winter/zima 2004/2005 - Pavlova hiša
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Frage ich jetzt nach dem Empfinden von damals, ist es<br />
nicht Sentiment und selige Erinnerung an einen Achtjährigen,<br />
dem die Welt offen stand – man mußte sich, vom<br />
Fuhrmann unbemerkt, hinten auf die Deichselstange des<br />
Pferdefuhrwerks hocken und dann addio... im Sinne Eichendorffs:<br />
„Wir sehnen uns nachhause und wissen nicht<br />
wohin.“ Ich spürte gern nach, welche Ahnung jenes Kind<br />
von der Welt hatte, vielleicht von Europa. Vergebens. Bestenfalls<br />
kann ich konstruieren, unterstellen, erfinden. Und<br />
werde merken, daß es mir Jahre später kaum anders geht.<br />
Da sind Bilder, die mich überfallen. Höre ich „Litauen“,<br />
steht sofort ein blonder Jüngling vor mir, sympathisches<br />
Gesicht voll Tatendurst. Er stützt sich auf eine armdicke<br />
Stange, um ihn herum liegen Tote. Aus dem Buch, worin<br />
das Foto abgedruckt ist („Schöne Zeiten – Judenmord aus<br />
der Sicht der Täter und Gaffer“, Frankfurt 1988): „Auf diese<br />
Weise hat er innerhalb einer dreiviertel Stunde die ganze<br />
Gruppe von 45-50 Personen erschlagen. Nachdem alle<br />
erschlagen waren, legte der Junge die Brechstange beiseite,<br />
holte sich eine Ziehharmonika, stellte sich auf den Berg der<br />
Leichen und spielte die litauische Nationalhymne. Das Verhalten<br />
der anwesenden Zivilpersonen (Frauen und Kinder)<br />
war unwahrscheinlich, denn nach jedem Erschlagenen fingen<br />
sie an zu klatschen, und bei Beginn der Nationalhymne<br />
wurde gesungen und geklatscht.“<br />
Der Schock gilt auch dem Umstand, daß dies meine erste<br />
Litauen-Assoziation sein muß. So sieht mein Baltikum aus<br />
– wo mit den erschlagenen Juden die geographische Mitte<br />
Europas liegt. Die Shoah hält es in mir, dem Nachgeborenen,<br />
noch heute okkupiert. Ich sollte, ich weiß, meinen<br />
Kopf auch mit anderen litauischen Imagos füllen, allein<br />
schon meinetwegen. Aber in Kowno, wo dieses Massaker<br />
am 27. Juni 1941 veranstaltet wurde, in einem sonnigen<br />
Cafe sitzen? Womöglich auf jenem Platz? Unter Leuten, die<br />
womöglich singen oder Blödeleien eines Straßenclowns beklatschen?<br />
Hat Europa auch nur einen Handbreit Boden,<br />
der nicht blutgetränkt ist? Wir sonnen uns im Schatten von<br />
Ermordeten. Andere Plätze sind nicht.<br />
Das Grauen nie vergessen, ja, doch soll es mich zwanghaft<br />
nicht beherrschen dürfen, sonst hat der Totschläger auf<br />
ewig gesiegt. Das nicht zulassen. Schließlich denkt es sich<br />
in mir zum Stichwort „Deutschland“ nicht mehr intuitiv<br />
an Auschwitz, nicht an Hoyerswerda, wo man vor zehn<br />
Jahren das Verbrennen von Menschen beklatscht hat. Weil<br />
ich Deutschland ein bißchen kenne und Litauen überhaupt<br />
nicht? Weil ich andere Bilder davon habe, solche ohne<br />
Schande? Bei „Isonzo“ fällt mir ein, daß Großvater dort, als<br />
er jung war, junge Italiener getötet hat für seinen Kaiser,<br />
mit dem Bajonett; „Italien“ hingegen heißt Meer, Pinienduft,<br />
Petrarca. Die „Französische Revolution“ – welch europäisches<br />
Datum! – erweckt sowohl Liberté, Égalité, Fraternité<br />
als auch den Bericht des Vicomte de Bonard. Der<br />
beschreibt im August 1792, wie revolutionäre Massen die<br />
königlichen Küchenjungen, keiner älter als zehn, in die<br />
Suppenkessel werfen und kochen wie Krebse. „Man kann<br />
sich fragen, woher dieses seit Chlodwig christianisierte<br />
Volk, das seit mindestens einem Jahrhundert als das zivilisierteste<br />
der Welt gilt, spontan all diese erfindungsreichen<br />
Foltern nimmt. Wahrscheinlich liegt es daran, daß das Innerste<br />
radikal böse ist und es den behauenden, schleifenden,<br />
erziehenden Priestern in langer Arbeit nicht gelang, zu<br />
dieser Eiterbeule der Gemeinheit vorzudringen und sie aufzustechen.“<br />
Während unter den Kupferkesseln das Feuer<br />
der Aufklärung singt, tritt die „Erklärung der Menschenund<br />
Bürgerrechte“ in Kraft, feierlich.<br />
Jaja, jene behauenden, schleifenden, erziehenden Priester<br />
sind auch ein eigenes Kapitel, selbst nicht arm an Barbarei.<br />
Und was nach der kommunistischen „Brüderlichkeit und<br />
Einigkeit“ aus den verbrüderten und einigen Völkern am<br />
Balkan kroch, erzählt eine Frau, die ein serbisches Vergewaltigungslager<br />
überlebt hat: Um auf all das zu kommen,<br />
was jene einfallsreichen Männer mit ihr machten, müßte<br />
sie sich hinsetzen und sehr, sehr lange nachdenken. Soll<br />
man noch Lenin zitieren, der in Zürich und London ein<br />
neues Rußland schmiedete und schrie: „Glaubt ihr wirklich,<br />
daß wir siegen können, ohne zum grausamsten Terror<br />
zu greifen?“ Europa: unübersehbares Terrain von alten<br />
Traumata und Schauplatz für neue.<br />
Freilich wächst auch die Zuversicht, und wenn man sie<br />
herbeibehaupten muß: Der Umgang zwischen Frankreich<br />
und Deutschland zum Beispiel, eine Leistung. Und welche<br />
Chancen, sogar in meinem Haus: daß Schüler aus Frankreich,<br />
Rumänien, Italien bei uns wohnen und meine Kinder<br />
in Portugal, den Niederlanden und Deutschland studieren.<br />
So heiter und fröhlich, wie sie miteinander umgehen,<br />
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