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LEXIKOLOGIE DER DEUTSCHEN GEGENWARTSSPRACHE ...

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Aber außer diesem Bedeutungswandel gibt es auch eine Veränderlichkeit<br />

der Bedeutung von einer anderen, viel komplizierteren Art, was aus der Analyse<br />

alter Sprachdenkmäler besonders deutlich hervorgeht. Eine der größten<br />

Schwierigkeiten für das Verständnis eines mittelhochdeutschen Textes, schreibt<br />

W. Porzig58 , bieten Wörter, die scheinbar bekannt und heute noch geläufig<br />

sind, aber etwas ganz anderes bezeichnen, als wir heute darunter verstehen.<br />

So fängt Walther von der Vogelweide (ca. 1160 —1227) ein Gedicht mit<br />

folgenden Worten an:<br />

Ich ho – rt ein wasser diessen<br />

Und sach die vische fliessen.<br />

In der Gegenwartssprache fließt nur das Wasser, bei Walther von der Vogelweide<br />

fließen auch die Fische, die im Deutsch von heute schwimmen.<br />

Schwimmen konnte zu Walthers Zeit nur ein Mensch oder ein Schiff, überhaupt<br />

etwas, was die Oberfläche des Wassers bricht. Was sich ganz im Wasser<br />

befand, das floss, wenn es sich selbst bewegen konnte, wenn es nur dahintrieb,<br />

so schwebte es. In der Gegenwartssprache dagegen kann etwas nur<br />

in der Luft schweben, nicht im Wasser, vgl. ein Adler schwebt hoch in der<br />

Luft. Die Verben fließen, schwimmen, schweben sind also heute wie damals<br />

vorhanden, aber sie bezogen sich ehemals auf andere Sachverhalte.<br />

Aber im Zusammenhang mit der Wortschatzerweiterung wären hier zahlreiche<br />

Bedeutungsentwicklungen zu nennen, die den Bedeutungsumfang<br />

eines Lexems oder seine Bedeutungsstruktur erweitern. Das geschieht, indem<br />

dasselbe Formativ zur Bezeichnung eines neuen Sachverhalts ausgewertet<br />

wird neben des bereits vorhandenen.<br />

So erhielt ein altes gemeingermanisches Wort Netz zu seiner herkömmlichen<br />

Bedeutung „geknüpftes maschenförmiges Gebilde” durch den Metaphorisierungsprozess<br />

zusätzlich ein Semem „System aus vielen sich vielfältig<br />

kreuzenden, miteinander verbundenen Strecken und Linien” — Stromnetz,<br />

Eisenbahnnetz, Verkehrsnetz.<br />

Wichtige Erkenntnisse vermittelt in Bezug auf die Polysemie die kognitivorientierte<br />

Psycholinguistik. Erstmals in der Geschichte der Semasiologie<br />

wurden die grundlegenden Faktoren erschlossen, die den regelmäßigen Charakter<br />

dieses Prozesses sichern und abhängig machen vom (I) Typ der Lexeme<br />

und (2) vom Typ der begrifflichen Abstraktion. Danach sind semantisch<br />

ableitbar in erster Linie Konkreta, weil die semantische Struktur der konkreten<br />

Namen über Elemente verfügt, deren Grundlage weitere derivative Prozesse<br />

ermöglicht (Metaphoriesierung, Metonymisierung). Der zweite Faktor,<br />

der die Produktivität der semantischen Ableitung erklärt, ist Grad der<br />

begrifflichen Abstraktion, wie das in der bezeichneten Disziplin unterschieden<br />

wird. Danach ist am produktivsten der mittlere Grad bzw. die mittlere<br />

Stufe der Abstraktion, so z.B. von den Substantiven:<br />

Säugetier — Hund — Spürhund<br />

kommt sie dem Substantiv „Hund“ zu, weil Lexeme dieser Stufe dem<br />

Menschen begrifflich relevanter sind als die anderen.<br />

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