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Linksliberale Enterhaken - PRuF

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MIP 2013 19. Jhrg. Axel Schwarz – Die Parteien, das Gemeinwohl und der oberste Wert Aufsätze<br />

sung jedoch ist nicht mehr wie früher auf ein Vaterland<br />

ausgerichtet. Deutschland ist auch kein<br />

Obrigkeitsstaat mehr, sondern schützt das allgemeine<br />

Wohl einer demokratischen Gesellschaft<br />

und die Grundrechte. Man hat deshalb den ganz<br />

selbstverständlichen Eindruck, dass in der Demokratie<br />

die Marktfreiheit eine bedeutende und<br />

wichtige Rolle spielt, das Allgemeinwohl aber<br />

immer noch davor rangiere. Von dieser Illusion<br />

gilt es, sich zu befreien.<br />

1. Europäisches Recht<br />

Die Behauptung, dass die Marktfreiheit im europäischen<br />

Recht vor dem Gemeinwohl rangiere,<br />

mag überraschen. Um es genauer zu fassen: Die<br />

Marktfreiheit ist innereuropäisch nicht nur als<br />

durchsetzbares Recht effektiv vorrangig. Sie ist<br />

gesetzlich bindend auch zum Maß aller Dinge<br />

avanciert. Das war vor rund zehn Jahren noch anders.<br />

Als die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

errichtet wurde, ging z.B. die Erwägung<br />

1 der Basis-Verordnung (EG) Nr. 178/2002<br />

vom 28. Januar 2002 noch als ganz selbstverständlich<br />

davon aus, dass der freie Verkehr mit<br />

Lebens- und Futtermitteln, mit anderen Worten<br />

die Marktfreiheit in einem besonders wichtigen<br />

Sektor, an der Gesundheit und dem Wohlergehen<br />

sowie den sozialen und wirtschaftlichen Interessen<br />

der Bürger zu messen war. Heute jedoch<br />

rangiert die Markteffizienz vor allem anderen, so<br />

auch vor Gleichheitspolitiken und sozialer Solidarität.<br />

Immer dann, wenn in irgendeiner Form<br />

ein grenzüberschreitender Bezugspunkt gegeben<br />

ist, kommt ein nationaler Standard nur noch<br />

dann zum Zuge, wenn unzweideutig klar ist,<br />

dass dieser wirklich notwendig ist, nicht auch<br />

auf eine andere Weise erreicht werden kann und<br />

außerdem das mildeste Mittel darstellt. Man<br />

kann das an der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie<br />

2006/123/EG vom 12. Dezember 2006<br />

erkennen. Dort ist in Erwägungsgrund 40 praktisch<br />

alles aufgelistet, was zum Gemeinwohl gehört,<br />

nämlich<br />

1. öffentliche Ordnung,<br />

2. öffentliche Sicherheit,<br />

3. öffentliche Gesundheit,<br />

4. Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung,<br />

5. sozialpolitische Zielsetzungen,<br />

6. Schutz von Dienstleistungsempfängern,<br />

7. Verbraucherschutz,<br />

8. Schutz der Arbeitnehmer einschließlich des sozialen<br />

Schutzes von Arbeitnehmern,<br />

9. Tierschutz,<br />

10. Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts des<br />

Systems der sozialen Sicherheit,<br />

11. Betrugsvorbeugung,<br />

12. Verhütung von unlauterem Wettbewerb,<br />

13. Schutz der Umwelt und der städtischen Umwelt<br />

einschließlich der Stadt- und Raumplanung,<br />

14. Gläubigerschutz,<br />

15. Wahrung der ordnungsgemäßen Rechtspflege,<br />

16. Straßenverkehrssicherheit,<br />

17. Schutz des geistigen Eigentums,<br />

18. kulturpolitische Zielsetzungen einschließlich<br />

der Wahrung des Rechts auf freie Meinungsäußerung,<br />

insbesondere im Hinblick auf soziale, kulturelle,<br />

religiöse und philosophische Werte der Gesellschaft,<br />

19. die Notwendigkeit, ein hohes Bildungsniveau<br />

zu gewährleisten,<br />

20. Wahrung der Pressevielfalt,<br />

21. Förderung der Nationalsprache,<br />

22. Wahrung des nationalen historischen und<br />

künstlerischen Erbes sowie<br />

23. Veterinärpolitik.<br />

Man belässt es jedoch nicht bei der bloßen Auflistung<br />

der Gegenstände des Gemeinwohls, sondern<br />

kennzeichnet diese auch noch als „zwingende<br />

Gründe des Allgemeininteresses“. Dieser Ausdruck<br />

gehört eigentlich in das „Lexikon der ökonomischen<br />

Sprachtäuschung“ 14 und könnte auch<br />

für das Unwort des Jahres kandidieren. Denn<br />

alle hier genannten, zwingenden Gründe des Allgemeininteresses<br />

bleiben in der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

gegenüber den als durchsetzbaren<br />

Rechten ausgestalteten Grundfreiheiten (wie<br />

z.B. Wettbewerbs-, Handels-, Kapitalverkehrs-,<br />

Dienstleistungsfreiheiten etc.) in der Regel auf<br />

der Strecke. Sie sind in grenzüberschreitenden<br />

Bezügen nur noch zulässig, wenn sie die Marktfreiheit<br />

nicht allzu sehr beeinträchtigen, sind<br />

also alles andere als zwingend. Das Über- und<br />

Unterordnungsverhältnis zwischen Marktfreiheit<br />

14<br />

Günther Moewes, Dilettantismus oder Komplizenschaft?<br />

- und Das kleine Lexikon der ökonomischen<br />

Sprachtäuschung, Bergkamen 2012.<br />

25

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