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„Eingeliefert – ausgeliefert - Valeo

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Vortrag auf dem 10. <strong>Valeo</strong>-Kongress in Paderborn, 5. Juni 2013<br />

<strong>„Eingeliefert</strong> <strong>–</strong> <strong>ausgeliefert</strong> ?!“<br />

Ethische Aspekte für die Behandlung älterer Menschen im Krankenhaus<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

als mich die Anfrage aus der VALEO-Geschäftsstelle erreichte, auf diesem Kongress den<br />

Eröffnungsvortrag zu halten, war ich erst etwas erschrocken, dann überrascht und schließlich<br />

erfreut. Nachdem ich den ersten Schrecken über die Ehre, hier vor Ihnen einen Vortrag halten<br />

zu dürfen, überwunden hatte, kam die Überraschung darüber, dass die Kongressplaner die<br />

heutige Tagung mit Ethik beginnen wollen. Und dann dachte ich: Ja, das ist richtig gut. Denn<br />

dieses Thema „Länger Leben“, Älter Werden, hat nicht nur medizinische, pflegerische,<br />

soziologische, gesellschaftliche und ökonomische Aspekte, sondern bereits bei der<br />

Betrachtung und Analyse des Phänomens, mit dem wir uns heute befassen, kommt die Ethik<br />

ins Spiel. Mit welchem Blick, welcher Haltung, welchem Menschenbild schauen wir auf diese<br />

Entwicklung, auf unser Thema heute mit seinen beiden Facetten?<br />

Klar ist uns allen seit langem und immer wieder medial frisch aufbereitet das Phänomen des<br />

demographischen Wandels in unserem Land: es gibt immer mehr alte Menschen und immer<br />

weniger junge. Meine Vermutung ist, wenn Sie diesen Satz so hören, löst er bei Ihnen eher<br />

keine positiven Gedanken und Gefühle aus, sondern lässt vielleicht ein gedankliches<br />

Schreckensszenario aufziehen. Und wenn man das Phänomen mit Zahlen füllt, wird es nicht<br />

unbedingt besser. Kamen im Jahr 1890 auf einen 75jährigen noch 79 jüngere Menschen, sind<br />

es heute nur noch knapp 10, und die Hochrechnungen besagen für 2040, dass auf einen<br />

75jährigen nur noch gut 4 jüngere Menschen kommen. Der Anteil der über 80jährigen an der<br />

Gesamtbevölkerung beträgt heute 4%, und im Jahre 2040 13-15%. Gab es 1970 gerade mal 5<br />

Deutsche, die über 105 Jahre alt geworden sind, waren es 2012 schon 155. 1 Es gibt an dieser<br />

Entwicklung Aspekte, die einen euphorisch stimmen können, z.B. dass die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung sich in den letzten 30 Jahren fast verdoppelt hat. Es gibt auch einen<br />

euphorischen Blick auf das Alter, wenn man, wie vorwiegend in der Werbung, auf die freien,<br />

fitten, fröhlichen älteren Menschen schaut, die viel konsumieren und gerne reisen.<br />

Neudeutsch sind das die sog. „Go-Goes“, die körperlich und geistig fitten Älteren, die auch<br />

noch mit über 70 auf Berge kraxeln und Ski fahren. Es gibt aber auch einen sehr düsteren<br />

Blick auf das Alter, der befürchtet, dass ja nun immer mehr immer ältere Menschen chronisch<br />

krank und pflegebedürftig werden. Und wer soll das dann alles bezahlen, wenn es immer<br />

weniger Jüngere gibt, die das erwirtschaften können? Hier geht es dann um die sog. „No-<br />

Goes“, die armen, kranken, hilfsbedürftigen Alten. Und dazwischen gibt es noch die „Slow-<br />

Goes“, das sind die Älteren, die trotz meist körperlicher Einschränkungen noch einigermaßen<br />

selbständig ihr Leben leben können. Hinter diesen Begriffen stecken die aktuell allem<br />

übergeordneten Kriterien unserer Zeit: Fitness, Autonomie, Mobilität. So wird natürlich<br />

besonders das Bild der Hochaltrigen in der 4. Lebensphase immer schwärzer und negativer.<br />

Aber so funktionieren nicht nur flapsige neudeutsche Unworte, sondern auch<br />

ernstzunehmende soziologische Analysen. Der Sammelband über die Ergebnisse der sog.<br />

Zweiten Welle des Alterssurveys <strong>–</strong> der Alterssurvey ist eine umfassende, langfristige<br />

Beobachtungsstudie zu den Lebensumständen in von Menschen in der zweiten Lebenshälfte <strong>–</strong><br />

1 Statistische Daten nach Ursula Lehr, Hohes Alter, Fakten und Zukuftsszenarien, Vortrag auf dem<br />

Evangelischen Kirchentag Hamburg, 2013.<br />

1


in diesem Sammelband unterscheiden die Autoren zwischen drei Diskursarten der<br />

demographischen Entwicklung in Deutschland: Es gibt den „Bedarfs- und<br />

Versorgungsdiskurs“, es gibt den „Belastungsdiskurs“ und es gibt den „Potenzialdiskurs“ 2 .<br />

Sie müssen nicht lange raten, welchen Diskurs ich als Mitarbeiter in einem Krankenhaus mit<br />

geriatrischer Schwerpunktabteilung eindeutig bevorzuge. Der „Bedarfs- und<br />

Versorgungsdiskurs“ lässt ältere Menschen vorwiegend als Hilfeempfänger erscheinen. Der<br />

„Belastungsdiskurs“ steht in Gefahr, alte Menschen als unnütze und teure gesellschaftliche<br />

Last zu stigmatisieren. Der „Potentialdiskurs“ <strong>–</strong> mein Favorit - eröffnet die Chance, die<br />

unbestreitbaren Herausforderungen und Probleme des Wandels auch um Chancen und<br />

Möglichkeiten zu ergänzen. Und es ist ja klar: die Blickrichtung, die Perspektive, die Brille,<br />

mit der wir auf ein und denselben Sachverhalt schauen, beeinflusst entscheidend unsere<br />

Ergebnisse. Es stellt sich von vornherein die Frage unserer Haltung zum Altwerden, zum alten<br />

Menschen, ja zu uns selbst, denn machen wir uns nichts vor, wir, die Gesundheitsprofis von<br />

heute sind die Alten von morgen.<br />

Einige Ergebnisse dieser zweiten Welle des Alterssuryveys sind übrigens einigermaßen<br />

ermutigend und stützen den berechtigten Blick auf die durchaus vorhandenen Potentiale alter<br />

Menschen: z.B. ist erwiesen, dass längere Lebenszeit nicht längere Krankheitszeit bedeutet.<br />

„Insgesamt kann man feststellen, dass die durch eine höhere Lebenserwartung ‚gewonnenen‘<br />

Lebensjahre nicht durch schlechte Gesundheit gekennzeichnet sind, sondern dass die<br />

gewonnene Lebenszeit eher in guter Gesundheit verbracht werden kann. Die Ergebnisse des<br />

Alterssurveys weisen zumindest auf eine Morbiditätskonstanz hin. Möglicherweise erfolgt<br />

jedoch sogar eine Morbiditätskompression.“ 3 D.h.: mehr ältere Menschen heißt nicht mehr<br />

und länger kranke Menschen. Die unvermeidliche Phase vermehrt auftretender Krankheiten<br />

rutscht zeitlich einfach nach hinten. Erwiesen ist auch, dass die große Mehrheit der älteren<br />

Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind, zufriedener übrigens, als Menschen im mittleren<br />

Lebensalter. Und sie sind besser ausgebildet sind als vorige Generationen. So wächst also mit<br />

den zunehmenden alten Menschen auch ein individuelles und gesellschaftliches Potential.<br />

D.h.: es kann nicht nur immer um die Frage gehen: Was muss die Gesellschaft für die alten<br />

Menschen tun, sondern was können die alten Menschen für unsere Gesellschaft tun? Worauf<br />

wir uns allerdings gesellschaftlich und insbesondere auch in unseren Krankenhäusern<br />

einstellen müssen, ist die Zunahme von Demenzerkrankungen im hohen Alter.<br />

Zurück zur Ethik , zum Menschenbild: Gibt es eigentlich eine Ethik des Alters? Thomas<br />

Rentsch, Professor für Praktische Philosophie und Ethik in Dresden, behauptet: Nein! In<br />

seinem Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg auf dem Podium mit dem<br />

wunderbaren Titel: „Leben für Fortgeschrittene“, sagte er: „Es gibt keine isolierte Ethik des<br />

Alterns; vielmehr müssen die altersspezifischen Fragen auf die Grundfragen der universalen<br />

Ethik und Moralphilosophie bezogen werden. Die späte Lebenszeit lässt sich nämlich als eine<br />

Radikalisierung der menschlichen Grundsituation verstehen, womit zugleich einem<br />

Isolationismus der Lebensalter widersprochen wird, ohne den tiefgreifenden Unterschied zu<br />

verkennen.“ 4 Was heißt das? Ich stelle diesen philosophischen Erwägungen Gedanken des<br />

Schriftstellers Hermann Hesse zur Seite, die er mit 75 Jahren aufgeschrieben hat: „Das<br />

Greisenalter ist eine Stufe unseres Lebens und hat wie alle anderen Lebensstufen ein eigenes<br />

Gesicht, eine eigene Atmosphäre und Temperatur, eigene Freuden und Nöte. Wir Alten mit<br />

den weißen Haaren haben gleich allen unsern jüngern Menschenbrüdern unsre Aufgabe, die<br />

2 Vgl. Clemens Tesch-Römer, Heribert Engstler, Susanne Wurm, Andreas Motel, Klingebiel, Implikationen der<br />

Ergebnisse des Alterssurveys für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, in: Dies. (Hg.), Altwerden in Deutschland,<br />

Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte, Wiesbaden 2006, 520f.<br />

3 Clemens Tesch-Römer u.a. aaO, 529.<br />

4 Thomas Rentsch, Altern und Lebenssinn, Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag Hamburg 2013,1.<br />

2


unsrem Dasein den Sinn gibt, und auch ein Todkranker und Sterbender, den in seinem Bett<br />

kaum noch ein Anruf aus der diesseitigen Welt zu erreichen vermag, hat seine Aufgabe, hat<br />

Wichtiges und Notwendiges zu erfüllen. Altsein ist eine ebenso schöne und heilige Aufgabe<br />

wie Jungsein, Sterbenlernen und Sterben ist eine ebenso wertvolle Funktion wie jede andre …<br />

Ein Alter, der das Altsein, die weißen Haare und die Todesnähe nur haßt und fürchtet, ist kein<br />

würdiger Vertreter seiner Lebensstufe, so wenig wie ein junger und kräftiger Mensch, der<br />

seinen Beruf und seine tägliche Arbeit haßt und sich ihnen zu entziehen sucht. Kurz gesagt:<br />

um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muß man mit<br />

dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein, man muß Ja dazu sagen.<br />

Ohne dieses Ja, ohne die Hingabe an das, was die Natur von uns fordert, geht uns der Wert<br />

und Sinn unsrer Tage <strong>–</strong> wir mögen alt oder jung sein <strong>–</strong> verloren, und wir betrügen das<br />

Leben.“ 5<br />

Meine Damen und Herren, es geht bei unserem Thema heute um nicht mehr und nicht<br />

weniger als ums Ganze, ums Ganze unsres Lebens und um unser Ja dazu. Das wehrt den<br />

Einseitigkeiten eines aktuellen Menschenbildes, das von den schon erwähnten funktionalen<br />

Kriterien Fitness, Unabhängigkeit und Mobilität geprägt ist, dem gesunde Erwachsene gerecht<br />

werden können, bei dem es aber eben ganz schnell viele „No-Goes“ gibt. Als Kinder und in<br />

hohem Alter sind Menschen auch abhängig, unbeweglich und hilfsbedürftig. Was Rentsch mit<br />

der „Radikalisierung der menschlichen Grundsituation“ in der späten Lebenszeit meint, ist,<br />

dass unser Leben von Beginn an durchgängig von Endlichkeit geprägt ist. Wir sind nur einmal<br />

Kind, wir sind nur einmal jung, wir werden nur einmal erwachsen, wir machen nur einmal die<br />

Erfahrung bestimmter weichenstellender Lebensentscheidungen, wir werden nur einmal alt.<br />

Und wir sind schon immer von den Polaritäten zwischen Leben und Tod, zwischen<br />

Unabhängigkeit und Angewiesensein, zwischen Gelingen und Scheitern geprägt. Aber das<br />

Alter konfrontiert uns unübersehbar mit dem Schatten unserer Existenz, den wir individuell<br />

aber auch gesellschaftlich gern ausblenden: der Endlichkeit, Verletzbarkeit, Vergänglichkeit<br />

und Sterblichkeit des Menschen, Grundbedingungen, die unbedingt zum Leben gehören, und<br />

ohne die, so sagen jedenfalls die großen Geister aller Zeiten, das Leben keinen Sinn erhält. 6<br />

Die Endlichkeit und der Sinn unseres Lebens sind untrennbar miteinander verschränkt. Wer<br />

von daher in vorgerücktem Alter weiterhin vorwiegend auf Lebensverlängerung und<br />

Lebenserweiterung setzt, kann zunehmend in eine existentielle Sackgasse geraten. Je älter<br />

wir werden, desto dringlicher geht es auch um Lebensvertiefung, und zwar im biographischen<br />

Sinn, dass wir angesichts unserer Endlichkeit die Fragmente unseres Lebens integrieren und<br />

annehmen als unser einziges, wirkliches Leben. Es geht darüber hinaus um Lebensvertiefung<br />

in religiös-spiritueller Dimension: dass wir auch das Sterben und den Tod nicht nur als<br />

Lebensbedrohung und <strong>–</strong>vernichtung fürchten und verdrängen, sondern als Teil des Lebens<br />

integrieren, welche Bedeutung wir ihm auch immer geben können und wollen. In<br />

Zusammenarbeit mit Gerontologen und Soziologen arbeitet der Philosoph Thomas Rentsch<br />

aktuell an einem ambitionierten Forschungs- und Aufklärungsprojekt über das Alter. Denn er<br />

hält Aufklärung von Menschen über ihr Altern mit all seinen Facetten inklusive Sterben und<br />

Tod für mindestens so wichtig wie Aufklärung über menschliche Sexualtität.<br />

Was heißt das nun für unsere Praxis in den Kliniken, für den Umgang mit älteren Patienten?<br />

Ein älterer Kollege von mir drückte sein Gefühl bei der Aufnahme ins Krankenhaus mit den<br />

beiden Worten aus, die im Titel dieses Vortrags zu finden sind: <strong>„Eingeliefert</strong> <strong>–</strong> <strong>ausgeliefert</strong>!“<br />

Schon jüngere Patienten können dieses Gefühl bekommen, weil im Krankenhaus von jetzt auf<br />

5 Hermann Hesse, Mit der Reife wird man jünger, Betrachtungen und Gedanken über das Alter, Frankfurt/M.,<br />

Leipzig, 1990, 68f.<br />

6 Vgl. Thomas Rentsch, aaO.<br />

3


gleich nicht mehr mein Lebensrhythmus zählt, sondern der Ablauf einer riesigen, oft schwer<br />

durchschaubaren Einrichtung, weil auf einmal alle anderen besser wissen, was für mich gut<br />

und schlecht ist, als ich selbst, und weil meine Privatsphäre auf Bettgröße, wenn überhaupt,<br />

schrumpft usw. Bei älteren Patienten wirken diese fremdbestimmenden Bedingungen oft noch<br />

viel krasser. D.h. wenn wir nach den ethischen Implikationen eines Umgangs mit älteren<br />

Patienten fragen, fragen wir nach Bedingungen, die dem Gefühl des Ausgeliefertseins<br />

entgegenarbeiten. Denn dieses Gefühl widerspricht der Würde des Menschen, es erschwert<br />

die compliance und behindert Genesung und Bewältigung. Unsere auch ethisch gebotene<br />

Aufgabe ist es aber, die Patienten jeden Lebensalters, auch die Hochaltrigen, in der<br />

Bewältigung ihrer jeweiligen Lebens-, Krankheits- und, wo nötig, auch Sterbesituation so zu<br />

unterstützen, dass sie sich auf das einlassen können, was notwendig und manchmal<br />

unvermeidbar ist.<br />

Konkret möchte ich sieben praktische Schlussfolgerungen aus den allgemeineren Erwägungen<br />

für unsere Praxis im Umgang mit älteren Patienten im Krankenhaus ziehen:<br />

1. Da es keine altersspezifische Ethik gibt und der Umgang mit alten Menschen sich an<br />

den allgemeinen ethischen Grundsätzen orientieren muss, führt Rentsch z.B. Kant´s<br />

Kategorischen Imperativ ein, den Kant in verschiedenen Ausprägungen formuliert hat,<br />

die aber immer allgemeingültig sind. Für unser Thema zielführend ist seine<br />

Formulierung: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der<br />

Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel<br />

brauchst.“ 7 Unsere Patienten sind für uns nie nur Mittel, auch nicht zur<br />

Standortsicherung unserer Häuser, sie sind immer auch und vorwiegend Zweck all<br />

unserer Bemühungen. In den Worten der ebenfalls universal anwendbaren „Goldenen<br />

Regel“ heißt das praktischer: Die Jüngeren sollten den Alten nur das zufügen, was sie<br />

dereinst als Altgewordene von Jüngeren erfahren wollen. Wenn wir das ernstnehmen,<br />

dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese unvisersal gültigen Regeln<br />

umsetzen, heißt das unbedingt eine Aufwertung, eine bessere Besoldung und<br />

personelle Ausstattung des Pflegeberufs. Das ist eine dringende gesellschaftliche<br />

Aufgabe, díe der einzelne Träger momentan kaum stemmen kann.<br />

2. Da es keine spezielle Ethik des Alters gibt, und da weder pauschal um eine<br />

Verherrlichung noch um eine Verzerrung des Alters gehen darf, braucht es neben der<br />

Anwendung moralphilosophischer Grundkategorien den individuellen Blick auf jeden<br />

alten Menschen. Das wehrt jeder Form des Ageisms, der in seiner schlimmsten<br />

medizinischen Variante Menschen wegen ihres Alters nicht mehr behandelt.<br />

3. Da das Alter eine eigene Lebensaufgabe darstellt, gilt es immer, das individuelle<br />

Potential des alten Menschen in den Blick zu bekommen und zu unterstützen. Hier hat<br />

die noch relativ junge Disziplin der Geriatrie Bahnbrechendes geleistet, gerade im<br />

Hinblick auf Prävention und Rehabilitation. Weiterführend ist hier auch der<br />

interdisziplinäre Blick auf den Patienten, z.B. die geriatrische Komplexbehandlung,<br />

die nicht nur den Oberschenkelhalsbruch im Auge hat, sondern den ganzen Patienten<br />

mit all seinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen, deren komplexe<br />

Unterstützung Genesung, Bewältigung und eine Rückkehr möglichst in ein<br />

selbständiges weiteres Leben voranbringen. Hierzu werden wir in den folgenden<br />

Vorträgen noch Detailliertes hören. Bezogen auf den zweiten Teil unserer Tagung<br />

folgt daraus für den Umgang mit Mitarbeitern geeignete gesundheitsprophylaktische<br />

Maßnahmen. Das Mitarbeiterpotential ist das wichtigste Kapital unserer Häuser, und<br />

seine Prävention und Förderung ist viele Mittel wert.<br />

7 Vgl. Thomas Rentsch, aaO, 4.<br />

4


4. Unabhängig vom Lebensalter muss im Krankenhaus die Würde und Autonomie des<br />

Patienten gerade im Hinblick auf existentielle und therapeutische Grenzsituationen<br />

gewahrt werden. Dazu zwingt uns seit einigen Jahren auch der Gesetzgeber, der auch<br />

juristisch das Gut des Patientenwillens über das Gut der ärztlichen Fürsorge gestellt<br />

hat. Hier sind die Instrumente der Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht<br />

entscheidend. Die Aufklärung darüber und der Umgang damit muss in den Kliniken<br />

konsequent und transparent gehandhabt werden. Bereits vor 5 Jahren hat Prof.<br />

Hartenauer aus meinem Haus in Münster auf dem 5. <strong>Valeo</strong>-Kongress den entwickelten<br />

Umgang mit Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht durch<br />

Verfahrensanweisungen und Leitfäden vorgestellt. Die Implementierung Ethischer<br />

Konsile gehört inzwischen auch zum selbstverständlichen Unterstützungsangebot für<br />

Mitarbeiter, Patienten und Angehörige.<br />

5. Eine spezielle, nicht selten kontroverse Klippe stellt in diesem Zusammenhang oft die<br />

Umstellung von kurativer auf palliative Behandlung dar, die fast immer auch ethische<br />

Implikationen hat. Hier erfahren wir hautnah im klinischen Alltag, was Prof. Rentsch<br />

mit der erwähnten Radikalisierung der menschlichen Grundsituation meint. Hier<br />

kommen wir oft an den Punkt, wo ein bis vor kurzem noch vorhandene Potential eines<br />

älteren Patienten sich erschöpft, oder wertfrei gesagt: wo das letzte Potential des<br />

Patienten in seiner Endlichkeit liegt. Und da gilt es nun in Abstimmung mit dem<br />

Patientenwillen, nicht mehr unbedingt die Rehabilitation und Lebensverlängerung zu<br />

unterstützen, sondern die Grenze der Endlichkeit behutsam in den Blick zu nehmen<br />

und umzustellen auf eine angemessene medizinische, pflegerische und seelsorgliche<br />

Sterbebegleitung. An diesem Punkt sind sich aber oft nicht alle Disziplinen zeitgleich<br />

einig. Manchmal kommt es dann zu einem für Patienten, Angehörige und Mitarbeiter<br />

belastenden Hin und Her zwischen eher kurativen und eher palliativen Maßnahmen.<br />

Das EVK Münster hat in den letzten Jahren einen Leitfaden zur transparenten und<br />

verbindlichen Behandlungsabsprache und Dokumentation aller Disziplinen erarbeitet,<br />

vergleichbar mit den „Allow natural death“-Verfahren anderer Häuser. Das Alter<br />

konfrontiert uns mit der Grenze des Lebens, mit Sterben und Tod. Es gilt, Patienten<br />

bei dieser ihrer letzten Lebensaufgabe, nämlich dem Sterben, zu unterstützen durch<br />

eine gute interdisziplinäre palliative Versorgung, auch wenn keine Palliativstation<br />

vorgehalten wird, und einen würdigen Umgang mit sterbenden und verstorbenen<br />

Patienten. Auch hier können verbindliche Absprachen und Verfahrensanweisungen<br />

eine große Hilfe sein ebenso wie entsprechende Mitarbeiterfortbildungen. Nur 1 bis<br />

2% aller Deutschen sterben bislang in Hospizen, die ja rundum auf<br />

Palliativversorgung und Sterben eingerichtet sind, aber über 40% sterben nach wie vor<br />

in Krankenhäusern. Ich bin fest davon überzeugt, dass es inzwischen einen klaren<br />

Standortvorteil für ein Haus bedeutet, wenn das Sterben nicht nur als unvermeidlich<br />

hingenommen wird, sondern wenn es auch im Krankenhaus in kompetenter<br />

Begleitung und unter würdigen Umständen geschehen kann.<br />

6. Das Alter repräsentiert das Ganze und die Grenze des Lebens. Um das Ganze eines<br />

Patientenlebens nicht nur somatisch in den Blick zu bekommen, kann immer wieder<br />

ein Stück Biographiearbeit gut und hilfreich sein, dass alte Menschen sich nicht<br />

verlieren und nicht verzweifeln. In diesem Zusammenhang halte ich die Förderung des<br />

qualifizierten ehrenamtlichen Besuchsdienstes in unseren Häusern für außerordentlich<br />

wichtig. Ich erwähne hier ausdrücklich das Ehrenamt, weil die Tätigkeit in den<br />

Besuchsdiensten unseren Häusern noch mal auf einer ganz anderen Ebene am<br />

wachsenden Potential älterer Menschen Anteil gibt. Wenn die älteren Ehrenamtlichen<br />

älteren Patienten zuhören, die von ihrem Leben erzählen, gerade wenn dieses Leben<br />

im Moment zu zerbrechen droht, dann hilft ganz oft dieses Erzählen der<br />

5


Lebenserinnerungen und <strong>–</strong>fragmente dazu, dass sie ihr Leben mit allem Schönen und<br />

Schweren wieder mehr zu sich nehmen können, integrieren können.<br />

Im Hinblick auf das Ganze und die Grenze und die damit verbunden religiösspirituellen<br />

Bedürfnisse älterer Patienten ist natürlich auch die ausreichende<br />

Bereitstellung seelsorglicher Kompetenz auf Zukunft hin entscheidend wichtig. Das<br />

sage ich bewusst angesichts der Perspektive, dass zumindest die Evangelischen<br />

Kirchen über kurz oder lang immer weniger Pfarrerinnen und Pfarrer für die<br />

Klinikseelsorge bereitstellen können, weil es zuwenig theologischen Nachwuchs gibt.<br />

7. Hinsichtlich der zunehmenden Zahl demenzerkrankter Menschen, zu denen wir heute<br />

morgen noch einen eigenen Vortrag hören werden, möchte ich nur folgendes sagen:<br />

die Abhängigkeit von vielfältigen Formen sozialer, kommunikativer Solidarität gehört<br />

zur Grundkonsistenz unseres Menschseins, und diese Abhängigkeit schmälert unsere<br />

Würde nicht, wenn sie im hohen Alter wieder stärker wird. Auch hochgradig an<br />

Demenz erkrankte Patienten sind und bleiben fühlende, empfindsame Individuen mit<br />

teils noch sprachlichen, auf jeden Fall gestischen und mimischen Möglichkeiten, sich<br />

zu artikulieren. Sie brauchen allerdings andere Bedingungen, als sie der normale<br />

Stationsalltag vorhalten kann. Im EVK Münster haben wir gute Erfahrungen gemacht<br />

mit einer eigenen geriatrischen Station für Demenzpatienten, die sich in Einrichtung,<br />

Ablauf und Umgang auf die besonderen Bedürfnisse und Potentiale dieser Patienten<br />

einstellt. Auch das wird zukünftig ein immer wichtigerer Standortvorteil für<br />

Krankenhäuser sein. Immer wieder erlebe ich, dass ältere an Demenz erkrankte oder<br />

delirante Patienten mit dem „normalen“ somatischen Krankenhausalltag komplett<br />

überfordert sind: unorientiert, ängstlich, aggressiv … Ich erlebe aber auch immer<br />

wieder, besonders wenn die stationären Rahmenbedingungen stimmen, dass ich selber<br />

gestärkt und gesammelt aus dem Kontakt mit einem älteren Patienten heraus gehe:<br />

weil mich dieser ältere Mensch z.B. in seiner gelassenen Heiterkeit für einen Moment<br />

aus meiner Alltagshektik herausgerissen hat, und das passiert mir gerade auch mit<br />

demenzerkrankten Patienten. Ich bin dann immer dankbar für diese kleine erfrischende<br />

Prise Gesundheitsprophylaxe, die mir ein alter Patient ermöglicht.<br />

Wenn wir, meine Damen und Herren, im Alter in die Kliniken kommen, und zwar nicht mehr<br />

als Profis, sondern dann als Patienten, dann wären wir alle froh, wenn wir nicht das Gefühl<br />

hätten: „eingeliefert <strong>–</strong> <strong>ausgeliefert</strong>!“, sondern: <strong>„Eingeliefert</strong> <strong>–</strong> aufgehoben!“ Bei allem geht es,<br />

und hier zitiere ich ein letztes Mal den Philosophen Thomas Rentsch, darum, „den<br />

verletzlichen und endlichen Mitmenschen in das gemeinsame Leben zurückzuholen und<br />

aufzunehmen <strong>–</strong> und das sind wir alle.“ 8<br />

Thomas Groll, Pfarrer und Vorsitzender des Ethikkomitees<br />

im Evangelischen Krankenhaus Johannisstift, Münster<br />

8 Thomas Rentsch, aaO., 7.<br />

6


Literatur<br />

Hermann Hesse, Mit der Reife wird man jünger, Betrachtungen und Gedanken über das Alter,<br />

Frankfurt/M., Leipzig, 1990.<br />

Ursula Lehr, Hohes Alter, Fakten und Zukuftsszenarien, Vortrag auf dem Evangelis chen<br />

Kirchentag Hamburg, 2013.<br />

Thomas Rentsch, Altern und Lebenssinn, Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag<br />

Hamburg, 2013.<br />

Clemens Tesch-Römer, Heribert Engstler, Susanne Wurm, Andreas Motel, Klingebiel,<br />

Implikationen der Ergebnisse des Alterssurveys für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, in:<br />

Dies. (Hg.), Altwerden in Deutschland, Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung in der<br />

zweiten Lebenshälfte, Wiesbaden 2006, 519-537.<br />

7

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