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Vortrag Fulbert Steffensky - Evangelischer Kirchenbezirk Geislingen

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<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong><br />

„Zu verkünden das Evangelium den Armen„<br />

<strong>Vortrag</strong> am 27.6.2009 beim GAW-Fest in <strong>Geislingen</strong><br />

Johannes, der Täufer, liegt im Gefängnis und hört von Jesus, dem Nazarener, der Predigt und<br />

heilt.<br />

Wer ist er? Die alte und oft gestellte Frage an diesen Aufsehen erregenden Mann. Johannes<br />

schickte seine Jünger zu Jesus mit einer Frage an ihn: Bist du es, der da kommen soll, oder<br />

sollen wir auf einen anderen warten?<br />

Jesus sagt weder Ja noch Nein. Er verweist auf ein altes Versprechen und ein eindeutiges<br />

Zeichen, das schon der Prophet Jesaja gegeben hat. Zeichen des anbrechenden Reiches ist<br />

dies: Blinde sehen, und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören. Tote<br />

stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt.<br />

Das Evangelium: es ist also zunächst keine Lehre, kein Glaubensbekenntnis; nicht<br />

hauptsächlich eine Nachricht über Gott und Christus. Es ist eine gute Nachricht für die Armen<br />

und vom Leben Gebeutelten: Diese Stelle bei Matthäus ist dem Propheten Jesaja<br />

nachgesprochen. Bei ihm heißt es: „Der Geist Gottes ... hat mich gesandt, den Elenden<br />

gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, den Gefangenen<br />

Freiheit zu verkünden, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollten; zu trösten<br />

alle Trauernden.“<br />

Merkwürdig, wie materiell die Versprechungen jenes Geistes Gottes sind; wie beinahe<br />

materialistisch dieses Evangelium ist. Es ist zunächst nicht die Rede von Gnade, innerer<br />

Freiheit, Vergebung meiner Sünden, Erwählung zum Kind Gottes: es ist zunächst weder bei<br />

Jesaja noch in der Antwort Christi an Johannes die Rede von Wort und Sakrament. Es ist die<br />

Rede von Gefängnissen, die geöffnet werden; von Elenden, deren Elend ein Ende haben soll;<br />

von Blinden, die sehen sollen und von Aussätzigen. die rein werden und von Armen, denen<br />

die gute Nachricht gehört. Wir, die wir neuerdings so an Spiritualität interessiert sind, würden<br />

vielleicht etwas Höheres erwarten als das Geschenk Gottes, etwas eher Geistliches. Aber zwei<br />

Überraschungen: die gute neue Nachricht, an der Jesus als der Christus erkannt wird, definiert<br />

die Adressaten des Evangeliums genauer: Es sind die Armen. die gute Nachricht ist zunächst<br />

keine im engen Sinn religiöse Nachricht, sonder sie heißt Brot für die Armen; Freiheit für die<br />

Gefangenen; Tanz für die Lahmen.<br />

Christus will die Welt heilen, aber er will sie nicht allein heilen. Im 10. Kapitel des<br />

Matthäusevangeliums. wird die Geschichte der Berufung der 12 Jünger erzählt, und Jesus<br />

erklärt ihren Auftrag:<br />

Er rief seine 12 Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die<br />

austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Geht aber hin und predigt und<br />

sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Macht Kranke gesund, weckt Tote auf<br />

macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus!<br />

Zwei Aufgaben erhalten die Jünger und mit ihnen alle Christen: die Predigt der nahen<br />

Ankunft des Reiches Gottes und das Wirken der Zeichen des Reiches. Die Predigt allein,<br />

Worte und Versprechungen allein wecken noch keine Hoffnung. Was nicht seinen Schatten<br />

vorauswirft; was noch kein Vorspiel hat, daran kann man nicht glauben. Die Worte sind die<br />

eine Art, das nahe Reich anzusagen.


2<br />

Die andere Art der Ansage sind die großen Zeichen: die falschen Geister werden<br />

ausgetrieben, die Gebrechen und Krankheiten werden geheilt, Tote werden ins Leben gerufen.<br />

Es soll das Erbarmen Gottes über die Menschen kommen, die „verschmachtet sind und<br />

zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben“. Die Versprechungen Gottes sollen<br />

augenscheinlich werden, Sie sollen zur Vertreibung der falschen Geister werden, zur<br />

Gesundheit an Leib und Seele.<br />

Jesus war kein Spiritualist. In seiner Nähe wurde, die Frau von ihrem Blutfluss geheilt, Blinde<br />

sahen, Lahme gingen aufrecht und Trauergeister wurden vertrieben. Wir sind keine<br />

Charismatiker mit Wunderkräften, wie Jesus und vielleicht noch seine Jünger es waren. Und<br />

doch sind wir von dem Auftrag nicht entbunden, zu trösten und die Gebrechen der Seele und<br />

des Körpers zu heilen.<br />

Unsere Wunder kommen alltäglich, eher verstaubt und undramatisch daher. Sie heißen heute:<br />

Gustaf-Adolf-Tag in <strong>Geislingen</strong>, wo man an das Brot der Armen denkt. Sie heißen<br />

Missionswerk, wo man an die allein stehende Frau mit vielen Kindern in Peru denkt. Sie<br />

heißen Stadtmission, wo man gegen das Elend der arbeitslosen Jugendlichen arbeitet. Sie<br />

heißen Stephanusstift in Berlin und Johannisstift in Bethel und Karlshöhe in Ludwigsburg.<br />

Sie heißen Protest gegen das Unrecht und Aufstand gegen den Tod im Leben. Oft wissen die<br />

Diakonissen in Bethel und die unscheinbaren Wundertäter, die d im Bankenviertel von<br />

Frankfurt das Recht einklagen, nicht einmal, dass sie Wunder tun.<br />

Aber sie stehen auf der anderen Kanzel der Kirche. Die eine Kanzel — ich sage nicht die erste<br />

Kanzel! — ist die Kanzel des Wortes. Sie hat einen zentralen Platz in unseren Kirchen. Die<br />

andere Kanzel ist die der Zeichen: „Sprecht: das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!<br />

Macht ihre Kranken gesund.“ In unseren Kirchen ist die Ausbreitung des Wortes<br />

selbstverständlich und unbefragt. Unbefragt ist die Predigt, der Religionsunterricht, der<br />

Konfirmandenunterricht. Das ist richtig, denn Menschen brauchen den Trost und das Schwert<br />

des Wortes.<br />

Weniger selbstverständlich sind in unseren Kirchen die diakonischen Einrichtungen, die<br />

Kanzel der Zeichen, der Heilung und der Austreibung der falschen Geister. Wie stehen unsere<br />

Gemeinden zu diesen Werken? „Geht und predigt: das Himmelreich ist nahe<br />

herbeigekommen!“ Die Predigt aber allein richtet nichts aus ohne die<br />

Augenscheinlichkeiten; ohne dass Menschen gehen lernen, dass ihre Augen geöffnet und ihre<br />

Seelen getröstet werden.<br />

Wir bleiben nur Kirche des Wortes, wenn wir auch Kirche der wirksamen Zeichen bleiben.<br />

Nichts kommt mit dem reinen Wort aus, auch nicht das Reich Gottes. Nicht nur Gott misst<br />

uns daran, dass wir die beiden Sprachen nicht auseinander reißen:<br />

die Sprache des Wortes und die Sprache der Vorzeichen des Reiches.<br />

Auch die Gesellschaft glaubt der Kirche nur, wenn sie das Wort und die starken Zeichen in<br />

gleicher Weise ehrt. Die Diakonie und die Einklagung des Rechts für die Schwachen ist eine<br />

Grundaufgabe der Kirche. Unsere staubigen, kleinen, mühseligen Wunder sind nicht weniger<br />

als die großen Wunder Christi.<br />

Christus lehrt uns, unsere Horizonte öffnen, und darum gehen unsere Interessen und Sorgen<br />

heute in die fremden Länder, zu unseren evangelischen Geschwistern, die in kleinen und<br />

bedrängten Gruppen leben und deren Leben nicht selbstverständlich ist. Wir gehen in die<br />

Fremde. Wer keine Heimat hat, verzweifelt. Wer nicht mehr als seine eigene Heimat hat,<br />

verblödet. Wer nur sich selber kennt verdummt. Darum die Läden aufgestoßen und die Fester<br />

geöffnet zu den anderen Welten: Horizonte öffnen. Das heißt nicht nur, andere<br />

Lebensauffassungen und Glaubenswege wahrnehmen und kennen lernen. Es heißt auch, die<br />

anderen nicht im Stich lassen. Toleranz heißt lassen, und nicht im Stich lassen. Wie ist es<br />

damit in unserer Kirche?<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>


3<br />

Wenn Protestanten über die Kirche reden, haben sie oft eine merkwürdige Kunst sich in die<br />

Hoffnungslosigkeit hineinzureden, um nicht zu sagen in eine genüssliche Hoffnungslosigkeit.<br />

Aber die Kirche hat das Missionswerk, das Gustaf-AdolfWerk, zwei Läuse in ihrem Pelz. Sie<br />

kratzt sich zwar gelegentlich, wenn die Läuse beißen, aber sie entlaust sich nicht. Es sind<br />

Stellen, wo die Fenster aufgestoßen und Horizonte der Kirche geöffnet werden. So nehmen<br />

wir mehr wahr als uns selber. Wir neben El Salvador wahr und Namibia und die Philippinen.<br />

Schön, eine Kirche, die nicht nur in sich selber gefangen ist und deren Horizont sich nicht<br />

begrenzt auf Hamburg Altona und auf <strong>Geislingen</strong> - Mitte. Das nimmt uns die provinzielle<br />

Enge, und es lässt uns in mehr beheimatet sein als in der Dumpfheit des eigenen Ortes.<br />

Ich war vor kurzem in einer Gemeinde, die ein Hilfsprojekt für allein Stehende bolivianische<br />

Frauen unterstützen. Welch ein Lebensreichtum, wenn Frauen in dieser Gemeinde diese allein<br />

erziehenden Frauen in Bolivien als ihre Schwestern erkennen. Sie haben sie nie gesehen, und<br />

sie sind Schwestern. Welch ein Lebensreichtum! Welche Würde bedeutet es für uns, unsere<br />

Grenzen zu sprengen; nicht gefangen zu sein in der eigenen Horde und im eigenen Land,<br />

sondern ein Mensch mit Horizonten und mit Freiheit zu sein. Was wir da tun, indem wir<br />

Namibia, den Kongo und die Philippinen im Auge haben, entheimatet uns vielleicht hier ein<br />

Stück. Dann werden wir ein Stück weit vaterlandslose Gesellen und Ausländer im eigenen<br />

Land. Und das ist schön. Die Heimat ist ja nicht nur ein Haus, in dem man geborgen ist und<br />

wohnen kann. Sie ist, wenn man nicht mehr als sie hat, auch ein Gefängnis. An andere Orte<br />

gehen, heißt also auch, mehr haben als das dumpfe Gefängnis.<br />

Das ist Kirche: nicht in den eigenen Horizonten ersticken müssen, nicht mit sich selber<br />

auskommen müssen. Das danken wir den Missionswerken und dem Gustaf-AdolfWerk: sie<br />

verhelfen der Kirche zu ihrer Eigentlichkeit: ein Ort, an dem Menschen leben mit stolzem<br />

Gesicht und mit weiten Horizonten.<br />

Und noch eine kleine Brotgeschichte aus den Schweizer Kirchen: In der Fastenzeit haben sich<br />

die Schweizer Kirchen folgende Aktion ausgedacht, die sie Brot zum Teilen nennen. Die<br />

Bäckereien sind aufgefordert ein spezielles Brot zum Teilen zu backen und zu verkaufen. Für<br />

jedes verkaufte Brot fließen 50 Rappen in Programme und Projekte von Fastenopfer und Brot<br />

für alle, also für die evangelischen und katholischen Hilfsprogramme. Die Kirchengemeinden<br />

werben mit viel Erfolg von Mund zu Mund, in Zeitungen und bei besonderen Anlässen für<br />

diese Aktion. Es ist schön, in ein Haus zu gehören, in dem Menschen sich so etwas ausdenken<br />

und durchführen. Wir sind nicht nur nackte Spatzenjunge, die mit aufgerissenem Schnabel die<br />

tägliche Gnadenfütterung Gottes erwarten. Wir sind Mitarbeiter Gottes, die ihn trösten und<br />

ihm helfen, das Recht der Armen zu finden und die Freiheit für die Gefangenen. Uns ist<br />

zugemutet, global zu denken. Es ist uns erlaubt, mehr im Sinn zu haben als uns selbst. Das ist<br />

nicht nur eine Zumutung. .Es ist die Verlockung zu unserem eigenen Reichtum.<br />

Ob man seiner eigenen Provinzialität entkommen kann, das ist nicht nur eine Frage des guten<br />

Willens. Es ist eine Frage unserer Spiritualität und unserer geistlichen Bildung. Sie lehren<br />

uns, die richtige Lesart des Evangeliums zu finden. Wie lernen Menschen, dass die Armen<br />

seine ersten Adressaten sind? Es ist nicht selbstverständlich, die Augen Christi in den Augen<br />

der hungernden Kinder, der vergewaltigten Frauen und der gefolterten Männer zu lesen. Man<br />

muss ein gebildetes Herz haben, um Gott in den Gestalten des Elends zu erkennen. Das ist<br />

nicht nur eine Frage der Moral. Eine Moral, die sich auf nichts anderes berufen kann als auf<br />

sich selber, bleibt kurzatmig.<br />

Wie lerne ich Empörung und Zorn? Wie lerne ich das Augenlicht der Blinden und den<br />

aufrechten Gang der Lahmen zu vermissen? Das ist eine Frage der Spiritualität und der<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>


4<br />

Frömmigkeit.<br />

Eine andere Frage: Wie mache ich mich langfristig in der Leidenschaft für das Recht? Man<br />

konnte in den letzten Jahrzehnten, wie sich Menschen in der psychologischen Selbstpflege<br />

erschöpften, Wie esse ich die Texte und mit ihnen den Geist unserer Tradition; wie atme ich<br />

im Gebet den Geist Christi, dass Gotteserkenntnis und Barmherzigkeit nicht mehr feindliche<br />

Geschwister bleiben. Wie arbeiten wir, ohne die Hoffnung zu verlieren. Das ist eine Frage der<br />

Spiritualität und der Frömmigkeit.<br />

Die dritte Frage: wie behalten wir über unserer Arbeit den Humor mit unserer eigenen<br />

Endlichkeit? Wer an der Gerechtigkeit arbeitet, hat eine fast unendliche Idee: dass das Recht<br />

wie Wasser fließen soll; dass niemand Beute eines anderen werde. Aber er ist ein endlicher<br />

Mensch. Wie können diese Menschen in kleinen Schritten gehen und den großen Gedanken<br />

nicht verlieren oder nicht zugunsten des großen Gedankens in Gewalt gegen sich selber oder<br />

gegen andere verfallen? Wie behalten sie die Distanz zu sich selber und lernen den Satz zu<br />

sprechen: Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechten‘s besser aus! Nur wenn<br />

man eine Herkunft hat, kann man eine Zukunft denken, die nicht nur aus uns selbst besteht,<br />

sondern aus der Kraft von allen; aus der Kraft unserer Toten und der Kraft unserer Enkel. Wir<br />

bauen an der Zukunft, aber die Zukunft besteht nicht nur aus uns und unseren Kräften.<br />

Wir brauchen die Bibel, die uns bildet. Wir brauchen die Gottesdienste, bei denen wir spüren,<br />

dass wir nicht allein sind. Wir brauchen vor allem das Gebet, das uns einübt in den Geist<br />

Christi<br />

Es klingt jetzt so nützlich, wie ich über die Bibel, die Gottesdienste und das Gebet spreche.<br />

Verzweckungen von Schönheiten sind immer gefährlich. Man darf das Erste und das Beste<br />

nicht vergessen: Es ist schön, Gott zu loben, zu beten und zu singen; die Lieder der Toten und<br />

der lebenden Geschwister zu singen und sich in ihre Lebensvisionen zu vertiefen. Es ist<br />

schön! Nicht die Moral, nicht die Zwecke sind das Beste, was wir haben. Sondern die<br />

Schönheit des Betens, des Bibellesens und der Frömmigkeit. Als kritische Christen sich vor<br />

vielen Jahren einmal zu einer Wochenendtagung in Berlin trafen, machten einige der<br />

Teilnehmenden den Vorschlag, am Sonntag einen Gottesdienst zu feiern. Über diesen<br />

Vorschlag wurde gestritten, und einige fragten skeptisch nach der Funktion dieses<br />

Gottesdienstes im Progress der Befreiung. Sie sagten, man könne die Zeit besser für die<br />

Arbeit verwenden. Der alte Helmut Gollwitzer hörte sich diese Diskussion bekümmert an und<br />

sagte dann: Ich will den Gottesdienst, weil es schön ist, mit euch zu beten und zu singen.<br />

Diesem entwaffnenden Argument, das eigentlich kein Argument war, konnte sich niemand<br />

entziehen. Und dieses „sunder warumbe“ ist das Herz der Frömmigkeit.<br />

Noch einmal: Unsere Gefahr, sich als Kirche durch Zwecke zu rechtfertigen. Wenn Christen<br />

ihre Kirche nach außen rechtfertigen, tun sie es oft, indem sie die Effizienz der Kirche<br />

benennen. Sie sagen, wie viel Krankenhäuser und Kindergärten sie versorgt; was sie für die<br />

Alten und die Randgruppen tut; was sie als moralische Anstalt bedeutet. Es ist ja wahr:<br />

Ein Baum, der keine Früchte bringt, ist eben unfruchtbar. Und trotzdem: die Kirche ist<br />

zunächst nicht das Produkt ihrer eigenen Hände. Sie kann zwar verurteilt werden, weil sie<br />

keine Früchte bringt, aber sie ist nicht gerechtfertigt durch ihre Effizienz. In der Mitte der<br />

Kirche ist Raum für köstliche Nutzlosigkeiten. Die Kirche singt ohne Zwecke, sie betet ohne<br />

Zwecke, sie nennt den Namen Gottes ohne Zwecke, sie feiert Gottesdienste, die nicht durch<br />

Zahlen und Zwecke gerechtfertigt sind. Man muss diese Unverzwecktheit retten gegen das<br />

Diktat der Effizienz. Wie schwer hat es manchmal all das, was sich nicht gut aufzählen lässt<br />

und was keine unmittelbaren Zwecke hat, das Gebet zum Beispiel. Das ist ein<br />

Effizienzzwang, der grundlosen Schönheiten verschlingt.<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>


5<br />

War das jetzt etwas zu sehr in C-Dur gesungen über unsere Kirche? Wer ist sie? Wer ist die<br />

Kirche, die die Bibel liest und darin die Stelle über das Evangelium für die Armen? Wer ist<br />

die Kirche? Vielleicht heißt die Antwort: Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen, die<br />

im Wort und im Sakrament versammelt ist. Damit ist noch nicht viel mehr gesagt. Man muss<br />

fragen: Wer sind diese versammelten Gläubigen? Was verdienen sie und wem dienen sie?<br />

Welche Interessen haben sie? Wen sieht sie und wen übersieht diese Kirche? Das alles ist<br />

maßgeblich dafür, wie diese Kirche die Bibel liest.<br />

Ich beschreibe zwei Kirchen. und damit zwei Lesarten der Bibel. In Hamburg standen zwei<br />

Kirchen in unmittelbarer Nähe zueinander, die eine: die Katharinenkirche, die heute noch<br />

steht. Diese Kirche war immer schön und reich; sie war umgeben von Patrizierhäusern. Sie<br />

sieht heute noch aus wie ein großes Schiff, dem man keinen Untergang zutraut. Die andere<br />

Kirche, St. Anna, ein Steinwurf von Katharinen entfernt, jenseits des Zollkanals, sie ist<br />

untergegangen. Es war eine unscheinbare und kleine Kirche. Ein Straßenname erinnert noch<br />

an sie: Bei St. Annen. Es war die Aschenputtelkirche, umgeben von Tagelöhnerhäusern. Etwa<br />

18.000 Menschen wohnten da auf engem Raum um die Kirche, Tagelöhner, die sich jeden<br />

Tag neu verdingten, eine kleine Stadt, gedrängt voller Menschen und voller Hunde, Katzen<br />

und Ratten. Zwei Kirchen. getrennt durch den garstigen Graben, der nicht Zollkanal heißt,<br />

sondern Armut und Reichtum.<br />

Was haben die beiden Kirchen miteinander zu tun? Ist dieser Zollgraben so leicht<br />

überwindbar wie die kleine Rinne zwischen dem Katholizismus. dem Protestantismus und der<br />

Orthodoxie und den anderen Dialekten des Christentums? Wird in den beiden Kirchen<br />

derselbe Gott angebetet? Ist dort derselbe Gott versprochen? Sagen wir nicht zu schnell Ja!<br />

Gott ist nicht ein Gott jenseits aller Gräben und immer schon über ihnen. Er ist parteiisch, er<br />

liebt St. Annen, die Kirche der Armen und der Bettelleute. Lassen wir die beiden Kirchen,<br />

lassen wir Katharina, die Vornehme, und Anna, die Unscheinbare, miteinander reden, Kirche<br />

der Herrin die eine, die Kirche der Magd die andere.<br />

Katharina kennt den Satz des Apostel Paulus aus dem Epheserbrief: „Er ist unser Friede,<br />

der aus beiden eines gemacht und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war,<br />

nämlich die Feindschaft.“ Sie sagt zu Anna: Siehst du, was uns trennt. ist doch unerheblich.<br />

Es sind doch rein materielle Dinge, und Gott schaut auf das Herz und nicht auf äußeren Tand<br />

und Geld und Reichtum. Anna seufzt. Sie wäre je gerne mit Katharina einig. Aber sie putzt<br />

bei ihr und wird schlecht bezahlt. Ihr Mann ist bei der Müllabfuhr. Er macht den Dreck von<br />

Katharina weg und verdient wenig. Katharina ist gebildet und wortgewandt. Anna aber hatte<br />

keine Zeit und kein Geld sich zu bilden. Anna liest die Bibel etwas langsamer. Sie fängt nicht<br />

mit der Versöhnung und mit dem Frieden an. Zuerst liest sie zu ihrem Trost, dass Gott die<br />

Armen liebt; dass er der Gott der Rechtlosen ist; der Landlosen; der Gebeutelten. Könnte es<br />

sein, denkt sie, dass das Evangelium uns nicht nur vereint? Könnte es sein, dass das<br />

Evangelium auch trennt; dass es keinen faulen Frieden will; dass es den wirklichen<br />

konfessionellen Graben sichtbar macht — den zwischen Arm und Reich; zwischen Opfern<br />

und Tätern; zwischen Schlägern und Geschlagenen?<br />

Anna seufzt. Gerne würde sie dem Apostel Paulus im Hohen Lied der Liebe zustimmen, der<br />

zum Frieden mahnt und ihr sagt, dass die Liebe sich nicht erbittern lässt. Aber wie soll sie<br />

nicht bitter werden und nicht das Ihre suchen, wie der Apostel ihr vorschlägt, wenn sie kein<br />

Brot für ihre Kinder hat? Wie soll sie nicht das Ihre suchen, wenn sie ihre Miete nicht<br />

bezahlen kann? Wie soll sie nicht bitter werden, wenn sie in der Zeitung liest, dass man nun<br />

die sozialpolitischen Wucherungen zurückschneiden müsse; dass man von der falschen<br />

Metaphysik individueller Gleichheit Abschied nehmen müsse; dass nun Schluss sein müsse<br />

mit der Romantik der Gerechtigkeit? Anna runzelt die Stirn und fragt sich. oh es nicht gerade<br />

zur Freundlichkeit ihren eigenen Kindern gegenüber gehört, nicht alles zu ertragen, nicht alles<br />

zu glauben und nicht alles zu erdulden. Sie fragt sich, ob zur Liebe und zum zukünftigen<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>


6<br />

Frieden nicht die heutige Skepsis den korrupten Welten gegenüber gehört; die Leugnung all<br />

der schön geschminkten Götter, die sich als die einzige Möglichkeit in der Gegenwart geben.<br />

Anna fragt sich, ob Paulus nicht auch die Empörung, die Ungeduld und den Streit als<br />

Tugenden der Liebe hätte nennen sollen; und das Vermissen: das Vermissen des Brotes der<br />

Hungernden; des Augenlichts der Blinden und der Sprache der stumm Gemachten.<br />

Keinen Sozialneid, bitte! Sagt Katharina. Vor Gott sind wir schließlich alle arm, und auch die<br />

Wohlhabenden haben ihre Sorgen. Und Sünder sind wir alle vor Gott, hauptsächlich Sünder,<br />

die Armen und die Reichen. Außerdem sind vor Gott alle gleich, der Reeder und der<br />

Arbeitslose; die Putzfrau und die Fürstin von Thurn und Taxis. Es zählen die inneren Werte:<br />

Geduld, Langmut, Freundlichkeit, der rechte Glaube. Anna wundert sich, dass Katharina, die<br />

doch all die Bücher und Theologen und Oberkirchenrate hat, ein so dummes und<br />

blasphemisches Zeug reden kann. Sie wundert sich darüber, dass Katharina gelegentlich nicht<br />

der eigene Kirchturm auf den Kopf fällt.<br />

Es scheint fast, als hätten Anna und Katharina verschiedene Bibeln. Auf jeden Fall lesen sie<br />

die Bibel verschieden. Kirche also ist nicht gleich Kirche, und Bibellesen nicht gleich<br />

Bibellesen. Katharina liest aus der Bibel, was ihr dient. und sie verschweigt, was ihr<br />

nicht dient. Bibellesen kann also zu einem großen Unternehmen werden, das zu legitimieren,<br />

was man immer schon wollte. Es kommt zustande, indem man verschweigt, wer die ersten<br />

Adressaten dieses Buches sind, die Armen und die Gebeutelten, die Witwen und Waisen, die<br />

Flüchtlinge und Landlosen. Es gibt das Buch im Buch, das sind die Nachricht und das<br />

Evangelium für die Armen. Wenn die Kirche die Bibel liest, ist sie nicht nur getröstet und<br />

erbaut. Sie muss es auch wagen, das Buch gegen sich selber zu lesen. Sie muss es wagen, sich<br />

in Widersprüche verwickeln zu lassen. Sonst kann sogar mit der Bibel ein Blutbad angerichtet<br />

werden.<br />

Ich habe über die beiden Kirchen mit ihren verschiedenen Interessen gesprochen, über die<br />

Anna- und über die Katharinakirche. Aber liest nicht auch Anna aus der Bibel, was ihr nötig<br />

ist in ihrer Armut? Wählt nicht auch sie aus? Es ist ein Unterschied zwischen diesen beiden<br />

Lesarten. Katharina liest, was ihr dient. Anna liest, was sie braucht.<br />

Dafür wiederum ein Beispiel: In Solentiname in Nicaragua unterhält sich eine Gruppe von<br />

Fischern und Bäuerinnen, alle arme Leute, über das Johannesevangelium, und zwar über<br />

folgende zwei<br />

Verse: „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt lässt sein Leben für die Schafe. Wer aber<br />

nur um Lohn arbeitet, sieht den Wolf kommen, er verlässt die Schafe und flieht, weil er<br />

nicht der Hirt ist und die Schafe nicht ihm gehören. Der Wolf packt zu und zerstreut die<br />

Schafe.“ Dann die Auslegung dieser Gruppe von armen Leuten, Ernesto Cardenal hat das<br />

Gespräche dokumentiert:<br />

„Manuel: Die einen sitzen in der Regierung und bereichern sich, und die anderen geben ihr<br />

Leben für ihre Brüder.<br />

William: Und wer ist der Wolf? Ich glaube, der Wolf ist die Ausbeutung, der Mensch, der,<br />

anstatt für den Menschen zu sein, Wolf für den Menschen ist.<br />

Gigi: Es heißt, der Wolf ergreift die Schafe und zerstreut sie. Und die Ausbeutung teilt die<br />

Menschen in Klassen. Und das System der Ausbeutung schafft in der Gesellschaft den<br />

Individualismus und den Egoismus und verhindert, dass die Menschen vereint sind.<br />

Thomas: Wir sind wie zerstreute Schafe.<br />

Natalia: Um vereint zu sein, müssen wir gleich sein. Hier sind zwar einige Bauern etwas<br />

besser gekleidet als die anderen, aber ich glaube, wir sind ziemlich alle gleich.<br />

Manuel: Im Stall sind alle Schafe vereint. Und Jesus ist gekommen, um die zerstreute<br />

Menschheit zu vereinen: So muss der Stall seine Kirche sein.<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>


7<br />

Gigi: Aber das mit den schlechten Hirten kann man auch auf die schlechten religiösen Hirten<br />

anwenden, nicht nur auf die Politiker, nämlich, wenn sie sich die politische Macht mit den<br />

Politikern teilen und sich von den Schafen ernähren.<br />

So weit das Gespräch! Exegeten mögen entsetzt darüber sein, wie man hier mit dem<br />

Johannesevangelium umgeht. Was geschieht? Menschen lesen sich mit ihrem Schicksal in<br />

einen fremden Text hinein. Die einfache Frömmigkeit hat immer versucht, den garstigen<br />

Graben der Geschichte zu überspringen. Die Männer und Frauen von Solentiname sind<br />

fromm, wenn sie sich in die Geschichten der Bibel bergen. Das Evangelium wird hörbar. wo<br />

Menschen sich hineinlesen, und ihr Leben wird lesbar und bleibt nicht in stummer<br />

Hoffnungslosigkeit, wo Menschen dies tun. Der Text trifft auf die Wunden und die Sehnsucht<br />

der Menschen. Dies ist keine Funktionalisierung des Evangeliums. Die Fischer und die<br />

Bäuerinnen leben ihre Frömmigkeit und treten ein in die Geschichten, auf die sie hoffen. Sie<br />

nehmen sie als für sie geschrieben. Das eben ist der Akt der Frömmigkeit: Die Bibel nehmen,<br />

als sei sie für uns geschrieben, für uns zum Trost, für uns zur Mahnung, für uns zum Gericht<br />

und für uns zur Hoffnung. Ja, es gibt eine Gefahr dabei: dass die Bibel nur noch unser eigenes<br />

Sprachrohr wird und dass wir mit den Texten der Bibel nicht mehr sagen, als wir immer schon<br />

gewusst haben. Das Evangelium heimholen aus dem Exil abstrakter Allgemeinheit und es<br />

hören aus unserem Schmerz und unserem Glück, dürfen wir immer. Es einkerkern in uns<br />

selbst dürfen wir nicht. Wer mit der Bibel argumentiert, benutzt sie. Die Bibel liefert keine<br />

Argumente, aber sie hat Optionen, zu denen sie uns verlocken will.<br />

Ich habe von zwei Kanzeln gesprochen, auf die uns Christus schickt, die Kanzel des Wortes<br />

und die Kanzel der Zeichen der Barmherzigkeit. Von beiden soll die nahe Gottesherrschaft<br />

Gottes angekündigt werden. Noch einmal zur Kanzel des Wortes. Es ist nicht<br />

selbstverständlich, dass man die wundervolle Nachricht des Evangeliums von der Gnade, von<br />

der Freiheit der Christenmenschen und von der Bergung des Lebens in Christus hören kann.<br />

Es gibt eine Lebensarmut, die einem das Gehör verstopfen kann. Ein schwarzer Jugendlicher<br />

aus einem New Yorker Ghetto hat unter der Überschrift „Was bin ich?“ einen Brief an seinen<br />

Lehrer geschrieben, daraus folgende Sätze:<br />

Ihr habt mich so erzogen, dass ich meine Brüder und Schwestern hasse. Was bin ich?<br />

Ihr nennt mich Boy, einen dreckigen Strichjungen. Was bin ich?<br />

Ich bin die Summe eurer Sünden. Ich bin die Leiche in eurem Keller.<br />

Vor allem bin ich, wie ihr so unverhohlen sagt: euer NIGGER.<br />

Der Schwarze ist beherrscht von dem Gefühl, nicht er selber zu sein. Die anderen sehen den<br />

Würdelosen, den Boy, den Strichjungen in ihn hinein, und so wird er, was sie schon lange<br />

gesehen haben: der Nigger. Die feindlichen Blicken halten seine Gedanken und sein Herz<br />

besetzt, sie zerstören seine Freiheit. Wir sind nicht nur die, die wir sind. Wir sind auch die, als<br />

die wir angesehen werden, im Guten und im Bösen. „Die anderen sind dein Gerichtshof.“,<br />

heißt es im „Nachtzug von Lissabon‘ (S.319) von Pascal Mercier. Wie soll dieser Junge die<br />

Nachricht von der Gnade verstehen, in der Gott uns ganzer, schöner und reicher sieht, als wir<br />

sind. Diesen Schwarzen sehen die Menschen, gefährlicher, hässlicher und überflüssiger als er<br />

ist. Er hat in seinem Leben so sehr das Gegenteil von der Nachricht des Evangeliums<br />

erfahren, und diese Erfahrung kann sich so in ihm eingenistet haben, dass er an nicht anderes<br />

mehr glauben kann.<br />

Wer an der Verkündigung des Evangeliums interessiert ist, muss auch an gesellschaftlichen<br />

Zuständen interessiert sein, die das Evangelium hörbar machen.<br />

Der Zustand der Gesellschaft ist eine geronnene Lehre für uns Menschen. Die Konstruktion<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>


8<br />

einer Gesellschaft lehrt und etwas. Sie lehrt uns Normen, indem wir sehen, nach welchen<br />

Normen gehandelt wird. Die Anthropologie einer Gesellschaft besteht zunächst nicht in<br />

Sätzen und Theorien über Mensch und Gesellschaft. Sie ist Gestalt geworden in der Art. wie<br />

unsere Kindergärten, Schulen, Gefängnisse, Altenheime, Stadtteile eingerichtet und erbaut<br />

sind. Was eine Gesellschaft von Kindern hält, das sagt sie nicht nur in ausdrücklichen Sätzen.<br />

Sie sagt es viel folgenreicher und einprägsamer darin, wie viel Spielplätze und wie viele<br />

Parkplätze sie vorsieht; wie viel Luft zum Atmen und wie viel genießbares Wasser sie ihren<br />

Kindern lässt und für sie vorsieht. Wer die Kinder sind; was sie von sich selbst zu halten<br />

haben: ob sie dem Leben vertrauen können, das lernen die Kindern nicht zuerst von Lehrern<br />

und aus Büchern. Sie lernen es daraus, wie die Welt für sie eingerichtet ist. Der Zustand einer<br />

Gesellschaft bildet. Er arbeitet an den inneren Bildern von Menschen, an ihrem<br />

Lebensvertrauen, an ihrer Hoffnungs- und Handlungsfähigkeit; an ihrer Lebensfreude. OIkommen<br />

alle philosophischen und religiösen Sätze und Lehren zu spät gegen die gewaltigen<br />

Lehren, die das Leben selber sie gelehrt hat. Das Recht und der Lebensraum der Kinder in<br />

einer Gesellschaft ist zugleich das Buch. in dem sie ihre eigene Sinnhaftigkeit, ihre<br />

Lebenszuversicht und ihre Hoffnung lesen. Gerechtigkeit bildet Sinn. Barmherzigkeit ist die<br />

in den Institutionen übersetzte Lehre von der Lebbarkeit des Lebens.<br />

Ich erinnere an die Verbindung von Sinn und Recht in Js 58, 1-12. Das Versprechen für das<br />

Volk, dass den Hungrigen sein Brot bricht, das die Nackten bekleidet und das die<br />

Unbehausten beherbergt wird genannt: „Dein Licht wird hervorbrechen wie die<br />

Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten... Dein Licht wird in der<br />

Finsternis aufgehen... Du wirst rufen, und der Herr wird dir antworten.. Du sollst<br />

heißen: der die Risse zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen kann.“<br />

Dieser Jesaja-Text geht nicht an einzelne, er geht an ein Volk. Diesem Volk, das das Recht<br />

liebt und übt wird ein bewohnbares Land mit einer bewohnbaren Sprache versprochen. Es<br />

wird nicht mehr in Sinnlosigkeitsgefühlen ersticken, seine Jugend wird nicht in Zynismus<br />

versinken. Sie wird sich nicht mehr des Mittels der Gewalt bedienen, um sich selber zu fühlen<br />

und sich zu sagen, wer man ist. Eine lesbare Welt wird versprochen, eine helle Welt; eine<br />

Welt, in der die Rufe der Menschen nicht im Nichts verhallen; eine Welt die einen Namen<br />

hat, einen inneren Zusammenhang hat und die für die Subjekte einsichtig ist. „Du sollst<br />

heißen: der die Risse zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen kann.“ Ein<br />

solches Land braucht kein künstliches Nationalbewusstsein. Sein Stolz wächst und es wird<br />

innerlich bewohnbar, wenn es äußerlich bewohnbar geworden ist, wenn das Leben dort für<br />

alle einsichtig und lebbar geworden ist. Bildung ist also zunächst das, was die Konstruktion<br />

einer Gesellschaft uns lehrt. Sie lehrt uns Normen, indem wir sehen, nach welchen Normen<br />

gehandelt wird.<br />

Die Anthropologie einer Gesellschaft besteht zunächst nicht in Sätzen und Theorien über<br />

Mensch und Gesellschaft. Sie ist Gestalt geworden in der Art, wie unsere Kindergärten,<br />

Schulen, Gefängnisse, Altenheime, Stadtteile eingerichtet und erbaut sind.<br />

Die erste Bildungsarbeit der Kirche in der säkularen Öffentlichkeit ist also ihre<br />

Aufmerksamkeit und ihre Intervention dort, wo das Recht von Menschen verletzt wird und<br />

wo die Stimmigkeit einer Gesellschaft verloren geht. Es geht nicht darum, dass die Kirche<br />

besserwisserisch politische Konzeptionen vorgibt. Das kann sie nicht, und dazu ist sie nicht<br />

da. Aber sie kann aufmerksam sein, und sie kann, sofern sie selber eine gebildete Seele hat,<br />

feststellen, wo Menschen in einer Gesellschaft leiden, woran sie leiden und wer sie leiden<br />

macht.<br />

Ich war vor kurzem auf einem Kirchentag in der alten DDR, und bei der Begrüßung sagte die<br />

Oberbürgermeisterin, die selber nicht in der Kirche ist: „Wir brauchen die Aufmerksamkeit<br />

der Kirche und ihren Einspruch. Endgültig sollen die Zeiten vorbei sein, wo die Kirchen<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>


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in die Heimlichkeit ihrer Räume verbannt sind. Fine Gesellschaft, die allein gelassen ist<br />

mit ihrer eigenen Pragmatik ist gefährlich.“ Die Kirche ist verantwortlich für die Bildung<br />

einer Gesellschaft. Sie ist Agentin des Evangeliums, und sie hat für die Ohren zu sorgen. die<br />

das Evangelium hören können.<br />

Was ist die Bibel und wer ist die Kirche? habe ich gefragt. Die letzte Frage: Wer sind wir?<br />

Wir, die wir heute in <strong>Geislingen</strong> sind und zu den deutschen Kirchen gehören, sind durchweg<br />

nicht die Bitterarmen. Welches Anrecht auf das Evangelium haben wir?<br />

Ich erzähle eine Geschichte. die ich schon oft erzählt habe. Als Student habe ich einmal mit<br />

einem Freund eine Wanderung im oberen Donautal gemacht. Wir hatten wenig Geld und<br />

wenig zu Essen. Schließlich kamen wir in ein Dorf, wo eine große Hochzeit gefeiert wurde.<br />

Wir schlichen uns ein, abgerissen, wie wir waren. Wir aßen und tranken, und man hat uns<br />

gelassen.<br />

Man darf niemanden von der Hoffnung des Evangeliums ausschließen, nicht einmal sich<br />

selber.<br />

Wir schleichen uns ein in das Evangelium. Es kann ja sein, dass wir nicht die ersten<br />

Adressaten des Evangeliums sind. Dann sind wir eben die zweiten Adressaten. Auch wir<br />

haben unsere Schmerzen, auch uns sterben Menschen, auch wir geraten in Schuld und<br />

brauchen Freispruch. Und so schleichen wir uns ein in die alte Nachricht. Man kann es, wenn<br />

man weiß, wer die Erstgemeinten sind und wenn wir vermeiden, dass das Salz der Erde zum<br />

Balsam für Herrn Jedermann wird.<br />

<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong>

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