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Leseprobe I (PDF) - Michael Müller Verlag

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16 Stadtgeschichte<br />

In der Gewalt des Britischen Empire (Relief am Kilmainham Hospital)<br />

Stadtgeschichte<br />

Seit mehr als tausend Jahren ist Dublin das Einfallstor für Fremde, die nach<br />

Irland kommen. Und über kurz oder lang dann doch irgendwie irisch werden.<br />

Eine Siedlung Eblana an Stelle der heutigen<br />

Stadt ist schon auf der um 140 n.<br />

Chr. entworfenen Weltkarte des alexandrinischen<br />

Geographen Ptolemaios verzeichnet.<br />

Quellen des 6. Jh. erwähnen<br />

den befestigten Handelsplatz Ath<br />

Cliath („Furt an der Schilfhürde“), den<br />

Historiker um die heutige Bridge Street<br />

lokalisieren, wo auch die alte Königsstraße<br />

zwischen Tara und Wicklow die<br />

Liffey überquerte. Daraus entwickelte<br />

sich der heutige gälische Name Dublins,<br />

Báile Átha Cliath. Auf dem anderen,<br />

rechten Ufer des River Poddle gab es<br />

die Klostersiedlung Dubh Linn („dunkler<br />

Teich“), die Dublin seinen englischen<br />

Namen gab. Der „dunkle Teich“<br />

war die Mündung des Poddle. Heute<br />

völlig in unterirdische Rohre gezwängt,<br />

folgte er einst der St Patrick Street,<br />

schlug einen Bogen südlich um Dublin<br />

Castle und ergoss sich an der Grattan<br />

Bridge in die Liffey.<br />

Die Wikinger<br />

837 ließen sich Wikinger an der<br />

Poddlemündung nieder. Die Bucht<br />

diente den von Ivar Ragnarsson „dem<br />

Knochenlosen“ angeführten Piraten als<br />

Winterlager (longphort), Ausgangspunkt<br />

für Raubzüge und Umschlagplatz<br />

für Sklaven und anderes Raubgut. Die<br />

genaue Lage der Siedlung ist bis heute<br />

Gegenstand von Spekulationen und<br />

nicht durch Bodenfunde gesichert. 902<br />

wurden Nordmänner durch den Fürsten<br />

von Leinster vertrieben, kamen aber<br />

15 Jahre später unter Ivars Enkeln Ragnall<br />

und Sigtrygg wieder zurück. Diese<br />

zweite Wikingerkolonie lag am Südufer<br />

der Liffey zwischen Parliament Street,<br />

wo damals der Poddle mündete, und<br />

der Christ Church Cathedral; später<br />

wurde sie westwärts bis über die Bridge<br />

Street hinaus erweitert. Ausgrabungen<br />

brachten Spuren von aus Holz und<br />

Stadtgeschi<br />

chte<br />

Stadtgeschichte


Stadtgeschichte 17<br />

St Patrick: Der Heilige Irlands, nicht Roms<br />

Der Nationalheilige Patrick, von dem einige allerdings behaupten, es hätte<br />

ihn so nie gegeben und alle Legenden um ihn seien Erfindungen kirchlicher<br />

Propaganda späterer Zeiten, stammte aus Wales, war aber als 16-Jähriger<br />

gekidnappt und nach Irland in die Sklaverei verschleppt worden. Nach sechs<br />

Jahren gelang ihm die Flucht. Inzwischen tief religiös, ging er nach Frankreich,<br />

wo er zum Bischof aufstieg. Mächtige Visionen trieben ihn nach Irland<br />

zurück. 432 soll er sein erstes Kloster in Armagh (Down) gegründet haben,<br />

von dem aus er die Iren missionierte und wohl zu Lebzeiten den gesamten<br />

Norden bekehrte. Interessanterweise wurde Patrick vom Heiligen Stuhl nie off<br />

iziell heilig gesprochen – er ist „nur“ Volksheiliger, denn in seinem Leben gibt<br />

es dunkle Flecken wie Schlangenbeschwörungen und Saufgelage, wegen denen<br />

er in Rom bislang für eine Heiligsprechung nicht würdig genug erscheint.<br />

Stadtgeschichte<br />

Lehm gefertigten Einraumhäusern ans<br />

Licht, es gab Schusterwerkstätten und<br />

Webstühle. Ein Erdwall mit Palisadenzaun<br />

schützte den Ort, der bald zur<br />

Hauptstadt des kleinen Königreichs<br />

Dublinshire wurde, das die Küste von<br />

Skerries bis Wicklow kontrollierte und<br />

enge Verbindungen zum Wikingerreich<br />

von Jorvik (York) hatte.<br />

Doch so wie die Seekrieger andere Siedlungen<br />

zu überfallen pflegten, wurde ihre<br />

junge Stadt nun selbst Opfer feindlicher<br />

Überfälle, sei es von anderen Wikingertrupps<br />

oder von Iren aus dem<br />

Hinterland. 980 siegte der irische Hochkönig<br />

Máel Sechnaill II. in der Schlacht<br />

von Tara über seinen Dubliner Widersacher<br />

Olaf Sigtryggson, raubte dessen<br />

sagenhaft schöne Frau Gormflaith,<br />

plünderte Dublin und ließ sich von den<br />

Unterlegenen die enorme Menge von<br />

2000 Rindern als Tribut ausliefern. Der<br />

so erkaufte Frieden dauerte gerade nur<br />

bis 989, dann belagerten die Iren Dublin<br />

aufs Neue und zogen die Schraube<br />

an: Nun war, jedes Jahr an Weihnachten,<br />

ein Tribut von einer Unze Gold pro<br />

Dubliner Haushalt fällig. Bei seiner dritten<br />

Eroberung der Stadt im Jahre 995<br />

ließ sich Máel Sechnaill dann auch noch<br />

die Machtinsignien der Wikingerkönige<br />

von Dublin und York aushändigen,<br />

nämlich das Karl dem Großen zugeschriebene<br />

Schwert und den pfundschweren<br />

„Ring des Thor“. Was für eine<br />

Demütigung!<br />

Olafs Sohn und Nachfolger, der noch<br />

junge Sigtrygg Seidenbart, mag diesen<br />

Verlust der heidnischen Kultobjekte<br />

verschmerzt haben, war er doch bereits<br />

als Kind getauft worden. Die meisten<br />

anderen Dubliner Wikinger hingegen<br />

huldigten noch bis ins 11. Jh. den nordischen<br />

Göttern Thor und Odin. Erst um<br />

1030, nach einer Romfahrt des Königs,<br />

bekam die Wikingersiedlung mit dem<br />

aus Holz gebauten Vorläufer der Christ<br />

Church Cathedral ihre erste Kirche und<br />

einen eigenen Bischof. Bezeichnenderweise<br />

empfingen die ersten Dubliner<br />

Bischöfe ihre Weihe nicht in einem irischen<br />

Kloster, sondern in Canterbury.<br />

Die Normannen<br />

1170 eroberten die Normannen Dublin.<br />

Im Streit mit seinem Rivalen von Connaught<br />

hatte der keltische Fürst von<br />

Leinster den englischen Baron Richard<br />

de Clare, genannt „Strongbow“ (Starker<br />

Bogen), um Hilfe gebeten und ihm zum<br />

Dank seine Tochter Aoife versprochen.<br />

Ein in der Nationalgalerie hängendes<br />

Monumentalgemälde von Daniel Maclise<br />

hält die Hochzeit fest. Der Kriegszug<br />

wurde ein Erfolg und Richard wurde<br />

Stadtgeschi<br />

chte


18 Stadtgeschichte<br />

mit der Heirat auch Erbe von Leinster.<br />

Das wiederum ließ König Heinrich keine<br />

Ruhe. Der Papst hatte ihn schon lange<br />

mit der Herrschaft über Irland belehnt,<br />

ohne dass er diesen Anspruch<br />

bislang hatte durchsetzen können.<br />

So kam Heinrich II. nun persönlich an<br />

der Spitze eines Heeres nach Irland und<br />

teilte die Insel unter seinen Gefolgsleuten<br />

auf. Dublin wurde Sitz des königlichen<br />

Gerichts und damit zum Hauptort<br />

der englischen Präsenz. Wer immer auf<br />

der Insel Rang und Namen hatte, fand<br />

sich zu den Seasons, den Gerichtstagen,<br />

in Dublin ein, um seine Interessen zu<br />

vertreten. Anfangs mit einer schlichten<br />

Palisade, bald mit einer Reihe von Burgen,<br />

wurde das Pale, das Umland Dublins,<br />

vor den Einfällen der irischen<br />

Häuptlinge geschützt. Den Normannen<br />

verdankt Dublin neben dem Castle<br />

auch seine beiden Kathedralen und die<br />

Pfarrkirche St Audoen’s. Während die<br />

Wikinger sich mehr und mehr mit den<br />

einheimischen Kelten vermischt und<br />

assimiliert hatten, achteten die Normannen<br />

auf strikte Trennung von Eroberern<br />

und Eroberten: die alteingesessene Stadtbevölkerung<br />

musste Platz für Kolonisten<br />

aus England machen und nach Oxmantown,<br />

der Vorstadt am Nordufer der Liffey,<br />

umziehen. Von den Kaufmannsgilden<br />

und Handwerkszünften blieben sie<br />

ausgeschlossen, auch der Bischofsstuhl<br />

war fortan für Engländer reserviert.<br />

1318 musste sich die Stadt des schottischen<br />

Königs Robert Bruce erwehren.<br />

Um sich besser verteidigen zu können,<br />

zerstörten die Dubliner selbst ihre Brücke<br />

und verbrannten die Vorstädte außerhalb<br />

der Stadtmauer. Leider drehte<br />

der Wind und trieb das Feuer in die<br />

Stadt selbst. 1348 forderte die Pest ihren<br />

Blutzoll. 1394 bekamen die Dubliner<br />

hohen Besuch: Richard II. kam samt<br />

seinem Heer, und zwang mit dieser<br />

Drohgebärde die irischen Fürsten, ihm<br />

den Treueeid zu leisten.<br />

Im 15. Jh. geriet auch das weiterhin<br />

englische Dublin ins Abseits. Die Nachfolger<br />

Richards II. waren zu sehr mit<br />

dem Hundertjährigen Krieg gegen<br />

Frankreich und mit dem innerenglischen<br />

Rosenkrieg zwischen den Häusern<br />

York und Lancaster beschäftigt, um sich<br />

weiter um Irland kümmern zu können.<br />

Der gefürchtete Eroberer Richard Strongbow ruht nun friedlich in der Christ Church


Street<br />

Street<br />

Bridge<br />

Curch Street<br />

Swift's Alley<br />

Furt,<br />

ab13. Jh.<br />

Brücke<br />

Áth<br />

Cliath<br />

Inns Quay<br />

Merchant's Quay<br />

Cook Street<br />

Lamb<br />

Alley<br />

Dean Swift Sq<br />

High Street<br />

Black La.<br />

T. Davis St.<br />

Chancery Pl. Winetavern<br />

Nicholas<br />

Charles St. W<br />

Borris Ct.<br />

St.<br />

Ormond Sq.<br />

Upper Ormond Quay<br />

Wood Quay<br />

Ross Rd.<br />

Bridge Rd.<br />

Arran St.<br />

E<br />

Christchurch<br />

River Liffey<br />

l e St.<br />

Fisha m b<br />

Pl.<br />

Wer burgh St.<br />

R. Poddle<br />

Stadtgeschichte 19<br />

Essex Quay<br />

Castle<br />

Capel St.<br />

Essex St.<br />

Chancery<br />

W<br />

Street<br />

Parliament St.<br />

Edward St.<br />

Lord<br />

Ship St.<br />

Great<br />

Lower Ormond Quay<br />

Wellington Quay<br />

Essex<br />

Dublin Castle<br />

Sycamore St.<br />

E<br />

St.<br />

Street<br />

Dame<br />

Hafen<br />

Eustace Street<br />

Palace St.<br />

Georges Street<br />

S Great<br />

Stadtgeschichte<br />

Dubhlinn<br />

Klostersiedlung<br />

Francis Street<br />

John St.<br />

Dillon<br />

Street<br />

Patrick<br />

Street<br />

Bride<br />

La.<br />

Spitalfields<br />

Carman's Hall<br />

Bull Alley St.<br />

80 m<br />

Dublin im Mittelalter<br />

Mehr über das mittelalterliche<br />

Dublin erfahren Sie in der Ausstellung<br />

Dublinia (→ S. 127).<br />

Funde aus der Wikingersiedlung<br />

sind auch im Nationalmuseum<br />

ausgestellt (→ S. 104).<br />

Von der Reformation zur<br />

Glorious Revolution<br />

Erst Heinrich VIII. versuchte, auch das<br />

Irland außerhalb des Pale wieder enger<br />

an die Krone zu binden. Dazu lud er<br />

den mächtigsten irischen Fürsten Garret<br />

Og Kildare im Sommer 1534 zu<br />

„Verhandlungen“ nach London und<br />

stellte ihn dort unter Hausarrest. Als<br />

diese Nachricht und vielleicht noch<br />

schlimmere Gerüchte in Dublin eintrafen,<br />

kündigte Garret Ogs Sohn Silken<br />

Thomas vor dem im Zisterzienserkloster<br />

St Mary’s versammelten Kronrat<br />

dem König die Loyalität auf und brach<br />

einen Aufstand vom Zaun – für Heinrich<br />

der willkommene Anlass, ein Heer<br />

zu schicken, dem die Rebellen nicht gewachsen<br />

waren. 1541 ließ sich Heinrich<br />

vom Dubliner Parlament zum irischen<br />

König erheben.<br />

So england- und königstreu die Dubliner<br />

auch waren, Heinrichs Kirchenreform<br />

fand in der Stadt nur wenig Anklang.<br />

Nachdem ihm der Papst die gewünschte<br />

Ehescheidung verweigert hatte, gründete<br />

der König seine eigene, die anglikanische<br />

Kirche und ernannte sich<br />

selbst zum Oberhaupt der Gläubigen.


20 Stadtgeschichte<br />

Ein geknechteter Kuttenträger<br />

in der Dublinia<br />

In Dublin wurden die Heiligenbilder<br />

und Reliquien zerstört und die Klöster<br />

samt ihrem Grundbesitz an die Anhänger<br />

des Königs verteilt. Trotzdem<br />

hielten die meisten alteingesessenen<br />

Bewohner am katholischen Glauben<br />

fest. Auch die Gründung des protestantischen<br />

Trinity College (1592) änderte<br />

daran zunächst nichts. Die protestantische<br />

Oberschicht (Gentry), die<br />

die Geschicke Dublins und Irlands<br />

vom 17. bis ins 19. Jh. bestimmen<br />

sollte, rekrutierte sich anfangs weitgehend<br />

aus englischen Neueinwanderern.<br />

Nach 1650, als Oliver Cromwell<br />

die Katholiken aus der Stadt verbannte,<br />

ihren Besitz beschlagnahmte<br />

und katholische Messen verbot, waren<br />

die Protestanten in der Mehr heit.<br />

Auch Cromwells Nachfolger förderten<br />

die Einwanderung von Protestanten.<br />

Gerne wurden ihres Glaubens wegen<br />

aus Frankreich vertriebene Hugenotten<br />

aufgenommen, deren Vermögen,<br />

Gewerbefleiß, internationale Verbindungen<br />

und protestantische Ethik den<br />

Aufstieg des Dubliner Bürgertums<br />

förderten.<br />

Dublins goldenes Zeitalter<br />

Um 1730 war Dublin die nach London<br />

größte Stadt des Königreiches und<br />

zählte bald mehr als 100.000 Einwohner.<br />

Jonathan Swift war Dekan von<br />

St Patrick’s Cathedral, am 13. April<br />

1742 stellte Georg Friedrich Händel,<br />

der in Dublin die Winter zu verbringen<br />

pflegte, in Neale’s Great Musick<br />

(sic!) Hall erstmals sein Oratorium<br />

Messiah dem Publikum vor.<br />

Die Gentry investierte ihr aus den<br />

Landgütern gewonnenes Vermögen in<br />

neue und prächtige Häuser in den georgianischen<br />

Vierteln außerhalb der<br />

zu eng gewordenen Stadtmauern. Zunächst<br />

galt die North Side, also das<br />

Nordufer der Liffey, als die beste<br />

Adresse. Nachdem der Herzog von<br />

Kildare sich 1745 mit dem Leinster<br />

House das bis dahin prächtigste Stadtpalais<br />

auf dem Südufer der Liffey bauen<br />

ließ, wurde es schick, in dieser Gegend<br />

zu wohnen.<br />

Die Wide Streets Commission, mit der<br />

1757 die systematische Stadtplanung<br />

begann, zeigt schon mit ihrem Namen,<br />

worum es ging. Um die gleichzeitig<br />

sprießenden Slums kümmerte sich die<br />

Kommission allerdings nicht. Auch in<br />

Dublins goldenem Zeitalter zwischen<br />

1782 und 1801, als die irischen Protestanten<br />

sogar ihr eigenes Parlament hatten<br />

(heute ist das Gebäude treffenderweise<br />

Sitz der „Bank of Ireland“), war<br />

das Los der katholischen Bevölkerung


nicht rosig. Mittellose Zuwanderer aus<br />

dem Umland ließen sich vor allem am<br />

nördlichen und südwestlichen Stadtrand<br />

nieder; Slumbezirke, in denen rivalisierende<br />

Gangs wie die der (protestantischen)<br />

Weber aus dem Liberties-<br />

Viertel und die der (katholischen)<br />

Metzger vom Ormond Quay um die<br />

Vorherrschaft kämpften.<br />

Kampf um die Freiheit 21<br />

Stadtgeschichte<br />

Kampf um die Freiheit<br />

Eine grüne Tür aus Dublins<br />

goldenem Zeitalter<br />

Der Act of Union, also die staatsrechtliche<br />

Vereinigung Englands und Irlands,<br />

beendete 1801 die irischen Autonomieträume<br />

und ließ das überbordende<br />

Wachstum der Stadt abrupt<br />

abbrechen. Da die Entscheidungen<br />

nun nicht mehr in Dublin, sondern in<br />

London getroffen wurden, hatte die<br />

Gentry keinen Grund mehr, in Dublin<br />

zu verweilen, und gab ihr Geld anderswo<br />

aus. Ein noch härterer Schlag für<br />

Dublins produzierendes Gewerbe war<br />

die Aufhebung der Schutzzölle (1824),<br />

die den irischen Markt für Importe aus<br />

den englischen Fabriken öffnete. Binnen<br />

kurzer Zeit brach die Dubliner<br />

Leinen- und Seidenweberei völlig zusammen.<br />

Auch wenn die Hauptstraßen<br />

der Stadt eine Gasbeleuchtung<br />

bekamen und 1834 eine Eisenbahn<br />

zum Hafen Kingstown (heute Dun<br />

Laoghaire) eröffnet wurde, war hier<br />

von der Industrialisierung, die damals<br />

viele englische Städte und auch Belfast<br />

aufblühen ließ, nur wenig zu spüren.<br />

Bestimmendes politisches Thema des<br />

19. Jh. waren die gälisch-katholische<br />

Emanzipation und das Ringen um die<br />

Selbstverwaltung (home rule). Daniel<br />

O’Connell mit dem Beinamen „The Liberator“<br />

(der Befreier) wurde als erster<br />

katholischer Abgeordneter zum Parlament<br />

in Westminster zugelassen und<br />

wurde 1841 auch der erste katholische<br />

Oberbürgermeister von Dublin. Als<br />

Präsident der Home Rule League, der<br />

ersten professionell organisierten Partei<br />

der Britischen Inseln, kämpfte<br />

Charles Stewart Parnell unter dem<br />

Motto „Irish Land for Irish People“<br />

gleichermaßen für eine Landreform<br />

wie für die politische Selbstverwaltung.<br />

Die Gaelic Athletic Association<br />

(GAA) bemühte sich um die Renaissance<br />

überlieferter alter Sportarten<br />

wie Hurling und Straßenbowling und<br />

erfand den „Gaelic Football“, die<br />

Gaelic League widmete sich der Pflege<br />

der gälischen Sprache und Kultur.<br />

1905 gründete Arthur Griffith die<br />

Partei Sinn Féin, die für Irland ein<br />

eigenes Parlament anstrebte.<br />

Kampf um<br />

die Freiheit


22 Stadtgeschichte<br />

Der Osterputsch<br />

„Proclamation“ –<br />

Rowan Gillespies Denkmal für die 1916<br />

hingerichteten Freiheitskämpfer<br />

Der Erste Weltkrieg verschob die Verwirklichung<br />

der 1912 endlich in London<br />

beschlossenen Home Rule ein weiteres<br />

Mal und ließ die Spaltung der irischen<br />

Nationalbewegung deutlich<br />

werden. Während die irische Parlamentspartei<br />

zur Unterstützung der<br />

britischen Kriegsanstrengungen aufrief,<br />

wollten die radikalen Nationalisten<br />

aus Gewerkschaftskreisen und der<br />

Irish Republican Brotherhood den<br />

Weltkrieg zu einem bewaffneten Aufstand<br />

nutzen. Dieser, von den Iren<br />

heute als „Osteraufstand“ gefeiert, geriet<br />

dann aber nur zu einem eher dilettantischen<br />

Putsch. Gegen Mittag<br />

des 24. April 1916, einem Ostermontag,<br />

erlebten einige verblüffte Passanten,<br />

wie der von der Brotherhood zum<br />

ersten Präsidenten erkorene Patrick<br />

Pearse von der Treppe des Dubliner<br />

Hauptpostamts die Republik ausrief.<br />

Immerhin benötigte die Armee eine<br />

Woche, um die Rebellen aus den von<br />

ihnen besetzten Dubliner Amtsgebäuden<br />

zu vertreiben – auf dem Weg ins<br />

Gefängnis mussten die Aufrührer<br />

Spott und Beschimpfungen der Dubliner<br />

über sich ergehen lassen. Erst die<br />

drakonischen Strafen, die das britische<br />

Militärgericht verhängte (14 Todesurteile<br />

wurden gleich Anfang Mai vollstreckt),<br />

und die Säuberungen und<br />

Strafaktionen der Armee auch gegen<br />

am Putsch völlig Unbeteiligte, die nur<br />

wegen ihrer nationalen Gesinnung in<br />

den Gefängnissen misshandelt wurden,<br />

wendeten das Blatt der öffentlichen<br />

Meinung und machten die<br />

Putschisten zu Märtyrern.<br />

Vom Anglo-Irischen Krieg …<br />

Bei der nächsten Unterhauswahl 1918,<br />

bei der erstmals auch die Irinnen mitstimmen<br />

durften, musste die Parlamentspartei<br />

eine vernichtende Niederlage<br />

einstecken: Fast alle katholischirischen<br />

Mandate fielen an die bislang<br />

unauffällige Sinn Féin, die sich nach<br />

dem Osteraufstand zum politischen<br />

Sprachrohr der Radikalen entwickelt<br />

hatte. Statt ihre Plätze in Westminster<br />

einzunehmen, versammelten sich die<br />

neuen Abgeordneten, soweit sie nicht<br />

in britischen Gefängnissen saßen, am<br />

21. Januar 1919 im Dubliner Mansion<br />

House, bildeten ein eigenes, irisches<br />

Parlament und wählten eine irische<br />

Regierung.<br />

Mit einem Überfall auf zwei Polizisten<br />

in Tipperary begann am gleichen Tag<br />

der bis Mitte 1921 anhaltende Anglo-


Irische Krieg, auch Irischer Unabhängigkeitskrieg<br />

genannt, in dem die Irish<br />

Republican Army (IRA) mit Guerilla-<br />

Aktionen und Attentaten der britischen<br />

Armee und ihren Hilfstruppen zusetzte.<br />

Für die Bevölkerung bedeutete<br />

das regelmäßige Ausgangssperren und<br />

Hausdurchsuchungen. An Dublins<br />

Bloody Sunday, am 21. November 1920,<br />

tötete ein IRA-Trupp unter <strong>Michael</strong><br />

Collins gleich 18 britische Agenten,<br />

worauf die Armee noch am gleichen<br />

Tag zur Vergeltung im Croke Park Stadion<br />

blindlings in die zu einem gälischen<br />

Fußballspiel versammelte Zuschauermenge<br />

schoss.<br />

London unternahm nun einen Anlauf,<br />

das Irland-Problem auf parlamentarischem<br />

Wege zu lösen. Im anglo-irischen<br />

Vertrag vom 6. Dezember 1921<br />

willigte die irische Verhandlungsdelegation<br />

unter Arthur Griffith und <strong>Michael</strong><br />

Collins in die Teilung Irlands ein. Auch<br />

ließen sie sich breitschlagen, keine eigene<br />

Republik zu gründen, sondern als<br />

Dominion im Commonwealth zu verbleiben<br />

und den britischen Monarchen<br />

als nominelles Staatsoberhaupt zu akzeptieren,<br />

auf das alle Abgeordnete den<br />

Eid zu leisten hatten.<br />

… zum Bürgerkrieg<br />

Der keltische Tiger 23<br />

Das Dubliner Parlament ratifizierte<br />

den Vertrag nur mit einer dünnen<br />

Mehrheit. Vielen Abgeordneten und<br />

Bürgern war die noch verbliebene Bindung<br />

an England zu eng. Besonderen<br />

Anstoß nahmen sie an dem Eid auf die<br />

Krone, während die Abtrennung des<br />

Nordens interessanterweise weniger<br />

Unmut erregte. Kaum war der Friede<br />

mit England hergestellt, fielen irische<br />

Vertragsgegner und Befürworter nun<br />

selbst mit Waffen übereinander her. In<br />

der Hoffnung, durch gezielte Provokation<br />

die Briten zur Wiederaufnahme<br />

der Kämpfe bewegen zu können,<br />

hatten die Vertragsgegner die Four<br />

Courts und andere öffentliche Gebäude<br />

besetzt. Doch statt der Briten<br />

übernahmen es die irischen Vertragsbefürworter<br />

selbst, ihre früheren Kameraden<br />

zu bombardieren und in<br />

Straßenkämpfen niederzuringen. Der<br />

innerirische Bürgerkrieg wurde erst<br />

1923 beigelegt. Mit landesweit etwa<br />

4000 Toten war sein Blutzoll erheblich<br />

höher als der des Befreiungskriegs gegen<br />

die Briten. Es versteht sich, dass<br />

auch Dublin bei den Kämpfen zu<br />

Schaden kam.<br />

Freistaat und Republik<br />

Unter Eamon de Valera bildeten die<br />

Gegner des Vertragswerks die Fianna-<br />

Fáil-Partei, die bei den Wahlen von<br />

1927 über die in der Fine Gael organisierten<br />

Befürworter siegte und das Land<br />

bis nach dem Zweiten Weltkrieg regierte.<br />

Mit einer Verfassungsreform<br />

wurde 1937 der verhasste Eid auf die<br />

Krone abgeschafft und die Souveränität<br />

auch über die bei England verbliebenen<br />

Nordprovinzen beansprucht. 1949 folgte<br />

schließlich der Austritt aus dem<br />

Commonwealth. Erst jetzt war die beim<br />

Osteraufstand proklamierte Republik<br />

tatsächlich verwirklicht.<br />

In Dublin standen die 1930er-Jahre im<br />

Zeichen des Wiederaufbaus – nicht nur<br />

von Gebäuden, sondern auch von im<br />

Bruderkampf beschädigten sozialen Beziehungen.<br />

Im Zweiten Weltkrieg blieb<br />

Irland neutral. Gleichwohl luden deutsche<br />

Bomber am 31. Mai 1941 auch<br />

über Dublin ihre tödliche Fracht ab. Ob<br />

aus Versehen oder mit Absicht, das<br />

wurde nie geklärt. Die Bundesrepublik<br />

zahlte 1958 bescheidene 327.000 irische<br />

Pfund als Entschädigung.<br />

Der keltische Tiger<br />

Als Irland 1973 der EU (die damals noch<br />

Europäische Gemeinschaft hieß) beitrat,<br />

war es noch das sprichwörtliche Armenhaus<br />

am Rande Europas, rückständig<br />

und fromm. Ehen blieben unauflöslich<br />

Stadtgeschichte<br />

Der<br />

keltische<br />

Tiger


24 Stadtgeschichte<br />

bis zum Tod, Verhütungsmittel waren<br />

ebenso verboten wie Stanley Kubricks<br />

Film Clockwork Orange oder der O-Ton<br />

von Sinn-Fein-Politikern in Radio und<br />

Fernsehen; der Bus brauchte für die zehn<br />

Kilometer vom Dubliner Vorort Blanchardstown<br />

ins Zentrum etwa eine halbe<br />

Stunde. Heute hat die Kirche, gebeutelt<br />

von Skandalen um pädophile Priester<br />

und in Wäschereien ausgebeutete „gefallene<br />

Mädchen“, drastisch an Ansehen<br />

und Einfluss verloren. Nur noch jeder<br />

zehnte Jugendliche verbindet die Unbefleckte<br />

Empfängnis mit Maria; dafür hat<br />

die Republik Irland einen unrühmlichen<br />

zweiten Platz beim Länderranking in<br />

puncto Häufigkeit von Selbstmorden Jugendlicher.<br />

Auf der EU-Wohlstandsskala<br />

hat sich Irland unter die Top Ten hochgearbeitet.<br />

Durch das gestiegene Verkehrsaufkommen<br />

dauert die morgendliche<br />

Busfahrt von Blanchardstown nach<br />

Dublin nun zwei Stunden.<br />

Sein Wirtschaftswunder verdankte Irland<br />

ausländischen Investitionen. Die<br />

fanden auf der grünen Insel einen<br />

fruchtbaren Nährboden aus niedrigen<br />

Steuern und Löhnen, einer jungen, gut<br />

ausgebildeten Bevölkerung mit englischer<br />

Sprache und nicht zuletzt intensiver<br />

Förderung durch die Europäische<br />

Union. Die öffentlichen Investitionen,<br />

sei’s ins Gesundheitswesen oder in Busse<br />

und Bahnen, hielten damit aber nicht<br />

Schritt. Über zwei Jahrhunderte ein<br />

klassisches Auswandererland, das seinen<br />

Bevölkerungsüberschuss nach London,<br />

Australien oder Amerika exportierte,<br />

wurde Irland nun ganz unvorbereitet<br />

zum Einwandererland. Etwa<br />

jeder fünfte Dubliner hat einen ausländischen<br />

Pass. Asiaten, Polen und Litauer<br />

bereichern das städtische Leben, arbeiten<br />

auf dem Bau oder im Dienstleistungssektor.<br />

Nun, da der keltische<br />

Tiger erlahmt ist, Büroflächen leer stehen,<br />

die Hauspreise sinken und die<br />

Arbeitslosigkeit steigt, wird die Toleranz<br />

der Iren gegenüber den Fremden<br />

auf die Probe gestellt.<br />

Cow's Lane Designer Market: Warme Mützen gegen die Wirtschaftskrise


Der keltische Tiger 25<br />

Zeittafel<br />

um 140 Die Weltkarte des Ptolemaios verzeichnet die Siedlung Eblana an der Stelle Dublins<br />

um 450 Der Legende nach kommt Irlands Nationalheiliger St Patrick ins künftige<br />

Dublin und tauft am St Patrick’s Well<br />

vor 700 Quellen erwähnen einen Handelsplatz und eine Klostersiedlung<br />

837–902 Erste Wikingerkolonie<br />

ab 915 Zweite Wikingerkolonie und Königreich Dublinshire<br />

um 1030 Dublin wird Bischofssitz<br />

1169/70 Die Anglonormannen besetzen Dublin und sein Hinterland<br />

1348 Die Pest bricht in Dublin aus<br />

1536 Anglikanische Reformation, Schließung der Klöster<br />

1541 Heinrich VIII. lässt sich zum König von Irland erheben<br />

1592 Gründung des Trinity College<br />

1650 Oliver Cromwell verbannt die katholische Bevölkerung aus Dublin<br />

1742 Uraufführung von Händels Messiah in der Neale’s Great Musick Hall<br />

1779 Arthur Guinness gründet am St James’s Gate eine Brauerei<br />

ab 1782 Der protestantische Adel bemüht sich unter Henry Grattan um die irische<br />

Unabhängigkeit<br />

1801 Act of Union: Auflösung des irischen Parlaments und Vereinigung mit England<br />

1841 Daniel O’Connell wird der erste katholische Bürgermeister Dublins<br />

1845–1850 Die durch die Kartoffelfäule verursachte „Große Hungersnot“ kostet eine<br />

Million Iren das Leben und zwingt 1,5 Mio. zur Auswanderung<br />

1893 Gründung der „Gaelic League“, die sich um die Wiederbelebung der gälischirischen<br />

Kultur bemüht<br />

1905 Der Journalist Arthur Griffith gründet die nationalistische Partei Sinn Féin<br />

1916 Der Dubliner Osteraufstand der Irish Republican Brotherhood scheitert, die<br />

Anführer werden hingerichtet<br />

1919 Die für das Londoner Unterhaus gewählten Sinn-Féin-Abgeordneten konstituieren<br />

sich in Dublin als irisches Parlament und rufen die Republik aus<br />

1919–1921 Guerillakrieg zwischen der Irish Republican Army (IRA) und der Royal Cons<br />

tabulary (Polizei) samt deren Hilfstruppen, den „Blacks and Tans“<br />

1921 Anglo-irischer Vertrag: Teilung Irlands, Dublin wird Hauptstadt des „Freistaats“<br />

aus 26 von 32 Grafschaften<br />

1922–1923 Irischer Bürgerkrieg<br />

1937 Verfassungsreform – Der Eid auf die Krone wird abgeschafft<br />

1949 Austritt Irlands aus dem Commonwealth<br />

1966 Zum 50-jährigen Jubiläum des Osteraufstands sprengt die IRA das Denkmal<br />

Lord Nelsons auf der O’Connell Street<br />

1973 Irland tritt der Europäischen Gemeinschaft bei<br />

2002 Der Euro ersetzt das irische Pfund<br />

2012 In Dublin sind die Preise für Häuser und Eigentumswohnungen innerhalb der<br />

letzten fünf Jahre um die Hälfte gefallen<br />

Stadtgeschichte<br />

Architektur


26 Stadtgeschichte<br />

Rokoko-Stuck im Newman House

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