Unabhängige Verfahrensvertretung des Kindes – unverzichtbarer ...
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<strong>Unabhängige</strong> <strong>Verfahrensvertretung</strong> <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>unverzichtbarer</strong> Bestandteil eines kindszentrierten<br />
Kin<strong>des</strong>schutzverfahrens<br />
Peter Grossniklaus, dipl. Sozialarbeiter, Basel und Stefan Blum,Rechtsanwalt, Zürich 1<br />
Die Autoren formulieren thesenartig - heute noch kaum eingelöste - Forderungen an ein<br />
kindsinteressenzentriertes Kin<strong>des</strong>schutzrecht (Art. 307 ff. ZGB). Sie begründen insbesondere,<br />
weshalb die vermehrte Einsetzung von behördenunabhängigen Verfahrensvertretern und die<br />
Einführung einer obligatorischen <strong>Verfahrensvertretung</strong> für Kinder in bestimmten Fällen im<br />
Kin<strong>des</strong>schutzrecht notwendig und dringlich ist. Die Einführung bzw. Aufwertung dieses Instituts ist<br />
nicht nur ein Abbild der heute in der Gesellschaft verändert wahrgenommenen Stellung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>,<br />
sondern trägt auch markant dazu bei, Kin<strong>des</strong>schutzmassnahmeverfahren besser nach dem Wohl <strong>des</strong><br />
Kin<strong>des</strong> zu orientieren. Die Institutionalisierung und Professionalisierung der Kindervertretung<br />
führt zur überfälligen Umsetzung internationaler, aber auch nationaler Rechtsverpflichtungen (Art.<br />
3 der UN-Kinderrechtekonvention, Art. 11 BV, Art. 19 Abs. 2, 301 und 307 ZGB) und kann auf die<br />
guten Erfahrungen vieler (v.a. europäischer) Länder mit diesem Rechtsinstitut zurückgreifen.<br />
(Frz. Übersetzung der Regeste)<br />
(Italienische Übersetzung der Regeste)<br />
1) Im geltenden schweizerischen Kin<strong>des</strong>schutzverfahren werden zum einen die betroffenen<br />
Kinder 2 und deren Interessen (zu) häufig nicht oder auf unadäquate Weise in das Verfahren<br />
einbezogen, zum anderen können sich die wohlverstandenen Kindsinteressen (zu) häufig nicht<br />
durchsetzen 3 .<br />
Die Gründe dafür sind vielfältig und im wesentlichen die folgenden:<br />
a) Ganz grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es bei der Feststellung von Kindswohlgefährdungen<br />
und deren Behebung durch geeignete Kin<strong>des</strong>schutzmassnahmen um eine der<br />
schwierigsten (vormundschafts-)behördlichen Aufgaben überhaupt handelt. Pflege und Erziehung<br />
von Kindern ist primär Sache der Eltern (oder anderer Sorgeberechtigter), welchen dabei ein<br />
grosser Spielraum zugestanden wird. Wann die Grenze zur Kindswohlgefährdung überschritten und<br />
damit die Verpflichtung <strong>des</strong> Staates zum Eingreifen gegeben ist, ist oft sehr schwierig zu<br />
entscheiden 4 . Gleich verhält es sich mit der Frage, welches die richtige zu ergreifende Massnahme<br />
ist. In diesem Umfeld, wo richtig und falsch manchmal so nahe beieinander liegen und sowohl<br />
Unterlassungen wie auch behördliche Massnahmen nicht nur Chancen, sondern auch grosse Risiken<br />
in sich bergen, ist die Verantwortung der Behörden und der vormundschaftlichen Mandatsträger<br />
entsprechend gross. Alle involvierten erwachsenen Personen sind sich dieser Verantwortung und<br />
dem Gewicht der auf dem Spiel stehenden Güter in aller Regel auch bewusst und agieren<br />
entsprechend, oft sehr aktiv und auch emotional.<br />
b) Dass die betroffenen Kinder regelmässig aus verschiedenen Gründen im Verfahren nicht direkt<br />
agieren (können) und daran nur marginal beteiligt sind, kann durch die Tendenz erklärt werden,<br />
dass das Verfahren in seiner heutigen Ausgestaltung auf die Erwachsenen ausgerichtet ist und das<br />
Kind lediglich als - verfahrensabwesen<strong>des</strong> - Objekt eine Rolle spielt. Hinzu kommt, dass die direkte<br />
Kommunikation mit dem Kind - je nach Alter - entweder nicht möglich ist oder aber besondere<br />
Fähigkeiten oder Umstände erfordert, welche von den Behörden aus verschiedenen Gründen nicht<br />
sichergestellt werden können oder wollen (Ausbildungsmängel, Personalmangel, Zeitmangel bzw.<br />
hohe Dringlichkeit, Geldmangel, Überforderung der Mandatsträger, Misstrauen gegenüber Behörde<br />
und Jugendhilfevertreterinnen etc.). Eine neue rechtstatsächliche Untersuchung bestätigt klar, dass<br />
das Kin<strong>des</strong>schutzverfahren nicht kindzentriert, sondern familienzentriert ist: Eltern und Kindern<br />
wird in etwa die gleich grosse prozessuale Aufmerksamkeit geschenkt 5 . Diejenigen Verfahren, die
kindzentriert ablaufen, betreffen eine ganz bestimmte Gruppe von Kindern: Am meisten<br />
Aufmerksamkeit erhält vereinfacht gesagt, wer weiblich, schweizerischer Herkunft und zwischen<br />
16 und 18 Jahre alt ist 6 . Dem Kin<strong>des</strong>schutzrecht liegt das Bild <strong>des</strong> (von den Eltern oder vom Staat)<br />
abhängigen und gefährdeten sowie zur Wahrnehmung von Selbstverantwortung (weitestgehend)<br />
unfähigen Kin<strong>des</strong> zugrunde. Dieses Bild, welches der heute dominierenden Auffassung der<br />
kontinuierlichen, dynamischen und sehr individuellen kindlichen Entwicklung zum<br />
selbstverantwortlich handelnden Menschen klarerweise nicht mehr entspricht, steht den<br />
(Verfahrens-) Partizipationsrechten von Kindern im Wege, weshalb diesen Rechten und ihrer<br />
Realisierung besonderes Augenmerk geschenkt werden muss.<br />
c) Weiter ist festzustellen, dass alle an einem Kin<strong>des</strong>schutzverfahren beteiligten Personen, seien es<br />
Behördenmitglieder, Vertreterinnen der Jugend- und Familienhilfe oder Sorge-/Obhutsberechtigte<br />
und deren Vertreter entweder verschiedene Interessen gleichzeitig vertreten oder sogar von<br />
Gesetzes wegen allparteilich zu sein haben. Die in der UN-KRK verbriefte Maxime, dass das<br />
Kin<strong>des</strong>wohl in solchen Verfahren vorrangig zu berücksichtigen ist, verlangt nun aber zwingend,<br />
dass die Bedürfnisse und das Interesse <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>, wenn nicht von diesem selbst, dann doch<br />
min<strong>des</strong>tens von einer professionellen Vertretung eingebracht werden (können), die einzig die Sicht<br />
<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> einbringt, ohne dass <strong>des</strong>sen Verfahrensposition durch die gleichzeitige Wahrnehmung<br />
von Drittinteressen entwertet wird. Es versteht sich von selbst, dass solche Kindervertretungen auch<br />
die entsprechenden persönlichen Fähigkeiten und Fachkompetenzen aufweisen müssen. Der Aufbau<br />
der entsprechenden Ausbildungsgänge und Berufsbilder hat in der Schweiz zwar begonnen, steht<br />
aber erst ganz am Anfang 7 .<br />
d) Besondere Bedeutung haben diese Überlegungen zu den Interessenkonflikten für das<br />
Rechtsmittelverfahren: In Kin<strong>des</strong>schutzverfahren kommt es einerseits aufgrund der Komplexität der<br />
sich stellenden Probleme und/oder der mangelnden Professionalität und Überforderung von<br />
Behörden überdurchschnittlich häufig zu erstinstanzlichen Fehlbeurteilungen. Die schweizerische<br />
Rechtsordnung sieht grundsätzlich vor, dass solche behördlichen Entscheidungen angefochten und<br />
auf ihre Übereinstimmung mit dem Kin<strong>des</strong>wohl überprüft werden können. Aus Sicht der<br />
betroffenen Kinder ist diese wichtige rechtsstaatliche Garantie aber allzu oft reine Makulatur. Ein<br />
Beispiel: Die Wegnahme von Kindern aus der Obhut und gegen den Willen der Eltern oder<br />
Pflegeeltern ist vielfach ein heikler, uneindeutiger Entscheid. Ob er angefochten wird oder nicht, ist<br />
jedoch - nicht nur wegen der viel zu kurzen 10-tägigen Anfechtungsfristen - oft vom reinen Zufall<br />
abhängig. Manche Eltern sind aus verschiedenen Gründen nicht dazu in der Lage, Pflegeeltern<br />
setzen sich aus naheliegenden Gründen praktisch nie gegen Behördenentscheide zur Wehr, die sie<br />
als falsch empfinden. Wenn sie es trotzdem und unter Hinweis auf die Verletzung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>wohls<br />
tun, wird ihnen von den Aufsichtsbehörden regelmässig entgegenhalten, sie seien als (Pflege)-<br />
Eltern nicht befugt bzw. nicht in der Lage, das Kin<strong>des</strong>wohl bzw. -interesse zu vertreten. Die Folge:<br />
Rechtsmittel von Eltern und Pflegeeltern werden von vorneherein nicht ernst genommen und häufig<br />
mit „Nichteintretensentscheiden“ erledigt. Sachentscheide werden formaljuristisch und floskelhaft<br />
gefällt. Entsprechend selten kommt es zu Korrekturen von falschen Behördenentscheiden. Es wäre<br />
aber nichts anderes als eine minimale Qualitätssicherung, wenn für schwerwiegende und<br />
folgenreiche Entscheide 8 immer eine unabhängige Kinderverfahrensvertretung eingesetzt werden<br />
müsste, die die Kinderinteressen von Anfang an glaubwürdig und professionell wahrnehmen und<br />
gegebenenfalls die Überprüfung der Einhaltung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>wohls durch die Aufsichtsbehörde<br />
auslösen kann 9 . Dies gilt gleichermassen für die Fälle von Rechtsmittelverfahren, die von Eltern<br />
oder Pflegeeltern im eigenen oder im Kin<strong>des</strong>interesse initiiert werden.<br />
e) Ein weiterer Grund für die besonderen Schwierigkeiten der Behörden bei der Realisierung von<br />
Kin<strong>des</strong>wohl liegt schlicht darin begründet, dass Vormundschaftsbehörden und die<br />
Familienhilfeorgane von den betroffenen Menschen regelmässig nicht (nur) als helfend und<br />
unterstützend, sondern als unwillkommene, misstrauische und machtorientierte Eindringlinge<br />
wahrgenommen werden, denen sie ohnehin hilflos ausgeliefert sind. Nicht von ungefähr werden<br />
Kin<strong>des</strong>schutzverfahren von Beteiligten überdurchschnittlich oft als kafkaesk und bar jeder Vernunft<br />
und Menschlichkeit beschrieben. Solche (stets subjektiven) Befindlichkeiten sind kein guter<br />
Nährboden für die Realisierung von Kin<strong>des</strong>wohl. Die Einsetzung einer unabhängigen
<strong>Verfahrensvertretung</strong> für das betroffene Kind trägt nach der Erfahrung vieler europäischer Länder<br />
dazu bei, das Misstrauen und die Hilflosigkeit bei den Verfahrensbeteiligten zu vermindern, was<br />
wiederum das Verfahren vereinfacht und die Qualität seiner Resultate verbessert.<br />
2) Ein effektives Kin<strong>des</strong>schutzrecht ist kin<strong>des</strong>zentriert auszugestalten und zu interpretieren.<br />
Dies verlangt zum einen das heutigen Verständnis <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> in der Gesellschaft (Europas, der<br />
USA und Australiens/Neuseelands), welches gemeinhin als Personalisierung im Sinne der Entwicklung<br />
<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> vom Objekt zum Subjekt der Rechtsordnung bezeichnet wird 10 . Andererseits ist der<br />
schweizerische Gesetzgeber durch den Beitritt <strong>des</strong> Schweiz zur UN-KRK auch an deren Art. 3 Abs.<br />
1 gebunden, welcher ausdrücklich verlangt, dass bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, (….),<br />
"das Wohl <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist". Gleichbedeutend<br />
ist Art. 12 der UN-KRK, über welchen die Vertragsstaaten dem urteilsfähigen Kind zusichern, seine<br />
Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern und die Meinung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong><br />
angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife zu berücksichtigen. Typische Verfahrensrechte<br />
<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> als Ausdruck seiner Subjektstellung sind das Recht auf Anhörung, das<br />
Recht auf eine eigene <strong>Verfahrensvertretung</strong> („Anwalt <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>“), das Recht zur Erhebung von<br />
Rechtsmitteln, das Recht auf Teilnahme am Verfahren (Prozessfähigkeit) und das Recht auf die<br />
Stellung von Anträgen 11 . Alle diese Rechte sind im Rahmen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>schutzrechts grundsätzlich<br />
zu regeln.<br />
3) Die professionelle <strong>Verfahrensvertretung</strong> von Kindern ist ein wesentlicher Bestandteil<br />
eines kin<strong>des</strong>zentrierten Kin<strong>des</strong>schutzverfahrens. Diese Vertretung ist in jedem Fall interdisziplinär<br />
auszurichten.<br />
Kinder wollen in ihren Interessen ernst genommen werden. Ihrem Alter entsprechend haben sie oft<br />
bereits eigene Vorstellungen von Lösungswegen oder wissen, was ihnen gut tut und was nicht. In<br />
psychosozialen Handlungsfeldern sind wir von einem Menschenbild geleitet, das Menschen die<br />
Fähigkeit und das Recht auf Selbstdefinition einräumt. Wir gehen auch davon aus, dass Menschen<br />
ein Eigeninteresse an Konfliktschlichtung haben, dass sie über Selbsthilfepotenziale und -<br />
ressourcen verfügen und eigene Problemlösungskompetenzen mitbringen. Durch dieses und mit<br />
diesem Menschenbild ist die Beteiligung von Betroffenen in diesen Arbeitsfeldern nicht nur zu begründen,<br />
sondern sie wird geradezu zu einer Selbstverpflichtung. Die professionelle <strong>Verfahrensvertretung</strong><br />
muss <strong>des</strong>halb in einer Ausbildung interdisziplinär dazu befähigt werden.<br />
Juristisches Grundwissen ist unbestritten eine wichtige Voraussetzung für die Effektivität von <strong>Verfahrensvertretung</strong>en.<br />
Weit wichtiger aber, so zeigen Erfahrungen im Ausland 12 erscheint aber die<br />
Fähigkeiten zum Fallverstehen, d.h. diagnostische Kompetenzen. Die Sprache von Kindern - nonverbal<br />
und verbal - zu entschlüsseln, ihre Zeichen zu verstehen, die sie aussenden, und ihren Lösungen<br />
Glauben zu schenken, scheint die grösste Herausforderung für Professionelle zu sein. Als<br />
bereits ausgebildete Fachleute bringen sie ein Expertentum mit, das aber allzu oft zu einer Mentalität<br />
führt: Wir wissen, was für Dich gut ist. Sich von einer paternalistischen Mentalität, von Omnipotenzphantasien<br />
und Rettungsgedanken zu verabschieden, scheint darum eine wesentliche Aufgabe.<br />
In der Weiterbildung von <strong>Verfahrensvertretung</strong>en muss <strong>des</strong>halb dem Aspekt «<strong>Verfahrensvertretung</strong><br />
aus der Sicht der betroffenen Kinder» ganz besondere Bedeutung beigemessen werden. 13 Die Fähigkeit<br />
<strong>des</strong> Fallverstehens und damit <strong>des</strong> richtigen Zuhörens und Kommunizierens mit Kindern<br />
(und Erwachsenen) ist für Kinderverfahrensvertreterinnen zentral.<br />
4) Die Interessensvertretung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> ist im Verfahrensverlauf möglichst frühzeitig<br />
einzusetzen<br />
Unterlassene Eingriffe in das Elternrecht wie auch behördliche Überreaktionen können darauf beruhen,<br />
dass die Situation <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> falsch eingeschätzt wurde, oder dass seine - nicht voll erfassten<br />
Interessen - nicht genügend gewichtet werden. Angesichts der Unsicherheiten jeder künftigen Prog-
nose und dem mit Massnahmenentscheiden verbundenen Risiko 14 , kann <strong>des</strong>halb die Entscheidungsgrundlage<br />
für die Behörde markant verbessert werden, wenn die Kin<strong>des</strong>situation mit Hilfe einer<br />
<strong>Verfahrensvertretung</strong> frühzeitig klar erkannt wird. Andererseits bedeutet die frühzeitige Bestellung<br />
einer <strong>Verfahrensvertretung</strong> <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> auch zeitlich keine «Mehrarbeit» und die Beurteilung der<br />
Situation <strong>des</strong> betroffenen Kin<strong>des</strong> gewinnt an Qualität, da eine für das Kind handelnde Interessensvertretung<br />
den Vorschlag unterbreiten kann, der aus der Sicht <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> «der beste» ist oder der<br />
doch immerhin die «am wenigsten schädliche Alternative» 15 im Blick hat.<br />
Sollte auch die Zufriedenheit der Kinder selbst Massstab der Interessensvertretung sein, müssen sie<br />
auch die Erfahrung machen können, dass sie von Anfang an Beteiligte der Konfliktregulierung sind.<br />
Dies wird auch den anderen Verfahrensbeteiligten signalisiert, was sich auf den Verlauf ausserordentlich<br />
beruhigend auswirken kann.<br />
5) Die Kinderverfahrensvertretung wird im schweizerischen Kin<strong>des</strong>schutzrecht nur dann<br />
Wirkung entfalten können, wenn sie ausdrücklich und verbindlich als (von Behörden und<br />
Sorgeberechtigten) unabhängiges Institut gesetzlich geregelt und für besondere Fälle obligatorisch<br />
erklärt wird.<br />
Aus der während der letzten Jahrzehnte grundlegend veränderten Stellung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> in der Gesellschaft<br />
und gestützt auf grundlegende schweizerische Rechtsnormen (Art. 11 und 29 Abs. 3 BV, Art.<br />
19 und 314 ZGB) sowie internationale Übereinkommen (UN-KRK und Europäisches Übereinkommen<br />
über die Ausübung von Kinderrechten 16 ), lässt sich zwar schon heute die Zulässigkeit der<br />
(unabhängigen) Kinderverfahrensvertretung in Kin<strong>des</strong>schutzsachen zwanglos ableiten, sei es im<br />
Rahmen einer Mandatierung durch das urteilsfähige Kind (Art. 19 Abs. 2), sei es via Einsetzung<br />
durch die Behörden, welche von Amtes wegen oder auf Antrag tätig werden können. Allerdings ist<br />
von diesem Institut im Schweizer Recht (noch) nicht ausdrücklich die Rede. Bedauerlicherweise ist<br />
<strong>des</strong>halb nicht nur die Zulässigkeit, sondern auch das konstruktive Potential der Kinderverfahrensvertretung<br />
nicht nur bei den betroffenen Menschen, sondern auch bei den Behörden kaum bekannt.<br />
Es ist <strong>des</strong>halb notwendig, dass die Interessensvertretung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> - der eigentliche « Anwalt <strong>des</strong><br />
Kin<strong>des</strong> 17 » - im Rahmen der laufenden Vormundschaftsrechtsrevision explizit im Kin<strong>des</strong>schutzrecht<br />
geregelt wird 18 .<br />
Um die Interessen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> vertreten zu können, muss seine <strong>Verfahrensvertretung</strong> unabhängig -<br />
im Sinne von nicht weisungsgebunden und nicht in die Behördenorganisation eingebunden - arbeiten<br />
können. Die Verfahrensvertreterin tritt als unabhängige Fachperson in das Verfahren ein und<br />
nimmt die Vertretung <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>willens und <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>wohls 19 wahr. Sie muss - wenn immer<br />
möglich - zum Kind eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen und mit allen involvierten Erwachsenen<br />
in Kontakt sein. Das Kind ist und wird fortlaufend - altersentsprechend - über seine Rechte und<br />
Möglichkeiten informiert. Es kennt den Verfahrensstand, kennt die anderen Beteiligten (und umgekehrt)<br />
und sieht in der <strong>Verfahrensvertretung</strong> seine Interessensvertretung.<br />
6) Die Tatsache, dass das Scheidungsverfahren heute bezüglich der Kinderbelange kindszentrierter<br />
ausgestaltet ist als das Kin<strong>des</strong>schutzrecht, ist ein schweizerisches Unikum, welches<br />
dem zufälligen chronologischen Ablauf der ZGB-Teilrevisionen zuzuschreiben und sachlich<br />
nicht zu rechtfertigen ist. Die laufende Vormundschaftsrechtsrevision ist zum Anlass zu nehmen,<br />
das Kin<strong>des</strong>schutzverfahren min<strong>des</strong>tens so kin<strong>des</strong>zentriert wie das Scheidungsrecht auszugestalten<br />
und insbesondere die unabhängige <strong>Verfahrensvertretung</strong> für Kinder ausdrücklich<br />
zu regeln.<br />
Die meisten ausländischen Rechtsordnungen haben die Kin<strong>des</strong>vertretung zuerst im Bereich <strong>des</strong> zivilrechtlichen<br />
Kin<strong>des</strong>schutzes eingeführt, und erst später in andere (familienrechtliche) Verfahren,<br />
was sich auch für unser Land aufgedrängt hätte: In Kin<strong>des</strong>schutzverfahren hat die Vormundschaftsbehörde<br />
- noch zugespitzter als im Scheidungsverfahren - die Aufgabe, elternrechtliche Positionen<br />
mit Anforderungen an Kin<strong>des</strong>wohl zu vereinbaren und letztendlich im Sinne <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>wohls tätig<br />
zu werden. Vereinfacht gesagt ist Scheidung "nur" die Neuorganisation der Familie. Im Kin<strong>des</strong>-
schutzbereich steht demgegenüber häufiger der Bruch der Eltern-Kind-Beziehung zur Diskussion.<br />
Im Dreieck Eltern-Kind-Staat kommt dabei dem Staat eine verstärkte Position zu. Diese Konstellation<br />
legt es besonders für das Kin<strong>des</strong>schutzrecht nahe, die Position <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> und seiner Interessen<br />
zu stärken. Dies folgt aus der Erkenntnis, dass die Unterstellung der Identität von Staats- und Kinderinteressen<br />
unwiderruflich der Vergangenheit angehört und dass Kinder Individuen und Grundrechtsträger<br />
sind, die auch vor (ungerechtfertigten) staatlichen Eingriffen geschützt werden müssen.<br />
Die Schweiz geht den umgekehrten Weg: Die unabhängige Kin<strong>des</strong>vertretung und die Anhörung<br />
wurden bisher einzig im Scheidungsrecht mit der Revision von 1998 auf den 1. Januar 2000 eingeführt.<br />
Seither wurde die Kin<strong>des</strong>vertretung in Scheidungsverfahren immer wieder einmal mit positiven<br />
Erfahrungen eingesetzt. Allerdings hat dieses Institut bislang - wohl wegen <strong>des</strong>sen fakultativen<br />
Ausgestaltung in Art. 146 ZGB - keine grössere quantitative Bedeutung erlangt. Dies zeigt eindrücklich,<br />
wie schwer sich die schweizerische Justiz und Verwaltung mit der Personalisierung <strong>des</strong><br />
Kin<strong>des</strong> auf dem Gebiet <strong>des</strong> Verfahrensrecht tut. Der Gesetzgeber kann aus dieser Erfahrung lernen<br />
und im Kin<strong>des</strong>schutzrecht mit Vorteil eine Regelung wählen, die die Kin<strong>des</strong>vertretung für gewisse<br />
besonders folgenschwere Verfahren ausdrücklich für unumgänglich erklärt oder die von der zuständigen<br />
Behörde verlangt, dass die Nichtanordnung einer Kin<strong>des</strong>vertretung stets zu begründen ist.<br />
Nur eine solche Grundlage schafft die Voraussetzungen dafür, dass die <strong>Verfahrensvertretung</strong> für<br />
Kinder in der ganzen Schweiz innerhalb der nächsten 10 Jahre einen ernstzunehmenden Beitrag zur<br />
Umsetzung der Kinderrechte und zur Verbesserung <strong>des</strong> Wohls vieler betroffener Kinder leisten<br />
kann.<br />
1 Peter Grossniklaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Fachstelle der Pflegekinder-Aktion Schweiz, Stefan Blum vertritt<br />
regelmässig Kinder und Jugendliche in behördlichen und gerichtlichen Verfahren<br />
2 Nach Artikel 1 <strong>des</strong> Übereinkommen über die Rechte <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> vom 20. November 1989 (UN-KRK) ist ein Kind jeder<br />
Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden<br />
Recht nicht früher eintritt.<br />
3 Der vorliegende Artikel zeigt die Problematik ausschliesslich am Beispiel <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>schutzverfahrens auf. Die Autoren<br />
legen aber Wert auf die Feststellung, dass sie ihre Überlegungen grundsätzlich für alle Verfahren anwendbar halten, die<br />
Kinder in ihren wichtigen Rechten, Interessen und Bedürfnissen tangieren.<br />
4 vgl. dazu anschaulich Cyril Hegnauer, ZVW 1/06, S. 35 ff<br />
5 Michelle Cottier (2006): Subjekt oder Objekt? Die Partizipation von Kindern in Jugendstraf- und zivilrechtlichen<br />
Kin<strong>des</strong>schutzverfahren,Bern, S.213 ff.<br />
6 Michelle Cottier, a.a.O. S… 216<br />
7 Verschiedene Fachhochschulen bieten ab diesem Jahr entsprechend spezialisierte Fortbildungen; in Genf besteht seit 1996<br />
der Verein Juris Conseil Junior, in Zürich wurde 2006 der Verein Kinderanwaltschaft Schweiz gegründet, beide mit dem<br />
Hauptziel, die Kinderverfahrensrechte in der Schweiz im Sinn der UN-KRK zu verbessern<br />
8 namentlich bei Sorge- und Obhutsrechtangelegenheiten, hochstrittigen Besuchsrechtsstreitigkeiten, fürsorgerischer Freiheitsentziehung<br />
9 wie es z.B. in Deutschland seit 1998 gesetzlich geregelt ist: § 50 <strong>des</strong> Gesetzes über die freiwillige Gerichtsbarkeit FGG<br />
10 dazu Simone Dölitzsch (2005): Vom Kin<strong>des</strong>schutz zu Kin<strong>des</strong>rechten, Bielefeld, S. 9 ff.<br />
11 Simone Dölitzsch, a.a.O., Seite 165 ff.<br />
12 Manuela Stötzel(2005): Wie erlebt das Kind die Verfahrenspflegschaft? Herbholz-Heim<br />
13 Verein Kinderanwaltschaft Schweiz (2005): Standards für Kinderverfahrensvertretung: 3. Zur Person der/<strong>des</strong> Kinderverfahrenservertreterin/-vertreters<br />
und 6.Reflexion der Arbeit. Zürich, und Bun<strong>des</strong>arbeitsgemeinschaft für Verfahrenspflege(2005): Weiterbildungsrichtlinien,<br />
Berlin<br />
14 vgl. 5<br />
15 vgl. «Über die am wenigsten schädliche Alternative», in: Joseph Goldstein; Anna Freud; Albert J. Solnit (1991): Jenseits<br />
<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>wohls. Mit einem Beitrag von Spiros Simitis. Mit einem Nachwort (zur Ausgabe 1991): Weitere Bemerkungen zur<br />
Anwendung <strong>des</strong> Standards der am wenigsten schädlichen Alternative. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., Seiten 49 - 57<br />
16 von dem der Bun<strong>des</strong>rat behauptet, das schweizerische Recht werde ihm bereits gerecht: Achter Bericht über die Schweiz<br />
und die Konventionen <strong>des</strong> Europarates, S. 3835
17 zurückgehend auf das Standardwerk von Ludwig Salgo (1996): Der Anwalt <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong>. Die Vertretung von Kindern in zivilrechtlichen<br />
Kin<strong>des</strong>schutzverfahren. Frankfurt a.M.<br />
18 vgl. etwa den Vorschlag von Stefan Blum; Michelle Cottier (2006): Beistand für Kinder: Die Schweiz im Hintertreffen, in:<br />
plädoyer, Heft 5/2006, (28 <strong>–</strong> 33, hier S. 33)<br />
19 zur zentralen und breiten Raum einnehmende Kontroverse um die Vertretungskonzepte zwischen Kin<strong>des</strong>wohl und Kin<strong>des</strong>wille<br />
kann hier aus Platzgründen nicht Stellung genommen werden; vgl. dazu aber Maud Zitelmann (2001): Kin<strong>des</strong>wohl und<br />
Kin<strong>des</strong>wille im Spannungsfeld von Pädagogik und Recht, Münster