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1 1. Zusammenfassung - Université de Neuchâtel

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Er<strong>de</strong>. Allgemeiner könnte man sagen, es gehe um das Wissen von <strong>de</strong>r Natur, die seit <strong>de</strong>m 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt im Zeichen<br />

<strong>de</strong>r Verzeitlichung und Historisierung gedacht wur<strong>de</strong>.<br />

Mit <strong>de</strong>r Verzeitlichung <strong>de</strong>s Wissens um 1800 wur<strong>de</strong> auch die Historia <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu einer zukunftsoffenen<br />

Entwicklungsgeschichte umgeschrieben, wobei die alte Metapher vom „Buch <strong>de</strong>r Natur“ (Blumenberg 1981) eine<br />

neue Virulenz entwickeln konnte. Die Erforscher <strong>de</strong>r neu ent<strong>de</strong>ckten Geschichte <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>s Lebens verstan<strong>de</strong>n<br />

sich als Leser einer sehr lückenhaften Handschrift, <strong>de</strong>ren lacunae sie gleichsam durch editorische Konjekturen zu<br />

einer überzeugen<strong>de</strong>n Erzählung ergänzen mussten. Das zeigt sich paradigmatisch bei Darwin, <strong>de</strong>r einmal explizit<br />

meinte, er betrachte <strong>de</strong>n „Natürlichen Schöpfungs-Bericht als eine Geschichte <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, unvollständig erhalten und in<br />

wechseln<strong>de</strong>n Dialekten geschrieben, – wovon aber nur <strong>de</strong>r letzte bloß auf einige Theile <strong>de</strong>r Erd-Oberfläche sich<br />

beziehen<strong>de</strong> Band bis auf uns gekommen“ sei. Und auch davon sei nur „hier und da ein kurzes Kapitel erhalten“, und<br />

von je<strong>de</strong>r Seite seien „nur da und dort einige Zeilen übrig.“ 6 – Wer nun aber die nur so lückenhaft überlieferte<br />

Geschichte <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Lebens auf ihr erschließen will, muss viele Emendationen vornehmen, und dies ist <strong>de</strong>r<br />

Ort, wo die Be<strong>de</strong>utung von Narration und Konjektur im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Phänomen unsicheren Wissens<br />

beson<strong>de</strong>rs augenfällig wird: Die „Geschichte“ <strong>de</strong>r Natur tritt in <strong>de</strong>r zitierten Darwin-Passage (wie je<strong>de</strong> „Geschichte“ in<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache) in doppelter Be<strong>de</strong>utung in Erscheinung: Zum einen be<strong>de</strong>utet sie die tatsächliche Abfolge <strong>de</strong>r<br />

Geschehnisse in <strong>de</strong>r langen Vergangenheit <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>; zum an<strong>de</strong>rn die medial variable Darstellung jener<br />

Geschehensabfolge durch <strong>de</strong>n Menschen in Texten, Bil<strong>de</strong>rn, Karten etc. Im Akt <strong>de</strong>r ergänzen<strong>de</strong>n Übersetzung <strong>de</strong>r<br />

Spuren <strong>de</strong>r tatsächlichen Geschichte in die (zum Beispiel) geschriebene Geschichte wird die erstere aber eben nicht<br />

nur rekonstruiert, son<strong>de</strong>rn immer auch konstruiert. Hier liegt das ganz konkret poietische Moment im Umgang mit<br />

<strong>de</strong>m unsicheren Wissen; ein Moment, das bereits Balzac beson<strong>de</strong>rs prägnant auf <strong>de</strong>n Punkt brachte, als er in <strong>de</strong>n<br />

1830er Jahren bemerkte, Cuvier sei mit seinen (Re-)Konstruktionen ausgestorbener Tiere und untergegangener<br />

Lebenswelten nichts weniger als „<strong>de</strong>r größte Dichter“ <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts – „le plus grand poète <strong>de</strong> notre siècle“. 7<br />

Ebenso waren Goethe und Her<strong>de</strong>r auch schon im ausgehen<strong>de</strong>n 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt begeistert von einer Darstellung wie<br />

Buffons Les Epoques <strong>de</strong> la Nature (1778; dt. 1781) und sahen sich dadurch zu eigenen literarischen Projekten<br />

angeregt. Und wie sich gera<strong>de</strong> am Beispiel von Buffon zeigt, waren die konjektural tasten<strong>de</strong>n Rückblicke in die<br />

Geschichte <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> oft auch verbun<strong>de</strong>n mit Spekulationen über <strong>de</strong>ren mögliche Zukunft. So entwickelte <strong>de</strong>r<br />

französische Wissenschaftler auch eine Theorie, wonach die Er<strong>de</strong> in einer apokalyptischen Zukunft schließlich<br />

vereisen wür<strong>de</strong>; eine Theorie, die bis weit ins 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt vielfältigen literarischen Nie<strong>de</strong>rschlag fand<br />

(Berentsen/Lethen 1991; Metzner 1976, S. 68ff.), genau wie verschie<strong>de</strong>ne spätere Theorien über <strong>de</strong>n Klimawan<strong>de</strong>l 8 –<br />

bis heute.<br />

Von beson<strong>de</strong>rem Interesse für <strong>de</strong>n kulturwissenschaftlich interessierten Literaturwissenschaftler sind neben<br />

solchen Übernahmen und Elaborationen von wissenschaftlichen Großtheorien in die Literatur aber vor allem die<br />

narrativen, darstellungstechnischen Strategien, die sowohl in <strong>de</strong>r Wissenschaft wie in <strong>de</strong>r Literatur zu beobachten sind.<br />

Die Be<strong>de</strong>utung ästhetischer Phänomene im Prozess <strong>de</strong>r Wissensgenerierung kann für je<strong>de</strong> Epoche und je<strong>de</strong>s Wissen<br />

nachgewiesen wer<strong>de</strong>n, doch sie ist gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Gründungs- und Konsolidierungsphase <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Wissenschaftsdisziplinen <strong>de</strong>r Zoologie, Biologie, Paläontologie und Geologie beson<strong>de</strong>rs augenfällig. Erstens, weil<br />

sich zahlreiche Schriftsteller, die zum Kanon <strong>de</strong>r Literatur gehören, zum Teil in ausführlichen Texten mit <strong>de</strong>n neuen,<br />

6 Charles Darwin: Über die Entstehung <strong>de</strong>r Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung. [Nach <strong>de</strong>r 2. Aufl.<br />

übers. und mit Anm. versehen von von Dr. H. G. Bronn]. Stuttgart 1860, S. 317f. Im Original C.D.: On the Origin of Species by<br />

means of natural selection, London 1859, S. 310f. Vgl. das ganze Kapitel „Of the imperfection of the Geological Record“, ebd., S.<br />

279-31<strong>1.</strong><br />

7 Honoré <strong>de</strong> Balzac: La Peau <strong>de</strong> Chagrin [1831], in: La Comédie Humaine, hg. von P.-G. Castex et al., Paris 1976ff., Bd. 10, S. 3-<br />

294, hier S. 75.<br />

8 Vgl. etwa Wilhelm Bölsche: Eiszeit und Klimawechsel, Stuttgart 1919.<br />

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