute Frau und hatte die
esten Absichten mit ihren Kindern, aber sie war so völlig<br />
mit ihrem Wochenbett und der Beschäftigung mit den<br />
Kleinen ausgelastet, dass ihre älteren Töchter notgedrungen<br />
allein zurechtkommen mussten, und daher war es<br />
auch nicht verwunderlich, dass Catherine, die von Natur so<br />
gar nichts von einer Heldin hatte, im Alter von vierzehn<br />
Jahren Cricket, Baseball, Reiten und Herumstromern den<br />
Büchern vorzog – oder wenigstens den Büchern, aus denen<br />
man etwas lernen konnte, denn vorausgesetzt, dass sich ihnen<br />
keinerlei nützliches Wissen entnehmen ließ, vorausgesetzt,<br />
dass sie nichts Theoretisches, sondern nur Handlung<br />
enthielten, hatte sie gegen Bücher gar nichts einzuwenden.<br />
Aber zwischen fünfzehn und siebzehn bereitete sie sich auf<br />
ihre Rolle als Romanheldin vor; sie las all die Werke, die<br />
Heldinnen gelesen haben müssen, um sich die Zitate einprägen<br />
zu können, die in den Wechselfällen ihres ereignisreichen<br />
Lebens so brauchbar und tröstlich sind.<br />
Von Pope lernte sie, die zu verurteilen, die<br />
»Scherz treiben mit dem Schmerz der andern«;<br />
von Gray, dass<br />
»Manch Blume muss verblühn in Einsamkeit<br />
Und ihren Duft im Wüstensand verströmen«;<br />
von Thompson, dass<br />
»Es ist ein köstliches Bemühen,<br />
Des Geistes jungen Trieb zu ziehen«;<br />
und Shakespeare versorgte sie mit einem großen Vorrat an<br />
Wissen, unter anderem, dass<br />
»Dinge, leicht wie Luft,<br />
Sind für die Eifersucht Beweise, stark<br />
Wie Bibelsprüche«;
dass<br />
»Der arme Käfer, den dein Fuß zertritt,<br />
Fühlt körperlich ein Leiden, ganz so groß,<br />
Als wenn ein Riese stirbt«;<br />
und dass eine verliebte junge Frau immer aussieht<br />
»Wie die Geduld auf einer Gruft<br />
Dem Grame lächelnd«. 3<br />
So weit hatte sie also zufriedenstellende Fortschritte gemacht,<br />
und in manch anderer Hinsicht war sie auf dem besten<br />
Wege, denn obwohl sie keine Sonette schreiben konnte,<br />
zwang sie sich dazu, welche zu lesen, und obwohl anscheinend<br />
keine Aussicht für sie bestand, eine ganze Gesellschaft<br />
mit der Darbietung eines eigenen Préludes auf dem Klavier<br />
in Verzückung zu versetzen, konnte sie dem Spiel anderer<br />
zuhören, ohne merklich zu ermüden. Nur mit dem Zeichenstift<br />
wusste sie ganz und gar nicht umzugehen – sie<br />
hatte zum Zeichnen einfach kein Talent; es langte nicht einmal<br />
dazu, das Profil ihres Verehrers so zu skizzieren, dass<br />
ihre künstlerische Handschrift darin zu erkennen war. Hier<br />
blieb sie kläglich hinter der wahren Größe einer Romanheldin<br />
zurück. Aber vorläufig ahnte sie nichts von ihrer Unzulänglichkeit,<br />
denn sie hatte gar keinen Verehrer, den<br />
sie hätte porträtieren können. Sie hatte das Alter von siebzehn<br />
erreicht, ohne einen einzigen liebenswürdigen jungen<br />
Mann gesehen zu haben, der ihre Gefühle geweckt hätte,<br />
ohne eine einzige wahre Leidenschaft hervorgerufen zu haben,<br />
ja, ohne mehr als höchst mäßige und flüchtige Bewunderung<br />
erregt zu haben. Das war wirklich sonderbar! Aber<br />
sonderbare Dinge hören auf, es zu sein, wenn man ihnen<br />
auf den Grund geht. Es gab keinen einzigen Lord in der<br />
Nachbarschaft, ja, nicht einmal einen Baron. In ihrem ge-
samten Bekanntenkreis hatte nicht eine einzige Familie einen<br />
Jungen großzuziehen, den sie zufällig vor ihrer Tür gefunden<br />
hatte – nicht einen einzigen jungen Mann, dessen<br />
Herkunft unbekannt war. Ihr Vater hatte kein Mündel und<br />
der reichste Mann der Gegend keine Kinder.<br />
Aber wenn eine junge Dame dazu bestimmt ist, Romanheldin<br />
zu werden, können auch die widrigsten Umstände<br />
in noch so vielen Familien der Umgebung sie nicht<br />
davon abhalten. Etwas muss und wird geschehen, damit ihr<br />
der Held über den Weg läuft.<br />
Mr. Allen, dem die Ländereien um Fullerton – das Dorf<br />
in Wiltshire, wo die Morlands wohnten – zum größeren<br />
Teil gehörten, wurde wegen seiner Gichtanfälle ein Aufenthalt<br />
in Bath verschrieben, und seine Gattin, eine gutmütige<br />
Dame, die an Miss Morland Gefallen fand und sich<br />
vermutlich darüber im Klaren war, dass eine junge Dame<br />
Abenteuer anderswo suchen muss, wenn sie diese in ihrem<br />
eigenen Dorf nicht findet, lud sie ein, sie zu begleiten. Mr.<br />
und Mrs. Morland war es eine große Ehre und Catherine<br />
eine große Freude.<br />
Kapitel 2<br />
Zu allem, was über Catherine Morlands äußere und innere<br />
Gaben bereits gesagt worden ist, darf angesichts der bevorstehenden<br />
Schwierigkeiten und Gefahren eines sechswöchigen<br />
Aufenthalts in Bath zur genaueren Information des<br />
Lesers, und da die folgenden Seiten sonst ihr Ziel verfehlen<br />
würden, ein angemessenes Bild ihres Charakters zu geben,<br />
noch hinzugefügt werden, dass sie ein liebevolles Herz besaß,<br />
ein heiteres, offenes Gemüt ohne alle Einbildung oder
so auffällig wie möglich zu ändern) in diesem Alter als ihre<br />
nächstjüngere Schwester ihre enge Freundin und Vertraute<br />
ist. Wie eigenartig aber, dass sie weder darauf bestand, Catherine<br />
solle mit jeder Post schreiben, noch ihr das Versprechen<br />
abrang, ihr ein Bild der Persönlichkeit jedes neuen<br />
Bekannten oder die Einzelheiten jeder interessanten Unterhaltung,<br />
die sich in Bath ergeben mochte, mitzuteilen.<br />
Überhaupt wurde von Seiten der Morlands alles, was diese<br />
bedeutsame Reise anging, mit einem Grad von Mäßigung<br />
und Gefasstheit getan, die eher den alltäglichen Empfindungen<br />
alltäglicher Menschen entsprach als den hochgespannten<br />
Erwartungen, den zärtlichen Gefühlen, die die<br />
erste Trennung einer Romanheldin von ihrer Familie eigentlich<br />
auslösen sollte, und anstatt ihr bei seiner Bank<br />
unbeschränkte Verfügungsgewalt über sein Konto zu geben<br />
oder gar eine Hundertpfundnote in die Hand zu drücken,<br />
überreichte der Vater ihr nur zehn Guineen und versprach<br />
ihr mehr, wenn sie mehr brauchen sollte.<br />
Unter diesen nicht gerade vielversprechenden Auspizien<br />
fand die Trennung statt, begann die Reise. Sie ging<br />
mit angemessener Ruhe und eintöniger Gefahrlosigkeit<br />
vonstatten. Kein Räuber, kein Unwetter suchte sie heim,<br />
und kein segensreicher Wagenbruch führte sie mit dem<br />
Helden zusammen. Nichts Schrecklicheres passierte, als<br />
dass Mrs. Allen fürchtete, ihre Pantoffeln in einem Gasthaus<br />
zurückgelassen zu haben, und auch diese Befürchtung<br />
erwies sich glücklicherweise als grundlos.<br />
So kamen sie in Bath an; Catherine war voll gespannter<br />
Erwartung, ihre Augen waren hier und dort und überall,<br />
als sie sich der gepflegten, eindrucksvollen Umgebung von<br />
Bath näherten und anschließend durch die Straßen fuhren,<br />
die sie zum Hotel führten. Sie war gekommen, um glücklich<br />
zu sein, und fühlte sich schon jetzt glücklich.
Bald waren sie in bequemen Räumlichkeiten in der Pulteney<br />
Street 4 untergebracht.<br />
Es ist an dieser Stelle angebracht, eine ungefähre Beschreibung<br />
von Mrs. Allen zu geben, damit der Leser beurteilen<br />
kann, auf welche Weise ihre Handlungen später zur<br />
unglückseligen Wendung des Buches beitragen und inwiefern<br />
sie voraussichtlich – sei es durch ihre Unklugheit, Gewöhnlichkeit<br />
oder Eifersucht, sei es, indem sie die Briefe<br />
der armen Catherine abfängt, ihren Charakter verdirbt<br />
oder sie aus dem Hause weist – für all das verzweiflungsvolle<br />
Elend, das im letzten Band 5 auf den Leser zukommt,<br />
mitverantwortlich ist.<br />
Mrs. Allen war eine der zahlreichen Frauen, in deren<br />
Gesellschaft man nichts anderes empfindet als Erstaunen<br />
darüber, dass es auf dieser Welt sage und schreibe Männer<br />
gibt, die genug Sympathie für sie aufbringen, sie zu heiraten.<br />
Sie besaß weder Schönheit noch Geist, Bildung oder<br />
Geschmack. Damenhaftes Auftreten, eine gehörige Portion<br />
von unaufdringlicher, passiver Gutmütigkeit und ein Hang<br />
zur Oberflächlichkeit waren alles, was sie dazu berechtigte,<br />
dass die Wahl eines so vernünftigen, intelligenten Mannes<br />
wie Mr. Allen auf sie gefallen war. In einer Hinsicht allerdings<br />
war sie vorzüglich geeignet, eine junge Dame in die<br />
Gesellschaft einzuführen, denn es machte ihr selbst ebensoviel<br />
Spaß, überall hinzugehen und alles anzusehen wie<br />
den jungen Damen selbst. Kleider waren ihre Leidenschaft;<br />
ihr ganzer harmloser Lebensinhalt bestand darin, sich herauszuputzen,<br />
und das gesellschaftliche Debüt unserer Heldin<br />
konnte erst stattfinden, als die beiden drei oder vier<br />
Tage damit verbracht hatten, herauszufinden, was man<br />
denn trug, und Catherines mütterliche Begleiterin sich ein<br />
Kleid nach der neuesten Mode zugelegt hatte. Catherine<br />
machte ebenfalls einige Einkäufe, und als all dies erledigt
war, nahte der bedeutende Abend, der sie in die Oberen<br />
Gesellschaftsräume 6 führen sollte. Ihr Haar war vom ersten<br />
Friseur am Platze geschnitten und gelegt, ihre Toilette<br />
mit Sorgfalt arrangiert, und sowohl Mrs. Allen als auch<br />
ihre Zofe erklärten, sie könne gar nicht besser aussehen.<br />
Bei solchem Zuspruch hoffte Catherine, vor den Augen der<br />
Menge bestehen zu können. Wenn sie Bewunderung erregte,<br />
war es ihr sehr recht, aber sie suchte sie nicht und<br />
war nicht darauf angewiesen.<br />
Mrs. Allen brauchte so lange zum Anziehen, dass sie<br />
den Ballsaal erst sehr spät betraten. Die Saison war auf<br />
dem Höhepunkt, der Saal überfüllt, und die beiden Damen<br />
drängten sich hinein, so gut es ging. Was Mr. Allen betraf,<br />
so begab er sich direkt ins Kartenzimmer und überließ es<br />
ihnen, allein an dem Gewimmel ihren Spaß zu haben.<br />
Mehr um die Sicherheit ihres neuen Kleides als um<br />
das Wohlbefinden ihres Schützlings besorgt, bahnte sich<br />
Mrs. Allen, so schnell es die nötige Vorsicht erlaubte, einen<br />
Weg durch die Traube von Männern an der Tür, aber<br />
Catherine hielt sich dicht an ihrer Seite und hakte sich so<br />
fest bei ihrer Freundin ein, dass auch die vereinte Anstrengung<br />
einer wogenden Menge sie nicht auseinanderreißen<br />
konnte. Zu ihrer größten Verblüffung musste sie jedoch<br />
feststellen, dass bei weiterem Vordringen in den Saal das<br />
Gedränge keineswegs abnahm; es schien eher schlimmer<br />
zu werden, je weiter sie vorankamen, während Catherine<br />
sich vorgestellt hatte, dass sie mühelos Platz finden und<br />
den Tänzen in aller Bequemlichkeit zusehen könnten, sobald<br />
sie erst einmal die Tür hinter sich gelassen hätten.<br />
Aber das Gegenteil war der Fall, und obwohl sie dank unermüdlichem<br />
Eifer sogar das obere Ende des Saales erreichten,<br />
war ihre Lage unverändert. Von den Tänzern sahen sie<br />
nichts als den herausragenden Kopfputz einiger Damen.
Sie drangen trotzdem weiter vor; etwas Besseres stand in<br />
Aussicht, und unter Aufbietung aller Energie und Findigkeit<br />
gelangten sie schließlich in den Gang hinter der<br />
höchsten Bank. Hier war das Gedränge etwas weniger<br />
dicht als unten, und deshalb hatte Miss Morland einen<br />
umfassenden Überblick über die Gesellschaft unter sich<br />
und die soeben überstandenen Gefahren in ihrer Mitte. Es<br />
war ein großartiger Anblick, und zum erstenmal an diesem<br />
Abend hatte sie das Gefühl, auf einem Ball zu sein; sie hätte<br />
für ihr Leben gern getanzt, aber sie kannte nicht einen<br />
einzigen Menschen im ganzen Saal. Mrs. Allen tat alles,<br />
was sich in einem solchen Fall tun ließ, indem sie von Zeit<br />
zu Zeit ungerührt sagte: »Schade, dass Sie nicht tanzen<br />
können, mein Kind! Schade, dass Sie keinen Partner haben!«<br />
Eine Zeitlang fühlte ihre junge Freundin sich ihr zu<br />
Dank verpflichtet für die guten Wünsche, aber sie wurden<br />
so oft wiederholt und erwiesen sich als so völlig wirkungslos,<br />
dass Catherine ihrer schließlich überdrüssig wurde und<br />
aufhörte, sich zu bedanken.<br />
Allerdings durften sie ihren erhöhten Zufluchtsort, den<br />
sie sich so mühsam erkämpft hatten, nicht lange genießen.<br />
Bald setzten sich alle zum Teebüfett in Bewegung, und<br />
auch sie mussten sich mit den anderen hinausdrängen.<br />
Catherine überkam allmählich ein Gefühl der Enttäuschung;<br />
sie war es leid, ständig von Leuten herumgestoßen<br />
zu werden, deren Gesichtern sie im Großen und Ganzen<br />
nicht das mindeste Interesse abgewinnen konnte und die<br />
ihr alle so gänzlich unbekannt waren, dass sie die lästige<br />
Gefangenschaft nicht einmal durch ein freundliches Wort<br />
mit einem ihrer Mitgefangenen lindern konnte; und als sie<br />
schließlich das Teezimmer erreichten, kam ihr der Umstand,<br />
dass sie sich keiner Gruppe, keinem bekannten Gesicht<br />
anschließen konnten, dass keiner der Herren sich um
sie kümmerte, noch peinlicher zum Bewusstsein. Mr. Allen<br />
war nirgendwo zu sehen, und nachdem sie vergeblich nach<br />
einem geeigneten Platz Ausschau gehalten hatten, blieb ihnen<br />
nichts anderes übrig, als am Ende eines Tisches Platz<br />
zu nehmen, an dem bereits eine größere Gruppe saß und<br />
wo sie nichts verloren hatten und sich mit niemandem unterhalten<br />
konnten als miteinander.<br />
Mrs. Allen beglückwünschte sich, sobald sie saßen, ihr<br />
Kleid vor Schaden bewahrt zu haben. »Wie schrecklich,<br />
wenn es zerrissen worden wäre«, sagte sie, »finden Sie<br />
nicht? Es ist ein so empfindlicher Musselin. Was mich betrifft,<br />
ich habe im ganzen Saal nichts gesehen, was mir so<br />
gut gefallen hat, das können Sie mir glauben.«<br />
»Wie lästig«, flüsterte Catherine, »nicht einen einzigen<br />
Bekannten hier zu haben.«<br />
»Ja, mein Kind«, erwiderte Mrs. Allen, ohne sich sonderlich<br />
dafür zu interessieren, »das ist wirklich sehr lästig.«<br />
»Was machen wir denn nun? Die Herrschaften an diesem<br />
Tisch sehen auch aus, als ob sie sich fragten, was wir<br />
hier wollen. Wir drängen uns ihnen förmlich auf.«<br />
»Ja, das stimmt. Es ist sehr unangenehm. Ich wünschte,<br />
wir hätten eine Menge Bekannte hier.«<br />
»Ich wünschte, wir hätten überhaupt welche hier. Dann<br />
könnten wir uns wenigstens jemandem anschließen.«<br />
»Ganz richtig, mein Kind, und wenn wir Bekannte hätten,<br />
würden wir uns gleich zu ihnen setzen. Letztes Jahr<br />
waren die Skinners hier. Schade, dass sie jetzt nicht hier<br />
sind.«<br />
»Sollten wir nicht lieber aufbrechen? Für uns ist hier<br />
sowieso nicht gedeckt.«<br />
»Tatsächlich, Sie haben ganz recht. Das ist ja unerhört!<br />
Aber ich finde, wir sollten lieber still sitzenbleiben, denn<br />
man wird in dem Gedränge so herumgestoßen. Wie sieht
meine Frisur aus, mein Kind? Jemand hat mir einen<br />
Schubs gegeben und dabei ist sie, fürchte ich, ganz verrutscht.«<br />
»Nein, gar nicht, sie sitzt sehr gut. Aber liebe Mrs. Allen,<br />
sind Sie ganz sicher, dass Sie in dieser riesigen Menschenmenge<br />
keine Menschenseele kennen? Sie müssen<br />
doch irgend jemanden kennen.«<br />
»Beim besten Willen nicht, schade. Wirklich jammerschade,<br />
dass ich nicht mehr Bekannte hier habe, sonst würde<br />
ich Ihnen einen Tanzpartner besorgen. Ich wäre so froh,<br />
wenn Sie tanzen könnten. Da geht eine merkwürdig aussehende<br />
Frau! Was für ein komisches Kleid sie anhat! Wie<br />
altmodisch! Sehen Sie nur den Rücken!«<br />
Nach einer Weile wurde ihnen von einem ihrer Nachbarn<br />
Tee angeboten; er wurde dankbar akzeptiert, und daraus<br />
entspann sich eine kurze Unterhaltung mit dem Herrn,<br />
und das war das einzige Mal während des ganzen Abends,<br />
dass irgendjemand mit ihnen sprach, bis Mr. Allen sie nach<br />
Beendigung des Tanzes entdeckte und sich zu ihnen gesellte.<br />
»Nun, Miss Morland«, sagte er gleich zu ihr, »ich hoffe,<br />
Sie haben einen unterhaltsamen Abend verbracht.«<br />
»Sehr unterhaltsam«, antwortete sie und versuchte<br />
vergeblich, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken.<br />
»Schade, dass sie nicht tanzen konnte«, sagte seine<br />
Frau, »schade, dass ich keinen Partner für sie hatte. Ich<br />
sagte schon zu Miss Morland, wie froh ich wäre, wenn die<br />
Skinners diesen und nicht letzten Winter hiergewesen wären,<br />
oder wenn die Parrys gekommen wären, wie sie einmal<br />
angedeutet haben, dann hätte sie mit George Parry<br />
tanzen können. Es tut mir so leid, dass sie keinen Partner<br />
hatte.«<br />
»Ein andermal haben Sie mehr Glück, hoffe ich«, war<br />
Mr. Allens ganzer Trost.
Als der Tanz zu Ende war, begann sich die Gesellschaft<br />
zu zerstreuen, was den Zurückbleibenden genügend Platz<br />
ließ, um in einiger Bequemlichkeit umherzuwandern, und<br />
jetzt war der Augenblick gekommen, wo es sich für jede<br />
Romanheldin gehört, die im Laufe des Abends noch keine<br />
hervorragende Rolle gespielt hat, bemerkt und bewundert<br />
zu werden. Alle fünf Minuten verringerte sich die Menge<br />
und gab Catherine mehr Spielraum, ihren Charme zu entfalten.<br />
Das Auge vieler junger Männer fiel nun auf sie, die<br />
vorher nicht in ihre Nähe gekommen waren. Nicht einer<br />
allerdings blieb, von sprachlosem Entzücken hingerissen,<br />
bei ihrem Anblick stehen, kein neugieriges, fragendes Flüstern<br />
machte die Runde im Saale, auch wurde sie kein einziges<br />
Mal eine göttliche Schönheit genannt. Und doch sah<br />
Catherine sehr gut aus, und hätte die Gesellschaft sie drei<br />
Jahre früher gesehen, dann hätte man sie jetzt für ungewöhnlich<br />
hübsch gehalten.<br />
Sie wurde allerdings betrachtet, und zwar mit einiger<br />
Bewunderung, denn wie sie selbst mit anhörte, erklärten<br />
zwei Herren sie für ein hübsches Mädchen. Solche Worte<br />
verfehlten ihre Wirkung nicht; der Abend erschien ihr auf<br />
der Stelle erfreulicher als vorher, ihre anspruchslose Eitelkeit<br />
war befriedigt. Sie war den beiden jungen Männern<br />
dankbarer für dieses bescheidene Kompliment als eine<br />
wahre Heldin für fünfzehn Sonette zur Feier ihrer Reize<br />
und ging versöhnt mit aller Welt und vollkommen zufrieden<br />
mit ihrem Anteil an allgemeiner Aufmerksamkeit zu<br />
ihrer Sänfte.
Nachwort<br />
»That young lady had a talent for describing<br />
the involvement and feelings and characters of<br />
ordinary life which is to me the most wunderful<br />
I ever met with.«<br />
Walter Scott über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
1<br />
Northanger Abbey hat von allen Romanen <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />
die ungewöhnlichste Textgeschichte. Das Buch wird zwischen<br />
1797 und 1803 von der erst gut Zwanzigjährigen geschrieben,<br />
begonnen aber möglicherweise schon 1790 und<br />
heißt Susan. Dass der erste, in Bath spielende Teil die Spuren<br />
von <strong>Jane</strong>s eigenem dortigen Leben zwischen 1801 und<br />
1806 trägt, wird in der genauen Schilderung der Örtlichkeiten<br />
deutlich. Wie alle frühen Manuskripte der Autorin<br />
erlebt es seine »Uraufführung« wohl im Familienkreis,<br />
dem <strong>Jane</strong> mit dem Vorlesen ihrer witzigen und parodistischen<br />
Geschichten viel Vergnügen bereitet. Über eine Mittelsperson<br />
ihres Bruders Henry wird das Manuskript im<br />
Frühjahr 1803 an den Verleger Crosby für zehn Pfund zur<br />
unmittelbaren Veröffentlichung verkauft. Es muss ein stolzer<br />
Augenblick für die junge Dame gewesen sein, der sich<br />
mit der Publikation dieses ersten Buches binnen Jahresfrist<br />
eine literarische Karriere zu eröffnen scheint. Aber obwohl<br />
der Verleger das Autorenhonorar bezahlt hat, unternimmt<br />
er weiter nichts; er kündigt den Band an, ohne ihn je erscheinen<br />
zu lassen. Sechs Jahre später schreibt <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
anonym an Crosby und erkundigt sich nach dem Manuskript.<br />
Sie könne nur vermuten, dass es verlorengegangen
sei, da es entgegen der Absprache nicht veröffentlicht wurde,<br />
und sie erklärt sich bereit, ein zweites Exemplar zu<br />
übersenden, falls das sonst unerklärliche Nichterscheinen<br />
darauf zurückzuführen sei. Crosby antwortet mit dem Angebot,<br />
ihr das Manuskript zum selben Preis wieder zu<br />
überlassen. Eine Erklärung gibt er nicht, nur verbittet er<br />
sich die anderweitige Veröffentlichung, solange er rechtmäßig<br />
im Besitz des Manuskriptes sei. Erst 1816, als <strong>Jane</strong><br />
<strong>Austen</strong> schon mehrere Romane publiziert hat und sich ihre<br />
Anonymität langsam zu lüften beginnt, macht sie von dem<br />
Angebot des Rückkaufs Gebrauch. Dass die geachtete Autorin<br />
von Sense and Sensibility, Pride and Prejudice,<br />
Mansfield Park und Emma die Verfasserin des Buches ist,<br />
das er so vernachlässigt hat, erfährt Crosby erst, als er die<br />
Rechte daran wieder abgetreten hat.<br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> bearbeitet das unterdessen gut fünfzehn<br />
Jahre alte Manuskript, legt es dann aber zunächst zugunsten<br />
ihres neuen Romans Persuasion vorläufig wieder zur<br />
Seite. Daher kommt es wieder nicht zur unmittelbaren Publikation<br />
und diesmal mit tragischen Folgen: 1817 stirbt<br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> im Alter von zweiundvierzig Jahren. Ihr Bruder<br />
nimmt sich ihrer beiden noch unveröffentlichten Romane<br />
an, und so erscheinen 1818 ihr frühes und ihr letztes<br />
Werk postum und mit einer biographischen Notiz, aus der<br />
die Öffentlichkeit zum erstenmal erfährt, wer sich hinter<br />
den immer größere Aufmerksamkeit findenden Romanen<br />
verbirgt, die ohne Autorennamen, nur mit dem Hinweis<br />
»by a lady« erschienen sind. »Ihr der Nützlichkeit, Literatur<br />
und Religion gewidmetes Leben«, schreibt Henry <strong>Austen</strong>,<br />
»war keineswegs ein ereignisreiches Leben.« Warum<br />
Crosby das Manuskript zurückgehalten hat, lässt sich nur<br />
vermuten. Fürchtete er einen finanziellen Misserfolg? Passte<br />
es nicht in sein Verlagsprogramm? War die »gothic no-
vel«, der gotische Schauerroman der Zeit, ihm noch zu populär,<br />
als dass er es riskieren wollte, mit einer offensichtlichen<br />
Parodie dieses in den neunziger Jahren unglaublich<br />
beliebten und erfolgreichen Romantyps ans Licht zu treten?<br />
Jedenfalls raubte die verspätete Publikation dem Buch<br />
einen Teil seiner unmittelbaren Aktualität, denn 1818 war<br />
die große Zeit des gotischen Romans vorüber, obwohl gerade<br />
in dieser Zeit noch zwei späte Meisterwerke der Gattung<br />
erschienen: Frankenstein or the Modern Prometheus (1818)<br />
von Mary Shelley (1797–1851) und Melmouth the Wanderer<br />
(1820) von Charles Maturin (1780–1824). In diesen späteren<br />
Werken des Genres fällt auf, dass in ihrem Mittelpunkt<br />
nicht mehr das beschützenswerte junge Mädchen<br />
steht, sondern der »romantische« Held, von seinen Begierden<br />
getrieben, dem Teufel verfallen oder dem Wissensdurst<br />
hingegeben. Der gotische Roman ist noch heute weitgehend<br />
tot, oder, anders gesagt: paradoxerweise lebt er heute<br />
am intensivsten gerade in <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Parodie. Henry<br />
<strong>Austen</strong> hat recht gehabt, als er in seiner biographischen<br />
Notiz auch bemerkte: »Aber vielleicht leben ja die Werke<br />
der Autorin ebensolange wie die, die mit mehr éclat über<br />
die Welt hereingebrochen sind.«<br />
Während Northanger Abbey durch die Verzögerungen<br />
unzeitgemäß spät erscheint, macht gerade diese Verspätung<br />
deutlich, dass <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s literarische Produktion<br />
enger mit dem Beginn des realistischen englischen Romans<br />
im 19. Jahrhundert zusammengehört. Nicht der Schauerroman<br />
erregt um 1820 die Gemüter; das Interesse hat sich<br />
anderen Romantypen zugewandt, in denen die genaue, detaillierte<br />
und unsensationelle Beschreibung der tatsächlich<br />
gelebten und erlebten Wirklichkeit eine größere Rolle<br />
spielt und für die der Name Walter Scott repräsentativ ist.<br />
In seinen Romanen verbindet sich die Vorliebe für die nun
nicht mehr so phantastisch übersteigerte und entwirklichte<br />
Historie mit dem Gefallen an der unverwechselbaren Eigenart<br />
einzelner britischer Regionen: Waverley, die Darstellung<br />
des letzten Versuchs der Stuarts, in der Mitte des<br />
18. Jahrhunderts den englischen Thron von Schottland aus<br />
zurückzuerobern, erscheint 1814 und Ivanhoe, die Geschichte<br />
des edlen Ritters zur Zeit von Richard Löwenherz<br />
und Robin Hood, 1819. Bei Scott oder in Susan Ferriers<br />
(1782–1854) Roman Marriage, der im selben Jahr wie<br />
Northanger Abbey herauskommt und öfter mit <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />
Büchern verglichen worden ist, gibt Schottland den literarischen<br />
Reiz her.<br />
Fast programmatisch weist <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> den Leser schon<br />
im zweiten Kapitel darauf hin, dass sie vorhat, seine aufs<br />
Unwahrscheinlich-Phantastische gerichteten Erwartungen<br />
zu enttäuschen, indem sie das Märchenhafte im Leben einer<br />
Heldin ausmalt, aber dann als nicht wirklich entlarvt.<br />
In diesem Fall beschreibt sie Catherines Abschied, wie er<br />
nach den Romankonventionen der Zeit stattfinden müsste<br />
und wie er sich wirklich abgespielt hat, und dabei betont sie<br />
den eben skizzierten Gegensatz zwischen dem alten und<br />
dem neuen Typ von Roman: Ȇberhaupt wurde von Seiten<br />
der Morlands alles, was diese bedeutsame Reise anging, mit<br />
einem Grad von Mäßigung und Gefasstheit getan, die eher<br />
den alltäglichen Empfindungen alltäglicher Menschen entsprach<br />
als den hochgespannten Erwartungen, den zärtlichen<br />
Gefühlen, die die erste Trennung einer Romanheldin<br />
von ihrer Familie eigentlich auslösen sollte […].«<br />
Und so erscheint denn letztlich der Publikationstermin<br />
von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s verspätetem Jugendwerk doch als recht<br />
glücklich: Ihr Buch braucht den Abstand zum gotischen<br />
Roman, damit erkennbar wird, wie sie ihn im Bewusstsein<br />
neuerer Entwicklungen kritisiert, zu denen sie selbst beige-
tragen hat. Aber außerdem erscheint es nun im selben Jahr<br />
wie die andere glänzende, wenn auch intellektuellere und<br />
mehr auf die Romantik zielende Parodie des gotischen<br />
Romans, Nightmare Abbey von William Love Peacock<br />
(1785– 1866), das mit der ironischen Beschreibung eines<br />
mittelalterlichen Familiensitzes beginnt, wie ihn Catherine<br />
Morland erst im zweiten Teil von Northanger Abbey zu sehen<br />
bekommt: »Kloster Alptraum, ein ehrwürdiger Familiensitz<br />
im höchst malerischen Zustand von Halbverfallenheit<br />
[…].«<br />
2<br />
Die für die Entwicklung der gotischen Mode im England<br />
des 18. Jahrhunderts wichtigste Gestalt, die freilich auf<br />
früheren Ansätzen aufbauen kann, ist Horace Walpole<br />
(1717–97), vierter Earl of Oxford und langjähriges Mitglied<br />
des Parlaments. Er lässt sich in den sechziger Jahren<br />
sein Landhaus Strawberry Hill in gotischem Stil und mit<br />
unregelmäßigem Grundriss bauen und veröffentlicht 1764<br />
den ersten gotischen Roman: The Castle of Otranto. Auch<br />
in Deutschland beginnt ja etwa um diese Zeit die Mittelalter-Begeisterung,<br />
für die Goethes Kult des Straßburger<br />
Münsters und sein Götz von Berlichingen (1773) frühe<br />
und bekannte Beispiele sind. Aber während sich in<br />
Deutschland diese gotischen Elemente erst in der Romantik<br />
wirklich durchsetzen und Teil einer Weltanschauung<br />
werden, bestimmen sie in England schon in den letzten<br />
dreißig Jahren des 18. Jahrhunderts die Mode. Man baut<br />
gotische Gebäude oder lässt sich seine Bibliothek mit gotischen<br />
Ornamenten verzieren, zimmert gotisches Mobiliar<br />
oder malt gotische Bilder mit pittoresk verfallenen Burgen,<br />
schreibt Friedhofsdichtung oder gotische Romane, die in
Kapitel 1<br />
Schön, aufgeweckt und reich, bei einem sorgenfreien Zuhause<br />
und einem glücklichen Naturell war Emma Woodhouse<br />
offenbar mit einigen der erfreulichsten Vorzüge des<br />
Daseins gesegnet und hatte beinahe einundzwanzig Jahre<br />
fast ohne jeden Anlass zu Kummer und Verdruss auf dieser<br />
Welt verbracht.<br />
Sie war die jüngere von zwei Töchtern eines höchst zärtlichen<br />
und nachsichtigen Vaters und durch die Heirat ihrer<br />
Schwester schon recht früh Herrin seines Hauses geworden.<br />
Ihre Mutter war schon zu lange tot, als dass sich für Emma<br />
mit der Erinnerung an sie mehr als unbestimmte Vorstellungen<br />
von Zärtlichkeit verbunden hätten, und ihren Platz<br />
hatte eine ausgezeichnete Erzieherin eingenommen, deren<br />
liebende Zuneigung der einer Mutter kaum nachstand.<br />
Sechzehn Jahre hatte Miss Taylor in Mr. Woodhouses<br />
Familie mehr als Freundin denn als Erzieherin verbracht<br />
und zu beiden Töchtern, besonders aber zu Emma ein enges<br />
Verhältnis gehabt. Zwischen ihnen herrschte eher die<br />
Vertrautheit von Schwestern. Schon lange bevor Miss Taylor<br />
aufgehört hatte, ihr Amt als Erzieherin auszuüben, hatte<br />
sie in ihrer Nachsicht Emma fast immer gewähren lassen,<br />
und da auch der bloße Schatten von Autorität längst<br />
verschwunden war, lebten sie als unzertrennliche Freundinnen<br />
miteinander, wobei Emma tat, was sie wollte: Zwar<br />
schätzte sie Miss Taylors Urteil sehr, aber sie folgte im<br />
Wesentlichen ihrem eigenen.
Das eigentliche Problem bestand deshalb darin, dass<br />
Emma zu leicht ihren Willen bekam und dazu neigte, eher<br />
zu viel von sich zu halten. Hier lauerten Gefahren, die ihrem<br />
ungetrübten Dasein drohten. Vorläufig allerdings war<br />
sie sich ihrer so wenig bewusst, dass sie sie durchaus nicht<br />
als Verhängnis empfand.<br />
Und doch stand ihr Kummer bevor, gelinder Kummer<br />
allerdings und keineswegs in Gestalt von unliebsamer<br />
Selbsterkenntnis. Miss Taylor heiratete. Der Abschied von<br />
Miss Taylor brachte Emma den ersten seelischen Schmerz.<br />
Am Hochzeitstag ihrer geliebten Freundin hing sie zum<br />
ersten Mal längere Zeit trüben Gedanken nach. Die Feier<br />
war vorüber, das Brautpaar fort, und ihr Vater und sie<br />
mussten sich allein und ohne Aussicht auf Gesellschaft, die<br />
ihnen den langen Abend verkürzen half, zum Dinner 1 niedersetzen.<br />
Ihr Vater legte sich wie üblich nach dem Essen<br />
hin, und ihr blieb nichts übrig, als dazusitzen und über ihren<br />
Verlust nachzudenken.<br />
Ihrer Freundin versprach die Heirat alle Aussicht auf<br />
dauerhaftes Glück. Mr. Weston war ein Mann von vortrefflichem<br />
Charakter, beträchtlichem Vermögen, passendem<br />
Alter und angenehmen Umgangsformen, und es lag<br />
ein gewisser Trost darin, dass sie aus Freundschaft die Partie<br />
uneigennützig und großzügig immer selbst gewünscht<br />
und gefördert hatte; aber leicht fiel es ihr nicht. Tagtäglich<br />
und von morgens bis abends würde ihnen Miss Taylor fehlen.<br />
Sie rief sich ihre Herzlichkeit ins Gedächtnis zurück,<br />
die Herzlichkeit und Zuneigung von sechzehn Jahren: wie<br />
sie sie seit ihrem fünften Lebensjahr unterrichtet und mit<br />
ihr gespielt hatte; wie sie alles getan hatte, um sie anzuregen<br />
und zu unterhalten, wenn sie gesund war, und sie bei<br />
den verschiedenen Kinderkrankheiten gepflegt hatte. Sie<br />
war ihr zu großem Dank verpflichtet, aber das Beisammen-
sein der letzten sieben Jahre, der Umgang auf gleichem<br />
Fuß und das völlige gegenseitige Vertrauen, das sich eingestellt<br />
hatte, als sie nach Isabellas Heirat noch mehr aufeinander<br />
angewiesen waren, war ihr in der Erinnerung noch<br />
teurer und lieber. Sie war eine Freundin und Gefährtin gewesen,<br />
wie nur wenige sie besaßen, lebensklug, gebildet,<br />
unentbehrlich, gleichmäßig freundlich, mit allen Familienangelegenheiten<br />
vertraut, an allen familiären Problemen<br />
interessiert und besonders an ihr, an all ihren Vergnügungen<br />
und Plänen. Mit ihr konnte sie alles besprechen, was<br />
ihr in den Sinn kam, und Miss Taylor liebte sie zu sehr, als<br />
dass sie an ihr jemals etwas auszusetzen gehabt hätte.<br />
Wie sollte sie diese Umstellung nur ertragen? Es<br />
stimmte zwar, dass ihre Freundin nicht mehr als eine halbe<br />
Meile entfernt wohnte, aber Emma wusste nur zu gut,<br />
welcher Unterschied zwischen einer Mrs. Weston, nicht<br />
mehr als eine halbe Meile entfernt, und einer Miss Taylor<br />
im Haus bestehen würde, und bei all ihren natürlichen Gaben<br />
und häuslichen Möglichkeiten war sie nun in Gefahr,<br />
geistig zu verkümmern. Sie liebte ihren Vater herzlich,<br />
aber er war keine Gesellschaft für sie. Er war ihr im ernsten<br />
und scherzhaften Gespräch nicht gewachsen.<br />
Ihr unglückseliger Altersunterschied (und Mr. Woodhouse<br />
hatte nicht gerade früh geheiratet) wurde noch wesentlich<br />
durch seinen Gesundheitszustand und seine Gewohnheiten<br />
vergrößert, denn da er in seiner geistigen und<br />
körperlichen Unbeweglichkeit sein Leben lang ein kränkelnder<br />
Mann gewesen war, wirkte er älter, als er war; und<br />
wenn er auch wegen seiner Herzensgüte und seiner immer<br />
gleichbleibenden Freundlichkeit überall sehr beliebt war,<br />
hatte er doch nie durch Talente geglänzt.<br />
Obwohl Emmas Schwester nur sechzehn Meilen entfernt<br />
in London wohnte, also durch die Heirat nicht ei-
gentlich von ihrer Familie getrennt war, war sie natürlich<br />
für den täglichen Umgang zu weit weg, und man musste in<br />
Hartfield viele lange Oktober- und Novemberabende überstehen,<br />
bevor Isabella und ihr Mann mit ihren kleinen<br />
Kindern zu Weihnachten zu Besuch kamen, um das Haus<br />
endlich wieder mit ihrer unterhaltsamen Gesellschaft zu<br />
füllen.<br />
Highbury, das große und seiner Einwohnerzahl nach<br />
fast städtische Dorf, zu dem Hartfield trotz seines eigenen<br />
Namens und seines getrennten Grund und Bodens eigentlich<br />
gehörte, konnte ihr keine ebenbürtige Gesellschaft bieten.<br />
Die Woodhouses waren dort die angesehenste Familie.<br />
Man sah allgemein zu ihnen auf. Sie hatten zwar viele Bekannte,<br />
denn ihr Vater war zuvorkommend zu jedermann,<br />
aber es gab niemand unter ihnen, den sie anstelle von Miss<br />
Taylor auch nur einen halben Tag akzeptiert hätte. Es war<br />
schon eine trostlose Umstellung, und Emma konnte darüber<br />
nur seufzen und sich Unerfüllbares wünschen, bis<br />
ihr Vater erwachte und sie wieder Heiterkeit ausstrahlen<br />
musste, denn er brauchte Aufmunterung. Er war kein ausgeglichener<br />
Mensch, sondern neigte zu Depressionen; er<br />
hing an Menschen, an die er gewöhnt war, und ließ sie ungern<br />
gehen, denn jeder Wechsel war ihm zuwider. Die Ehe<br />
als Quelle der Veränderung war immer eine leidige Sache,<br />
und er hatte sich noch nicht einmal mit der Heirat seiner<br />
eigenen Tochter abgefunden und sprach von ihr immer in<br />
mitleidigem Ton, obwohl es doch ganz und gar eine Liebesheirat<br />
gewesen war, als er sich nun auch noch von Miss<br />
Taylor trennen sollte. Da er auf seine leise Art zum Egoismus<br />
neigte und sich nicht vorstellen konnte, dass andere<br />
Menschen nicht seiner Meinung waren, zweifelte er nicht<br />
daran, dass Miss Taylor sich selbst und ihnen einen<br />
schlechten Dienst erwiesen hatte und viel glücklicher ge-
wesen wäre, wenn sie den Rest ihres Lebens in Hartfield<br />
verbracht hätte. Emma lächelte und plauderte, so heiter sie<br />
nur konnte, damit er nicht auf solche trüben Gedanken<br />
verfiel, aber als der Tee serviert wurde, konnte er sich nicht<br />
enthalten zu wiederholen, was er schon bei Tisch gesagt<br />
hatte:<br />
»Arme Miss Taylor! Wenn sie nur wieder hier wäre. Es<br />
ist ein wahrer Jammer, dass Mr. Weston ausgerechnet auf<br />
sie verfallen musste.«<br />
»Ich kann dir nicht zustimmen, Papa, das weißt du genau.<br />
Mr. Weston ist ein so umgänglicher, angenehmer und<br />
ausgezeichneter Mann, dass er eine gute Frau von Herzen<br />
verdient, und du kannst doch nicht wollen, dass Miss Taylor<br />
ihr Leben bei uns verbringt und meine Launen über<br />
sich ergehen lässt, wenn sie ein eigenes Haus haben kann.«<br />
»Ein eigenes Haus! Wo ist der Vorteil bei einem eigenen<br />
Haus? Unseres ist dreimal so groß, und du hast doch<br />
gar keine Launen, mein Kind.«<br />
»Und wie oft wir uns gegenseitig besuchen werden!<br />
Wir werden uns ständig sehen! Wir müssen den Anfang<br />
machen, wir müssen ihnen möglichst bald einen Hochzeitsbesuch<br />
machen.«<br />
»Mein Kind, wie soll ich denn zu ihnen hinkommen?<br />
Randalls ist doch viel zu weit. Wie soll ich denn zu Fuß zu<br />
ihnen hinkommen?«<br />
»Nein, Papa, wer denkt denn an zu Fuß gehen? Wir<br />
fahren natürlich mit der Kutsche.«<br />
»Mit der Kutsche! Aber es ist James bestimmt nicht<br />
recht, für einen so kurzen Weg die Pferde anzuspannen,<br />
und wo sollen die armen Pferde bleiben, während wir den<br />
Besuch machen?«<br />
»In Mr. Westons Stall natürlich, Papa. Das haben wir<br />
doch alles schon besprochen. Wir haben alles gestern
Abend mit Mr. Weston verabredet. Und was James betrifft,<br />
so kannst du sicher sein, dass er immer gerne nach Randalls<br />
fährt, weil seine Tochter dort Dienstmädchen ist. Ich bezweifle<br />
höchstens, dass er uns noch irgendwo anders hinfahren<br />
will. Dafür hast du gesorgt, Papa. Du hast Hannah<br />
die gute Stelle besorgt. Niemand hat an Hannah gedacht,<br />
bis du darauf gekommen bist. James ist dir so dankbar.«<br />
»Ich bin froh, dass ich daran gedacht habe. Es ist ein<br />
Glück, denn ich möchte auf keinen Fall, dass der arme<br />
James denkt, wir übergehen ihn, und außerdem bin ich<br />
überzeugt, dass sie ein sehr adrettes Hausmädchen ist. Sie<br />
ist ein höfliches Kind und weiß sich nett auszudrücken. Ich<br />
halte viel von ihr. Immer wenn ich sie sehe, knickst sie und<br />
fragt mich sehr adrett, wie es mir geht, und wenn sie zum<br />
Handarbeiten hier ist, dann fällt mir immer auf, dass sie<br />
den Türknopf richtig dreht und nicht mit der Tür knallt.<br />
Sie wird bestimmt ein ausgezeichnetes Stubenmädchen,<br />
und es ist eine Wohltat für die arme Miss Taylor, jemanden<br />
um sich zu haben, den sie schon kennt. Immer wenn<br />
James seine Tochter besucht, hört Miss Taylor dann auch<br />
gleich von uns. Er kann ihr erzählen, wie es uns allen<br />
geht.«<br />
Emma gab sich alle Mühe, das Gespräch in diesem erfreulicheren<br />
Fahrwasser zu halten, und hoffte, mit Hilfe<br />
von Backgammon ihren Vater einigermaßen durch den<br />
Abend zu schleusen, so dass sie nur mit ihrer eigenen Niedergeschlagenheit<br />
zu kämpfen hatte. Aber kaum war der<br />
Spieltisch aufgestellt, da trat ein Besucher ins Zimmer und<br />
machte diese Mühe überflüssig.<br />
Mr. Knightley, ein Mann von Charakter, etwa siebenoder<br />
achtunddreißig Jahre alt, war nicht nur ein sehr alter<br />
und enger Freund der Familie, sondern ihr als älterer Bruder<br />
von Isabellas Mann noch besonders verbunden. Er
wohnte ungefähr eine Meile von Highbury entfernt und<br />
war ein ständiger, immer willkommener Besucher – heute<br />
mehr denn je, da er gerade von ihren gemeinsamen Verwandten<br />
aus London zurückkam. Er war einige Tage fort<br />
gewesen und hatte, zu einem späten Dinner heimgekehrt,<br />
nun einen Spaziergang nach Hartfield gemacht, um zu berichten,<br />
am Brunswick Square 2 gehe es allen gut. Es war<br />
ein glücklicher Umstand, und er hielt Mr. Woodhouse eine<br />
Zeitlang bei guter Laune. Mr. Knightley wirkte anregend,<br />
was Emmas Vater immer guttat, und seine vielen Fragen<br />
nach der »armen Isabella« und ihren Kindern wurden zu<br />
seiner vollen Zufriedenheit beantwortet. Als seine Neugier<br />
gestillt war, bemerkte Mr. Woodhouse dankbar: »Wie nett<br />
von Ihnen, Mr. Knightley, noch zu dieser späten Stunde<br />
herüberzukommen. Es muss ein scheußlicher Gang gewesen<br />
sein.«<br />
»Keineswegs, Sir 3 , es ist eine wunderschöne Mondnacht<br />
und so milde, dass ich weiter von Ihrem großen Kaminfeuer<br />
wegrücken muss.«<br />
»Aber es muss doch nasskalt und schmutzig draußen<br />
sein. Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung geholt.«<br />
»Schmutzig, Sir! Sehen Sie meine Schuhe an. Nicht ein<br />
Spritzer!«<br />
»Nanu, das ist ja eigenartig, denn hier hat es richtig gegossen.<br />
Beim Frühstück hat es eine halbe Stunde lang<br />
furchtbar gegossen. Ich wollte sogar die Hochzeit verschieben<br />
lassen.«<br />
»Apropos, ich habe Ihnen noch gar nicht zu dem freudigen<br />
Ereignis gratuliert. Aber da ich ja weiß, wie Sie beide<br />
sich bei dem freudigen Ereignis fühlen, war es mir mit den<br />
Glückwünschen nicht eilig. Ich hoffe, es ist alles gut verlaufen?<br />
Wie war Ihnen allen zumute? Wer hat am meisten<br />
geschluchzt?«
»Ach, die arme Miss Taylor! Was für eine traurige Geschichte!«<br />
»Die armen Woodhouses, wenn ich bitten darf, denn<br />
›die arme Miss Taylor‹ kann ich beim besten Willen nicht<br />
sagen. Ich schätze Emma und Sie sehr, aber wenn es um<br />
Abhängigkeit und Unabhängigkeit geht, kein Zweifel, man<br />
dient lieber einem Herrn als zweien.«<br />
»Besonders, wenn einer von beiden ein so launisches,<br />
anspruchsvolles Geschöpf ist«, rief Emma halb im Scherz.<br />
»Das wollten Sie doch damit sagen, nicht wahr? Und Sie<br />
hätten es auch gesagt, wenn mein Vater nicht hier wäre.«<br />
»Ich glaube, er hat völlig recht, mein Kind«, sagte<br />
Mr. Woodhouse mit einem Seufzer. »Ich fürchte, manchmal<br />
bin ich wirklich launisch und anspruchsvoll.«<br />
»Aber liebster Papa! Du glaubst doch nicht im Ernst,<br />
Mr. Knightley oder ich hätten dich gemeint. Was für ein<br />
haarsträubender Gedanke! Nein, nein, ich habe nur mich<br />
gemeint. Mr. Knightley hat immer etwas an mir auszusetzen,<br />
im Spaß natürlich, alles nur im Spaß. Wir sagen uns<br />
immer offen die Meinung.«<br />
Mr. Knightley war tatsächlich einer der wenigen Menschen,<br />
die an Emma Woodhouse etwas auszusetzen hatten,<br />
und der einzige, der es ihr auch sagte; und wenn schon<br />
Emma selbst das nicht besonders schätzte, ihrem Vater gefiel<br />
es, wie sie wusste, so ganz und gar nicht, dass er auf<br />
keinen Fall Verdacht schöpfen sollte, sie werde nicht von<br />
jedermann für vollkommen gehalten.<br />
»Emma weiß genau, dass ich ihr niemals schmeichle«,<br />
sagte Mr. Knightley, »aber ich hatte an niemanden im Besonderen<br />
gedacht. Miss Taylor war daran gewöhnt, zwei<br />
Herren zu dienen; jetzt hat sie nur noch einen. Dabei kann<br />
sie doch nur gewinnen.«<br />
»Gut«, sagte Emma, geneigt, den Fall auf sich beruhen
zu lassen. »Sie wollten von der Hochzeit hören, und ich<br />
berichte Ihnen gern davon, denn wir haben uns alle ganz<br />
reizend benommen. Alle waren pünktlich, zeigten sich von<br />
ihrer besten Seite, keine Tränen, kaum lange Gesichter.<br />
Nein, nein, wir wussten ja alle, dass wir auch nur eine halbe<br />
Meile voneinander entfernt sein und uns natürlich täglich<br />
sehen würden.«<br />
»Die liebe Emma, sie trägt alles so gefasst«, sagte ihr<br />
Vater, »aber in Wirklichkeit, Mr. Knightley, geht ihr der<br />
Verlust Miss Taylors sehr nahe, und ich bin sicher, sie wird<br />
ihr viel mehr fehlen, als sie ahnt.«<br />
Emma wandte sich, zwischen Lachen und Weinen<br />
schwankend, ab.<br />
»Es ist ganz ausgeschlossen, dass eine solche Freundin<br />
Emma nicht fehlen sollte«, sagte Mr. Knightley. »Wenn wir<br />
das annehmen müssten, Sir, würden wir sie weniger gernhaben.<br />
Aber sie weiß auch, wie vorteilhaft die Heirat für<br />
Miss Taylor ist; sie weiß, wie erfreulich es für Miss Taylor<br />
sein muss, in ihrem Alter Herrin eines eigenen Zuhause<br />
und unter so günstigen Bedingungen für ihr Leben versorgt<br />
zu sein, und daher muss ihre Freude ihren Schmerz überwiegen.<br />
Alle wahren Freunde von Miss Taylor können nur<br />
froh sein, dass sie sich so glücklich verheiratet hat.«<br />
»Und einen Anlass zur Freude für mich haben Sie noch<br />
vergessen«, sagte Emma, »und zwar einen ganz besonderen:<br />
dass ich die Ehe zustande gebracht habe. Ich habe die<br />
Ehe nämlich vor vier Jahren zustande gebracht; und sie tatsächlich<br />
stattfinden zu sehen und recht zu behalten, obwohl<br />
so viele Leute überzeugt waren, Mr. Weston werde<br />
nicht wieder heiraten, ist Entschädigung genug für mich.«<br />
Mr. Knightley sah sie kopfschüttelnd an. Ihr Vater antwortete<br />
liebevoll: »Ach, mein Kind, wenn du nur nicht<br />
immer Heiratspläne schmieden und Voraussagen machen
würdest, denn alles, was du sagst, geht in Erfüllung. Lass<br />
bitte die Finger davon.«<br />
»Für mich selbst will ich das gern versprechen, Papa,<br />
aber für andere Leute muss ich unbedingt weiter Heiratspläne<br />
schmieden. Das ist das größte Vergnügen der Welt!<br />
Und dann noch nach diesem Erfolg! Alle waren überzeugt,<br />
Mr. Weston werde nicht wieder heiraten. Um Gottes willen,<br />
nein, Mr. Weston, der schon so lange Witwer war und<br />
anscheinend ohne Frau so vollkommen zufrieden, ständig<br />
mit seinen Geschäften in London befasst und immer gut<br />
gelaunt, Mr. Weston brauchte doch nicht einen einzigen<br />
Abend im Jahr alleine zu Hause zu verbringen, wenn er<br />
nicht wollte. O nein, Mr. Weston würde bestimmt nicht<br />
wieder heiraten. Einige Leute wollten sogar von einem<br />
Versprechen wissen, das er seiner Frau auf dem Totenbett<br />
gegeben, und andere davon, dass sein Sohn und dessen<br />
Onkel es ihm verboten hatten. Aller möglicher Unsinn<br />
wurde verkündet, aber ich hielt kein Wort davon für wahr.<br />
Seit dem Tag (vor ungefähr vier Jahren), als Miss Taylor<br />
und ich ihn auf der Broadway Lane trafen und er, weil es<br />
zu nieseln anfing, mit so viel Galanterie davonschoss und<br />
für uns zwei Regenschirme von Bauer Mitchell lieh, war es<br />
für mich beschlossene Sache. Von dem Augenblick an habe<br />
ich die Ehe sorgfältig geplant, und jetzt, wo mein Werk<br />
von solchem Erfolg gekrönt worden ist, lieber Papa, soll ich<br />
das Heiratspläneschmieden aufgeben?«<br />
»Ich verstehe nicht, was du mit ›Erfolg‹ meinst«, sagte<br />
Mr. Knightley. »Erfolg setzt Bemühung voraus. Du hast<br />
deine Zeit wahrlich sinnvoll und angemessen verbracht,<br />
wenn du dich die letzten vier Jahre bemüht hast, diese Ehe<br />
zustande zu bringen. Eine würdige Beschäftigung für eine<br />
junge Dame! Aber wenn, was ich fast vermute, dein Heiratspläneschmieden,<br />
wie du es nennst, nur heißen soll,
dass du sie geplant hast, indem du eines schönen Tages zu<br />
dir gesagt hast: ›Ich glaube, Mr. Weston wäre eine gute<br />
Partie für Miss Taylor‹, und wenn du dir das lang genug<br />
eingeredet hast, warum sprichst du dann von Erfolg? Wo<br />
ist dein Verdienst? Worauf bist du stolz? Du hast richtig<br />
geraten, das ist alles.«<br />
»Und kennen Sie nicht das Vergnügen und den Triumph,<br />
richtig geraten zu haben? Dann tun Sie mir leid. Ich<br />
hatte Sie für klüger gehalten, denn verlassen Sie sich darauf,<br />
richtig zu raten ist niemals bloßes Glück. Eine gewisse<br />
Begabung gehört immer dazu, und was mein unglückliches<br />
Wort ›Erfolg‹ angeht, um das Sie sich zanken wollen, so<br />
glaube ich nicht, dass ich keinerlei Anspruch darauf habe.<br />
Sie haben zwei hübsche Standpunkte formuliert, aber ich<br />
finde, es gibt noch einen dritten, eine Möglichkeit zwischen<br />
Nichtstun und Allestun. Wenn ich Mr. Westons Besuche<br />
bei uns nicht ermutigt und hier und da ein bisschen nachgeholfen<br />
und allerlei Unebenheiten geglättet hätte, wäre<br />
aus allem vielleicht gar nichts geworden. Sie kennen ja<br />
Hartfield gut genug, um zu wissen, was ich meine.«<br />
»Ein aufrichtiger und offener Mann wie Mr. Weston<br />
und eine vernünftige und unaffektierte Frau wie Miss Taylor<br />
kann man getrost sich selbst überlassen. Wahrscheinlich<br />
hast du mit deinem Eingreifen eher dir selbst geschadet<br />
als ihnen genützt.«<br />
»Emma denkt nie an sich selbst, wenn sie anderen helfen<br />
kann«, mischte sich Mr. Woodhouse wieder ein, der<br />
nur die Hälfte verstand. »Aber, Kind, tu mir den Gefallen,<br />
schmiede keine Heiratspläne mehr. Ehen sind Unsinn. Es<br />
ist traurig, wie sie die häusliche Gemütlichkeit zerstören.«<br />
»Nur eine Ehe noch, Papa, nur Mr. Eltons. Der arme<br />
Mr. Elton! Du magst ihn gern, Papa. Ich muss mich nach<br />
einer Frau für ihn umsehen. In Highbury gibt es niemand,
der ihn verdient. Er ist nun schon ein ganzes Jahr hier und<br />
hat sein Haus so gemütlich eingerichtet, dass es ein Jammer<br />
wäre, wenn er nicht bald heiratete. Und als er heute<br />
die Hände des Brautpaars zusammentat, sah er aus, als ließe<br />
er sich diesen freundlichen Dienst auch nicht ungern<br />
gefallen.«<br />
»Mr. Elton ist ein adretter junger Mann, ohne Frage,<br />
und ein ausgezeichneter junger Mann, und ich mag ihn<br />
wirklich gern. Aber wenn du ihm einen Gefallen tun<br />
willst, mein Kind, lade ihn eines Tages zum Essen bei uns<br />
ein. Das scheint mir sinnvoller. Mr. Knightley ist sicher so<br />
freundlich, auch zu kommen.«<br />
»Mit dem größten Vergnügen, Sir, jederzeit«, sagte<br />
Mr. Knightley lachend, »und ich bin völlig Ihrer Meinung,<br />
dass es viel sinnvoller wäre. Lade ihn zum Essen ein,<br />
Emma, setz ihm einen schönen Braten vor, aber um eine<br />
Frau lass ihn sich selber kümmern. Verlass dich darauf, ein<br />
Mann von sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren<br />
kann für sich selber sorgen.«<br />
Kapitel 2<br />
Mr. Weston stammte aus einer angesehenen Familie in<br />
Highbury, die seit zwei oder drei Generationen immer<br />
mehr zu Ansehen und Wohlstand gelangt war. Er hatte<br />
eine gute Erziehung erhalten, aber da er schon früh zu finanzieller<br />
Unabhängigkeit gekommen war, hatte er sich<br />
für die solide berufliche Laufbahn seiner Brüder nicht<br />
interessiert und seinen lebendigen, aufgeschlossenen Geist<br />
und sein Bedürfnis nach Geselligkeit dadurch befriedigt,<br />
dass er Offizier geworden war.
Nachwort<br />
»The balance of her gifts was singularly perfect.«<br />
Virginia Woolf über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
1<br />
»Emma. Ein Roman. In drei Bänden. Von der Autorin von Pride<br />
and Prejudice etc. etc.« erschien – mit dem Druckdatum 1816 –<br />
im Dezember 1815 und bildet in jeder Hinsicht den Höhepunkt<br />
von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s (1775–1817) Karriere. Schon der Name des<br />
Verlegers deutet darauf hin, denn John Murray, der zusammen<br />
mit den Rechten an Emma auch die der Neuauflagen der schon<br />
erschienenen Werke der Schriftstellerin erwarb, war der berühmteste<br />
Londoner Verleger seiner Zeit und betreute solche literarischen<br />
Zelebritäten wie Lord Byron und Walter Scott. Wenn man<br />
sich erinnert, dass <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> 1803 ihr erstes Romanmanuskript,<br />
das spätere Northanger Abbey, für zehn Pfund an den<br />
Verleger Crosby verkaufte, ohne dass dieser es je veröffentlichte,<br />
und sie es 1816 zum selben Preis wieder zurückerwarb, dann wird<br />
der literarische Aufstieg der Autorin deutlich, deren Bücher von<br />
nun an bei Murray erschienen.<br />
Emma verschaffte <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> allerdings auch außerhalb der<br />
literarischen Welt ein Ansehen, wie sie es vorher nicht gekannt<br />
hatte: Der Prinzregent, der spätere König Georg IV., lud sie für<br />
den 13. November 1815 zu einer Besichtigung der Bibliothek seiner<br />
Londoner Residenz Carlton House ein und ließ ihr durch seinen<br />
Bibliothekar ausrichten, dass ihm eine Widmung ihres<br />
nächsten Romans willkommen sein würde. So erschien Emma<br />
einen Monat später mit einer Widmung an den Regenten »von<br />
seiner königlichen Hoheit pflichtbewusster und gehorsamer, untertäniger<br />
Dienerin«, und die Autorin ließ drei Tage vor dem eigentlichen<br />
Erscheinungstermin ein in rotes Leder gebundenes<br />
Exemplar nach Carlton House schicken.<br />
Aber sie erhielt nicht nur ein solches Zeichen königlicher<br />
Huld; auch die angesehenste Autorität des Landes im Hinblick<br />
auf den Roman richtete ihre Aufmerksamkeit wohlwollend auf<br />
sie. Im März 1816 erschien in der Quarterly Review, die aller-
dings wiederum der Verleger Murray herausgab, ein anonymer<br />
Artikel von Walter Scott, der sich mit Emma beschäftigte und mit<br />
seinem Umfang von über zehn Seiten als Kritik eines einzelnen<br />
Romans ungewöhnlich lang war, denn dieser eher als minderwertig<br />
geltenden literarischen Gattung – Scott selbst hob durch seine<br />
Werke ihr Ansehen beträchtlich – wurden im Allgemeinen nur<br />
kurze, halbseitige Rezensionen zugebilligt. Der schottische Romancier<br />
erkannte das im literarischen Kontext der Zeit Charakteristische<br />
und Neue an <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Romanen außerordentlich<br />
klar. Er schreibt:<br />
»<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Werke gehören zu einem Typ von Roman, der beinahe<br />
erst in unserer eigenen Zeit entstanden ist und der die darin vorkommenden<br />
Charaktere und Ereignisse in stärkerem Maße dem alltäglichen<br />
Leben entnimmt, als die Regeln des Romans das bisher gestatteten.<br />
[…] Wir machen der Autorin deshalb kein kleines Kompliment,<br />
wenn wir sagen: Indem sie sich eng an alltägliche Ereignisse und an<br />
Charaktere hält, die ein Durchschnittsleben führen [occupy the ordinary<br />
walks of life], hat sie Skizzen von solcher Lebendigkeit und Originalität<br />
geschaffen, dass wir auf den Reiz gar nicht angewiesen sind,<br />
den uns eine Erzählung voller außergewöhnlicher Ereignisse verschafft,<br />
indem sie uns die Begegnung mit Menschen vermittelt, die<br />
uns an Geist, Gefühl und Lebensart weit überlegen sind. Diesen neuen<br />
Typ vertritt sie nahezu allein. [Es folgt die Inhaltsangabe.] Das ist<br />
die einfache Handlung der Geschichte, die wir mit Vergnügen, wenn<br />
nicht mit tieferer Anteilnahme durchlesen und die wir vielleicht lieber<br />
wieder in die Hand nehmen als eine der Erzählungen, wo wir<br />
beim ersten Lesen durch starke Neugier aufgeregt und gefesselt werden.<br />
[…] Die Weltkenntnis der Autorin und der bemerkenswerte<br />
Takt, mit dem sie die Charaktere darstellt, die der Leser nicht umhinkann,<br />
wiederzuerkennen, erinnert uns an die malerischen Verdienste<br />
der holländischen Schule. Die Schilderungen sind nicht vornehm und<br />
gewiss niemals grandios, aber sie sind vollkommen lebensgetreu und<br />
mit einer Genauigkeit gezeichnet, die den Leser entzückt.«<br />
Das war zweifellos der Beginn des Ruhms, der großen öffentlichen<br />
und literarischen Anerkennung, und keiner konnte ahnen,<br />
dass Emma <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s letzter zu Lebzeiten erscheinender Roman<br />
bleiben, dass sie gut ein Jahr später sterben würde. Selten<br />
hat der Tod ein Künstlerleben zu einem unglücklicheren Zeitpunkt<br />
beendet.<br />
Die spätere Kritik hat Scotts Eindruck bestätigt, dass Emma
eine der größten, wenn nicht die größte Leistung <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s,<br />
ihre komplexeste Schöpfung ist: »Das Buch der Bücher […]<br />
Emma ist der Gipfel von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Werk; die richtige Würdigung<br />
von Emma ist die entscheidende Prüfung für die Anerkennung<br />
als Bürger in ihrem Königreich« (R. Farrer, 1917); »<strong>Jane</strong><br />
<strong>Austen</strong>s tiefsinnigste Komödie« (D. Cecil, 1935); »Emma bildet<br />
den Höhepunkt ihrer literarischen Leistungen. […] Hier ist ihr<br />
Können am größten, ihre Beherrschung der Materie am sichersten«<br />
(M. Shorer, 1959); »Gerade in Emma, wo die Chancen zum<br />
Scheitern aus technischen Gründen besonders groß sind, haben<br />
wir es mit einem der unbezweifelbaren Meister der Erzählkunst<br />
zu tun« (W. Booth, 1961); »ihr vollkommenstes und repräsentativstes<br />
Werk« (D. Lodge, 1968).<br />
So wie Pride and Prejudice den Höhepunkt von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />
früher literarischer Entwicklung darstellt, bildet Emma den Gipfel<br />
ihrer reifen Zeit. Der nur dreijährige Abstand bei der Veröffentlichung<br />
beider Werke täuscht darüber hinweg, denn ihrer<br />
Entstehungszeit nach zerfallen die sechs vollendeten Romane<br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s in zwei Gruppen: Sense and Sensibility, Pride and<br />
Prejudice und Northanger Abbey sind eigentlich Jugendwerke.<br />
Auch wenn sie 15 bis 20 Jahre später und zum Teil erheblich umgearbeitet<br />
erschienen, wurden sie doch in den neunziger Jahren<br />
des 18. Jahrhunderts entworfen und zum Teil auch ausgeführt.<br />
Dann folgten Fragmente, die nie vollendet wurden (Lady Susan,<br />
The Watsons), und dann die drei späten Romane: Mansfield Park,<br />
im Wesentlichen 1813 geschrieben, erschien 1814; Emma, 1814<br />
geschaffen, kam 1815 heraus; und Persuasion (Entstehungszeit<br />
1815/16) wurde 1818, also nach dem Tod der Autorin publiziert.<br />
2<br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s früher Tod und das Erscheinen aller ihrer Romane<br />
innerhalb eines Zeitraums von nur sieben Jahren verführen dazu,<br />
die Unterschiede zwischen den früh konzipierten Werken und<br />
den späteren Romanen zu übersehen. Wenn man aber etwa<br />
Emma neben Pride and Prejudice hält, sind durchaus Entwicklungen<br />
zu erkennen. Eine recht oberflächliche besteht schon darin,<br />
dass sich die Einstellung der Autorin zu ihrer Heldin – im Zentrum<br />
aller Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s steht eine Heldin, aus deren
Kapitel 1<br />
Vor ungefähr dreißig Jahren hatte Miss Maria Ward aus<br />
Huntingdon mit nur 7000 Pfund Vermögen das große<br />
Glück, Sir Thomas Bertram von Mansfield Park in der<br />
Grafschaft Northampton zu erobern und dadurch mit all<br />
den Annehmlichkeiten und gesellschaftlichen Vorteilen eines<br />
stattlichen Hauses und eines ansehnlichen Einkommens<br />
in den Rang einer Baronin aufzusteigen. Ganz Huntingdon<br />
wusste sich über diese großartige Partie nicht zu<br />
lassen, und sogar ihr eigener Onkel, der Rechtsanwalt, gab<br />
zu, dass ihr mindestens 3000 Pfund fehlten, um solche Ansprüche<br />
stellen zu können. Sie hatte zwei Schwestern, denen<br />
diese Standeserhöhung nur zugutekommen konnte,<br />
und alle die Bekannten, die Miss Ward und Miss Frances<br />
für mindestens so hübsch wie Miss Maria 1 hielten, scheuten<br />
sich nicht, ihnen eine beinahe ebenso vorteilhafte Heirat<br />
vorauszusagen. Aber natürlich gibt es auf der Welt<br />
nicht so viele Männer mit ansehnlichem Vermögen, wie es<br />
hübsche Frauen gibt, die sie verdienen. Miss Ward sah sich<br />
deshalb nach einem halben Dutzend Jahren genötigt, sich<br />
mit dem Pastor Mr. Norris zu verbinden, einem Freund ihres<br />
Schwagers, fast ohne eigenes Vermögen, und Miss<br />
Frances erging es noch schlechter. Ja, Miss Wards Verbindung<br />
erwies sich, als es soweit war, als durchaus nicht zu<br />
verachten, da Sir Thomas zum Glück imstande war, seinen<br />
Freund durch die Pfarre von Mansfield mit einem Einkommen<br />
zu versorgen, und so begannen Mr. und Mrs. Norris
den Werdegang ihres ehelichen Glücks mit kaum weniger<br />
als 1000 Pfund im Jahr. Aber Miss Frances enttäuschte<br />
durch ihre Heirat – wie man so schön sagt – die Erwartungen<br />
ihrer Familie, und sie tat das, indem sie einen Marineleutnant<br />
ohne Erziehung, Vermögen oder Verbindungen<br />
wählte, ausgesprochen gründlich. Sie hätte kaum eine unvorteilhaftere<br />
Wahl treffen können.<br />
Sir Thomas hatte Beziehungen, die er ebenso aus Prinzip<br />
wie aus Ehrgefühl, aus einem generellen Wunsch, das<br />
Rechte zu tun, und aus dem Bedürfnis, alle, die mit ihm<br />
verwandt waren, in angemessenen Positionen zu sehen,<br />
gerne zugunsten von Lady Bertrams Schwester hätte spielen<br />
lassen, aber bei dem Beruf ihres Mannes war mit seinen<br />
Beziehungen nichts zu erreichen; und bevor er Zeit<br />
hatte, sich andere Möglichkeiten der Unterstützung auszudenken,<br />
hatte ein endgültiges Zerwürfnis zwischen den<br />
Schwestern stattgefunden. Es ergab sich ganz zwangsläufig<br />
aus dem Verhalten beider Parteien und war bei einer so unklugen<br />
Heirat auch kaum anders zu erwarten. Um sich unnötige<br />
Vorwürfe zu ersparen, erwähnte Mrs. Price in den<br />
Briefen an ihre Familie das Thema nie, bevor die Heirat<br />
tatsächlich stattgefunden hatte. Lady Bertram, die eine<br />
Frau von ausgesprochen friedfertigem Naturell und bemerkenswert<br />
ausgeglichenem Temperament war, hätte sich damit<br />
begnügt, ihre Schwester einfach aufzugeben und nicht<br />
weiter an die Sache zu denken; aber Mrs. Norris hatte viel<br />
Unternehmungsgeist, der ihr keine Ruhe ließ, bis sie<br />
Frances einen langen und empörten Brief geschrieben hatte,<br />
um ihr die Torheit ihres Schrittes vor Augen zu führen<br />
und ihr alle seine möglichen üblen Folgen anzudrohen.<br />
Mrs. Price ihrerseits war gekränkt und empört; und ihre<br />
Antwort, die beide Schwestern mit Vorwürfen bedachte<br />
und so ausgesprochen abfällige Bemerkungen über Sir
Thomas’ Ehrgefühl enthielt, dass Mrs. Norris sie auf keinen<br />
Fall für sich behalten konnte, machte allem Umgang<br />
zwischen ihnen auf Jahre hinaus ein Ende.<br />
Sie wohnten so weit auseinander und bewegten sich in<br />
so verschiedenen Kreisen, dass während der folgenden elf<br />
Jahre jede Möglichkeit, voneinander zu hören, beinahe<br />
ausgeschlossen war oder es jedenfalls Sir Thomas als ein<br />
Wunder erscheinen ließ, dass Mrs. Norris überhaupt imstande<br />
war, ihnen von Zeit zu Zeit mit empörter Stimme<br />
zu erzählen, dass Frances schon wieder ein Kind bekommen<br />
habe. Nach Ablauf von elf Jahren allerdings konnte<br />
Mrs. Price es sich nicht länger leisten, sich Stolz oder Gekränktheit<br />
hinzugeben oder auf eine Verbindung zu verzichten,<br />
von der sie womöglich Hilfe zu erwarten hatte.<br />
Eine große und immer noch wachsende Familie, ein Ehemann,<br />
untauglich zu aktivem Dienst, aber Gesellschaft und<br />
teurem Alkohol durchaus nicht abgeneigt, und ein zu geringes<br />
Einkommen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen,<br />
ließen es ihr geraten erscheinen, die Freunde wiederzugewinnen,<br />
die sie so unbekümmert geopfert hatte, und sie<br />
wandte sich in einem Brief an Lady Bertram, aus dem so<br />
viel Zerknirschung und Verzweiflung sprach, ein solcher<br />
Überfluss an Kindern und ein solcher Mangel an fast allem<br />
anderen, dass eine Versöhnung ihnen allen unerlässlich erschien.<br />
Ihr neuntes Kindbett stand bevor, und als sie darüber<br />
gejammert und sie um ihre Unterstützung bei der Erziehung<br />
des erwarteten Kindes gebeten hatte, ließ sie<br />
durchblicken, wie unentbehrlich sie ihr in Zukunft beim<br />
Unterhalt ihrer acht schon vorhandenen Kinder waren. Ihr<br />
Ältester war ein Junge von zehn Jahren, ein vielversprechender,<br />
lebhafter Bursche, der unbedingt in die Welt hinaus<br />
wollte – aber was konnte sie tun? Bestand die Möglichkeit,<br />
dass er sich Sir Thomas bei der Verwaltung seiner
Besitzungen in der Karibik nützlich machen konnte? Er<br />
wäre sich für keine Arbeit zu schade? Oder was hielt Sir<br />
Thomas von Woolwich 2 ? Oder wie fing man es an, einen<br />
Jungen in den Orient zu schicken?<br />
Der Brief verfehlte seine Wirkung nicht. Er stellte Frieden<br />
und Einvernehmen wieder her. Sir Thomas sandte gutgemeinte<br />
Ratschläge und Versicherungen, Lady Bertram<br />
schickte Geld und Babywäsche, und Mrs. Norris schrieb die<br />
Briefe.<br />
Darin bestand der unmittelbare Erfolg, und innerhalb<br />
eines Jahres ergab sich daraus ein noch wesentlicherer Vorteil<br />
für Mrs. Price. Mrs. Norris bemerkte oft zu den anderen,<br />
dass ihr ihre arme Schwester und deren Familie nicht<br />
aus dem Kopf ging; soviel sie alle auch für sie getan hatten,<br />
sie wollte anscheinend noch mehr tun; und zu guter Letzt<br />
konnte sie nicht umhin, offen zuzugeben, dass es ihr<br />
Wunsch war, die arme Mrs. Price von der Verantwortung<br />
und den Kosten für eins aus der großen Schar ihrer Kinder<br />
gänzlich zu befreien. Wie nun, wenn sie gemeinsam die<br />
Sorge für die Erziehung ihrer ältesten Tochter übernähmen,<br />
eines Mädchens von jetzt neun Jahren, einem Alter<br />
also, in dem sie mehr Aufmerksamkeit erfordere, als ihre<br />
Mutter ihr auch beim besten Willen geben könne? Die<br />
Mühe und die Kosten für sie fielen im Verhältnis zu der<br />
dadurch bewirkten Wohltat gar nicht ins Gewicht. Lady<br />
Bertram stimmte ihr auf der Stelle zu: »Ich finde, wir können<br />
nichts Besseres tun«, sagte sie. »Wir wollen das Kind<br />
holen lassen.«<br />
Sir Thomas konnte seine Zustimmung nicht so spontan<br />
und ohne weiteres geben. Er widersprach und zögerte. Es<br />
sei eine schwere Verantwortung; wenn man ein Mädchen<br />
aufziehe, müsse man auch später angemessen für sie sorgen,<br />
sonst wäre es Grausamkeit und nicht Freundlichkeit,
sie ihrer Familie wegzunehmen. Er denke an seine eigenen<br />
vier Kinder, an seine beiden Söhne, an verliebte Vettern<br />
usw. Aber kaum hatte er begonnen, seine Einwände im<br />
Einzelnen vorzutragen, da unterbrach ihn Mrs. Norris mit<br />
einer Antwort, die alle seine Argumente widerlegte – unabhängig<br />
davon, ob er sie vorgetragen hatte oder nicht.<br />
»Mein lieber Sir Thomas, ich verstehe Sie vollkommen<br />
und ehre die Großzügigkeit und das Zartgefühl ihrer Empfindungen,<br />
die ja auch ganz Ihren sonstigen Einstellungen<br />
entsprechen, und ich stimme in der Hauptsache völlig mit<br />
Ihnen überein, dass es nämlich angebracht ist, alles zu tun,<br />
was man kann, um für ein Kind zu sorgen, für das man auf<br />
diese Weise die Verantwortung übernommen hat, und ich<br />
bin gewiss die Letzte, die bei solcher Gelegenheit nicht ihr<br />
Scherflein beisteuern würde. Da ich selbst keine Kinder<br />
habe, wem soll ich denn das Bisschen hinterlassen, das ich<br />
eines Tages zu vererben habe, wenn nicht den Kindern<br />
meiner Schwestern? Und Mr. Norris ist bestimmt zu großzügig<br />
… aber Sie wissen ja, ich bin eine Frau, die nicht<br />
gern große Worte und Bekenntnisse macht. Wir wollen<br />
uns nicht durch eine Kleinigkeit von einer guten Sache abschrecken<br />
lassen. Geben Sie einem Mädchen eine Erziehung<br />
und führen Sie sie richtig in die Gesellschaft ein, und<br />
ich wette zehn zu eins, dass sie die besten Voraussetzungen<br />
hat, sich gut zu verheiraten, ohne irgendjemandem weitere<br />
Ausgaben zu machen. Eine Nichte von uns, Sir Thomas,<br />
das darf ich wohl sagen, oder wenigstens von Ihnen, würde<br />
nicht ohne wesentliche Vorteile in unserer Gegend aufwachsen<br />
… Ich behaupte ja nicht, dass sie so vollkommen<br />
würde wie ihre Kusinen. Das will ich denn doch nicht behaupten,<br />
aber sie würde unter so ungewöhnlich günstigen<br />
Umständen in das gesellschaftliche Leben unserer Nachbarschaft<br />
eingeführt, dass sie nach menschlichem Ermessen
dadurch eine passende Verbindung finden müsste. Sie denken<br />
an Ihre Söhne … aber wissen Sie denn nicht, dass das<br />
von allen Möglichkeiten die unwahrscheinlichste ist – so<br />
wie sie aufwachsen würden, immer zusammen wie Geschwister?<br />
Es ist nahezu ausgeschlossen. So etwas habe ich<br />
noch nie gehört. Ja, es ist die einzig sichere Methode, die<br />
Verbindung zu verhindern. Angenommen, sie ist ein hübsches<br />
Mädchen, und Tom oder Edmund würden sie in sieben<br />
Jahren zum ersten Mal sehen, dann gäbe es bestimmt<br />
Ärger. Der bloße Gedanke, dass sie so weit entfernt von<br />
uns allen arm und vernachlässigt aufwachsen musste, würde<br />
schon genügen, um einen der beiden lieben, zartfühlenden<br />
Jungen für sie entflammen zu lassen. Aber sorgen Sie<br />
dafür, dass sie mit ihnen gemeinsam aufwächst, und angenommen<br />
sogar, sie ist schön wie ein Engel, dann wird sie<br />
ihnen niemals mehr sein als eine Schwester.«<br />
»Es steckt viel Wahrheit in dem, was Sie sagen«, erwiderte<br />
Sir Thomas, »und es liegt mir denkbar fern, gegen einen<br />
Plan, der den Lebensumständen beider Parteien so entspräche,<br />
irgendwelche weit hergeholten Einwände zu erheben.<br />
Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man sich nicht<br />
leichtfertig darauf einlassen sollte und wir, wenn Mrs. Price<br />
es später nicht bereuen und wir uns vor uns selbst nicht<br />
schämen sollen, für das Kind sorgen oder uns für verpflichtet<br />
halten müssen, für sie unter Umständen wie für eine<br />
junge Dame von Stand zu sorgen, wenn sich die Heirat, auf<br />
die Sie so optimistisch vertrauen, nicht anbietet.«<br />
»Ich verstehe Sie voll und ganz«, rief Mrs. Norris, »Sie<br />
sind die Großzügigkeit und Güte selbst, und in diesem<br />
Punkt wird es zwischen uns bestimmt keine Meinungsverschiedenheiten<br />
geben. Wenn ich denen, die ich liebe, etwas<br />
Gutes tun kann, tue ich es von Herzen; das wissen Sie ja;<br />
und obwohl ich für dieses kleine Mädchen nie auch nur ei-
nen Bruchteil dessen empfinden könnte, was ich an Zuneigung<br />
für Ihre eigenen lieben Kinder aufbringe, oder sie<br />
ebenso wie sie für mein eigen Fleisch und Blut halten<br />
könnte, würde ich es mir doch nie verzeihen, wenn ich imstande<br />
wäre, sie zu vernachlässigen. Schließlich ist sie eine<br />
Tochter meiner Schwester, und wie könnte ich es mit ansehen,<br />
dass sie Mangel leidet, solange ich noch ein Stück Brot<br />
mit ihr teilen kann? Mein lieber Sir Thomas, bei all meinen<br />
Fehlern habe ich doch ein empfindsames Herz; und arm<br />
wie ich bin, würde ich mir lieber das Nötigste vom Munde<br />
absparen, als selbstsüchtig zu handeln. Wenn Sie also<br />
nichts dagegen haben, schreibe ich gleich morgen an meine<br />
arme Schwester und mache ihr den Vorschlag, und sobald<br />
die Angelegenheit geregelt ist, sorge ich dafür, dass das<br />
Kind nach Mansfield kommt; Sie brauchen sich damit keine<br />
Mühe zu machen, und meine eigene Mühe fällt ja niemals<br />
ins Gewicht. Ich werde Nanny deswegen nach London<br />
schicken, und sie kann bei ihrem Vetter, dem Sattler, übernachten,<br />
und das Kind soll beauftragt werden, sie dort zu<br />
treffen. Von Portsmouth nach London kann man es unter<br />
der Obhut irgendeiner verlässlichen Person, die zufällig<br />
auch dorthin fährt, ohne weiteres mit der Postkutsche schicken.<br />
Die eine oder andere achtbare Kaufmannsfrau fährt<br />
immer nach London.«<br />
Außer gegen den Überfall auf Nannys Vetter erhob Sir<br />
Thomas keine weiteren Einwände; und als man sich dementsprechend<br />
für einen respektableren, wenn auch weniger<br />
preisgünstigen Treffpunkt entschieden hatte, galt die Sache<br />
als abgemacht, und man gab sich schon der Vorfreude über<br />
einen so menschenfreundlichen Plan hin. Strenggenommen<br />
hätten die Gefühle der Genugtuung nicht gleich verteilt<br />
sein dürfen, denn Sir Thomas war fest entschlossen,<br />
der eigentliche und ständige Wohltäter des erwählten Kin-
des zu sein, und Mrs. Norris hatte nicht die geringste Absicht,<br />
sich für seinen Unterhalt auch nur im mindesten in<br />
Unkosten zu stürzen. Solange es ans Planen, Mahnen und<br />
Organisieren ging, war sie die Menschenfreundlichkeit<br />
selbst, und niemand wusste besser, wie man andere zu Freigebigkeit<br />
zwingen konnte; aber ihre Liebe zum Geld hielt<br />
ihrer Liebe zum Kommandieren durchaus die Waage, und<br />
sie verstand es ganz genauso gut, ihr eigenes zu sparen, wie<br />
das ihrer Freunde auszugeben. Da das Einkommen ihres<br />
Mannes eigentlich ihren Erwartungen nicht entsprach, hatte<br />
sie von Anfang an eine sehr strikte Sparsamkeit für<br />
angebracht gehalten, und was als Vorsichtsmaßnahme begonnen<br />
hatte, entwickelte sich, obwohl die Kinder als Begründung<br />
der ständigen Sorge fehlten, bald zu einer lieben<br />
Gewohnheit. Hätte sie eine Familie zu versorgen gehabt,<br />
hätte Mrs. Norris ihr Geld vielleicht nie gespart; da sie<br />
Sorgen dieser Art aber nicht hatte, gab es nichts, was ihre<br />
Sparsamkeit gebremst oder ihr die angenehme Aussicht<br />
gemindert hätte, ihr Einkommen, das sie ohnehin nie aufbrauchte,<br />
jedes Jahr weiter zu vergrößern. Mit dieser herzerwärmenden<br />
Einstellung, die von keiner echten Zuneigung<br />
zu ihrer Schwester erschüttert wurde, konnte sie unmöglich<br />
mehr für sich in Anspruch nehmen als das Verdienst,<br />
eine so kostspielige gute Tat geplant und arrangiert zu haben,<br />
obwohl sie sich womöglich so wenig kannte, dass sie<br />
nach dieser Unterhaltung in dem beglückenden Glauben<br />
nach Hause ins Pfarrhaus zurückging, die großzügigste<br />
Schwester und Tante der Welt zu sein.<br />
Als das Thema zum zweiten Mal erörtert wurde, drückte<br />
sie ihre Ansichten deutlicher aus, und Sir Thomas hörte<br />
in Erwiderung auf Lady Bertrams ruhige Frage »Bei wem<br />
soll das Kind zuerst bleiben, Schwester, bei euch oder bei<br />
uns?« mit einiger Überraschung, dass Mrs. Norris völlig
außerstande sei, irgendwelche persönliche Verantwortung<br />
für den Schützling zu übernehmen. Er hatte immer angenommen,<br />
sie würde als Familienmitglied, als erwünschte<br />
Gefährtin einer Tante, die keine eigenen Kinder hatte, im<br />
Pfarrhaus besonders willkommen sein – aber da hatte er<br />
sich gründlich getäuscht. Mrs. Norris bedauerte sagen zu<br />
müssen, es sei völlig ausgeschlossen, dass das kleine Mädchen,<br />
jedenfalls so wie die Dinge augenblicklich lägen, zu<br />
ihnen komme. Der arme Mr. Norris und sein bedenklicher<br />
Gesundheitszustand machten es ganz unmöglich; eher<br />
könne er sich in die Luft erheben als Kinderlärm ertragen.<br />
Wenn er sich aber eines Tages von seiner Gicht erholt habe,<br />
lasse sich natürlich darüber reden. Dann werde sie sie gern<br />
eine Zeitlang übernehmen und die Mühe nicht scheuen;<br />
aber gerade jetzt, wo der arme Mr. Norris ihre ganze freie<br />
Zeit beanspruche … die bloße Erwähnung von so etwas<br />
würde für seine Nerven bestimmt zu viel sein.<br />
»Dann kommt sie wohl besser zu uns«, sagte Lady<br />
Bertram mit äußerster Gefasstheit. Sir Thomas fügte nach<br />
einer kurzen Pause würdevoll hinzu: »Ja, in diesem Haus<br />
soll sie ihre Heimat finden. Wir werden uns bemühen, unsere<br />
Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen; und hier hat sie wenigstens<br />
den Vorteil, gleichaltrige Gefährten und eine ständige<br />
Gouvernante zu haben.«<br />
»Ganz recht«, rief Mrs. Norris, »beides sind entscheidende<br />
Argumente, und für Miss Lee ist es doch schließlich<br />
ganz gleich, ob sie drei Mädchen zu unterrichten hat oder<br />
nur zwei – das spielt doch keine Rolle für sie. Ich wünschte<br />
nur, dass ich mich nützlicher machen könnte, aber ich tue<br />
wirklich alles, was in meiner Macht steht. Ich gehöre, weiß<br />
Gott, nicht zu denen, die irgendwelche Mühe scheuen, und<br />
Nanny soll sie abholen, auch wenn ich eigentlich meine einzige<br />
Stütze im Haus drei Tage gar nicht entbehren kann. Ich
nehme an, Schwester, du wirst das Kind in der kleinen weißen<br />
Bodenkammer unterbringen, dicht bei den alten Kinderzimmern.<br />
Das ist bei weitem der beste Platz für sie, so<br />
dicht bei Miss Lee und nicht weit von euren Töchtern und<br />
in der Nähe der Hausmädchen, die ihr ja beide beim Anziehen<br />
helfen und sich um ihre Kleidung kümmern können,<br />
denn ich nehme nicht an, du hältst es für angebracht, dass<br />
Ellis sie ebenso wie eure Mädchen bedient. Ja, ich wüsste<br />
wirklich gar nicht, wo du sie sonst unterbringen könntest.«<br />
Lady Bertram erhob keine Einwände.<br />
»Ich hoffe, sie erweist sich als gutmütig veranlagtes<br />
Mädchen«, fuhr Mrs. Norris fort, »und weiß das ungewöhnliche<br />
Glück zu schätzen, dass sie solche Freunde hat.«<br />
»Sollte sie wirklich eine schlechte Veranlagung haben«,<br />
sagte Sir Thomas, »dann dürfen wir sie um unserer eigenen<br />
Kinder willen nicht in der Familie behalten; aber es<br />
gibt keinen Grund, ein so großes Übel zu befürchten. Wir<br />
werden sicher vieles an ihr ändern wollen und müssen auf<br />
haarsträubende Unbedarftheit, recht einfältige Ansichten<br />
und eine bestürzende Gewöhnlichkeit ihrer Umgangsformen<br />
gefasst sein; aber das sind keine unkorrigierbaren Fehler,<br />
und auch für ihre Gefährtinnen sind sie bestimmt keine<br />
Gefahr. Wären meine Töchter jünger als sie, dann hätte ich<br />
ihren Umgang mit einer solchen Hausgenossin als sehr bedenklich<br />
angesehen, aber wie die Dinge liegen, hoffe ich,<br />
gibt es von dem Umgang für sie nichts zu befürchten und<br />
für das Kind alles zu hoffen.«<br />
»Da bin ich völlig Ihrer Meinung«, rief Mrs. Norris,<br />
»und das habe ich meinem Mann heute Vormittag auch gesagt.<br />
›Schon das bloße Zusammensein mit ihren Kusinen‹,<br />
hab’ ich gesagt, ›wird eine gute Schule für das Kind sein;<br />
wenn Miss Lee ihr nichts beibrächte, würde sie von ihnen<br />
lernen, gut und geschickt zu sein‹.«
»Ich hoffe nur, dass sie meinen armen Mops nicht ärgert«,<br />
sagte Lady Bertram, »ich habe Julia gerade erst soweit,<br />
dass sie ihn in Ruhe lässt.«<br />
»Wir werden im Hinblick auf den angemessenen Standesunterschied,<br />
den man zwischen den Mädchen machen<br />
muss, wenn sie zusammen aufwachsen, mit einigen<br />
Schwierigkeiten rechnen müssen, Mrs. Norris«, sagte Sir<br />
Thomas, »wie man bei meinen Töchtern das Bewusstsein,<br />
wer sie sind, erhalten kann, ohne dass sie deshalb zu gering<br />
von ihrer Kusine denken, und wie man diese, ohne sie<br />
zu sehr zu entmutigen, daran erinnert, dass sie keine Miss<br />
Bertram ist. Ich sähe es gern, wenn sie gute Freundinnen<br />
würden, und möchte meinen Mädchen auf keinen Fall erlauben,<br />
ihrer Verwandten gegenüber auch nur den geringsten<br />
Hochmut zu zeigen; und doch können sie nicht<br />
ebenbürtig sein. Ihr Rang, Vermögen, ihre Rechte und Erwartungen<br />
werden immer verschieden sein. Es ist ein äußerst<br />
heikler Punkt, und Sie müssen uns bei unseren Versuchen<br />
unterstützen, genau den richtigen Umgangston zu<br />
finden.«<br />
Mrs. Norris war ihm gern zu Diensten, und obwohl sie<br />
völlig mit ihm einer Meinung war, dass es sich dabei<br />
um eine äußerst delikate Sache handle, bestärkte sie seine<br />
Hoffnung, dass man es gemeinsam schon schaffen<br />
werde.<br />
Man kann sich leicht vorstellen, dass Mrs. Norris nicht<br />
vergeblich an ihre Schwester schrieb. Mrs. Price schien<br />
eher überrascht, dass man sich auf ein Mädchen geeinigt<br />
hatte, wo sie doch so viele vielversprechende Jungen hatte,<br />
aber sie nahm das Angebot äußerst dankbar an, versicherte<br />
ihnen, dass ihre Tochter ein sehr gutmütig veranlagtes,<br />
umgängliches Mädchen sei, und war überzeugt, dass sie<br />
keinen Anlass haben würden, sie zurückzuschicken. Sie
eschrieb sie dann als ein bisschen empfindlich und zart,<br />
war aber zuversichtlich, dass ihr die Luftveränderung entschieden<br />
guttun würde. Die arme Frau! Sie dachte wahrscheinlich,<br />
dass Luftveränderung vielen ihrer Kinder guttun<br />
würde.<br />
Kapitel 2<br />
Das kleine Mädchen überstand die Reise wohlbehalten und<br />
wurde in Northampton von Mrs. Norris abgeholt, die sich<br />
in dem Verdienst, sie als Erste willkommen zu heißen, und<br />
in der Würde sonnte, sie den anderen zuzuführen und ihrer<br />
Güte zu empfehlen.<br />
Fanny Price war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt,<br />
und obwohl es auf den ersten Blick nichts an ihr gab, was<br />
besonders einnehmend war, so gab es andererseits doch<br />
auch nichts, was den Widerwillen ihrer Verwandten erregte.<br />
Sie war klein für ihr Alter, ohne leuchtenden Teint oder<br />
sonst wie auffallende Schönheit, übermäßig ängstlich und<br />
schüchtern und darauf bedacht, sich jeder Aufmerksamkeit<br />
zu entziehen; und obwohl unbeholfen, hatte ihre Erscheinung<br />
doch nichts Gewöhnliches; ihre Stimme war lieblich,<br />
und wenn sie sprach, war ihr Gesichtsausdruck hübsch. Sir<br />
Thomas und Lady Bertram empfingen sie sehr freundlich,<br />
und da Sir Thomas sah, wie sehr sie Ermutigung nötig hatte,<br />
versuchte er ganz besonders entgegenkommend zu sein,<br />
aber dabei war ihm sein äußerst würdevolles Benehmen im<br />
Wege, so dass Lady Bertram, ohne sich halb soviel Mühe<br />
zu geben oder ein Wort zu sagen, wo er zehn sagte, nur mit<br />
Hilfe eines gutmütigen Lächelns sofort die weniger furchterregende<br />
Gestalt von beiden wurde.
Nachwort<br />
»She has given us a multitude of characters, all<br />
in a certain sense, common place, all such as we<br />
meet every day. Yet they are all as perfectly<br />
discriminated from each other as if they were<br />
the most eccentric of human beings.«<br />
Thomas Macauley (1800–59) über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />
1<br />
Mansfield Park ist der dritte der sechs Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />
(1775–1817), die von 1811 bis 1818, also innerhalb<br />
von nur sieben Jahren in London erschienen und, abgesehen<br />
von kurzen satirischen Jugenddichtungen und drei Romanfragmenten<br />
(Lady Susan, The Watsons, Sanditon), das<br />
gesamte Œuvre dieser Schriftstellerin ausmachen. Seinem<br />
geringen Umfang nach steht es in keinem Verhältnis zu<br />
seiner weltweiten Beliebtheit in der englischsprachigen<br />
Welt und zu der unendlich zahlreichen Sekundärliteratur,<br />
die darüber geschrieben wurde und wird. <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> bildet<br />
das Musterbeispiel eines Klassikertyps, wie er in der<br />
deutschen Literatur allzu selten ist, ja, wie ihn eigentlich<br />
nur Theodor Fontane darstellt: Sie befriedigt zugleich das<br />
elementare Lesevergnügen eines riesigen Publikums und<br />
die Forschungsbedürfnisse der Literaturwissenschaft. Die<br />
eine Seite wird repräsentiert durch J. B. Priestleys Beurteilung,<br />
<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> »hat wahrscheinlich mehr englischsprachigen<br />
Menschen Entzücken bereitet als irgendeine andere<br />
Frau, die je gelebt hat«, die andere durch den Vergleich mit<br />
Shakespeare, der öfter in den Studien über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>
auftaucht – zum ersten Mal übrigens bei dem oben zitierten<br />
Thomas Macauley in der Mitte des 19. Jahrhunderts.<br />
Innerhalb der sechs Romane stellen Mansfield Park und<br />
der darauf folgende, Emma (1815), insofern eine eigene<br />
Gruppe dar, als nur sie von der Autorin unmittelbar in<br />
Druck gegeben wurden, nachdem sie konzipiert und geschrieben<br />
waren. Die beiden früheren Werke (Sense and<br />
Sensibility, 1811, und Pride and Prejudice, 1813) sind umgearbeitete<br />
Jugendwerke, und die beiden folgenden (Persuasion<br />
und Northanger Abbey, 1818, letzteres ebenfalls eine<br />
Jugendarbeit) wurden nicht mehr von der Schriftstellerin<br />
selbst, die inzwischen gestorben war, sondern von ihrem<br />
Bruder herausgegeben. Mansfield Park und Emma bilden<br />
daher die eigentlichen Werke der Reifezeit <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s,<br />
und vielleicht ist schon ihr größerer Umfang ein Zeichen<br />
dafür, dass die etwa vierzigjährige Autorin sich bei ihnen<br />
ganz auf der Höhe ihres literarischen Könnens fühlte.<br />
Die erste Auflage von Mansfield Park, das 1814 anonym,<br />
aber mit dem Zusatz »von der Autorin von Sense<br />
and Sensibility und Pride and Prejudice« erschien, war, wie<br />
aus einem Brief <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s an ihre Lieblingsnichte Fanny<br />
Knight – die sich später aristokratisch verheiratete und<br />
in viktorianischer Engstirnigkeit auf ihre früher so geliebte<br />
Tante und deren Familie mit einer gewissen Geringschätzung<br />
zurückblickte – hervorgeht, schon im November desselben<br />
Jahres vergriffen. <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> freute sich darüber<br />
unter anderem deshalb, weil sie bei einer Neuauflage wieder<br />
Geld verdienen konnte. (»Ich bin schrecklich habgierig<br />
und möchte das meiste herausholen.«) Eine zweite Auflage<br />
wurde tatsächlich 1816 veranstaltet, und die Verfasserin<br />
nahm die Gelegenheit wahr, Druckfehler der ersten zu berichtigen<br />
und geringfügige Änderungen am Text anzubringen.<br />
(Die vorliegende Übersetzung folgt der Penguin-Aus-
gabe von Tony Tanner, die mit ganz wenigen Ausnahmen<br />
den Text dieser zweiten Auflage wiedergibt, nimmt allerdings<br />
eine Textkorrektur vor; vgl. Anm. 19.)<br />
Alle Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s haben die vielfältigsten<br />
Deutungen erfahren, alle sind vielfach miteinander verglichen<br />
und gegeneinander abgewogen worden, alle haben<br />
ihre leidenschaftlichen Anhänger und Kritiker, ja, für gewisse<br />
Experten und Leser ist die Welt geradezu in »Janites«<br />
und »Anti-Janites«, in <strong>Austen</strong>-Liebhaber und <strong>Austen</strong>-Gegner<br />
aufgeteilt. Mansfield Park hat dabei eher im Schatten<br />
des vorausgehenden und des nachfolgenden Werks gestanden.<br />
Dafür ist zu einem guten Teil die unscheinbare Heldin<br />
Fanny Price verantwortlich, die den Vergleich mit der<br />
geistreichen Elizabeth Bennet aus Pride and Prejudice und<br />
der naiv-raffinierten Emma Woodhouse aus Emma nicht<br />
aushält und öfter als bigott, rechthaberisch oder gar dünkelhaft<br />
empfunden worden ist. So bemerkte der amerikanische<br />
Literaturwissenschaftler Lionel Trilling 1954:<br />
»Niemandem, glaube ich, ist es je gelungen, die Heldin<br />
von Mansfield Park zu mögen.«<br />
Und 1957 schrieb der englische Romancier Kingsley<br />
Amis unter dem provozierenden Titel »Was ist aus <strong>Jane</strong><br />
<strong>Austen</strong> in Mansfield Park geworden?« eine Einleitung zu<br />
dem Buch, in der er nach mancherlei Lob das seiner Meinung<br />
nach konventionelle und langweilige Heldenpaar mit<br />
dem Satz charakterisierte:<br />
»Zu einer Abendeinladung an Mr. und Mrs. Edmund<br />
Bertram würde man sich wohl nur schweren Herzens entschließen.«<br />
Andererseits pries die englische Kritikerin Q. D. Leavis<br />
gerade Mansfield Park im selben Jahr mit folgenden Worten:
»In Technik, Thema, Prosastil und in der behutsamen<br />
Erforschung menschlicher Beziehungen deutet Mansfield<br />
Park auf George Eliot und Henry James voraus; Mansfield<br />
Park ist daher der erste moderne Roman Englands.« (Zu<br />
den drei Aufsätzen vgl. die Literaturhinweise: Southam.)<br />
An Esprit, Präzision der Figurencharakterisierung, Lebensechtheit<br />
der Situationen, Lebendigkeit des Dialogs und<br />
Geschick der Szenengestaltung steht Mansfield Park den anderen<br />
Romanen sicher nicht nach. Mrs. Norris etwa gebührt<br />
ein Ehrenplatz in <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Galerie der satirisch gezeichneten<br />
komischen Charaktere. Ist aber das Heldenpaar Fanny<br />
Price und Edmund Bertram misslungen? Zu ihrem Verständnis<br />
muss man sich die Thematik des Buches vergegenwärtigen.<br />
2<br />
Fanny ist nicht wie Elizabeth Bennet oder Emma Woodhouse<br />
die Tochter eines angesehenen Gentlemans, sie<br />
nimmt daher in der Gesellschaft auch nicht deren Rang<br />
ein, kann nicht deren Anspruch auf Selbstsicherheit erheben,<br />
sondern sie ist die im Haus ihres reichen Onkels<br />
aufwachsende arme, abhängige Verwandte, wie sie bis ins<br />
20. Jahrhundert, bis sich die rechtliche und gesellschaftliche<br />
Stellung der Frau so weit gebessert hatte, dass diese<br />
unabhängig leben oder sich ihren Lebensunterhalt selbst<br />
verdienen konnte, eine vertraute Erscheinung in vielen<br />
Familien war. Eine solche mittellose, aus Barmherzigkeit<br />
aufgenommene Nichte, deren Leben und Verhalten viele<br />
zeitgenössische Leser und Leserinnen <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s aus<br />
eigener Erfahrung bestens kannten, konnte keinerlei Ansprüche<br />
stellen und hatte sich immer bescheiden im Hintergrund<br />
zu halten. Wenn sie nicht schon von Natur
Erhältlich in allen bekannten<br />
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Kloster Northanger<br />
Stolz und Vorurteil<br />
Überredung<br />
Verstand und Gefühl<br />
Emma<br />
Mansfield Park