winter/zima 2004/2005 - Pavlova hiša

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03.11.2013 Aufrufe

Hallo EU – Hallo Slowenien. Erinnerungen. å Text Kurt Oktabetz Hätte jemand vor 15 Jahren den Fall des Eisernen Vorhanges vorausgesagt, wäre er als Phantast bezeichnet worden. Zugegeben: Die Grenze zwischen der Steiermark und Slowenien war nie durch Wachtürme, Stacheldraht und Minengürtel gesichert, aber auch die sogenannte „Grüne Grenze“ war eine Trennlinie zwischen zwei verschiedenen politischen Systemen und für die Menschen hüben wie drüben nicht nur eine Sprachbarriere. Slowenien war – wenn auch nicht im fundamentalistischen Sinn – ein kommunistisches Land, eine Teilrepublik Jugoslawiens, unter der Zentralherrschaft Belgrads. Bevölkerungsminderheiten auf beiden Seiten, die zwangsläufig immer existieren, wenn politisch willkürliche Grenzen gezogen werden, wurden zwar geduldet, aber nicht gerade freundlich behandelt. Die Steiermark sah sich in einer Sackgasse, als Blinddarm im äußersten Südosten Westeuropas, und war gesellschaftspolitisch und ökonomisch nahezu ausschließlich auf den Nordwesten Europas ausgerichtet. Diese Situation bestand – mit nur einer kurzen, dramatischen Unterbrechung in den Jahren 1938 – 1945 und mit nachhaltigen Wirkungen auf die Menschen – rund 80 Jahre oder vier Generationen hindurch. Und dann kam die Überraschung, größer als jede Phantasie: Der innere Gärungsprozess wurde ja kaum wahrgenommen und vielfach für wirkungslos und realitätsfremd gehalten. Aber die neuen Realitäten waren plötzlich da, waren zur Kenntnis zu nehmen von den Menschen, die sich ganz allgemein durch ein ihnen innewohnendes Beharrungsvermögen auszeichnen und die jeder signifikanten Änderung zunächst mit einer Abwehrhaltung oder doch mit einer gewissen Skepsis begegnen. Wahrscheinlich hing – historisch betrachtet – alles am schicksalhaften seidenen Faden: Der Wille des Volkes und die Kraft seiner politischen Führung gebaren die Selbständigkeit Sloweniens, die effektiv erstmalige in seiner langen Geschichte. Wenn nun jemand vor 12 Jahren vorausgesagt hätte, dass der 1. Mai 2004 die Mitgliedschaft Sloweniens in der Europäischen Union besiegeln würde, hätte dies wiederum Kopfschütteln hervorgerufen, denn unter den Experten und politischen Pragmatikern galt die Formel, die der ehemalige Chef der Deutschen Bank auf die Frage nach der Dauer eines möglichen Wechsels von einer zentralverwalteten in eine marktwirtschaftliche Gesellschaft aufstellt, nämlich zwei Generationen: eine, die das alte System überwindet und eine, die das neue aufbaut. Vielleicht ist aber auch die Dynamik heutiger Prozesse zu sehen und besser zu verstehen, wenn statt einer vermeintlich 40-jährigen Entwicklungsdauer eine Phase von 12 Jahren genügt, um ein gewünschtes (politisches) Ziel zu erreichen. Der unbedingte Wille und die Zielidentität eines ganzen Volkes sowie die Intelligenz und der Fleiß der Menschen waren und sind dafür ausschlaggebend. Dabei musste Slowenien nicht nur den Kommunismus überwinden, sondern nebenbei auch einen Staat aufbauen, den es noch nie hatte. 6

Verallgemeinernd sollte man dieses Beispiel auch als Anschauungsunterricht für Veränderungsgeschwindigkeiten ansehen, an welche sich die Menschen in aller Welt werden gewöhnen müssen: Die Unruhe, die Ungeduld, der Eifer und der Wille, ein Ziel zu erreichen, lösen mehr und mehr Ruhe, Trägheit, Beharrung und Gewöhnung ab. Der Veränderungswunsch lässt manche Bastionen aufbrechen, lässt vermeintlich Unmögliches möglich werden, lässt Reformprozesse zu, lässt die Menschen aufgestaute Probleme schneller als angenommen lösen. Der Zeitgeist zeichnet sich durch höhere Progressivität aus, die Dynamik kann einerseits Erstaunen, anderseits Verwirrung hervorrufen. „Speed kills“ ist eine Formel, die gleichzeitig Chancen bietet und Risken beinhalten kann; dies ist national wie international zu beobachten. Im Falle Sloweniens überwiegen die Chancen bei weitem. Was das Dilemma der EU seit Jahrzehnten betrifft, nämlich, ob der Erweiterung oder der Vertiefung Vorrang eingeräumt werden soll, so ist die Antwort angesichts der schon beschlossenen nächsten Erweiterungsrunde nicht eindeutig. Hier wird man wohl feststellen müssen: Speed of enlargement kills enrichment. Dies aus einfachen Gründen: Jede der beiden Strategien bedarf langer und intensiver Anstrengungen, vor allem durch die EU-Verwaltung, und die Kapazität dieses Apparats ist begrenzt. Auch die Anforderungen an die EU-Räte (und nationalen Regierungen) würden sich bei gleichzeitiger Zielverfolgung als nahezu unüberwindlich erweisen. Wenn also zwischen den beiden Möglichkeiten zu entscheiden ist, fällt die Wahl eher auf die Erweiterung, weil man damit sehr viel leichter eine – ökonomische – win-win-Situation und eine Erhöhung der Friedensdividende argumentieren kann, die Chancen also nutzen kann und Beitrittskonditionen und Aufnahmebedingungen in den Club vorschreiben kann. Bei der Vertiefung hingegen, und bei jeder Art von Harmonisierung, wird die Aufgabe von Souveränitätsrechten der Mitgliedsstaaten gefordert und das verursacht zwangsläufig Probleme innenpolitischer und zwischenstaatlicher Art. Hier würde zu viel speed Risken verursachen, die die Konsolidierungsfortschritte in der EU gefährden könnten. Andererseits würde eine zu laxe Handhabung der Vertiefung der Grundidee der EU widersprechen, nämlich dem Ziel eines Europa als größtmögliche Einheit oder – wie es Kurt Oktabetz zu Besuch im Pavelhaus mangels eines Bekenntnisses zu einem Bundesstaat heißt – als einer „Institution sui generis“. Gerade in letzter Zeit und im Gefolge der Verfassungsreformversuche (Nizza) kam es zur Diskussion, ob die Zielerreichung eher durch behutsame und eher zögerliche Vertiefung oder durch eine Strategie eines Europa der zwei (oder mehreren) Geschwindigkeiten gewährleistet werden kann. Außer auf den Hinweis, dass es bereits jetzt mehrere Geschwindigkeiten bzw. EU-Blöcke gibt (Euro, Schengen), und auf die Drohung, ein „Kerneuropa“ zu errichten, kann auf diese an sich interessante Frage hier nicht eingegangen werden. Ich konnte diese Entwicklung einerseits aus der Sicht eines Managers eines steirischen Unternehmens, welches bereits 1993 in Slowenien eine Tochtergesellschaft gegründet und als Kunden eine große slowenische Tageszeitung gewonnen hat, und anderseits ab 1996 als Honorarkonsul der Republik Slowenien in der Steiermark beobachten. Freilich gab es auch schon vor 1990 Kontakte auf vielen Gebieten: Wissenschaft, Kunst und Kultur, Sport und im Rahmen der „Al- 7

Hallo EU – Hallo Slowenien.<br />

Erinnerungen.<br />

å Text<br />

Kurt Oktabetz<br />

Hätte jemand vor 15 Jahren den Fall des Eisernen Vorhanges vorausgesagt, wäre er als Phantast bezeichnet<br />

worden. Zugegeben: Die Grenze zwischen der Steiermark und Slowenien war nie durch Wachtürme, Stacheldraht<br />

und Minengürtel gesichert, aber auch die sogenannte „Grüne Grenze“ war eine Trennlinie zwischen<br />

zwei verschiedenen politischen Systemen und für die Menschen hüben wie drüben nicht nur eine Sprachbarriere.<br />

Slowenien war – wenn auch nicht im fundamentalistischen Sinn – ein kommunistisches Land, eine Teilrepublik<br />

Jugoslawiens, unter der Zentralherrschaft Belgrads.<br />

Bevölkerungsminderheiten auf beiden Seiten, die zwangsläufig immer existieren, wenn politisch willkürliche<br />

Grenzen gezogen werden, wurden zwar geduldet, aber nicht gerade freundlich behandelt.<br />

Die Steiermark sah sich in einer Sackgasse, als Blinddarm im äußersten Südosten Westeuropas, und war gesellschaftspolitisch<br />

und ökonomisch nahezu ausschließlich auf den Nordwesten Europas ausgerichtet. Diese<br />

Situation bestand – mit nur einer kurzen, dramatischen Unterbrechung in den Jahren 1938 – 1945 und mit<br />

nachhaltigen Wirkungen auf die Menschen – rund 80 Jahre oder vier Generationen hindurch.<br />

Und dann kam die Überraschung, größer als jede Phantasie: Der innere Gärungsprozess wurde ja kaum wahrgenommen<br />

und vielfach für wirkungslos und realitätsfremd gehalten.<br />

Aber die neuen Realitäten waren plötzlich da, waren zur Kenntnis zu nehmen von den Menschen, die sich ganz<br />

allgemein durch ein ihnen innewohnendes Beharrungsvermögen auszeichnen und die jeder signifikanten Änderung<br />

zunächst mit einer Abwehrhaltung oder doch mit einer gewissen Skepsis begegnen.<br />

Wahrscheinlich hing – historisch betrachtet – alles am schicksalhaften seidenen Faden: Der Wille des Volkes<br />

und die Kraft seiner politischen Führung gebaren die Selbständigkeit Sloweniens, die effektiv erstmalige in<br />

seiner langen Geschichte.<br />

Wenn nun jemand vor 12 Jahren vorausgesagt hätte, dass der 1. Mai <strong>2004</strong> die Mitgliedschaft Sloweniens in<br />

der Europäischen Union besiegeln würde, hätte dies wiederum Kopfschütteln hervorgerufen, denn unter den<br />

Experten und politischen Pragmatikern galt die Formel, die der ehemalige Chef der Deutschen Bank auf die<br />

Frage nach der Dauer eines möglichen Wechsels von einer zentralverwalteten in eine marktwirtschaftliche<br />

Gesellschaft aufstellt, nämlich zwei Generationen: eine, die das alte System überwindet und eine, die das neue<br />

aufbaut. Vielleicht ist aber auch die Dynamik heutiger Prozesse zu sehen und besser zu verstehen, wenn statt<br />

einer vermeintlich 40-jährigen Entwicklungsdauer eine Phase von 12 Jahren genügt, um ein gewünschtes (politisches)<br />

Ziel zu erreichen. Der unbedingte Wille und die Zielidentität eines ganzen Volkes sowie die Intelligenz<br />

und der Fleiß der Menschen waren und sind dafür ausschlaggebend. Dabei musste Slowenien nicht nur<br />

den Kommunismus überwinden, sondern nebenbei auch einen Staat aufbauen, den es noch nie hatte.<br />

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