Linksliberale Enterhaken - PRuF
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MIP 2013 19. Jhrg.<br />
Rezensionen<br />
ber zu entziehen. Wo dies nicht in Gestalt des<br />
formellen Verfassungsrechtes geschehen ist,<br />
kann die Würdigung als „materielles Verfassungsrecht“<br />
die Empfehlung beinhalten, diese<br />
Rechtsmaterie möglichst intensiv von den wahlrechtlichen<br />
Gehalten des formellen Verfassungsrechts<br />
her zu verstehen und diese Anbindung<br />
auch durch eine gesteigerte verfassungsgerichtliche<br />
Kontrollintensität zu ergänzen.<br />
Die Verfasser der vorliegenden Abhandlung sehen<br />
dies ganz anders. Art. 38 Abs. 3 GG mit seiner<br />
Ermächtigung des einfachen Gesetzgebers<br />
wird von ihnen gelesen als Auftrag, materielles<br />
Verfassungsrecht zu setzen. Mit dieser Lesart<br />
verbunden ist die Konsequenz, den Wahlrechtsgesetzgeber<br />
mit besonderen Gestaltungsfreiheiten<br />
auszustatten. Ich spitze bewusst zu und übertreibe<br />
die Position der Verfasser: Die Kennzeichnung<br />
des Wahlrechts als materielles Verfassungsrecht<br />
zielt letztlich in die Richtung, dass<br />
dieses Recht – eben als Verfassungsrecht – nicht<br />
selbst verfassungswidrig sein könne. Diese Aussage<br />
findet sich in dieser Explizitheit nicht, immerhin<br />
aber diejenige: „… kann die Wahl eines<br />
bestimmten Wahlsystems … nicht verfassungsrechtlich<br />
bemakelt sein“ (S. 23). Ob dies zutrifft,<br />
ist nicht leicht zu entscheiden. Zunächst bereits<br />
deswegen, weil ungewiss ist, was „Wahlsystem“<br />
bedeutet. Meint man mit „Wahlsystem“ die Alternative<br />
Verhältniswahl oder Mehrheitswahl (es<br />
spricht manches dafür, dass dies gemeint ist), so<br />
kann die Richtigkeit der aufgestellten Behauptung<br />
schlecht überprüft werden, weil die genaue<br />
Ausgestaltung dieser beiden Typen von Wahlsystem<br />
unscharf bleibt. Die Rede von „Mehrheitswahl“<br />
lässt etwa offen, ob in einem Wahlkreis<br />
eine oder mehrere Personen gewählt werden,<br />
ob die relative Mehrheit zum Sieg ausreicht<br />
oder ob es zu einer Stichwahl zwischen den beiden<br />
erfolgreichsten Kandidaten kommt; das sind<br />
erhebliche Unterschiede mit großer Tragweite.<br />
Ähnliches gilt für „Verhältniswahl“. Auch hier<br />
gibt es zahlreiche Ausgestaltungsmöglichkeiten.<br />
Angesichts der theoretisch unbegrenzten Zahl<br />
von wahlrechtlichen Modellen, die sich in der<br />
Verteilung von Chancen auf die verschiedenen<br />
existierenden wie auch an potentielle Parteien<br />
erheblich unterscheiden können, halte ich die<br />
pauschale These, die Entscheidung für ein bestimmtes<br />
Wahlsystem könne nicht verfassungswidrig<br />
sein, für unzutreffend. Die verschiedensten<br />
wahlrechtlichen Varianten von vornherein für<br />
verfassungsrechtlich unangreifbar zu halten,<br />
stellt eine inakzeptable Maßstabsausdünnung des<br />
Verfassungsrechts dar. „Anything goes“ kann<br />
keine Maxime des Wahlrechtes sein. Wohlbemerkt:<br />
In dem vorliegenden Buch findet sich ein<br />
solches Postulat nicht ausdrücklich, mir scheint<br />
eine solche Maxime aber die letztlich unausweichliche<br />
Konsequenz seiner zentralen These<br />
zu sein. Genau das ist das Spannende, ja Aufregende<br />
und Herausfordernde an diesem Rechtfertigungsversuch<br />
für die unternommene verfassungsrechtliche<br />
Rechtfertigung der 19. Änderung<br />
des Bundeswahlgesetzes.<br />
Vielleicht ist die These aber auch gar nicht so<br />
anspruchsvoll zu verstehen, sie mag auch nur bedeuten,<br />
das Grundgesetz habe dem Gesetzgeber<br />
die Wahl zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl<br />
offengelassen – dies dürfte wohl die Position<br />
der herrschenden Meinung sein und wurde<br />
vom Bundesverfassungsgericht auch wiederholt<br />
so formuliert. Allein, die Zuspitzung, welche<br />
diese Auffassung durch Grzeszick und Lang erfährt,<br />
hat das Verdienst, die Grundfrage nach der<br />
verfassungsrechtlichen Gleichwertigkeit von<br />
Mehrheitswahlsystemen und Verhältniswahlsystemen<br />
(und damit auch Mischsystemen) in aller<br />
Schärfe zu stellen – und erneut eine Antwort zu<br />
verlangen. Das bedeutet insbesondere auch die<br />
Frage beantworten zu müssen, welche Bedeutung<br />
die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1<br />
Satz 1 GG für die Beurteilung der konkreten<br />
Ausformung eines Wahlgesetzes haben. Die beiden<br />
Autoren kommen entsprechend ihrer Deutung<br />
des „Wahlrechts als materiellem Verfassungsrecht“<br />
dazu, die Bedeutung der Wahlrechtsgrundsätze<br />
relativ zur gesetzgeberischen<br />
Ausgestaltung zu sehen, sie sprechen hier von<br />
einer Art Wechselwirkungstheorie, das Wahlsystem,<br />
sprich die einfach-gesetzliche Regelung,<br />
habe „maßstabsbildende Funktion“. Das führt<br />
dazu, dass die Wahlrechtsgleichheit als feststehenden<br />
Inhalt lediglich den gleichen Zählwert aller<br />
Stimmen hat – eine schlichte Trivialität. Die<br />
sogenannte „Erfolgswertgleichheit“ verliert da-<br />
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