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03.11.2013 Aufrufe

Aufsätze Martin Morlok/Alexandra Bäcker – Zur Beteiligung von Auslandsdeutschen an der politischen Willensbildung [...] MIP 2013 19. Jhrg. Deutschland entweder nicht mehr haben oder sogar nie hatten. Gemeint sind hier zum einen diejenigen Auslandsdeutschen, die Deutschland „schon vor so langer Zeit verlassen haben, dass die von ihnen erworbenen eigenen Erfahrungen in den aktuellen politischen Verhältnissen keine Entsprechung mehr finden“ und diejenigen, die etwa im Kindesalter Deutschland verlassen haben und deshalb „die notwendige Vertrautheit mit den hiesigen politischen Verhältnissen mangels hinreichender Reife und Einsichtsfähigkeit nicht erwerben konnten“ 27 . Daran wird deutlich, dass im Rahmen der grundsätzlich zulässigen Typisierung durch den Gesetzgeber allein ein Aufenthalt zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt nicht als objektives Abgrenzungskriterium zwischen wahlberechtigten und nicht wahlberechtigten Staatsbürgern taugt, weil das Erfordernis „eine ‚Nähe’ zum politischen Geschehen im Sinne einer – wie immer auch konkret gelebten – Einbindung in das demokratische Geschehen nicht zu indizieren“ vermag 28 . Zum Zweiten: Das „Erfordernis eines früheren Aufenthalts im Bundesgebiet bewirkt zugleich, dass Auslandsdeutsche, die zwar zu keinem Zeitpunkt für mindestens drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland ansässig gewesen sind, jedoch typischerweise mit den politischen Verhältnissen vertraut und von ihnen betroffen sind, etwa weil sie als ‚Grenzgänger’ ihre Berufstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland ausüben […] oder weil sie durch ihr Engagement in Verbänden, Parteien und sonstigen Organisationen in erheblichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland teilnehmen, vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen bleiben, obwohl sie nach der Wertung, die § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG zugrunde liegt, gleichfalls an den Wahlen zum Deutschen Bundestag teilnehmen müssten“ 29 . Ob der Gesetzgeber bei der grundsätzlich zulässigen Vereinfachung und Typisierung von Fällen gerade auch diese Gruppe Auslandsdeutscher, die sich niemals für drei Monate in Deutschland 27 BVerfG (Fn. 7), Rn. 52. 28 BVerfG (Fn. 7), Rn. 52 a.E. 29 BVerfG (Fn. 7), Rn. 56. gewöhnlich aufgehalten haben, berücksichtigen muss, ist allerdings schon innerhalb des entscheidenden Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht unumstritten gewesen. Gegen eine Berücksichtigung spricht, dass sich dieser Typus nicht mit praktikablen Abgrenzungskriterien erfassen ließe. Dem Einwand, die Wahlbehörden könnten schließlich nicht nach dem Maß der tatsächlichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland über die Wahlberechtigung entscheiden 30 , ist nur schwerlich etwas entgegenzusetzen. Allerdings erscheint der Senatsmehrheit die Einbeziehung dieser Teilgruppe der Auslandsdeutschen in den Kreis der Wahlberechtigten grundsätzlich möglich, ohne dies allerdings näher zu erläutern 31 . 3. Maßgaben für eine Neuregelung Folge der Nichtigkeit des § 12 Abs. 2 S. 1 BWahlG ist, dass nach derzeitiger Rechtslage Auslandsdeutsche schlicht nicht wahlberechtigt sind. Infolge der Nichtigkeit des Ausnahmetatbestandes zum Wahlrecht Auslandsdeutscher verbleibt es bei dem Regeltatbestand des § 12 Abs. 1 BWahlG, der unter anderem voraussetzt, dass der „Wählenwollende“ seit mindestens drei Monaten vor der Wahl in der Bundesrepublik Deutschland ansässig ist. Wenn Auslandsdeutsche auch künftig wahlberechtigt sein sollen, muss der Bundesgesetzgeber aktiv werden und die Frage der Wahlberechtigung neu regeln. Da der Bundesgesetzgeber ohnehin wegen des erneut vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten negativen Stimmgewichts bei Wahlen 32 zur Überarbeitung des Wahlgesetzes gezwungen ist, wird er sich sehr wahrscheinlich zugleich auch des Wahlrechts für Auslandsdeutsche annehmen. Für die Frage, in welcher Weise das Wahlrecht Auslandsdeutscher neu ausgestaltet werden könnte, enthält das Urteil des Bundesverfas- 30 Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff, BVerfG (Fn. 7), Rn. 76. 31 BVerfG (Fn. 7), Rn. 56 a.E. 32 BVerfGE 121, 266 (289 ff.); BVerfG, Urt. v. 25.07.2012, Az. 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11, in: NVwZ 2012, S. 1101 ff., mit Anm. M. Morlok, S. 1116 f. 8

MIP 2013 19. Jhrg. Martin Morlok/Alexandra Bäcker – Zur Beteiligung von Auslandsdeutschen an der politischen Willensbildung [...] Aufsätze sungsgerichts durchaus einige, teils versteckte, teils mehr und teils weniger hilfreiche Hinweise. a) Kein aktives Wahlrecht für Auslandsdeutsche? Das Bundesverfassungsgericht scheint – nach wie vor – einen gänzlichen Ausschluss aller Auslandsdeutschen von der Wahlberechtigung durchaus für denkbar zu halten. In seinen früheren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht noch ausdrücklich betont, dass der Gesetzgeber Auslandsdeutschen das aktive Wahlrecht nicht zugestehen müsse, sondern das Erfordernis der Sesshaftigkeit im Bundesgebiet zur alleinigen Anknüpfung gemacht werden könne 33 . Er darf das Wahlrecht auf Auslandsdeutsche ausweiten, muss sich dann aber auch in den Grenzen des Gleichbehandlungsgrundsatzes bewegen. Hiervon ist es auch in seiner jüngsten Entscheidung nicht abgerückt. Zwar scheint diese strikte Haltung etwas aufzuweichen, wenn das Gericht mit nicht unerheblichem argumentativen Aufwand auf die heute deutlich verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten und die Notwendigkeit hinweist, dass sich der Gesetzgeber insbesondere bei typisierenden Regelungen im Wahlrecht bei seinen Einschätzungen und Bewertungen an der politischen Wirklichkeit zu orientieren hat. Gleichwohl findet auch die Möglichkeit eines vollständigen Ausschlusses der Auslandsdeutschen vom aktiven Wahlrecht zumindest Erwähnung 34 , wenn sie auch im Übrigen nicht wieder aufgegriffen wird. Zudem tenoriert das Urteil schlicht die Nichtigkeit der Norm, ohne aber – wie etwa in den Urteilen zum negativen Stimmgewicht – einen Neuregelungsauftrag zu erteilen, weil es eben infolge des Urteils an einer wirksamen Regelung für die Wahlen zum Deutschen Bundestag fehlte. Dies legt den Schluss nahe, dass es das Bundesverfassungsgericht für hinnehmbar hält, Auslandsdeutsche von den Wahlen zum Bundestag vollständig auszuschließen. Ausgehend von der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung, dass jeder deutsche Staatsbürger wahlberechtigt ist, ist aber durchaus zu 33 BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139 (142); 58, 202 (205). 34 BVerfG (Fn. 7), Rn. 45. bezweifeln, ob – gerade auch bei der geforderten Orientierung an der Wirklichkeit – tatsächlich ausnahmslos allen Auslandsdeutschen ihr aktives Wahlrecht abgesprochen werden kann. Schon ihrer Zahl nach kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie im Wege der Typisierung vom Wahlgesetzgeber, der sich in den Grenzen des zur Sicherung der Kommunikationsfunktion der Wahl Notwendigen halten muss, schlicht vernachlässigt werden dürften. Nach Angaben des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) lebten im Jahr 2010 rund 1,14 Millionen Deutsche allein im europäischen Ausland 35 . Eine Studie der OECD aus dem Jahr 2005 geht von insgesamt rund 3 Millionen im Ausland lebenden Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit aus 36 . Auszugehen ist also von einer Zahl Auslandsdeutscher, die nicht etwa schon rein rechnerisch zu ignorieren sein könnte. Die deshalb erforderliche Wertung, ob und inwieweit die Kommunikationsfunktion der Wahl einen Ausschluss vom aktiven Wahlrecht rechtfertigt, darf auch die sich verändernden, räumliche Distanzen relativierenden modernen Kommunikationswege nicht außer Betracht lassen. Bei aller – teilweise (noch) berechtigten – Kritik an einer internetbasierten politischen Meinungsbildung 37 ist der Gesetzgeber gehalten, dem Rechnung zu tragen, auch um nicht den Anschluss an die heutige – und zukünftige – Kommunikationskultur zu verlieren. Unabhängig von einer Anpassung des Rechts an eine veränderte politische Wirklichkeit kann auch für einen im herkömmlichen Sinne verstandenen Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht allen Auslandsdeutschen schlechterdings die Fähigkeit zur Teilhabe abgesprochen werden. Die Gründe, die in der Vergangenheit für eine Beteiligung Auslandsdeutscher gestritten haben, haben ihre Berechtigung nicht verloren. Allein das zuletzt gewählte 35 BVerfG (Fn. 7), Rn. 16. 36 J. Dumont/ G. Lemaître (2005), „Counting Immigrants and Expatriates in OECD Countries: A New Perspective“, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 25, OECD Publishing, online: http://dx.doi.org/10.1787/521408252125 (21.09.2012). 37 Dazu etwa B. Guggenberger, „Verflüssigung“ der Politik – was dann?, in: APuZ Nr. 38-39/2012, S. 10 ff. 9

Aufsätze Martin Morlok/Alexandra Bäcker – Zur Beteiligung von Auslandsdeutschen an der politischen Willensbildung [...] MIP 2013 19. Jhrg.<br />

Deutschland entweder nicht mehr haben oder sogar<br />

nie hatten. Gemeint sind hier zum einen diejenigen<br />

Auslandsdeutschen, die Deutschland<br />

„schon vor so langer Zeit verlassen haben, dass<br />

die von ihnen erworbenen eigenen Erfahrungen<br />

in den aktuellen politischen Verhältnissen keine<br />

Entsprechung mehr finden“ und diejenigen, die<br />

etwa im Kindesalter Deutschland verlassen haben<br />

und deshalb „die notwendige Vertrautheit<br />

mit den hiesigen politischen Verhältnissen mangels<br />

hinreichender Reife und Einsichtsfähigkeit<br />

nicht erwerben konnten“ 27 . Daran wird deutlich,<br />

dass im Rahmen der grundsätzlich zulässigen<br />

Typisierung durch den Gesetzgeber allein ein<br />

Aufenthalt zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt<br />

nicht als objektives Abgrenzungskriterium<br />

zwischen wahlberechtigten und nicht wahlberechtigten<br />

Staatsbürgern taugt, weil das Erfordernis<br />

„eine ‚Nähe’ zum politischen Geschehen<br />

im Sinne einer – wie immer auch konkret gelebten<br />

– Einbindung in das demokratische Geschehen<br />

nicht zu indizieren“ vermag 28 .<br />

Zum Zweiten: Das „Erfordernis eines früheren<br />

Aufenthalts im Bundesgebiet bewirkt zugleich,<br />

dass Auslandsdeutsche, die zwar zu keinem Zeitpunkt<br />

für mindestens drei Monate in der Bundesrepublik<br />

Deutschland ansässig gewesen sind, jedoch<br />

typischerweise mit den politischen Verhältnissen<br />

vertraut und von ihnen betroffen sind,<br />

etwa weil sie als ‚Grenzgänger’ ihre Berufstätigkeit<br />

in der Bundesrepublik Deutschland ausüben<br />

[…] oder weil sie durch ihr Engagement in Verbänden,<br />

Parteien und sonstigen Organisationen<br />

in erheblichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen<br />

Leben der Bundesrepublik<br />

Deutschland teilnehmen, vom aktiven Wahlrecht<br />

ausgeschlossen bleiben, obwohl sie nach der<br />

Wertung, die § 12 Abs. 2 Satz 1 BWahlG zugrunde<br />

liegt, gleichfalls an den Wahlen zum<br />

Deutschen Bundestag teilnehmen müssten“ 29 .<br />

Ob der Gesetzgeber bei der grundsätzlich zulässigen<br />

Vereinfachung und Typisierung von Fällen<br />

gerade auch diese Gruppe Auslandsdeutscher,<br />

die sich niemals für drei Monate in Deutschland<br />

27<br />

BVerfG (Fn. 7), Rn. 52.<br />

28<br />

BVerfG (Fn. 7), Rn. 52 a.E.<br />

29<br />

BVerfG (Fn. 7), Rn. 56.<br />

gewöhnlich aufgehalten haben, berücksichtigen<br />

muss, ist allerdings schon innerhalb des entscheidenden<br />

Senats des Bundesverfassungsgerichts<br />

nicht unumstritten gewesen. Gegen eine<br />

Berücksichtigung spricht, dass sich dieser Typus<br />

nicht mit praktikablen Abgrenzungskriterien erfassen<br />

ließe. Dem Einwand, die Wahlbehörden<br />

könnten schließlich nicht nach dem Maß der tatsächlichen<br />

Teilnahme am gesellschaftlichen Leben<br />

der Bundesrepublik Deutschland über die<br />

Wahlberechtigung entscheiden 30 , ist nur schwerlich<br />

etwas entgegenzusetzen. Allerdings erscheint<br />

der Senatsmehrheit die Einbeziehung<br />

dieser Teilgruppe der Auslandsdeutschen in den<br />

Kreis der Wahlberechtigten grundsätzlich möglich,<br />

ohne dies allerdings näher zu erläutern 31 .<br />

3. Maßgaben für eine Neuregelung<br />

Folge der Nichtigkeit des § 12 Abs. 2 S. 1<br />

BWahlG ist, dass nach derzeitiger Rechtslage<br />

Auslandsdeutsche schlicht nicht wahlberechtigt<br />

sind. Infolge der Nichtigkeit des Ausnahmetatbestandes<br />

zum Wahlrecht Auslandsdeutscher verbleibt<br />

es bei dem Regeltatbestand des § 12<br />

Abs. 1 BWahlG, der unter anderem voraussetzt,<br />

dass der „Wählenwollende“ seit mindestens drei<br />

Monaten vor der Wahl in der Bundesrepublik<br />

Deutschland ansässig ist.<br />

Wenn Auslandsdeutsche auch künftig wahlberechtigt<br />

sein sollen, muss der Bundesgesetzgeber<br />

aktiv werden und die Frage der Wahlberechtigung<br />

neu regeln. Da der Bundesgesetzgeber ohnehin<br />

wegen des erneut vom Bundesverfassungsgericht<br />

beanstandeten negativen Stimmgewichts<br />

bei Wahlen 32 zur Überarbeitung des<br />

Wahlgesetzes gezwungen ist, wird er sich sehr<br />

wahrscheinlich zugleich auch des Wahlrechts für<br />

Auslandsdeutsche annehmen.<br />

Für die Frage, in welcher Weise das Wahlrecht<br />

Auslandsdeutscher neu ausgestaltet werden<br />

könnte, enthält das Urteil des Bundesverfas-<br />

30<br />

Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff, BVerfG<br />

(Fn. 7), Rn. 76.<br />

31<br />

BVerfG (Fn. 7), Rn. 56 a.E.<br />

32<br />

BVerfGE 121, 266 (289 ff.); BVerfG, Urt. v. 25.07.2012,<br />

Az. 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11, 2 BvE 9/11, in: NVwZ<br />

2012, S. 1101 ff., mit Anm. M. Morlok, S. 1116 f.<br />

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