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Ausgabe 1995 - Hohenzollerischer Geschichtsverein

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Einschlag eines riesigen Gemeindewaldes, der unter Wert, allerdings<br />

immer noch mit Gewinn verkauft werden mußte.<br />

Vogtamtsverweser Burkhard war auch der Initiator verschiedener<br />

frühindustrieller Anschubmaßnahmen wie der<br />

Errichtung einer Webermusterwerkstätte 1856, wie sie damals<br />

auch in Grosselfingen oder Jungingen betrieben wurden,<br />

und einer mechanischen Werkstätte, die zu ersten industriellen<br />

Versuchen des Drehers Karl Leibold führte. Diese<br />

Maßnahmen führten zwar noch nicht zu einer eigenständigen<br />

Industrialisierung, trugen aber bereits zur Linderung der<br />

Armut auf dem Dorf bei.<br />

Ein ganz eigener und erfolgreicher Versuch zur Uberwindung<br />

der Armut war die Entstehung des saisonalen Wanderhandwerks,<br />

ebenfalls in den Jahren nach 1850. In zunehmendem<br />

Maße wandten sich junge Wilflinger Männer dem<br />

Maurer- und Gipserberuf zu, um in kleineren Gruppen oder<br />

Kolonnen nach auswärts auf Arbeitssuche zu gehen. Anlaufstellen<br />

waren zunächst die großen Bahnbaustellen in den 60er<br />

und 70er Jahren, später die Stadterweiterungsmaßnahmen<br />

zum Beispiel in Freiburg, wo jahrzehntelang um die Jahrhundertwende<br />

zahlreiche Wilflinger Bauhandwerker über<br />

den Sommer Arbeit fanden.<br />

Zwar argwöhnten schon im Jahr 1855 Vogt Burkhard und<br />

der damalige Pfarrverweser, daß das Umherziehen der dortigen<br />

arbeitsfähigen Bevölkerung den Sommer hindurch<br />

hauptsächlich zu ihrer sittlichen Verwilderung führe, doch<br />

nahm das Arbeiten auf der Walz unaufhaltsam zu. Um die<br />

Jahrhundertwende war eine große Anzahl der Waffenfähigen,<br />

ungefähr 65 Mann, in Württemberg und Baden, im<br />

Schwarzwald arbeiten. Das saisonale Wanderhandwerk in<br />

Wilflingen spielte für die wirtschaftliche Gesundung des<br />

Dorfes in etwa dieselbe Rolle wie gleichzeitig der Hausierhandel<br />

für die Killertalgemeinden.<br />

Als schließlich im Jahr 1899 die Industrie nach Wilflingen<br />

vordrang, war die Gemeinde, gestützt auf das Handwerk, eine<br />

erweiterte Gewerbestruktur, Nebenerwerbslandwirtschaft<br />

und Fabrikarbeit wirtschaftlich über dem Berg. Allerdings<br />

kam dieser erfolgreiche Industrialisierungsschub immer<br />

noch nicht aus eigener Kraft. Es war der Harmonikahersteller<br />

Andreas Koch in Trossingen, der in den Expansionsjahren<br />

um die Jahrhundertwende in Wilflingen wie in<br />

vielen Heuberggemeinden eine Filiale errichtete. Diese Filiale,<br />

im Volksmund die »Bläslefabrik«, gab jahrzehntelang<br />

zahlreichen Arbeiterinnen und Arbeitern in Wilflingen Lohn<br />

und Brot. 1930 wurde die Fa. Koch vom Konkurrenten Hohner<br />

übernommen, der die Wilflinger Filiale bis zur Schließung<br />

1987 fortführte.<br />

Eine wichtige Quelle für die Verhältnisse um die Jahrhundertwende<br />

ist die Chronik des gebürtigen Wilflingers Johann<br />

Muschal (1862-1934), der jahrzehntelang in Neufra Lehrer<br />

war, aber getreulich Buch geführt hat über die sozialen Veränderungen<br />

seiner Heimatgemeinde in jener Zeit. Ihm verdanken<br />

wir zahlreiche wertvolle Einblicke in Sitten und<br />

Brauchtum Wilflingens, aber auch in die Begleitphänomene<br />

des kulturellen Wandels, auch in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen<br />

um die Jahrhundertwende.<br />

Der Weg aus der wirtschaftlichen Misere in die Moderne war<br />

von heftigen sozialen Erschütterungen begleitet, die zur Spaltung<br />

der Bevölkerung in zwei Parteiungen führte, wie man<br />

dies in anderen Orten ähnlich findet. Diese Spaltung des Dorfes<br />

in die »Roten« und die »Schwarzen« offenbarte sich erstmals<br />

im Kulturkampf der Jahre 1874 bis 1884. Vordergründig<br />

wurde hier um die Einsetzung eines neuen Pfarrers unter<br />

Bismarcks Maigesetzen von 1873 gestritten, die dem Staat eine<br />

Mitwirkung bei Pfarreibesetzungen einräumte. Im Grunde<br />

ging es jedoch in diesem Kampf um die Zurückdrängung<br />

kirchlichen Einflusses auf die politischen Verhältnisse.<br />

Opfer dieses Streites in Wilflingen war der Pfarrer Josef Pfister,<br />

der hier tatsächlich nicht eingesetzt wurde. Ahnlich hohe<br />

Wellen schlug der Kulturkampf in Hohenzollern nur noch<br />

in Bärental und Hausen im Killertal.<br />

Erneut kam die Spaltung des Dorfes Wilflingen in den Jahren<br />

nach 1896 zum Ausdruck, als es um den Bau der Wasserleitung<br />

ging, der hier wie anderswo in Hohenzollern die<br />

Bevölkerung in eine Partei der Erneuerer und der Bewahrer<br />

schied. Die Kämpfe zwischen den »Roten« und den<br />

»Schwarzen« setzten sich fort anläßlich der Bürgermeisterwahlen<br />

von 1906 und 1913, wo es jeweils zu heftigen handgreiflichen<br />

Auseinandersetzungen mit gefährlicher Körperverletzung<br />

kam.<br />

Es ist kaum verwunderlich, daß sich die Kämpfe zwischen<br />

den »Roten« und »Schwarzen« damals auch im kulturellen<br />

Bereich niederschlugen. Der erst im Jahr 1906 gegründete<br />

Musikverein spaltete sich bald schon in den »Musikverein«<br />

und die »Musikkapelle«, die beide 1911 beim Preisspielen in<br />

Gammertingen einen ersten Preis errangen. Anders als bei der<br />

Musik, der im Ersten Weltkrieg die Vereinigung gelang, ist<br />

der damals existierende Gesangverein über dem Fahnenstreit<br />

zwischen »Roten« und »Schwarzen« zerbrochen.<br />

Um beim Vereinswesen zu bleiben, so ist zu erwähnen, daß<br />

es in Wilflingen früh schon vereinsähnliche Gruppierungen<br />

aller Art gab, daß aber die Vereinsbildung im rechtlichen Sinn<br />

sehr spät erfolgte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind Musikantengesellschaften<br />

in Wilflingen erwähnt, eine Vereinsgründung<br />

erfolgte jedoch erst 1906. Der älteste bekannte Verein<br />

Wilflingens war der Militärverein von 1867, der bis in den<br />

Zweiten Weltkrieg hinein bestand. Eine organisierte Fastnacht<br />

in Wilflingen ist schon zum Jahr 1845 als damals neuer<br />

Brauch belegt. Die Narrenzunft wurde jedoch erst 1930<br />

gegründet. Der Fußballverein VfR Wilflingen wurde ebenfalls<br />

1930 gegründet, der erfolgreiche Radfahrerverein »Alpenrose«<br />

geht ins Jahr 1925 zurück. Zu erwähnen ist noch<br />

der Kirchenchor, der schon einmal um die Jahrhundertwende<br />

existierte und 1988 neu gegründet wurde.<br />

Stationen des 20.<br />

Jahrhunderts<br />

Eine herausragende Persönlichkeit der Wilflinger Geschichte<br />

in unserem Jahrhundert war der langjährige Pfarrer Dr.<br />

Emil Dimmler, der die Pfarrei St. Gallus von 1904 bis 1949<br />

betreute. Er war in den zwanziger Jahren als religiöser Volksschriftsteller<br />

bekannt und zeigt sich in seiner Betreuung des<br />

Pfarrarchivs auch als ein Mann mit lokalhistorischem Interesse.<br />

In dem von ihm geordneten Archiv finden sich Quellen,<br />

die man ansonsten in einem Pfarrarchiv nicht vermutet,<br />

unter anderem die Abschrift aller Karten und Briefe, die ihn<br />

während des Ersten und Zweiten Weltkrieges von Wilflinger<br />

Soldaten im Feld erreichten. Dies ist eine einmalige, aber auch<br />

erschütternde Quelle für die Erfahrungen und die Mentalität<br />

der Weltkriegsteilnehmer.<br />

Pfarrer Dimmler gehörte zwar nicht zu den katholischen<br />

Geistlichen, die sich in die erste Reihe des Widerstands gegen<br />

den Nationalsozialismus stellten, dennoch spielte er in<br />

den Jahren der Machtentfaltung der Nazis in Wilflingen eine<br />

nicht zu unterschätzende Rolle, als er sich mit einem mutigen<br />

Brief öffentlich gegen den Lehrer und NS-Ortsgruppenleiter<br />

Alois Erath, einen nationalsozialistischen Scharfmacher,<br />

wandte und 1934 dessen Versetzung nach Gammertingen<br />

erreichte. Damit blieben dem Dorf möglicherweise noch<br />

bittere Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus erspart.<br />

Von den unmenschlichen Greueln des Nazi-Regimes konnten<br />

die Wilflinger spätestens gegen Ende des Krieges erfahren,<br />

als im Rahmen des Unternehmens »Wüste« im benachbarten<br />

Schörzingen ein KZ für ausländische Zwangsarbeiter<br />

errichtet wurde. Die Schüsse der Exekutionen habe man<br />

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