Linksliberale Enterhaken - PRuF
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Aufsätze Philipp Scherer/Ina E. Bieber – Eintagsfliege oder Partei mit Zukunft? [...] MIP 2013 19. Jhrg. Eintagsfliege oder Partei mit Zukunft? Eine empirische Untersuchung der Bevölkerungseinstellungen zur Piratenpartei Dipl. Soz.Wiss. Philipp Scherer 1 / Ina E. Bieber, M.A. 2 1. Einleitung Am Abend der niedersächsischen Landtagswahlen 2013 macht sich unter den Anhängern der Piratenpartei schon kurz nach Schließung der Wahllokale Enttäuschung breit. Nach der ersten Hochrechnung ist schnell klar, dass die erfolgsverwöhnte Partei den Einzug in den Landtag verpassen wird. Eine neue Erfahrung für die Piraten, die bei den vergangenen Landtagswahlen in Berlin, Nordrhein-Westfalen, dem Saarland und Schleswig-Holstein insgesamt 45 Mandate gewinnen konnten (Gürbüz 2011; vgl. hierzu auch Bundeswahlleiter 2012; Landeswahlleiterin Berlin 2011; Landeswahlleiter Nordrhein-Westfalen 2012; Landeswahlleiterin Saarland 2012; Landeswahlleiterin Schleswig-Holstein 2012). Ihr kometenhafter Aufstieg scheint damit zunächst einmal beendet. Oder mit anderen Worten gesagt: „Die Piraten sind jetzt definitiv keine Gewinnerpartei mehr“ (Geisler 2013). Mehr denn je stellt sich nach dieser Wahl die Frage, wie die bisherigen Erfolge der Piraten zu erklären und einzuordnen sind und ob sie Chancen hat, sich längerfristig in der politischen Arena zu etablieren. Bislang hat sich im politischen Diskurs zumeist Ratlosigkeit breit gemacht, wenn es um die noch junge Partei und ihre Wahlerfolge geht. In der TAZ ist von den Piraten, als „sanfte[n] Populisten“ (Reinecke 2012) zu lesen, die politisch nur schwer einzuordnen 1 Der Verfasser ist Mitarbeiter am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. 2 Die Verfasserin ist Mitarbeiterin am Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. sind: „Sie sind nicht links, nicht rechts, sondern dort wo fast alle sind, in der Mitte – und doch anders“ (Reinecke 2012). Und im wissenschaftlichen Diskurs steht bislang die Auseinandersetzung mit der Programmatik, dem politischen Stil und dem Selbstverständnis der Parteimitglieder im Vordergrund (vgl. u.a. Beiträge in Bieber/ Leggewie 2012 und in Niedermayer 2013). Demgegenüber gibt es bislang nur wenige Untersuchungen zu den Einstellungen der Bevölkerung gegenüber der Piratenpartei (vgl. Debus/Faas 2013; Haas/Hilmer 2013; Niedermayer 2013). Die Zukunft der Piraten hängt jedoch eng mit den Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung ihr gegenüber zusammen. Um abschätzen zu können, welche Perspektiven die Piraten haben – ob sie eher eine Eintagsfliege oder doch eine Partei mit Zukunft sind – widmen wir uns im Folgenden ihrer Wählerschaft. Im Rückgriff auf die Umfragedaten der GLES-Trackingwelle 17 aus dem Frühjahr 2012 – somit zum bisherigen Höhepunkt der Piratenerfolge – wird analysiert, wer die Piratenwähler/innen sind und aus welchen Gründen die aufstrebende Partei gewählt wird. Vor der empirischen Analyse werden zunächst mögliche Gründe für das Wahlverhalten der Piratenwähler/innen hergeleitet und diskutiert. 2. Theoretischer Hintergrund Die klassische empirische Wahlforschung der Michigan-School bietet drei grundlegende Faktoren zur Erklärung von Wahlverhalten an: Parteiidentifikation, Kandidaten- und Issueorientierung (Campbell et al. 1960). Die Entscheidung für eine Partei wird demnach erstens damit erklärt, dass sich ein/e Wähler/in der von ihm/ihr gewählten Partei eng verbunden fühlt – d.h. eine Identifikation mit der Partei aufweist. Im Falle der Piraten ist dies wahrscheinlich nur in eingeschränktem Maße der Fall, da die Partei in Deutschland erst 2006 gegründet wurde (Bieber 2012a: 28). Wenn Wähler/innen über eine Parteiidentifikation der Piraten verfügen, dann ist dies folglich erst seit kurzer Zeit der Fall. Während die Parteiidentifikation im Michigan- Modell als relativ stabile Disposition betrachtet wird, die sich gewöhnlich nur aufgrund tiefgrei- 118
MIP 2013 19. Jhrg. Philipp Scherer/Ina E. Bieber – Eintagsfliege oder Partei mit Zukunft? [...] Aufsätze fender gesellschaftlicher Ereignisse (z.B. einer Weltwirtschaftskrise) ändert, beschreiben die Kandidaten- und Issueorientierung zwei Faktoren, die kurzfristig auf die Stimmabgabe wirken: Eine Wahlentscheidung aufgrund der Kandidatenorientierung zu treffen, bedeutet, dass sich Wähler/innen für eine Partei in erster Linie aufgrund des politischen Personals entscheiden. Dies kann im Fall der Piratenpartei eher ausgeschlossen werden, da ihr Spitzenpersonal – nicht zuletzt durch häufige Postenwechsel – bislang weitestgehend unbekannt geblieben ist. Eine Wahlentscheidung zugunsten der Piraten aufgrund ihres politischen Personals ist daher eher unwahrscheinlich (Jesse 2011; Niedermayer 2013b). Der dritte Faktor, die Issueorientierung, erklärt die Entscheidung für eine Partei damit, dass den Wähler/innen ein politisches Sachthema, für das sich die gewählte Partei einsetzt, besonders wichtig ist und sich ihre eigene Position mit der Parteiposition weitestgehend deckt. Im Falle der Grünen wäre dies beispielsweise der Ausstieg aus der Atomkraft – eines ihrer Gründungsthemen. Dieser Faktor bietet sich durchaus an, um die Erfolge der Piraten zu erklären, schließlich waren Urheberrecht, Datenschutz und Internetfreiheit zentrale Gründungsmotive der Partei (Faas/Debus 2012; Jesse 2011; Marschall 2012; Seemann 2012; Wagner 2011). Es ist daher davon auszugehen, dass die Piraten insbesondere mit dem Thema Netzpolitik in Verbindung gebracht werden und die Wähler/innen ihnen auf diesem Gebiet große Kompetenz zuweisen, wie dies Erlingsson und Persson (2011) für die Piratenpartei in Schweden feststellen konnten. Gleichwohl wird der Wahlerfolg der Piraten im wissenschaftlichen Diskurs weniger auf die spezifische thematische Ausrichtung der Partei zurückgeführt. Vielmehr wird vermutet, dass die erheblichen Stimmengewinne auf Protestwahlverhalten basieren (vgl. Baringhorst/Yang 2012; Bieber 2012b; Niedermayer 2013; Jesse 2011). Im Allgemeinen wird die Protestwahlthese häufig zur Beschreibung neuer oder bisher nicht etablierter Parteien angewandt (Arzheimer 2002:132-133; vgl. hierzu auch Jörs 2006; Leistner/Rahlf 2009). Es wird angenommen, dass Protestwähler/innen mit ihrem Votum für eine Partei außerhalb des etablierten Parteienspektrums ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung, der Opposition, den Parteien, den Politikern oder dem politischen System in seiner Gesamtheit Ausdruck verleihen möchten. Ziel ist dabei Aufmerksamkeit zu generieren und eine Veränderung des Regierungshandelns zu erreichen (Roth/Wüst 2008). Franz Urban Pappi spricht von rationalem Protestwählen „wenn Wähler sich für eine neue Partei entscheiden, weil die etablierten Parteien sich zu weit von dem entfernt haben, was die Wähler durch eine Regierung verwirklicht sehen wollen“ (Pappi 1990: 38; vgl. hierzu auch Arzheimer 2008). Entgegen dieser Annahme ist Jörs (2006) der Meinung, dass die Wahlentscheidung von Protestwähler/innen weniger durch wirkliches politisches Interesse, Werte oder Ziele gesteuert wird, sondern vielmehr ein emotionaler Akt der Frustration und der politischen Entfremdung ist (Jörs 2006; vgl. hierzu auch Arzheimer 2005). Die Erfolge von Protestparteien seien daher fragil und durch tagesaktuelle Stimmungen leicht zu erschüttern (Jörs 2006). Das schlechte Abschneiden der Piraten bei den Landtagswahlen in Niedersachsen 2013 und ihre Einbrüche bei der Sonntagsfrage könnten dadurch erklärt werden (Forschungsgruppe Wahlen 2013; Infratest Dimap 2013). Ferner seien Protestparteien zumeist schlecht organisiert und hätten Probleme mit einer flächendeckenden Parteiarbeit und entsprechenden Kandidatennominierungen (Jörs 2006). Im Hinblick auf die Piraten ist diese Annahme jedoch eher fraglich, denn – wie Niedermayer (2013b) hervorhebt – ist die Organisationsfähigkeit der Partei zumindest in der virtuellen Welt des Internet hervorragend. Ferner wird von Jörs (2006) angenommen, dass Protestparteien ein Sammelbecken höchst verschiedener Wählergruppen sind und sich nicht auf eine homogene und langfristig treue Wählerschaft verlassen können. Im Fall der Piratenpartei geht Hensel (2012) allerdings davon aus, dass sich deren Mitglieder aus homogenen sozialen Milieus zusammensetzen und ähnliche Lebensweisheiten und Auffassungen teilen. Niedermayer (2013a: 73) ist der Meinung, dass sich unter den Anhänger/innen der Piraten „neben ihren Kernwählern, die mit ,jung, männlich und netzaffin‘ 119
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MIP 2013 19. Jhrg. Philipp Scherer/Ina E. Bieber – Eintagsfliege oder Partei mit Zukunft? [...] Aufsätze<br />
fender gesellschaftlicher Ereignisse (z.B. einer<br />
Weltwirtschaftskrise) ändert, beschreiben die<br />
Kandidaten- und Issueorientierung zwei Faktoren,<br />
die kurzfristig auf die Stimmabgabe wirken:<br />
Eine Wahlentscheidung aufgrund der Kandidatenorientierung<br />
zu treffen, bedeutet, dass sich Wähler/innen<br />
für eine Partei in erster Linie aufgrund<br />
des politischen Personals entscheiden. Dies kann<br />
im Fall der Piratenpartei eher ausgeschlossen<br />
werden, da ihr Spitzenpersonal – nicht zuletzt<br />
durch häufige Postenwechsel – bislang weitestgehend<br />
unbekannt geblieben ist. Eine Wahlentscheidung<br />
zugunsten der Piraten aufgrund ihres<br />
politischen Personals ist daher eher unwahrscheinlich<br />
(Jesse 2011; Niedermayer 2013b).<br />
Der dritte Faktor, die Issueorientierung, erklärt<br />
die Entscheidung für eine Partei damit, dass den<br />
Wähler/innen ein politisches Sachthema, für das<br />
sich die gewählte Partei einsetzt, besonders<br />
wichtig ist und sich ihre eigene Position mit der<br />
Parteiposition weitestgehend deckt. Im Falle der<br />
Grünen wäre dies beispielsweise der Ausstieg<br />
aus der Atomkraft – eines ihrer Gründungsthemen.<br />
Dieser Faktor bietet sich durchaus an, um<br />
die Erfolge der Piraten zu erklären, schließlich<br />
waren Urheberrecht, Datenschutz und Internetfreiheit<br />
zentrale Gründungsmotive der Partei<br />
(Faas/Debus 2012; Jesse 2011; Marschall 2012;<br />
Seemann 2012; Wagner 2011). Es ist daher davon<br />
auszugehen, dass die Piraten insbesondere<br />
mit dem Thema Netzpolitik in Verbindung gebracht<br />
werden und die Wähler/innen ihnen auf<br />
diesem Gebiet große Kompetenz zuweisen, wie<br />
dies Erlingsson und Persson (2011) für die Piratenpartei<br />
in Schweden feststellen konnten.<br />
Gleichwohl wird der Wahlerfolg der Piraten im<br />
wissenschaftlichen Diskurs weniger auf die spezifische<br />
thematische Ausrichtung der Partei zurückgeführt.<br />
Vielmehr wird vermutet, dass die<br />
erheblichen Stimmengewinne auf Protestwahlverhalten<br />
basieren (vgl. Baringhorst/Yang 2012;<br />
Bieber 2012b; Niedermayer 2013; Jesse 2011).<br />
Im Allgemeinen wird die Protestwahlthese häufig<br />
zur Beschreibung neuer oder bisher nicht etablierter<br />
Parteien angewandt (Arzheimer 2002:132-133;<br />
vgl. hierzu auch Jörs 2006; Leistner/Rahlf 2009).<br />
Es wird angenommen, dass Protestwähler/innen<br />
mit ihrem Votum für eine Partei außerhalb des<br />
etablierten Parteienspektrums ihrer Unzufriedenheit<br />
mit der Regierung, der Opposition, den Parteien,<br />
den Politikern oder dem politischen System<br />
in seiner Gesamtheit Ausdruck verleihen<br />
möchten. Ziel ist dabei Aufmerksamkeit zu generieren<br />
und eine Veränderung des Regierungshandelns<br />
zu erreichen (Roth/Wüst 2008). Franz<br />
Urban Pappi spricht von rationalem Protestwählen<br />
„wenn Wähler sich für eine neue Partei entscheiden,<br />
weil die etablierten Parteien sich zu<br />
weit von dem entfernt haben, was die Wähler<br />
durch eine Regierung verwirklicht sehen<br />
wollen“ (Pappi 1990: 38; vgl. hierzu auch Arzheimer<br />
2008). Entgegen dieser Annahme ist Jörs<br />
(2006) der Meinung, dass die Wahlentscheidung<br />
von Protestwähler/innen weniger durch wirkliches<br />
politisches Interesse, Werte oder Ziele gesteuert<br />
wird, sondern vielmehr ein emotionaler<br />
Akt der Frustration und der politischen Entfremdung<br />
ist (Jörs 2006; vgl. hierzu auch Arzheimer<br />
2005). Die Erfolge von Protestparteien seien daher<br />
fragil und durch tagesaktuelle Stimmungen<br />
leicht zu erschüttern (Jörs 2006). Das schlechte<br />
Abschneiden der Piraten bei den Landtagswahlen<br />
in Niedersachsen 2013 und ihre Einbrüche bei der<br />
Sonntagsfrage könnten dadurch erklärt werden<br />
(Forschungsgruppe Wahlen 2013; Infratest Dimap<br />
2013). Ferner seien Protestparteien zumeist<br />
schlecht organisiert und hätten Probleme mit einer<br />
flächendeckenden Parteiarbeit und entsprechenden<br />
Kandidatennominierungen (Jörs 2006). Im<br />
Hinblick auf die Piraten ist diese Annahme jedoch<br />
eher fraglich, denn – wie Niedermayer (2013b)<br />
hervorhebt – ist die Organisationsfähigkeit der<br />
Partei zumindest in der virtuellen Welt des Internet<br />
hervorragend.<br />
Ferner wird von Jörs (2006) angenommen, dass<br />
Protestparteien ein Sammelbecken höchst verschiedener<br />
Wählergruppen sind und sich nicht<br />
auf eine homogene und langfristig treue Wählerschaft<br />
verlassen können. Im Fall der Piratenpartei<br />
geht Hensel (2012) allerdings davon aus, dass<br />
sich deren Mitglieder aus homogenen sozialen<br />
Milieus zusammensetzen und ähnliche Lebensweisheiten<br />
und Auffassungen teilen. Niedermayer<br />
(2013a: 73) ist der Meinung, dass sich unter den<br />
Anhänger/innen der Piraten „neben ihren Kernwählern,<br />
die mit ,jung, männlich und netzaffin‘<br />
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