Die Darstellung des Orients in Elias Canettis - Fakultät für Geistes
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1<br />
<strong>Die</strong> <strong>Darstellung</strong> <strong>des</strong> “<strong>Orients</strong>“<br />
<strong>in</strong> <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong> “<strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch“<br />
<strong>Die</strong> Begegnung zwischen dem westlichen und dem östlichen Kulturkreis,<br />
zwischen Eigenem und Fremdem erfolgte verstärkt seit den kolonialistischen<br />
Bestrebungen im 18. Jahrhundert nach dem trennenden Muster “Orient“/<br />
“Okzident“. Der “Orient“, mit dem im Allgeme<strong>in</strong>en die Länder und Völker<br />
Vorderasiens mit Ägypten bezeichnet werden, ist e<strong>in</strong> europäisches Konstrukt,<br />
<strong>des</strong>sen Ursprünge bis weit <strong>in</strong>s Mittelalter zurückreichen und durch den<br />
Kolonialismus wieder aufgegriffen wurden. <strong>Die</strong>ser Begriff zeugt von e<strong>in</strong>em<br />
objektivistischen Verhalten <strong>des</strong> Westens gegenüber dem aus eigener Sicht<br />
“Anderen“ und “Fremden“. Im künstlich festgelegten Verhältnis zwischen<br />
“Orient“ und “Okzident“ zählte nämlich nur die Perspektive <strong>des</strong> westlichen<br />
Kulturkreises. <strong>Die</strong>ser legte die Art und Weise der Diskursführung mit dem<br />
“Orient“ fest und def<strong>in</strong>ierte, was aus se<strong>in</strong>er Sicht “fremd“ und “exotisch“ war.<br />
Der paläst<strong>in</strong>ensische Autor Edward Said gibt 1978 diesem Kulturphänomen den<br />
Namen “Orientalismus“ und kritisiert damit das Negativ-Bild, dass man vor<br />
allem von den Ländern islamischer Kultur <strong>in</strong> Europa und den USA erzeugte. In<br />
se<strong>in</strong>em gleichnamigen Buch charakterisiert er den “Orientalismus“ als e<strong>in</strong>en<br />
vom Okzident hervorgebrachten Diskurs über den Orient, <strong>in</strong> dem sich die<br />
westliche Kultur durch die Abwertung <strong>des</strong> “Anderen“ selbst als überlegen<br />
darstellt und ihre imperialen Vorrechte geltend macht.<br />
“Ich selbst glaube, dass der Orientalismus viel besser als e<strong>in</strong> Zeichen europäisch-atlantischer<br />
Macht über den Orient verstanden werden sollte und nicht als e<strong>in</strong> wahrheitsgemäßer Diskurs<br />
über den Orient.“ 1<br />
<strong>Die</strong>se Art der Kulturbegegnung konnte ke<strong>in</strong> realistisches Bild der östlichen<br />
Kultur <strong>in</strong> Europa liefern, sie diente vielmehr der Entwicklung von Stereotypen<br />
und Vorurteilen. Auch die europäische Literatur bediente sich <strong>des</strong> exotischen,<br />
fremden “<strong>Orients</strong>“ und trug somit ihren Teil zum “Orientalismus“ bei:<br />
“So hat e<strong>in</strong>e sehr große Anzahl von Autoren, und unter ihnen Dichter, Romanschriftsteller,<br />
Philosophen, politische Theoretiker, Wirtschaftler und Reichsverwalter, die grundsätzliche<br />
Unterscheidung zwischen Ost und West zum Ausgangspunkt <strong>für</strong> umfangreiche Theorien, Epen,<br />
1 Edward W. Said: “Orientalismus“. Übers. von Liliane Weisberg. Frankfurt/ Berl<strong>in</strong>/ Wien 1981.<br />
S. 13.
2<br />
Romane (…), die den Orient, se<strong>in</strong> Volk, <strong>des</strong>sen Sitten, “Geist“, Schicksal usw. betreffen,<br />
gemacht.“ 2<br />
Nicht selten wurde der angebliche sittliche und kulturelle Verfall <strong>des</strong><br />
Morgenlands als Kontrastfläche zu e<strong>in</strong>em überlegenen, zivilisierten Abendland<br />
<strong>in</strong> literarischen Werken zum Thema. Später wurde “das Orientalische“ Mode<br />
und die fremde Kultur idealisiert. Viele teilweise recht unterschiedliche, aber<br />
wirklichkeitsferne Bilder und Vorstellungen wurden im Laufe der Zeit <strong>in</strong><br />
Zusammenhang mit dem östlichen Kulturkreis gebracht. Bestimmte Klischees<br />
über den “Orient“ z.B. als paradiesähnlicher Ort , wie aus den Erzählungen von<br />
“Tausend und e<strong>in</strong>er Nacht“, werden noch heute z.B. <strong>in</strong> Reiseprospekten zur<br />
Beschreibung <strong>des</strong> Nahen Ostens verwendet. <strong>Die</strong> Reiseliteratur leistete<br />
ebenfalls ihren Beitrag zur Wahrnehmung <strong>des</strong> “<strong>Orients</strong>“, zum e<strong>in</strong>en mit e<strong>in</strong>em<br />
tatsächlichen Wirklichkeitsanspruch, zum anderen aber um gewohnte Vorurteile<br />
zu bestätigen. Während <strong>für</strong> e<strong>in</strong>ige Schriftsteller die Begegnung mit dem<br />
Fremden auf e<strong>in</strong>er imag<strong>in</strong>ierten Reise <strong>in</strong> den “Orient“ stattfand, berichteten<br />
andere h<strong>in</strong>gegen von e<strong>in</strong>em tatsächlichen Aufenthalt im so genannten<br />
Morgenland.<br />
Auch <strong>Elias</strong> Canetti, e<strong>in</strong> britischer Schriftsteller, begleitete 1954 e<strong>in</strong> Filmteam<br />
nach Marrakesch und hielt se<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen an diese Reise <strong>in</strong> das ihm ferne<br />
Land islamischer Kultur nachträglich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch “<strong>Die</strong> Stimmen von<br />
Marrakesch. Aufzeichnungen nach e<strong>in</strong>er Reise“ fest. In se<strong>in</strong>en 14 Erzählungen,<br />
die laut eigener Aussage neben se<strong>in</strong>en Hauptwerken, dem Roman “<strong>Die</strong><br />
Blendung“, den Dramen “Hochzeit“ und “Komödie der Eitelkeiten“ sowie der<br />
soziologischen Studie “Masse und Macht“ nur e<strong>in</strong>e Nebenrolle spielten,<br />
berichtet er über se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke von den Menschen und dem Leben <strong>in</strong> der<br />
marokkanischen Stadt. Dabei nimmt der Nobelpreisträger <strong>für</strong> Literatur von 1981<br />
das damals von den Franzosen besetzte Marrakesch auf se<strong>in</strong>e ganz eigene<br />
Weise wahr. In der folgenden Arbeit soll nun erörtert werden, wie Canetti, der<br />
se<strong>in</strong>e literarischen und essayistischen Werke <strong>in</strong> deutscher Sprache schrieb, mit<br />
dem kulturell “Fremden“ umgeht. Wird se<strong>in</strong>e Erzählung auch geprägt von den<br />
typischen Orientbildern, die <strong>in</strong> Europa vorherrschten bzw. zum Teil immer noch<br />
vorherrschen? Gehört se<strong>in</strong> Werk zu den literarischen Produkten, die Said unter<br />
dem Begriff “Orientalismus“ zusammenfasst?<br />
2 Edward Said: “Orientalismus“. S. 9.
3<br />
1. Aufzeichnungen nach e<strong>in</strong>er Reise<br />
<strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong> Reise nach Marrakesch fand zu e<strong>in</strong>er Zeit statt, <strong>in</strong> der die Arbeit<br />
an se<strong>in</strong>er zweibändigen Studie “Masse und Macht“, die seit den Dreißigern im<br />
Zentrum se<strong>in</strong>es nicht-poetischen Schaffens stand, nur sehr langsam<br />
voranschritt. Als Begleiter e<strong>in</strong>es Filmteams wurde es ihm ermöglicht, die<br />
orientalische Großstadt Marrakesch zu besuchen und <strong>für</strong> e<strong>in</strong>ige Zeit Abstand<br />
von se<strong>in</strong>em schwierigen Hauptwerk zu gew<strong>in</strong>nen. Se<strong>in</strong>e Erlebnisse <strong>in</strong><br />
Marrakesch brachte Canetti nicht direkt während der Reise zu Papier, sondern<br />
erst nachdem er nach London zurückgekehrt war. In se<strong>in</strong>er Essaysammlung<br />
“Gewissen der Worte“ erklärte der Autor, dass es generell nicht se<strong>in</strong>e<br />
Gewohnheit war, sich während e<strong>in</strong>er Reise viele Notizen zu machen 3 . Deshalb<br />
lautet der ungewöhnliche Untertitel se<strong>in</strong>es Reiseberichts auch “Aufzeichnungen<br />
nach e<strong>in</strong>er Reise“ und nicht z.B. „während“ oder „über“. Dem Autor schien es<br />
also wichtig zu se<strong>in</strong>, zu betonen, wann das Werk entstanden ist. <strong>Die</strong> zeitliche<br />
Verzögerung konnte unter anderem die Folge der starken E<strong>in</strong>drücke der Reise<br />
gewesen se<strong>in</strong>, die ihn so lange nicht losließen, bis er sie schließlich zu Papier<br />
gebracht hatte. Da<strong>für</strong> spricht auch, dass Canetti sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
autobiographischen Aufzeichnungen nach der Rückkehr <strong>in</strong> London über solche<br />
anhaltenden Impressionen se<strong>in</strong>er Marrakesch-Reise äußerte. Zugleich hob er<br />
die Notwendigkeit hervor, diese <strong>in</strong>tensiven Erlebnisse so authentisch wie<br />
möglich festzuhalten:<br />
“Es hat sich auch hier seit ich zurück b<strong>in</strong>, nichts verwischt. Es nimmt alles an Leuchtkraft noch<br />
zu. Ich glaube, durch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache <strong>Darstellung</strong> <strong>des</strong> Gesehenen, ohne jede Veränderung,<br />
Erf<strong>in</strong>dung, Übertreibung kann ich etwas wie e<strong>in</strong>e neue Stadt <strong>in</strong> mir erbauen, <strong>in</strong> der das<br />
stockende Buch über die Masse wieder gedeihen wird.“ 4<br />
Canetti wollte se<strong>in</strong>e Reise- Erfahrungen nicht als Stoff benutzen, den er <strong>für</strong> e<strong>in</strong><br />
Werk umformt oder verändert. <strong>Die</strong> re<strong>in</strong>e, wahrheitsgetreue Niederschrift der<br />
Erlebnisse <strong>in</strong> Marrakesch sollte die Vorraussetzung <strong>für</strong> das Weiterarbeiten an<br />
“Masse und Macht“ se<strong>in</strong>. Tatsächlich gab die Aufzeichnung der Reiseerlebnisse<br />
dem Autor auch neue Impulse <strong>für</strong> die Fortsetzung se<strong>in</strong>er sozialpsychologischen<br />
Studie. Umgekehrt zeigten aber genauso die Überlegungen <strong>Canettis</strong> über die<br />
Phänomene “Masse“ und “Macht“ ihren E<strong>in</strong>fluss auf die “StvM“. So erfährt z.B.<br />
der Erzähler auf e<strong>in</strong>em jüdischen Friedhof, “wie verführerisch es se<strong>in</strong> kann“<br />
(S.44) von der Masse bzw. e<strong>in</strong>er großen Gruppe von fordernden Bettlern<br />
3 <strong>Elias</strong> Canetti: Das Gewissen der Worte: Essays. München/ Wien 1983. S.59.<br />
4 <strong>Elias</strong> Canetti: Prov<strong>in</strong>z <strong>des</strong> Menschen. S. 198.
4<br />
verehrt zu werden. Da der Autor se<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Prosawerk laut eigener Aussage<br />
als Nebenprodukt se<strong>in</strong>es Schaffens ansah, wurde das Buch erst 1967, dreizehn<br />
Jahre nach se<strong>in</strong>er Entstehung, auf Drängen e<strong>in</strong>iger Freunde h<strong>in</strong> veröffentlicht.<br />
In e<strong>in</strong>em Brief an Herbert G. Göpfert schrieb Canetti am 4. Januar 1968 über<br />
“<strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch“:<br />
“es ist so, dass es e<strong>in</strong>e ganze Reihe solcher Sachen von mir gibt, die ich verstecke, weil sie<br />
leicht und rasch entstanden s<strong>in</strong>d; so ersche<strong>in</strong>en sie mir selbstverständlich und ohne rechtes<br />
Gewicht. Ich achte nur, was mich viel Zeit und auch viel Vorbereitung kostet.“ 5<br />
Für Canetti war der Entstehungsprozess se<strong>in</strong>er Werke e<strong>in</strong> wichtiges Kriterium<br />
der Beurteilung. Doch solche Selbstaussagen e<strong>in</strong>es Autors müssen immer<br />
kritisch betrachtet werden. E<strong>in</strong>e lange Zeitspanne von der Entstehung bis h<strong>in</strong><br />
zur Veröffentlichung e<strong>in</strong>es literarischen Produkts erweist sich im H<strong>in</strong>blick auf<br />
andere Werke <strong>Canettis</strong> als nichts Außergewöhnliches. Auf diese Weise<br />
versuchte der Autor sche<strong>in</strong>bar den Gehalt se<strong>in</strong>er Arbeit noch e<strong>in</strong>mal zu<br />
überprüfen. Indem er sich durch die zeitliche Distanz freimachte von<br />
persönlichen E<strong>in</strong>drücken und Gefühlen, wurde es ihm möglich, e<strong>in</strong>en neuen<br />
Blick auf se<strong>in</strong> Werk werfen zu können. Doch durch die oben zitierte Aussage<br />
wurde den “Stimmen von Marrakesch“ lange Zeit nur e<strong>in</strong>e Nebenrolle im<br />
Schaffensprozess <strong>Canettis</strong> zugeteilt. Nach e<strong>in</strong>igen Problemen der E<strong>in</strong>ordnung<br />
der Reiserzählung <strong>in</strong> das Gesamtwerk <strong>des</strong> Autors gesteht die Forschung heute<br />
aber dem Prosawerk e<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert zu. Edgar Piel erkannte <strong>in</strong><br />
dem Buch sogar e<strong>in</strong>en Wandel <strong>in</strong> <strong>Canettis</strong> Schaffen 6 . Während <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en frühen<br />
literarischen Werken e<strong>in</strong>e eher düstere, pessimistische Stimmung herrsche,<br />
f<strong>in</strong>de man <strong>in</strong> den “Stimmen von Marrakesch“ e<strong>in</strong>e Freude an allem<br />
Menschlichen und e<strong>in</strong>e starke Lebensbejahung, selbst dort, wo man es am<br />
wenigsten erwartet.<br />
2. Flanieren durch Marrakesch<br />
Wer wissen will, welche E<strong>in</strong>drücke der Autor nun <strong>in</strong> Marrakesch gewonnen hat,<br />
der muss sich zunächst fragen, auf welche Weise Canetti die ausländische<br />
Stadt erkundete. <strong>Die</strong> meisten Reisenden verlassen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fremden Stadt<br />
bzw. e<strong>in</strong>em fremden Land auf das Wissen e<strong>in</strong>es ortskundigen Fremdenführers,<br />
der ihnen die wichtigsten historischen Monumente zeigt und ihnen kulturelle<br />
5 Herbert G. Göpfert: Zu den „Stimmen von Marrakesch“. In: <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong> Anthropologie und<br />
Poetik. Hg. von Stefan H. Kaszynski. Poznan/ München 1984. S.135.<br />
6 Edgar Piel: <strong>Elias</strong> Canetti. (Autorenbücher; 38). München 1984. S. 140-146.
5<br />
Daten und Fakten näher br<strong>in</strong>gt. E<strong>in</strong> Fremdenführer kennt die Erwartungen<br />
se<strong>in</strong>er Kunden und weiß, was sie sehen wollen. Auf “abgelaufenen Pfaden“<br />
liefert er den Reisenden meistens immer dasselbe vorgefertigte Bild e<strong>in</strong>er<br />
fremden Kultur, e<strong>in</strong>er Stadt bzw. e<strong>in</strong>es Lan<strong>des</strong>, das nur selten abweicht von<br />
gewohnten Mustern. Als Canetti 1954 nach Marrakesch reist, ist die Zeit <strong>des</strong><br />
Massentourismus <strong>in</strong> Marokko zwar noch nicht angebrochen, aber europäische<br />
Reisende und ihre e<strong>in</strong>heimischen Fremdenführer s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dem von den<br />
Franzosen besetzten Land ke<strong>in</strong>e Seltenheit. Der Ich-Erzähler, der aufgrund <strong>des</strong><br />
autobiographischen Charakters der Erzählungen mit dem Autor Canetti<br />
gleichgesetzt werden kann, berichtet ebenfalls von Gruppen von Amerikanern<br />
und Engländern, die sich den Kamelmarkt ansehen (S.13), und von<br />
E<strong>in</strong>heimischen, die sich ihren Lebensunterhalt durch Fremdenführungen<br />
verdienen. Nicht selten bekommt Canetti selbst das Angebot sich die Stadt<br />
zeigen zu lassen, aber er hat e<strong>in</strong>e Abneigung gegen Fremdenführer. Obwohl<br />
auch <strong>für</strong> ihn das Land und die islamische Kultur nur wenig bekannt s<strong>in</strong>d,<br />
entdeckt er die Stadt und ihre Menschen am liebsten auf eigene Faust, denn er<br />
weiß:<br />
“(..) dass man nichts mehr sah, sobald man sich e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>heimischen als Führer<br />
anvertraut hatte.“ (S. 48) 7<br />
Ganz anders als die üblichen Reisenden sammelt der Ich-Erzähler se<strong>in</strong>e<br />
E<strong>in</strong>drücke von der fremden Kultur, <strong>in</strong>dem er meistens alle<strong>in</strong>e durch die Stadt<br />
spaziert. Ohne festes Ziel lässt er sich vor allem von solchen Ereignissen<br />
anziehen, die ihm das menschliche und auch tierische Leben näher br<strong>in</strong>gen.<br />
“Canetti fügt sich eher se<strong>in</strong>en Launen und Zufällen. Er lässt sich von Freunden im Auto<br />
mitnehmen, geht planlos spazieren, bleibt unvermittelt stehen, beobachtet Menschen, Tiere,<br />
Ereignisse. Canetti ist Flaneur. Der Zufall führt ihm die Beute zu.“ 8<br />
Der Erzähler lässt sich <strong>in</strong> Marrakesch e<strong>in</strong>fach nur treiben und bleibt dort stehen,<br />
wo es etwas Interessantes zu sehen gibt. Dabei nimmt er sich viel Zeit <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e<br />
Beobachtungen, hört mit viel Geduld zu und kehrt auch immer wieder an<br />
reizvolle Orte zurück, um das Fremde noch <strong>in</strong>tensiver auf sich wirken zu lassen.<br />
Es ist nur schwer möglich sich e<strong>in</strong>e ungefähre zeitliche Vorstellung von <strong>Canettis</strong><br />
Aufenthalt zu machen, da der Ich-Erzähler ke<strong>in</strong>e Angaben über den Zeitpunkt<br />
der An- und Abreise oder die Dauer se<strong>in</strong>es Aufenthalts macht. In den 14<br />
7 Seitenangaben <strong>in</strong> Klammern zitiert nach: <strong>Elias</strong> Canetti: <strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch.<br />
Aufzeichnungen nach e<strong>in</strong>er Reise. 25. Aufl.. München/ Wien 2003.<br />
8 Bruno Zeyr<strong>in</strong>ger: <strong>Die</strong> Erfahrung der Fremde. <strong>Elias</strong> Canetti: <strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch. Italo<br />
Calv<strong>in</strong>o: Le città <strong>in</strong>visibili. Ludwigsburg 1995. S.56.
6<br />
Erzählungen gibt es Kapitel, die gar ke<strong>in</strong>e Zeitangaben be<strong>in</strong>halten wie z.B. die<br />
<strong>Darstellung</strong> der Suks. Andere Kapitel, die stärker handlungsorientiert s<strong>in</strong>d,<br />
zeigen sich zeitlich etwas mehr strukturiert, so z.B. die Episode über den<br />
“Besuch <strong>in</strong> der Mellah“ und das darauf folgende Kapitel über “<strong>Die</strong> Familie<br />
Dahan“. <strong>Die</strong>ser spärliche Umgang <strong>des</strong> Autors mit Zeitangaben verstärkt den<br />
Charakter <strong>des</strong> Sich-Treiben-Lassens und <strong>des</strong> Flanierens. Auch die lose<br />
Ane<strong>in</strong>anderreihung der Kapitel, die auf den ersten Blick ke<strong>in</strong>en thematischen<br />
Zusammenhang zu besitzen sche<strong>in</strong>en, erweckt den E<strong>in</strong>druck <strong>des</strong> Zufälligen.<br />
Man merkt, dass Canetti sich vor se<strong>in</strong>er Reise ke<strong>in</strong>en Plan über se<strong>in</strong>en<br />
Aufenthalt <strong>in</strong> Marrakesch gemacht hat. Er beabsichtigt weder e<strong>in</strong>e<br />
Sehenswürdigkeit nach der anderen zu besuchen, noch ist es se<strong>in</strong> Ziel auf<br />
se<strong>in</strong>en Spaziergängen sich kulturell zu bilden. Im Kapitel “<strong>Die</strong> Rufe der Bl<strong>in</strong>den“<br />
erklärt der Ich-Erzähler auch, dass er sich bewusst ke<strong>in</strong> Wissen über das<br />
fremde Land und se<strong>in</strong>e Sitten angelesen hat (S.19). Canetti will nicht, dass<br />
solche Vorkenntnisse von Anfang an se<strong>in</strong> Bild von der fremden Kultur<br />
bee<strong>in</strong>flussen. Vielmehr erhofft sich der flanierende Erzähler spontane,<br />
unverfälschte E<strong>in</strong>drücke vom menschlichen Leben <strong>in</strong> der Stadt. <strong>Die</strong> Bewohner<br />
Marrakeschs s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> ihn von größerer Bedeutung als irgendwelche<br />
Sehenswürdigkeiten. So sagt er:<br />
“Ich stand etwas verlegen mitten auf der Straße still und gab mir den Ansche<strong>in</strong>, das Tor zu<br />
studieren, während ich <strong>in</strong> Wahrheit die Gesichter der Bettler betrachtete.“ (S.54)<br />
Auch über die Gelegenheit das e<strong>in</strong>fache Haus e<strong>in</strong>er jüdischen Familie von<br />
<strong>in</strong>nen sehen zu können, freut sich der Ich-Erzähler mehr, als den schwer<br />
zugänglichen Palast <strong>des</strong> Sultans zu besuchen (S.56). <strong>Die</strong>ses “nie zu<br />
ersättigende Interesse an jeder Art von Menschen“ 9 , das Canetti an sich selbst<br />
feststellte, resultierte aus se<strong>in</strong>er Begeisterung <strong>für</strong> die Vielfalt der Kulturen, die<br />
ihm von K<strong>in</strong>dheit an <strong>in</strong> die Wiege gelegt wurde. <strong>Die</strong> ersten Begegnungen mit<br />
anderen Kulturen hatte der Autor nämlich schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimatstadt, dem<br />
damals türkischen Rustschuk (heute Bulgarien), wo <strong>Elias</strong> Canetti am 25. Juli<br />
1905 als erstes K<strong>in</strong>d sephardischer Juden geboren wurde.<br />
“In se<strong>in</strong>er Geburtsstadt wuchs er <strong>in</strong>mitten mehrerer Kulturen, Völker, Sprachen, Sitten und<br />
Bräuche auf. Das Fremdartige erschreckte und zog das K<strong>in</strong>d gleichzeitig an.“ 10<br />
9 <strong>Elias</strong> Canetti: <strong>Die</strong> Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. Frankfurt a. M. 1996. S.267.<br />
10 Olga Borodatschjova: “Ich will, was ich war, werden“. <strong>Die</strong> autobiographische Trilogie von <strong>Elias</strong><br />
Canetti. Hamburg 2002. S.63.
7<br />
In dem Völkergemisch <strong>in</strong> Rustschuk trafen westeuropäische, osteuropäische<br />
und orientalische E<strong>in</strong>flüsse aufe<strong>in</strong>ander. <strong>Die</strong>sen reichhaltigen E<strong>in</strong>drücken <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er Heimatstadt schreibt Canetti so großen E<strong>in</strong>fluss zu, dass er behauptet:<br />
“Alles, was ich später erlebt habe, war <strong>in</strong> Rustschuk schon e<strong>in</strong>mal geschehen.“ 11<br />
Tatsächlich entdeckt der Autor auch <strong>in</strong> Marrakesch Parallelen zu den<br />
Erlebnissen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Heimatort und f<strong>in</strong>det auf diese Weise Anteile se<strong>in</strong>er<br />
eigenen Lebensgeschichte im Fremden wieder. In se<strong>in</strong>er Autobiographie<br />
schreibt er z.B., dass ihn die Erzähler <strong>in</strong> Marrakesch an se<strong>in</strong>en Großvater<br />
er<strong>in</strong>nerten, dem er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit begeistert zuhörte, wenn er se<strong>in</strong>e<br />
Geschichten erzählte 12 . Erste Kontakte mit dem “Orient“ hatte Canetti durch<br />
eben diesen Großvater, der strenggläubiger Jude war und die orientalischen<br />
Bräuche <strong>in</strong> der Familie aufrechterhielt. <strong>Die</strong> Reise nach Marrakesch be<strong>in</strong>haltete<br />
<strong>für</strong> Canetti auch die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit se<strong>in</strong>er eigenen Identität als Jude,<br />
mit der er oft haderte. Im zentralen Kapitel “Besuch <strong>in</strong> der Mellah“ berichtet er<br />
vom Juden-Viertel <strong>in</strong> Marrakesch, wo er e<strong>in</strong>er noch sehr ursprünglichen<br />
jüdischen Welt begegnet. Dort fühlt der Autor sich auch am Ziel se<strong>in</strong>er Reise<br />
angelangt. Als er angeregt durch die Beobachtung e<strong>in</strong>es Bettlers, der mit<br />
Genuss e<strong>in</strong>en heißen Krapfen verzehrt, plötzlich e<strong>in</strong> überwältigen<strong>des</strong><br />
Glücksgefühl empf<strong>in</strong>det, erfährt er mitten im Zentrum der Mellah die<br />
Entgrenzung se<strong>in</strong>es eigenen Ichs:<br />
“Ich mochte nicht mehr weg von hier, vor Hunderten von Jahren war ich hier gewesen, aber ich<br />
hatte es vergessen und nun kam alles wieder. Ich fand jene Dichte und Wärme <strong>des</strong> Lebens<br />
ausgestellt, die ich <strong>in</strong> mir selber fühlte. Ich war dieser Platz als ich dort stand. Ich glaube ich b<strong>in</strong><br />
immer dieser Platz.“ (S.38)<br />
Vielleicht ermöglichte gerade <strong>Canettis</strong> außergewöhnlicher Lebenslauf diese<br />
besondere Erfahrung, welche die Grenzen zwischen Eigenem und Fremden <strong>in</strong><br />
Marrakesch auflöste. Da der Autor nämlich von Jugend an ke<strong>in</strong> sesshaftes<br />
Leben führte, erlernte er mehrere Sprachen und setzte sich schon früh mit<br />
verschiedenen Kulturen ause<strong>in</strong>ander. Der Umzug der wohlhabenden Familie<br />
nach England und die vielen Ortswechsel nach dem Tod <strong>des</strong> Vaters prägten<br />
den Lebensweg <strong>des</strong> kosmopolitischen Schriftstellers. Das Abitur absolvierte er<br />
<strong>in</strong> Frankfurt a. M., das Studium der Chemie und die Promotion <strong>in</strong> Wien. 1938<br />
floh der junge Schriftsteller und erklärte Kriegsgegner vor den Nazis <strong>in</strong>s<br />
Londoner Exil. Se<strong>in</strong> ganzes Leben lang reiste Canetti gerne und <strong>in</strong>teressierte<br />
11 <strong>Elias</strong> Canetti: <strong>Die</strong> gerettete Zunge. Geschichte e<strong>in</strong>er Jugend. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1994. S.10.<br />
12 Ebd.; S.104.
8<br />
sich <strong>für</strong> andere Völker und ihre Lebensarten. <strong>Die</strong> Orte, <strong>in</strong> die er reist, und ihre<br />
Bewohner waren <strong>für</strong> ihn von großer Bedeutung, so dass sie häufig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e<br />
autobiographischen Aufzeichnungen E<strong>in</strong>gang fanden:<br />
“Von der Entdeckung der neuen Länder und Städte geht er zur Erforschung der Menschen<br />
über. Er widmet mehrere Aphorismen den Eigenschaften, Besonderheiten, Errungenschaften,<br />
der Geschichte, Vergangenheit, Kultur verschiedener Völker: Ch<strong>in</strong>esen, Griechen, Römer,<br />
Engländer, Deutsche, Franzosen. Canetti lernt diese Völker meistens als Insider kennen- durch<br />
se<strong>in</strong>e Sprachkenntnisse.“ 13<br />
Durch se<strong>in</strong>e Mehrsprachigkeit fiel es Canetti leicht, sich <strong>in</strong> viele europäische<br />
Kulturen e<strong>in</strong>zufügen und das Leben der Menschen dort aus nächster Nähe zu<br />
erfahren. <strong>Die</strong>se Fähigkeiten waren eigentlich die besten Vorraussetzungen, um<br />
auch die fremde Kultur <strong>in</strong> Marrakesch ganz unvore<strong>in</strong>genommen erleben zu<br />
können. Ob dies dem Autor gelungen ist, wird sich im Laufe dieser Arbeit<br />
herausstellen.<br />
3. Marokko 1954<br />
Während Canetti sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en autobiographischen Aufzeichnungen gerne mit<br />
der Geschichte und den Gesellschaftsstrukturen anderer Kulturen<br />
ause<strong>in</strong>andersetzte, sah er es <strong>in</strong> den “StvM“ nicht als se<strong>in</strong>e Aufgabe, den Leser<br />
über die gesellschaftspolitische Situation oder über den geschichtlichen<br />
H<strong>in</strong>tergrund Marokkos zu <strong>in</strong>formieren. E<strong>in</strong>ige historische und politische<br />
Gegebenheiten fallen <strong>in</strong> den Erzählungen ganz nebenbei, bleiben aber<br />
weitestgehend unkommentiert. Beiläufig teilt der Autor dem Leser z.B. etwas<br />
über die Lohnverhältnisse im Land mit, <strong>in</strong>dem er ihn erfahren lässt, dass e<strong>in</strong><br />
gutes Kamel, das an den Schlachthof verkauft wird, 70000 alte Francs kostet<br />
(S.11). Als H<strong>in</strong>weis auf die Kolonialherrschaft der Franzosen erfährt man<br />
zunächst nur, dass <strong>in</strong> Marokko mit der französischen Währung bezahlt wird.<br />
Dabei hatte Frankreich 1926 geme<strong>in</strong>sam mit Spanien e<strong>in</strong>en Aufstand <strong>in</strong><br />
Marokko niedergeschlagen. Über Protektoratsvere<strong>in</strong>barungen mit dem<br />
marokkanischen Sultan sicherte es sich dann Ende der 20er Jahre die Macht im<br />
Land. Pro forma herrschte e<strong>in</strong> Sultan über Marokko, <strong>des</strong>sen Macht aber sehr<br />
ger<strong>in</strong>g war. 1953 wurde Sultan Muhammad V. von den Franzosen <strong>in</strong>s Exil<br />
geschickt, weil er sich <strong>für</strong> die Unabhängigkeit se<strong>in</strong>es Lan<strong>des</strong> e<strong>in</strong>setzte und mit<br />
der Freiheitspartei <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung stand. Se<strong>in</strong> Onkel besetzte an se<strong>in</strong>er Stelle<br />
den Platz <strong>des</strong> neuen Sultans. <strong>Die</strong> unruhige politische Lage <strong>in</strong> Marrakesch ist<br />
13 Olga Borodatschjova: “Ich will, was ich war, werden“. S.68.
9<br />
nur e<strong>in</strong>mal kurz das Thema e<strong>in</strong>es Gesprächs zwischen dem Erzähler und dem<br />
zudr<strong>in</strong>glichen Juden Élie im achten Kapitel der “StvM“. Canetti berichtet von<br />
e<strong>in</strong>em Attentat auf den neuen Sultan (S.54). Weiterh<strong>in</strong> erwähnt er, dass der<br />
Täter der Freiheitspartei nahe gestanden haben soll. Den Sultan unterstützte<br />
der mit den Franzosen verbündete Pascha von Marrakesch, el Glaoui. Nach der<br />
Schilderung <strong>des</strong> Ich-Erzählers hat dieser den Attentäter <strong>des</strong> Sultans auf der<br />
Stelle niedergeschossen (S.54). Unerwähnt bleibt <strong>in</strong> <strong>Canettis</strong> Erzählung, dass<br />
der Pascha Berber<strong>für</strong>st und somit Vertreter e<strong>in</strong>en starken M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong><br />
Marokko ist. <strong>Die</strong> Strategie der französischen Kolonialherrscher war es damals<br />
die bestehenden Differenzen zwischen den städtischen Arabern und den eher<br />
bäuerlichen Berbern zu ihrem Vorteil zu nutzen. In den “Stimmen von<br />
Marrakesch“ erzählt der Jude Élie, dass der Pascha die Araber hasse und die<br />
Juden se<strong>in</strong>e Freunde und Berater seien (S.55). Canetti f<strong>in</strong>det diese Aussage<br />
über den Glaoui “mittelalterlich“ (S.55). Er erklärt jedoch auch nicht, dass das<br />
schlechte Verhältnis zwischen dem Berber<strong>für</strong>st und den Arabern aus dem lange<br />
andauernden Konflikt zwischen Arabern und Berbern resultierte. <strong>Die</strong> Berber<br />
widersetzten sich nämlich den Arabern, die ihre Dom<strong>in</strong>anz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eigenen<br />
Nationalstaat ausdehnen wollten, und bestanden auf ihrer Unabhängigkeit.<br />
Zudem herrschte weiterh<strong>in</strong> der Konflikt zwischen Juden und Arabern um<br />
Paläst<strong>in</strong>a/ Israel. Canetti verzichtet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Erzählung zum größten Teil auf<br />
solche weiterführenden Erklärungen zu der politischen oder gesellschaftlichen<br />
Lage <strong>in</strong> Marrakesch. Er berührt diese Themen nur flüchtig, da andere<br />
Begebenheiten <strong>in</strong> der Stadt se<strong>in</strong> Interesse <strong>für</strong> das Menschliche viel eher auf<br />
sich lenken.<br />
4. <strong>Die</strong> Stimmen<br />
Bei Reisen herrschen oft Bilder bzw. optische E<strong>in</strong>drücke vor. Es ist aber kaum<br />
möglich durch <strong>Canettis</strong> Beschreibungen <strong>in</strong> den “StvM“ e<strong>in</strong> Bild vom Äußern der<br />
Stadt zu erhalten. Da der Autor <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Erzählungen den Titel “<strong>Die</strong> Stimmen<br />
von Marrakesch“ gewählt hat, erwartet man als Leser auch weniger Reise- oder<br />
Städtebilder, sondern bestimmte Laute, die Marrakesch <strong>für</strong> Canetti hörbar<br />
werden ließ. Doch was s<strong>in</strong>d das <strong>für</strong> Stimmen, die der Autor uns vernehmbar<br />
machen will?
10<br />
4.1. Hörerlebnisse <strong>in</strong> Marrakesch<br />
Das Akustische sche<strong>in</strong>t <strong>für</strong> Canetti tatsächlich e<strong>in</strong>e wichtige Bedeutung zu<br />
haben. Schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Dramen und im Roman setzte sich der Schüler von Karl<br />
Kraus mit der Sprache ause<strong>in</strong>ander und bezeichnete sie als e<strong>in</strong>e “akustische<br />
Maske“, die den Menschen zwar zum Schutz vor der Realität diene, deren<br />
Starrheit sie aber irgendwann umbr<strong>in</strong>ge.<br />
“Das Bemühen <strong>Canettis</strong>, als e<strong>in</strong> unbestechlicher Zeit-Zeuge die Namen, Worte, Stimmen und<br />
Sprachen der Menschen zu registrieren und der Nachwelt zu überliefern, prägt leitmotivisch<br />
se<strong>in</strong> literarisches Werk und ist vielfach auch <strong>in</strong> die Namengebung se<strong>in</strong>er Schriften<br />
e<strong>in</strong>gegangen.“ 14<br />
Den “StvM“ folgen e<strong>in</strong>e Reihe von Werken, die bereits <strong>in</strong> ihrem Titel<br />
Akustisches bezeichnen, so z.B. “Der Ohrenzeuge“, “<strong>Die</strong> gerettete Zunge“ und<br />
“<strong>Die</strong> Fackel im Ohr“. In se<strong>in</strong>en Aufzeichnungen über die Marrakesch-Reise s<strong>in</strong>d<br />
es hauptsächlich Äußerungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht vertrauten Sprache, die den Autor<br />
fasz<strong>in</strong>ieren. Canetti, der es eigentlich gewohnt war, sich mehrere Sprachen<br />
anzueignen und zu sprechen, hat während se<strong>in</strong>es Aufenthalts <strong>in</strong> Marokko<br />
absichtlich „weder Arabisch noch e<strong>in</strong>e der Berbersprachen zu erlernen<br />
versucht“, weil er “nichts von der Kraft der fremdartigen Rufe verlieren wollte“<br />
(S.19). <strong>Die</strong> Gespräche, die er <strong>in</strong> Restaurants oder Bars mit französisch<br />
sprechenden Arabern und anderen E<strong>in</strong>wohnern <strong>in</strong> der ihm geläufigen<br />
französischen Sprache führt, dienen fast nur der Information. Was Canetti<br />
begeistert, s<strong>in</strong>d die Laute <strong>in</strong> der unbekannten Sprache, die er ohne<br />
Verfälschung und belasten<strong>des</strong> Vorwissen auf sich e<strong>in</strong>wirken lassen will.<br />
“<strong>Die</strong> fremde Sprache wird nur noch <strong>in</strong> ihrer bloßen Materialität wahrgenommen, reduziert auf<br />
den Schall, die Schw<strong>in</strong>gungen, die Höhen und Tiefen, die Schärfe und Weichheit der Laute, auf<br />
Zäsuren im Fließen der Worte und Wortkaskaden. Das Fremde wird zur Projektionsfläche.<br />
Canetti muss rätselhaft ersche<strong>in</strong>en, was im heimischen Kontext klar umrissen ist.“ 15<br />
Indem der Autor auf das Verstehen der arabischen Sprache bzw. der<br />
Berbersprachen verzichtet, versucht er ganz unvore<strong>in</strong>genommen die fremde<br />
Kultur <strong>in</strong> sich aufzunehmen. Dabei liefert er sich ihr auch gleichzeitig schutzlos<br />
aus. Denn durch se<strong>in</strong>e Unkenntnis der Sprache und das dadurch verzögerte<br />
Verstehen der beobachteten Ereignisse fällt der Erzähler immer wieder selbst<br />
als Fremder auf und erregt Aufmerksamkeit bei den E<strong>in</strong>heimischen. Während er<br />
14 Mart<strong>in</strong> Bollacher: Mundus liber. Zum Verhältnis von Sprache und Judentum bei <strong>Elias</strong> Canetti.<br />
In: Stefan H. Kaszynski (Hg.): <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong> Anthropologie und Poetik. München/ Poznan<br />
1984. S. 47-67. S. 50.<br />
15 Bruno Zeyr<strong>in</strong>ger: <strong>Die</strong> Erfahrung der Fremde. S.64.
11<br />
z.B. lange vor dem Münzen kauenden Marabu, <strong>des</strong>sen Tun ihm zunächst sehr<br />
unverständlich und befremdlich ersche<strong>in</strong>t, verweilt, wirkt Canetti auf die<br />
E<strong>in</strong>heimischen, die nicht verstehen können, warum er so lange vor dem heiligen<br />
Mann stehen bleibt und die “gewöhnlichste Sache von der Welt“ (S.24)<br />
beobachtet, ebenso merkwürdig und fremd.<br />
E<strong>in</strong>ige Kapitel <strong>in</strong> den “StvM“ zehren von <strong>Canettis</strong> Hörerlebnissen <strong>in</strong> der fremden<br />
Sprache. So ist z.B. <strong>für</strong> den Erzähler der Höhepunkt der Begegnung mit der<br />
jüdischen Familie Dahan der Besuch beim Familienoberhaupt, der ke<strong>in</strong><br />
Französisch spricht, aber den Namen “<strong>Elias</strong> Canetti“ so ausspricht als “gehöre<br />
er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e besondere Sprache“ (S.62). Im Kapitel “<strong>Die</strong> Rufe der Bl<strong>in</strong>den“<br />
beschäftigt den Erzähler das Zehntausend Mal am Tag wiederholte “Alláh!<br />
Alláh!“ der bl<strong>in</strong>den Bettler so sehr, dass er diese Rufe zuhause nachzuahmen<br />
versucht. Vom Eigenleben der Laute fasz<strong>in</strong>iert, beschreibt er diese<br />
folgendermaßen:<br />
“Es s<strong>in</strong>d akustische Arabesken um Gott, aber wie viel e<strong>in</strong>drucksvoller als optische.“ (S.20)<br />
Aus dem Chor der Bl<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> dem durch das geteilte Schicksal e<strong>in</strong><br />
Geme<strong>in</strong>schaftsgefühl erwachsen ist, hebt sich der E<strong>in</strong>zelne laut Canetti nur<br />
durch se<strong>in</strong>en charakteristischen, immer gleichen Ruf ab. Dabei gibt der Bettler<br />
nicht mehr von sich preis als diesen e<strong>in</strong>en rhythmischen Ruf, der ihn wie e<strong>in</strong>e<br />
“akustischen Maske“ umgibt und nur auf das Lautliche reduziert. Nachdem<br />
Canetti die “Verführung“ (S.21) dieses alltäglichen Rituals im spielerischen<br />
Nachahmen verstanden hat, erklärt er die bl<strong>in</strong>den Bettler am Ende <strong>des</strong> Kapitels<br />
zu “Heiligen der Wiederholung“ (S.21). Nur durch den zuhause durchgeführten<br />
Rollentausch wird Canetti dieser neue Blick auf das vorher Befremdliche<br />
möglich. Auch im Mittelpunkt der Erzählung “<strong>Die</strong> Frau am Gitter“ stehen Laute<br />
und zwar stammen diese von der “leisen, weichen, zärtlichen Stimme“ (S.29)<br />
e<strong>in</strong>er unverschleiert am Fenster stehenden Frau, aus deren Mund Koseworte<br />
“wie aus e<strong>in</strong>em Brunnen“ (S.29) zu dem erstaunten Ich-Erzähler dr<strong>in</strong>gen. <strong>Die</strong><br />
wunderliche Erfahrung, dass die Frau sich ohne Schleier <strong>in</strong> der marokkanischen<br />
Öffentlichkeit zeigt, <strong>in</strong> der sich sonst nur vermummte Frauen wie “unförmige<br />
Säcke bewegen“ (S.30), ist <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung <strong>Canettis</strong> fest mit dieser leisen,<br />
zärtlichen Stimme verbunden, die kosende Worte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ihm unverständlichen<br />
Sprache von sich gibt. “Vom Eigenwert sprachlicher Äußerung“ 16 zeugt vor<br />
16 Friederike Eigler: Das autobiographische Werk von <strong>Elias</strong> Canetti. Verwandlung, Identität,<br />
Machtausübung. Tüb<strong>in</strong>gen 1988. S. 146.
12<br />
allem aber das letzte Kapitel der Aufzeichnungen. Während am Anfang der<br />
“StvM“ die Schreie der Kamele, die ihren baldigen Tod durch die Nähe <strong>des</strong><br />
Schlachters erahnen, e<strong>in</strong>en bleibenden E<strong>in</strong>druck bei dem Ich-Erzähler<br />
h<strong>in</strong>terlassen, so ist es am Ende der Reiseerzählung der unveränderliche äää-<br />
Laut <strong>des</strong> unsichtbaren Menschenbündels „an der Grenze <strong>des</strong> Lebendigen“<br />
(S.85), der Canetti immer wieder magisch anzieht.<br />
“Es war e<strong>in</strong> tiefes, langgezogenes, surren<strong>des</strong> >>-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä-ä
13<br />
“Der Esel ist e<strong>in</strong> Bild stummen Lebens, das Canetti beobachtet. Es ist e<strong>in</strong> Mosaikste<strong>in</strong> im<br />
Gesamtbild Marrakeschs, wie es die “Brotwahl“ ist. (…) Was sonst nicht oder wenig Beachtung<br />
bei E<strong>in</strong>heimischen und Touristen f<strong>in</strong>det, Canetti verleiht ihm advokatorisch se<strong>in</strong>e (im doppelten<br />
Worts<strong>in</strong>n) Stimme.“ 17<br />
“<strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch“ s<strong>in</strong>d folglich nicht nur Laut-Erlebnisse <strong>in</strong> der<br />
fremden Sprache, sondern vielmehr Erfahrungen an den Rändern der<br />
Gesellschaft bzw. <strong>des</strong> menschlichen Lebens, die Canetti auf se<strong>in</strong>en Streifzügen<br />
sammelt. Indem der Autor über diese Begegnungen berichtet, gibt er denen<br />
e<strong>in</strong>e Stimme, die sonst nur wenig Gehör f<strong>in</strong>den. Und erstaunlicherweise<br />
offenbart sich ihm dort, an der Grenze zwischen Leben und Tod, immer wieder<br />
e<strong>in</strong> starker Lebenswille. <strong>Canettis</strong> Zusammentreffen mit zum Sterben verurteilten<br />
Kamelen, bl<strong>in</strong>den Bettlern und mehr als schlecht behandelten Eseln <strong>in</strong><br />
Marrakesch s<strong>in</strong>d Erfahrungen der Lebensbejahung. Egal wie erbärmlich das<br />
Leben sich zeigt, eisern und trotzig wird an ihm <strong>in</strong> diesem Land festgehalten.<br />
<strong>Die</strong>s erfährt Canetti z.B. auch <strong>in</strong> der Begegnung mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>be<strong>in</strong>igen Bettler,<br />
der ihn auf e<strong>in</strong>em “wüsten“ (S.41) jüdischen Friedhof verfolgt, um se<strong>in</strong>e<br />
Almosen e<strong>in</strong>zufordern.<br />
“Wie e<strong>in</strong> drohen<strong>des</strong> altes Tier kam er auf mich zugestürzt. In se<strong>in</strong>em Gesichte, das mir rasch<br />
näherkam, war nichts, das Mitleid erregte. Es drückte wie die ganze Gestalt e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige<br />
ungestüme Forderung aus: >> Ich lebe. Gib mir!
14<br />
Das letzte Kapitel der Aufzeichnungen ist nicht nur aus lautlicher Sicht der<br />
Höhepunkt der Erzählungen, sondern auch im H<strong>in</strong>blick auf den starken<br />
Lebenswillens <strong>des</strong> kle<strong>in</strong>en, gestaltlosen Bündels, das an der Grenze zwischen<br />
Leben und Tod steht. Der Erzähler kann nicht e<strong>in</strong>mal erkennen, ob das<br />
schwache “Geschöpf“ (S.86) unter dem Stoff überhaupt e<strong>in</strong> Mensch ist oder<br />
nicht. Das e<strong>in</strong>zige, was vom Leben <strong>des</strong> “Unsichtbaren“ <strong>für</strong> Canetti noch zu<br />
vernehmen ist, bleibt der unveränderliche Laut, den es ausstößt. Obwohl das<br />
Leben hier auf se<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum bzw. auf e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Laut reduziert wurde, hört<br />
der Autor dar<strong>in</strong> immer noch e<strong>in</strong> Ja zum Leben heraus. Neben e<strong>in</strong>em<br />
“würgenden Gefühl von Ohnmacht“ (S.86) gegenüber sich selbst, empf<strong>in</strong>det<br />
Canetti auch Stolz auf das Bündel, weil es mit se<strong>in</strong>em alles übertönenden Laut<br />
eisern am Leben festhält.<br />
“Ich war stolz auf das Bündel, weil es lebte. Was es sich dachte, während es tief unter den<br />
anderen Menschen atmete, werde ich nie wissen. (…) Aber es lebte, und mit e<strong>in</strong>em Fleiß und<br />
e<strong>in</strong>er Beharrlichkeit ohnegleichen sagte es se<strong>in</strong>en Laut, sagte ihn Stunden und Stunden, bis es<br />
auf dem ganzen Platz der e<strong>in</strong>zige Laut geworden war (…).“ (S.87)<br />
Das letzte und das erste Kapitel spannen e<strong>in</strong>en thematischen Bogen über das<br />
Werk. In beiden Kapiteln geht es um den Überlebenskampf von Mensch und<br />
Tier <strong>in</strong> der fremden Stadt. Während der Kampf der Kamele blutig ausgeht, bleibt<br />
am Ende die Hoffnung auf das Überleben <strong>des</strong> kle<strong>in</strong>en Menschenbündels durch<br />
das Fortbestehen se<strong>in</strong>es Lautes <strong>für</strong> Canetti erhalten. Sprache und Leben,<br />
bei<strong>des</strong> Themen, um welche die “StvM“ immer wieder kreisen, s<strong>in</strong>d im letzten<br />
Kapitel der Aufzeichnungen nicht mehr von e<strong>in</strong>ander zu trennen.<br />
5. Orient-Bilder<br />
Wir wissen jetzt, dass der Erzähler auf se<strong>in</strong>en Spaziergängen durch<br />
Marrakesch oft auf die Grenzen <strong>des</strong> Menschlichen gestoßen ist und dass er<br />
selbst dort, wo man normalerweise nicht mehr viel Lebensfreude und -willen<br />
vermutet, das Leben noch sehr <strong>in</strong>tensiv erlebt hat. Doch ist diese<br />
Lebensbejahung, die Canetti im fremden Marrakesch vorzuf<strong>in</strong>den me<strong>in</strong>t, nicht<br />
nur e<strong>in</strong>e eigenwillige Interpretation <strong>des</strong> vorgefundenen Elends, um am Ende e<strong>in</strong><br />
oberflächliches Bild von e<strong>in</strong>em “märchenhaften Orient“ aufrechtzuerhalten?<br />
Lassen die Erzählungen e<strong>in</strong>e solche verklärte Vorstellung durchsche<strong>in</strong>en, die<br />
den Blick auf das Fremde verstellt? Trotz <strong>Canettis</strong> Bemühungen um e<strong>in</strong>e<br />
vorurteilsfreie Begegnung mit dem Fremden tauchen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Erzählung auch<br />
manchmal typische Orientbilder auf:
15<br />
“<strong>Die</strong> Stimmungsbilder, wie sie auf Tausenden von Reisefotos ihre Rolle spielen: der Muezz<strong>in</strong><br />
auf dem M<strong>in</strong>arett, die heimkehrende Kamelherde im Abendrot, die Vielfalt der Läden, das<br />
Bazar-Labyr<strong>in</strong>th, der Märchenerzähler, der bl<strong>in</strong>de Bettler, die K<strong>in</strong>der im farbigen Schmutz -<br />
nichts fehlt.“ 19<br />
Der Orient selbst ist das Objekt der <strong>Darstellung</strong> <strong>Canettis</strong>, das kann man nicht<br />
leugnen. Und der Autor versucht die Phänomene, die er <strong>in</strong> der fremden Kultur<br />
beobachtet, auch auf se<strong>in</strong>e eigene, sehr ästhetische Weise zu beschreiben. <strong>Die</strong><br />
Sprache, die er dazu benutzt, zeigt sich poetisch und s<strong>in</strong>nlich. Obwohl die<br />
Subjektivität von <strong>Canettis</strong> Reisebericht nicht abzustreiten ist, s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e<br />
Erzählungen dennoch geprägt von den spontanen, oft bestürzten Äußerungen<br />
<strong>des</strong> Beobachters. Auf se<strong>in</strong>en Streifzügen durch Marrakesch erlebt der Erzähler<br />
e<strong>in</strong> breites Spektrum an Gefühlen wie z.B. Empörung, Angst, Scham, Stolz und<br />
Scheu. Ziel <strong>des</strong> Autors könnte es gewesen se<strong>in</strong>, durch die Intensität und die<br />
S<strong>in</strong>nlichkeit <strong>des</strong> Erzählten auch solche vielfältigen Empf<strong>in</strong>dungen im Leser zu<br />
wecken und ihn so an das Geschehen zu fesseln. Neben vielen Vergleichen<br />
und Wortwiederholungen arbeitet Canetti gerne mit außergewöhnlichen<br />
Attributierungen, die bildhaft und e<strong>in</strong>drucksvoll wirken. So wird z.B. das Wort<br />
“Amerikaner“ <strong>für</strong> den <strong>in</strong> Marrakesch lebenden Juden Élie zu e<strong>in</strong>em “goldenen<br />
Wort“ (S.50). Dessen Schwäger<strong>in</strong> bezeichnet der Autor als e<strong>in</strong>e “sehr<br />
leuchtende Frau“ (S.45). Rätselhaft, aber zugleich sehr ausdrucksstark wirken<br />
aphoristische Aussprüche wie bei der Beschreibung der “Arabesken um Gott“<br />
(S.20). Anstelle der sprachlichen Kommunikation treten verstärkt<br />
S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke <strong>in</strong> den Vordergrund. Manche Momente könnten wirklich aus<br />
e<strong>in</strong>em Reiseprospekt stammen, so z.B. die Beschreibung e<strong>in</strong>er Mauer, die sich<br />
zusammen mit e<strong>in</strong>er davor ruhenden Kamelkarawane <strong>in</strong> der Abendsonne e<strong>in</strong><br />
außergewöhnliches Farbenspiel liefert (S.8). Laut Bruno Zeyr<strong>in</strong>ger 20 übernahm<br />
sogar Baedekers Allianz-Reiseführer “Marokko“ von 1991 e<strong>in</strong>e Textstelle aus<br />
dem Kapitel “<strong>Die</strong> Suks“. <strong>Die</strong> Beschreibung <strong>des</strong> Ladenviertels <strong>in</strong> Marrakesch<br />
sche<strong>in</strong>t also den Erwartungen der Leser e<strong>in</strong>es Reiseführers zu entsprechen:<br />
“Es ist würzig <strong>in</strong> den Suks, es ist kühl und farbig. Der Geruch, der immer angenehm ist, ändert<br />
sich allmählich, je nach der Natur der Waren. (…) Alle Gelasse und Läden, <strong>in</strong> denen dasselbe<br />
verkauft wird, s<strong>in</strong>d dicht beie<strong>in</strong>ander, zwanzig oder dreißig oder mehr von ihnen. Da gibt es<br />
e<strong>in</strong>en Bazar <strong>für</strong> Gewürze und e<strong>in</strong>en <strong>für</strong> Lederwaren.“ (S.14)<br />
<strong>Die</strong> s<strong>in</strong>nliche <strong>Darstellung</strong> der Suks <strong>in</strong> ihrer Buntheit und Vielfalt kommt den<br />
klischeehaften europäischen Vorstellungen über e<strong>in</strong>en “typisch orientalischen“<br />
19 Werner Helwig: <strong>Die</strong> Gesichter <strong>des</strong> <strong>Elias</strong> Canetti. In: Merkur. Heft 8/ 1970. S. 787.<br />
20 Bruno Zeyr<strong>in</strong>ger: <strong>Die</strong> Erfahrung der Fremde. S. 124.
16<br />
Bazar ziemlich nahe. Von diesen Vorurteilen über das Morgenland, wie sie <strong>in</strong><br />
Europa zum Teil immer noch vorherrschen, schließt sich der Erzähler selbst<br />
nicht aus. An e<strong>in</strong>igen Stellen der “StvM“ wird deutlich, dass auch er bestimmte<br />
Bilder vom Orient übernommen hat. So erwartet er z.B. auf dem Kamelmarkt <strong>in</strong><br />
Marrakesch “hunderte von diesen sanften, kurvenreichen Tieren zu sehen“<br />
(S.8). Auf den Dächern der Stadt, die sonst die Gesichter ihrer Frauen h<strong>in</strong>ter<br />
Schleiern versteckt, hofft er Frauen zu sehen “wie <strong>in</strong> Märchen“ (S.27). <strong>Die</strong><br />
Tante e<strong>in</strong>es jüdischen Bekannten er<strong>in</strong>nert ihn sogar “auf den ersten Blick an<br />
orientalische Frauen, wie sie Delacroix gemalt hat“ (S.56). Der französische<br />
Maler, der <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Studien selbst e<strong>in</strong>mal Marokko bereiste, ist bekannt <strong>für</strong><br />
se<strong>in</strong>e orientalischen Szenerien.<br />
Wären dies wirklich die e<strong>in</strong>zigen E<strong>in</strong>drücke, die der Autor uns von der fremden<br />
Stadt und ihrer Kultur vermittelt, dann würde Canetti dem Leser tatsächlich e<strong>in</strong><br />
ziemlich verklärtes Orientbild liefern. Doch die Erzählungen <strong>in</strong> den “StvM“<br />
gehen über solche schematisierten <strong>Darstellung</strong>en h<strong>in</strong>aus. Was z.B. zunächst<br />
als oberflächliche Beschreibung e<strong>in</strong>es “typisch orientalischen“ Bazars anmutet,<br />
entpuppt sich im Verlauf <strong>des</strong> Kapitels “<strong>Die</strong> Suks“ als e<strong>in</strong>e fast schon<br />
philosophische Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der Struktur und den Funktionen <strong>des</strong><br />
Handelns <strong>in</strong> der marokkanischen Gesellschaft. Bei se<strong>in</strong>em Streifzug durch den<br />
Bazar reflektiert der Ich-Erzähler nämlich auf se<strong>in</strong>e ganz eigene Weise über das<br />
Verhältnis <strong>des</strong> Händlers zu se<strong>in</strong>er Ware. Während sich im ersten Kapitel die<br />
Beziehung zwischen Händler und Ware ganz deutlich zum Nachteil der Tiere<br />
ausgewirkt hat, die als Verkaufsobjekte der Macht <strong>des</strong> Menschen unterworfen<br />
wurden, zeigen sich dem Erzähler nun die verkäuflichen Gegenstände <strong>in</strong> den<br />
Suks als eigenständige Subjekte mit e<strong>in</strong>er ganz besonderen Dynamik.<br />
“Es wirkt so, als wüssten die Taschen selber, dass sie der Reichtum s<strong>in</strong>d und als zeigten sie<br />
sich schön hergerichtet den Augen der Passanten. Man wäre gar nicht verwundert, wenn sie<br />
plötzlich <strong>in</strong> rhythmische Bewegung gerieten, alle Taschen zusammen, und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bunten<br />
orgiastischen Tanz alle Verlockungen zeigten, deren sie fähig s<strong>in</strong>d.“ (S.14 f.)<br />
In diesem ekstatischen Treiben sche<strong>in</strong>t sich dem Erzähler die Trennung<br />
zwischen Mensch und Gegenstand, zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben<br />
und e<strong>in</strong> gleichberechtigtes Nebene<strong>in</strong>ander hervorzurufen. Besonderen Gefallen<br />
f<strong>in</strong>det der Erzähler an der rätselhaften Prozedur der Festlegung <strong>des</strong><br />
Kaufpreises <strong>in</strong> der fremden Kultur. Während man im westlichen Kulturkreis<br />
extreme Preisschwankungen schon als krim<strong>in</strong>elle Tendenz e<strong>in</strong>zuordnen<br />
versucht ist, respektiert Canetti diese Tradition <strong>des</strong> Feilschens <strong>in</strong> ihrer
17<br />
Rätselhaftigkeit und erkennt dar<strong>in</strong> die besonderen Werte, um die es eigentlich<br />
geht: sich Zeit zu nehmen <strong>für</strong> se<strong>in</strong> Gegenüber und damit se<strong>in</strong>e Achtung<br />
gegenüber Händler und Ware zu bezeugen. <strong>Die</strong>se Werte versucht auch der<br />
Erzähler dem Fremden gegenüber aufzubr<strong>in</strong>gen. Er widmet viel Zeit dem<br />
Beobachten und Zuhören. Dabei versucht er das Fremde <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Eigenart zu<br />
respektieren, ohne es verstehend vere<strong>in</strong>nahmen zu wollen. Das schließt jedoch<br />
nicht aus, dass auch Canetti ab und zu etwas e<strong>in</strong>seitige Bilder vom Orient<br />
ers<strong>in</strong>nt, die aber sogleich ihre Korrektur durch das wirkliche Leben <strong>in</strong><br />
Marrakesch erfahren.<br />
6. Phantasie und Wirklichkeit<br />
<strong>Die</strong> Erzählungen <strong>in</strong> den “StvM“ lassen, wie bereits erwähnt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen<br />
Momenten erkennbar werden, dass Canetti durchaus bestimmte Vorstellungen<br />
vom Orient übernommen hat. Doch die Art und Weise, wie er mit diesen<br />
umgeht, zeigt, dass er sich trotzdem weiterh<strong>in</strong> bemüht, dem Leser e<strong>in</strong> möglichst<br />
echtes Bild von Marrakesch zu vermitteln, selbst wenn sich se<strong>in</strong>e eigenen<br />
Erwartungen an die Stadt und ihre Bewohner als unrealistisch herausstellen. In<br />
gewisser H<strong>in</strong>sicht spielt der Autor dabei mit dem Vorgang <strong>des</strong> Erzählens, denn<br />
mehr als e<strong>in</strong>mal stellt sich <strong>in</strong> den genau durchgestalteten Kapiteln heraus, dass<br />
die Orient-Bilder, die der Erzähler zuvor von der fremden Kultur entworfen hat,<br />
im weiteren Geschehensverlauf <strong>in</strong> Zweifel gezogen werden und ke<strong>in</strong>en Bestand<br />
mehr haben. Meistens s<strong>in</strong>d es Gespräche mit E<strong>in</strong>heimischen, die se<strong>in</strong> Konstrukt<br />
<strong>des</strong> <strong>Orients</strong> <strong>in</strong>s Schwanken br<strong>in</strong>gen und den Erzähler sehr schnell auf den<br />
Boden der Tatsachen zurückholen.<br />
Schon die Begegnung mit den Kamelen im ersten Kapitel verläuft nicht so, wie<br />
vorgestellt. Während der Erzähler hofft, auf dem Kamelmarkt schöne, gutmütige<br />
Tiere bewundern zu können, treffen se<strong>in</strong> Freund und er zu spät am Ort <strong>des</strong><br />
Geschehens e<strong>in</strong> und f<strong>in</strong>den nur noch e<strong>in</strong> tollwütiges, erbärmlich behandeltes<br />
Kamel vor, das sich mit letzter Kraft gegen den Tod wehrt. Der verzweifelte<br />
Überlebenskampf <strong>des</strong> Kamels, der so gar nicht ihren Erwartungen entspricht,<br />
erschüttert die beiden zutiefst. E<strong>in</strong>ige Tage später beobachtet der Erzähler e<strong>in</strong>e<br />
Kamelkarawane, die <strong>in</strong> der Abendsonne ihr “friedliches Mahl“ (S.9) im Schatten<br />
der schon erwähnten Mauer e<strong>in</strong>nimmt, und ist von deren Schönheit begeistert.<br />
Das “Bild <strong>des</strong> Friedens und der Dämmerung“ (S.8), welches der Erzähler rund<br />
um die Kamele aufbaut, wird aber durch die Aussage e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>heimischen,
18<br />
dass die Karawane geradewegs auf dem Weg zum Schlachter sei, zunichte<br />
gemacht. <strong>Die</strong> Tatsache, dass Kamelfleisch die Nahrungsgrundlage dieser<br />
Gesellschaft bildet, und die Erzählungen <strong>des</strong> E<strong>in</strong>heimischen von se<strong>in</strong>en<br />
Erlebnissen mit Europäern im 1. und 2. Weltkrieg stehen <strong>in</strong> Kontrast zu <strong>Canettis</strong><br />
Bild der friedlichen Tiere, deren Ähnlichkeit mit e<strong>in</strong>igen englischen Bekannten<br />
se<strong>in</strong> Freund und er zuvor noch scherzhaft festgestellt hatten. Dem Autor muss<br />
zugute gehalten werden, dass er hier nicht ausblendet, wie schnell se<strong>in</strong>e<br />
Stimmung umschlägt und se<strong>in</strong>e eigenen Vorstellungen durch die weniger<br />
schöne Realität im fremden Alltag korrigiert wurden.<br />
“Wir waren beide betroffen, selbst me<strong>in</strong> Freund, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimat e<strong>in</strong> leidenschaftlicher<br />
Jäger ist. Wir dachten an die weite Wanderung der Tiere; ihre Schönheit <strong>in</strong> der Dämmerung;<br />
ihre Ahnungslosigkeit; ihr friedliches Mahl; und vielleicht auch an die Menschen, an die sie uns<br />
er<strong>in</strong>nert hatten.“ (S.9)<br />
Auch der zweite Besuch auf dem Kamelmarkt wird überschattet vom<br />
Überlebenskampf e<strong>in</strong>es zum Tode verurteilten Kamels, das vom Schlächter<br />
abgeführt werden soll. Wieder ist es der e<strong>in</strong>heimische Kamelhändler vom<br />
letzten Besuch <strong>des</strong> Marktes, der den Fremden über die Gefährlichkeit<br />
tollwütiger Kamele aufklärt und ihm e<strong>in</strong> Gespräch über Krieg aufdrängt. Schon<br />
<strong>in</strong> diesem ersten Kapitel kann man erkennen, dass der Autor die e<strong>in</strong>zelnen<br />
Episoden sehr genau durchgestaltet hat. <strong>Die</strong> Erzählung besteht nämlich aus<br />
drei ähnlich aufgebauten Abschnitten:<br />
“Der Ich-Erzähler und se<strong>in</strong> Freund treffen dreimal am Kamelmarkt mit bestimmten Erwartungen<br />
e<strong>in</strong>. Zweimal werden sie Zeuge, wie diese Tiere grausam, aber auch mit Vorsicht behandelt<br />
werden, e<strong>in</strong>mal erfahren sie, dass es Schlachttiere s<strong>in</strong>d. Je<strong>des</strong>mal verlassen sie den Ort <strong>in</strong><br />
Trauer oder mit Scheu und Unbehagen. Das Umschlagen der Stimmung dom<strong>in</strong>iert die drei<br />
Begebenheiten.“ 21<br />
<strong>Die</strong>se Sequenzen, die Canetti häufig zur Strukturierung se<strong>in</strong>er Kapitel benutzt,<br />
werden e<strong>in</strong>geleitet von e<strong>in</strong>em Satz, der die Tragik <strong>des</strong> weiteren Geschehens<br />
schon vorausdeutet und die Aufmerksamkeit <strong>des</strong> Lesers auf die folgenden<br />
Erlebnisse lenkt:<br />
“Dreimal kam ich mit Kamelen <strong>in</strong> Berührung und es endete je<strong>des</strong>mal auf tragische Weise.“ (S.7)<br />
Dreimal wird dem Ich-Erzähler folglich auf erschütternde Weise bewusst<br />
gemacht, dass die fremde Kultur e<strong>in</strong> ganz anderes Bild von Kamelen hat als er<br />
selbst. Als Schlachttier wird mit ihnen weniger sanft umgegangen als mit<br />
ihresgleichen im westlichen Kulturkreis, wo sie aber auch <strong>für</strong> den Menschen<br />
21 Bruno Zeyr<strong>in</strong>ger: <strong>Die</strong> Erfahrung der Fremde. S. 89.
19<br />
ke<strong>in</strong>e überlebenswichtige Funktion haben. Niemand nimmt <strong>des</strong>halb <strong>in</strong> der<br />
marokkanischen Öffentlichkeit Anstoß an der brutalen Behandlung der Tiere<br />
außer den ausländischen Reisenden.<br />
“Machtbeziehungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Gesellschaft deutlicher zu beobachten. Vor allem zeigt sich<br />
die Ohnmacht der Tiere, die <strong>in</strong> der weniger technisierten Gesellschaft e<strong>in</strong>e viel wichtigere Rolle<br />
spielen, sehr, sehr viel öffentlicher; sie wird damit aber auch zum e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichen Bild der<br />
Ohnmacht <strong>des</strong> Menschen.“ 22<br />
Andererseits müssen Canetti und se<strong>in</strong> Freund erfahren, dass auch die friedlich<br />
aussehenden Tiere dem Menschen gefährlich werden können. Nach der<br />
Aussage <strong>des</strong> Kamelhändlers knien sich tollwütige Kamele nämlich nachts auf<br />
die Menschen und ersticken sie im Schlaf. Für den Erzähler verwandelt sich<br />
Marrakesch unter diesen grausamen E<strong>in</strong>drücken <strong>in</strong> “die rote Stadt“ (S.13).<br />
Schon gleich zu Beg<strong>in</strong>n der Erzählungen relativiert sich durch diese neuen,<br />
erschreckenden Erfahrungen das Orientbild <strong>Canettis</strong>. Das erste Kapitel bleibt<br />
<strong>in</strong>sofern wegweisend <strong>für</strong> se<strong>in</strong>en Umgang mit dem Orient. Trotz der<br />
Begeisterung <strong>für</strong> das Leben <strong>in</strong> der marokkanischen Stadt und die Ästhetik<br />
mancher Momente gerät der Autor nicht <strong>in</strong> Versuchung die fremde Kultur zu<br />
verklären, denn er verschweigt nicht schockierende, se<strong>in</strong>en Vorstellungen nicht<br />
entsprechende Erlebnisse und versucht auch nicht das vorgefundene Elend zu<br />
beschönigen.<br />
Ähnliche Grundzüge wie im ersten Kapitel lassen sich auch <strong>in</strong> den Erzählungen<br />
“Stille im Haus und Leere der Dächer“, “<strong>Die</strong> Frau am Gitter“ sowie “<strong>Die</strong><br />
Verleumdung“ f<strong>in</strong>den. Im Kapitel “Stille im Haus und Leere der Dächer“ steigt<br />
Canetti auf das Dach e<strong>in</strong>es Hauses, das e<strong>in</strong>em Freund gehört, “voller<br />
Erwartung“ dort “Frauen zu sehen wie <strong>in</strong> Märchen“ (S.27). Aber se<strong>in</strong>e Hoffnung,<br />
wenigstens von dort aus die Gesichter orientalisch aussehender Frauen<br />
erblicken zu können, wird enttäuscht durch den Verweis se<strong>in</strong>es Freun<strong>des</strong>.<br />
<strong>Die</strong>ser macht ihn darauf aufmerksam, dass es als Unsitte gilt, vom Dach aus<br />
das Geschehen <strong>in</strong> den Nachbarhäusern zu beobachten und die Frauen, die<br />
sich auf den Dächern ungestört fühlen wollen, mit se<strong>in</strong>er Anwesenheit zu<br />
belästigen.<br />
„Das tut man hier nicht“, sagte er. „Das soll man nicht. Ich b<strong>in</strong> oft davor gewarnt worden.“ (S.27)<br />
<strong>Die</strong>se Worte <strong>des</strong> Freun<strong>des</strong> signalisieren dem Erzähler, dass se<strong>in</strong>e Orient-<br />
Phantasie erneut nicht mit der Wirklichkeit harmoniert. Vielmehr verletzt er<br />
sogar durch se<strong>in</strong>e Unkenntnis die Sitten dieser Kultur und entlarvt sich selbst<br />
22 Dagmar Barnouw: <strong>Elias</strong> Canetti. Stuttgart 1979. S.101.A
20<br />
als Fremden. Während Canetti Offenheit und Freiheit auf den Dächern über der<br />
Stadt erwartet, stößt er auf sittliche Grenzen, die es ihm verbieten, der nach<br />
außen und <strong>in</strong> sich verschlossenen Welt der Frauen zu nahe zu kommen.<br />
Strenge Vorschriften legen nämlich den Umgang von Mann und Frau <strong>in</strong> der<br />
islamischen Religion fest und rufen bei Verstoß e<strong>in</strong> Gefühl von Scham <strong>in</strong> allen<br />
Beteiligten hervor. Im fünften und sechsten Kapitel thematisiert Canetti im<br />
Besonderen die Stellung der Frau <strong>in</strong> der marokkanischen Gesellschaft, die<br />
geprägt ist von dieser Geschlechtertrennung. <strong>Die</strong> Frauen <strong>in</strong> Marrakesch<br />
nehmen am öffentlichen Leben so gut wie nicht teil, und wenn sie sich e<strong>in</strong>mal<br />
auf der Straße zeigen, dann nur verschleiert und stumm. Das Haus und das<br />
Dach s<strong>in</strong>d der e<strong>in</strong>zigen Orte, wo sie sich frei bewegen können. Der Erzähler<br />
trifft natürlich auf diese gesellschaftlichen Tatsachen, die so ganz und gar nicht<br />
se<strong>in</strong>en Erwartungen entsprechen. Enttäuscht beneidet er <strong>des</strong>halb die<br />
Schwalben, die sich frei über den Dächern bewegen können und e<strong>in</strong>en Blick<br />
dorth<strong>in</strong> werfen können, wo es ihm verwährt wird.<br />
Im folgenden Kapitel jedoch sche<strong>in</strong>en die Phantasien <strong>des</strong> Erzählers<br />
vorübergehend <strong>in</strong> Erfüllung zu gehen, denn ihm widerfährt “e<strong>in</strong> Wunder“ (S.30).<br />
Fasz<strong>in</strong>iert beobachtet er die unverschleiert am Fenster stehende Frau, die als<br />
e<strong>in</strong>zige das den Frauen auferlegte Schweigen bricht und sich mit Koseworten<br />
an ihn wendet. Auf den Erzähler, der es eigentlich schon müde ist, sich<br />
überhaupt e<strong>in</strong>e Vorstellung von den Frauen <strong>in</strong> Marrakesch zu machen, wirkt sie<br />
wie e<strong>in</strong>e Wohltat. In se<strong>in</strong>er Euphorie ist er sogar versucht, diese Frau, die<br />
gegen die strengen Regeln der islamischen Geschlechtertrennung verstößt, “<strong>für</strong><br />
wichtiger zu halten, als alles, was es sonst <strong>in</strong> dieser Stadt zu sehen gäbe“<br />
(S.30). Doch <strong>in</strong> Wirklichkeit wird der Frau am Gitter ihr offenes Verhalten nur<br />
gewährt, weil sie durch ihre Krankheit e<strong>in</strong>e Sonderstellung <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />
e<strong>in</strong>nimmt. <strong>Die</strong>se Tatsache erfährt Canetti von den e<strong>in</strong>heimischen Schulk<strong>in</strong>dern,<br />
die am Ende <strong>des</strong> Kapitels die leise Vermutung <strong>des</strong> Erzählers, dass die Frau<br />
psychisch krank sei, bestätigen. <strong>Die</strong> K<strong>in</strong>der setzen den “phantasmatischen<br />
Wahrnehmungen“ 23 <strong>des</strong> Erzählers rund um die kosende, weibliche Stimme<br />
sogleich e<strong>in</strong> trauriges Verstummen entgegen. <strong>Die</strong> hoffnungsvolle Begegnung<br />
mit der Unverschleierten endet <strong>für</strong> Canetti folglich mit der enttäuschenden<br />
23 Axel Gunther Steussloff: Autorschaft und Werk <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong>. Subjekt - Sprache - Identität.<br />
Freiburg 1994. S. 191.
21<br />
Erkenntnis, dass die unverhüllte und zu ihm redende Frauengestalt e<strong>in</strong>e<br />
absolute Ausnahmeersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> Marrakesch bleiben wird.<br />
E<strong>in</strong> Missverhältnis zwischen Bildern, die der Erzähler entwirft, und der Realität<br />
im fremden Land tritt auch sehr deutlich im Kapitel “<strong>Die</strong> Verleumdung“ zutage.<br />
Hier wird die Begeisterung <strong>Canettis</strong> <strong>für</strong> die Natürlichkeit und Unbefangenheit<br />
e<strong>in</strong>er Gruppe von Bettelk<strong>in</strong>dern konterkariert von der <strong>Darstellung</strong> e<strong>in</strong>es<br />
französischen Restaurantbesitzers, der eben diese der K<strong>in</strong>derprostitution<br />
beschuldigt. Im elften Kapitel wird aber nicht nur <strong>Canettis</strong> Wahrnehmung der<br />
Bettelk<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Zweifel gezogen, sondern auch die Glaubwürdigkeit <strong>des</strong><br />
Restaurant<strong>in</strong>habers, der me<strong>in</strong>t sich e<strong>in</strong> Urteil über die K<strong>in</strong>der erlauben zu<br />
können, erweist sich als brüchig. Schon zu Anfang zeigt sich nämlich se<strong>in</strong><br />
vornehmes Restaurant als e<strong>in</strong> Ort, an dem versucht wird, die wahren<br />
Verhältnisse <strong>in</strong> Marrakesch vor den Gästen zu verheimlichen.<br />
“Der Inhaber, (…) der <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Stammgäste warme, gute Blicke hatte, mochte diese<br />
Annäherung der Bettelk<strong>in</strong>der an se<strong>in</strong> Lokal nicht leiden. Ihre Lumpen nahmen sich nicht fe<strong>in</strong><br />
aus. <strong>Die</strong> gut angezogenen Gäste sollten <strong>in</strong> Behagen ihr teures Essen bestellen und nicht immer<br />
an Hunger und Läuse er<strong>in</strong>nert werden.“ (S.71)<br />
Der Erzähler deckt jedoch nicht nur das verlogene Verhalten <strong>des</strong><br />
Restaurant<strong>in</strong>habers auf, vielmehr unterläuft er <strong>des</strong>sen Plan auch noch, die<br />
Bettelk<strong>in</strong>der vom Restaurant fernzuhalten, <strong>in</strong>dem er ihnen gewährt unter<br />
se<strong>in</strong>em Schutz „<strong>in</strong> die Nähe dieses märchenhaften Platzes zu gelangen, der<br />
ihnen verboten war und wo man so viel aß“ (S.71). Woh<strong>in</strong>gegen den schon<br />
länger <strong>in</strong> Marrakesch lebenden Europäern die Bettelei der K<strong>in</strong>der bereits zu<br />
e<strong>in</strong>em Ärgernis geworden ist, gew<strong>in</strong>nt der Erzähler die Mädchen und Jungen so<br />
lieb, dass er sie sogar selbst aufsucht, wenn sie ihn auf se<strong>in</strong>em täglichen Weg<br />
zum Restaurant verpasst haben. Wer nun jedoch davon ausgeht, dass sich<br />
<strong>Canettis</strong> Fürsorge gegenüber den Bettelk<strong>in</strong>dern fortsetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er differenzierten<br />
Beschäftigung mit den sozialen Missständen <strong>in</strong> Marrakesch oder mit Kritik an<br />
der deutlichen Kluft zwischen Reich und Arm im fremden Land, liegt falsch.<br />
Statt<strong>des</strong>sen lässt der Erzähler sich ganz von se<strong>in</strong>en Gefühlen leiten und verfällt<br />
selbst dem äußeren Sche<strong>in</strong>. Während er “die tolle Ausgelassenheit“ (S.70) der<br />
K<strong>in</strong>der bewundert, bemerkt er nicht, dass sich h<strong>in</strong>ter den sche<strong>in</strong>bar fröhlichen,<br />
unbekümmerten Gesichtern der harte Kampf ums Überleben abspielt. So sagt<br />
er z.B. über die Bettelk<strong>in</strong>der:<br />
“Ich mochte ihre lebhaften Gesten, die kle<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger, mit denen sie <strong>in</strong> ihren Mund zeigten,<br />
wenn sie mit kläglichen Mienen >manger! manger!< w<strong>in</strong>selten, die unsäglich traurigen
22<br />
Gesichter, die sie schnitten, als ob sie wirklich vor Schwäche und Hunger am<br />
Zusammenbrechen wären.“ (S.70)<br />
Hunger und Armut der K<strong>in</strong>der nimmt der Erzähler nicht wirklich ernst und tut sie<br />
mit e<strong>in</strong>em “als ob“ ab, da sie se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur etwas theatralisch zum<br />
Zweck der Bettelei vorgespielt werden. Indem er auf diese Weise die eigentlich<br />
traurige Wirklichkeit ausblendet, erschafft sich Canetti e<strong>in</strong> ganz eigenes Bild<br />
von den Bettelk<strong>in</strong>dern:<br />
“Ungeachtet der <strong>für</strong> ihren Überlebenskampf strategisch e<strong>in</strong>gesetzten Posen transformieren sich<br />
dem Betrachter die Bettelk<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Geschöpfe der Unschuld, die e<strong>in</strong>en von gesellschaftlichen<br />
Zwängen und Konventionen noch unberührten Zustand der Natürlichkeit markieren.“ 24<br />
Doch diese Vorstellung von e<strong>in</strong>em unbeschwerten, moralisch e<strong>in</strong>wandfreien<br />
Leben der Bettelk<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Marrakesch währt nicht lange. Als der<br />
Restaurant<strong>in</strong>haber e<strong>in</strong> zehnjähriges Mädchen als “kle<strong>in</strong>e Kokotte“ (S.72)<br />
bezeichnet, weil er das schelmische Lachen <strong>des</strong> K<strong>in</strong><strong>des</strong> als sexuelle<br />
Aufforderung und nicht wie Canetti als Spiel <strong>in</strong>terpretiert, ist dieser entsetzt. Der<br />
Wirt macht jedoch aus se<strong>in</strong>er verachtenden Me<strong>in</strong>ung über die K<strong>in</strong>der ke<strong>in</strong>en<br />
Hehl und unterstellt dem Erzähler Unkenntnis der “wahren“ Zustände <strong>in</strong><br />
Marrakesch, zu denen se<strong>in</strong>er Ansicht nach auch die K<strong>in</strong>derprostitution gehört:<br />
“Sie wissen nicht, wie es hier zugeht.“ (S.72)<br />
<strong>Die</strong> sich an diesen Satz anschließende Geschichte aus der Junggesellenzeit<br />
<strong>des</strong> Wirts soll Canetti eigentlich von se<strong>in</strong>er Glaubwürdigkeit überzeugen. Doch<br />
der Restaurant<strong>in</strong>haber entwertet sich mit se<strong>in</strong>er Erzählung nur selbst moralisch,<br />
da diese, das Thema nicht wirklich treffend, von dem geme<strong>in</strong>en Betrug e<strong>in</strong>er<br />
marokkanischen Prostituierten durch den Wirt und se<strong>in</strong>e französischen Freunde<br />
handelt. Dadurch, dass der Restaurantbesitzer sich nun mit se<strong>in</strong>er<br />
unpassenden Geschichte als gewissenlos und unmenschlich entlarvt, gerät<br />
auch se<strong>in</strong>e Behauptung über die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Zweifel:<br />
“Ob er sie verleumdete oder die Wahrheit über sie sprach, was immer die Bettelk<strong>in</strong>der taten, er<br />
stand nun tief unter ihnen und ich wünschte mir, dass es doch e<strong>in</strong>e Art Strafe gäbe, wo er auf<br />
ihre Fürsprache angewiesen wäre.“ (S.73)<br />
Das Fehlverhalten <strong>des</strong> Wirts und der Wunsch <strong>Canettis</strong> nach e<strong>in</strong>er Umkehrung<br />
der Machtverhältnisse täuscht allerd<strong>in</strong>gs nicht über die Tatsache h<strong>in</strong>weg, dass<br />
die Aussage <strong>des</strong> Franzosen über die “wahren“ Verhältnisse <strong>in</strong> Marrakesch<br />
<strong>Canettis</strong> Bild der Bettelk<strong>in</strong>der <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ganz anderes Licht gesetzt hat. <strong>Die</strong><br />
schwärmerische Überhöhung der K<strong>in</strong>der zu unschuldigen, re<strong>in</strong>en Wesen, die<br />
24 Axel Gunther Steussloff: Autorschaft und Werk <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong>. S.192 f..
23<br />
sche<strong>in</strong>bar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sorglosen Welt leben, hat dadurch vollkommen an<br />
Überzeugungskraft verloren. Egal, ob der Wirt bei der Wahrheit geblieben ist<br />
oder nicht, am Ende bleibt doch e<strong>in</strong> erschütternder Beigeschmack am Leben<br />
der Bettelk<strong>in</strong>der haften. Zusammenfassend kann man nun aber sagen: wäre<br />
der Autor wirklich daran <strong>in</strong>teressiert gewesen, die fremde Kultur zu idealisieren,<br />
dann hätte er sicherlich nur von se<strong>in</strong>er sehr persönlichen und beschaulichen<br />
Wahrnehmung der Bettelk<strong>in</strong>der berichtet und ke<strong>in</strong>e Zweifel an ihr aufkommen<br />
lassen. Obwohl es nicht immer verständlich ist, dass Canetti noch im größten<br />
Elend Schönheit und Lebensfreude f<strong>in</strong>det, verheimlicht er dennoch nicht<br />
bestehende Missstände im fremden Land. Der Reisende kann zwar manchmal<br />
se<strong>in</strong>e eigenen Vorstellungen vom “Orient“ nicht verbergen, allerd<strong>in</strong>gs besteht er<br />
nicht auf dieser Wahrnehmung, <strong>in</strong>dem er z.B. irgendwelche mit Vorurteilen<br />
behafteten Begründungen dazu abgibt.<br />
7. “Gute Reisende s<strong>in</strong>d herzlos“<br />
Wenn auch Canetti die ungeschönte Realität <strong>in</strong> Marrakesch aufzeigt, während<br />
er von den schlecht behandelten Tieren, aus der Öffentlichkeit verbannten<br />
Frauen und verleumdeten Bettelk<strong>in</strong>dern berichtet, so wundert man sich doch<br />
manchmal als Leser, warum der Autor gegen diese Ungerechtigkeiten nicht<br />
protestiert oder wenigstens se<strong>in</strong> Mitleid deutlich werden lässt. Statt<strong>des</strong>sen<br />
berichtet er oft mit e<strong>in</strong>er kalten Distanz von se<strong>in</strong>en Erlebnissen. So zeigt er z.B.<br />
im Kapitel “Scheherezade“ zwar den deutlichen Gegensatz zwischen Arm und<br />
Reich <strong>in</strong> Marrakesch auf, <strong>in</strong>dem er die Obdachlosen auf dem Platz der Djema el<br />
Fna <strong>in</strong> Kontrast zu den wohlhabenden Arabern <strong>in</strong> der benachbarten Kneipe<br />
setzt, lässt diese erschreckende Tatsache aber e<strong>in</strong>fach unkommentiert und<br />
bleibt selbst völlig ungerührt.<br />
“<strong>Die</strong> Menschen <strong>in</strong> Lumpen, die auf dem Platz lagen, hatten nichts oder zwei Franken <strong>in</strong> der<br />
Tasche. <strong>Die</strong> Gäste der >Scheherezade< zahlten hundertzwanzig Franken <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Gläschen<br />
Cognac und sie tranken mehrere rasch h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander.“ (S.77)<br />
Auch “die naiven und unerschütterlichen Vorurteile“ (S.78) der ch<strong>in</strong>esischfranzösischen<br />
Barbesitzer<strong>in</strong> gegenüber vielen Nationen werden <strong>in</strong> ihrer “festen,<br />
aber unauffälligen Form“ 25 dargestellt. Der Erzähler lässt sich hier weder zu<br />
irgendwelchen E<strong>in</strong>wänden gegen die Intoleranz der Madame Mignon noch zu<br />
Wertungen darüber h<strong>in</strong>reißen. Auf den ersten Blick ersche<strong>in</strong>t es so, als ob der<br />
25 Bruno Zeyr<strong>in</strong>ger: <strong>Die</strong> Erfahrung der Fremde. S. 56.
24<br />
Autor sich nicht wirklich mit gesellschaftlichen und sozialen Problemen <strong>in</strong><br />
Marrakesch ause<strong>in</strong>andersetzen will. Im Kapitel “<strong>Die</strong> Frau am Gitter“ kann<br />
ebenso der Verweis auf die <strong>in</strong>sgesamt sehr e<strong>in</strong>geschränkten<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen der Frauen <strong>in</strong> der islamischen Gesellschaft vermisst<br />
werden. Es liegt nämlich nahe das gebrochene Schweigen der verrückten Frau<br />
<strong>in</strong> Beziehung zu dem Schicksal aller Frauen, die unter den strengen<br />
islamischen Gesetzen zum öffentlichen Schweigen gezwungen s<strong>in</strong>d, zu setzen.<br />
Canetti geht jedoch auf diese gesellschaftskritische Thematik nicht e<strong>in</strong>, obwohl<br />
sie ihn selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Erwartungen beschneidet, und zeigt auch nur wenig<br />
Anteilnahme gegenüber den schlechten Lebensbed<strong>in</strong>gungen der verwirrten<br />
Frau. Vielmehr wahrt er immer e<strong>in</strong>en gewissen Abstand zu den fremden<br />
Schicksalen, der es ihm ermöglicht, das Beobachtete gefühlsmäßig nicht zu<br />
nah an sich herankommen zu lassen. Davon zeugt auch se<strong>in</strong>e Aussage über<br />
das Reisen im 3. Kapitel der “StvM“:<br />
“Auf Reisen nimmt man alles h<strong>in</strong>, die Empörung bleibt zu Haus. Man schaut, man hört, man ist<br />
über das Furchtbarste begeistert, weil es neu ist. Gute Reisende s<strong>in</strong>d herzlos.“ (S.19)<br />
An diese Maxime versucht sich Canetti auch <strong>in</strong> Marrakesch zu halten. Das heißt<br />
aber nicht, dass er e<strong>in</strong> abgestumpfter, vielleicht sogar die orientalische Kultur<br />
verachtender Beobachter ist. Der Autor will nur, dass ke<strong>in</strong> Gefühl, auch nicht<br />
Mitleid, se<strong>in</strong>en Blick auf das Fremde verzerrt. Auf diese Weise versucht er, e<strong>in</strong><br />
sehr unvermitteltes, vorurteilsfreies Bild der Menschen, die <strong>in</strong> Marrakesch<br />
leben, zu entwerfen. Daher berichtet er zwar von den sozialen, politischen und<br />
gesellschaftlichen Verhältnissen <strong>in</strong> Marrakesch, se<strong>in</strong> Grundsatz erlaubt es ihm<br />
aber nicht, se<strong>in</strong>en Gefühlen darüber freien Lauf zu lassen und sich zu e<strong>in</strong>em<br />
vorschnellen Urteil h<strong>in</strong>reißen zu lassen. Der Autor will nicht über die fremde<br />
Kultur richten. Er will sie e<strong>in</strong>fach nur an sich erfahren und so auch an den Leser<br />
weitergeben. Von der Bemühung <strong>Canettis</strong> um die Authentizität se<strong>in</strong>es<br />
Reiseberichts zeugt der rätselhafte Traum im 3. Kapitel. Dort beschreibt er, wie<br />
schwer es <strong>für</strong> ihn als Autor ist, se<strong>in</strong>e Reiseerlebnisse ganz er<strong>in</strong>nerungsgetreu <strong>in</strong><br />
Worte zu fassen.<br />
“E<strong>in</strong>e wunderbar leuchtende Substanz bleibt <strong>in</strong> mir zurück und spottet der Worte. Ist es die<br />
Sprache, die ich dort nicht verstand, und die sich nun allmählich <strong>in</strong> mir übersetzen muss? Da<br />
waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren S<strong>in</strong>n erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em entsteht; die durch Worte weder<br />
aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger s<strong>in</strong>d<br />
als diese. Ich träume von e<strong>in</strong>em Mann, der die Sprachen der Erde verlernt bis er <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em<br />
Lande mehr versteht, was gesagt wird. Was ist <strong>in</strong> der Sprache? Was verdeckt sie?“ (S.19)
25<br />
Das genaue Verzeichnen <strong>des</strong> <strong>in</strong> Marrakesch Wahrgenommenen erfordert vom<br />
Autor e<strong>in</strong>e anstrengende Er<strong>in</strong>nerungs- und Übersetzungsarbeit, die hier zum<br />
Ausdruck kommt. Canetti stellt <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Moment <strong>in</strong> Frage, ob Sprache<br />
überhaupt dazu fähig ist, das Erlebte unverfälscht wiederzugeben. So entsteht<br />
auch se<strong>in</strong> Traumwunsch nach e<strong>in</strong>em Menschen, der sprachlos ist. “<strong>Die</strong><br />
Sprachen der Erde zu verlernen“, d.h. <strong>für</strong> Canetti sich freizumachen von<br />
gewohnten Denkmustern und Vorurteilen, die der Sprache <strong>in</strong>ne wohnen. Das ist<br />
es auch, was der Autor <strong>für</strong> sich selbst wünscht, wenn er sagt, dass er <strong>in</strong><br />
Marrakesch “von den Lauten so betroffen werden wollte, wie es an ihnen selber<br />
liegt“ (S.19). Der Reisende will <strong>in</strong> der Fremde<br />
“alle Impulse aufnehmen, ohne aufgrund von e<strong>in</strong>geübten sozialen Werten und Normen<br />
S<strong>in</strong>neswahrnehmungen und Empf<strong>in</strong>dungen als empörend oder furchtbar zu verwerfen“. 26<br />
Im Kapitel “Der Speichel <strong>des</strong> Marabu“ überw<strong>in</strong>det der Erzähler z.B. so se<strong>in</strong>en<br />
Ekel über den Geldstücke kauenden Marabu, weil er nicht zulässt, dass ihn<br />
e<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dung, auch nicht Ekel oder Mitleid, am genauen Aufnehmen <strong>des</strong><br />
Fremden h<strong>in</strong>dert. Nur weil er diese herzlose Haltung gegenüber dem Fremden<br />
e<strong>in</strong>nimmt, erschließt sich ihm auch die wahre Bedeutung <strong>des</strong>sen, was der<br />
heilige Mann den Almosen spendenden Menschen zu geben hat.<br />
Abschließend kann man nun sagen, dass es sicherlich falsch wäre “<strong>Die</strong><br />
Stimmen von Marrakesch“ zu den Werken zu zählen, die Said unter dem<br />
strengen Begriff <strong>des</strong> “Orientalismus“ zusammenfasst, denn Canetti bemüht sich<br />
sehr um e<strong>in</strong> authentisches Erleben der fremden Kultur. Se<strong>in</strong>er subjektiven<br />
Wahrnehmung ist der Autor sich bewusst, dennoch lebt se<strong>in</strong>e Erzählung von<br />
der Spontaneität <strong>des</strong> Dargestellten. Obwohl Canetti se<strong>in</strong>e Person mit <strong>in</strong> den<br />
Bericht e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt und auch se<strong>in</strong>e Erwartungen an e<strong>in</strong> “orientalisches“ Land nicht<br />
verbergen kann, hat der Leser nicht das Gefühl, e<strong>in</strong> falsches Bild von der<br />
fremden Kultur vorgegaukelt zu bekommen, denn er<strong>in</strong>nerungsgetreu berichtet<br />
er auch von solchen Begebenheiten, die zunächst nicht ganz se<strong>in</strong>en<br />
Hoffnungen und Wahrnehmungen entsprechen.<br />
Das Fremde wird von ihm nicht entwertet oder ausgegrenzt, sondern anerkannt.<br />
Dazu muss Canetti die fremde Kultur aber nicht <strong>in</strong> all ihren Eigenarten<br />
verstehen, denn er respektiert sie so, wie sie ist, auch wenn sie sich oft den<br />
26 Bruno Zeyr<strong>in</strong>ger: <strong>Die</strong> Erfahrung der Fremde. S.115.
26<br />
gewohnten Denkmustern entzieht. Se<strong>in</strong> geduldiges Zuhören und Beobachten<br />
erschließt ihm letztendlich vieles.
Abkürzungsverzeichnis:<br />
27<br />
StvM = “<strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch“<br />
Literaturverzeichnis:<br />
Primärliteratur:<br />
Canetti, <strong>Elias</strong>: <strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen e<strong>in</strong>er Reise. 25.<br />
Aufl.. München/ Wien 2003.<br />
Canetti, <strong>Elias</strong>: <strong>Die</strong> Prov<strong>in</strong>z <strong>des</strong> Menschen. In: Aufzeichnungen 1942-1985. <strong>Die</strong><br />
Prov<strong>in</strong>z <strong>des</strong> Menschen. Das Geheimherz der Uhr. München/ Wien 1972/ 1987/<br />
1993.<br />
Canetti, <strong>Elias</strong>: Das Gewissen der Worte: Essays. München/ Wien 1983.<br />
Canetti, <strong>Elias</strong>: <strong>Die</strong> Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. Frankfurt a. M.<br />
1996.<br />
Sekundärliteratur:<br />
- Barnouw, Dagmar: <strong>Elias</strong> Canetti. Stuttgart 1979.<br />
- Bollacher, Mart<strong>in</strong>: Mundus liber. Zum Verhältnis von Sprache und<br />
Judentum bei <strong>Elias</strong> Canetti. In: Kaszynski, Stefan H. (Hg.): <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong><br />
Anthropologie und Poetik. München/ Poznan 1984. S. 47-67.<br />
- Borodatschjova, Olga: “Ich will, was ich war, werden“. <strong>Die</strong><br />
autobiographische Trilogie von <strong>Elias</strong> Canetti. Hamburg 2002.<br />
- Eigler, Friederike: Das autobiographische Werk von <strong>Elias</strong> Canetti.<br />
Verwandlung, Identität, Machtausübung. Tüb<strong>in</strong>gen 1988.<br />
- Geibig, Gabriele: Literarische Porträts <strong>in</strong> der Autobiographie von <strong>Elias</strong><br />
Canetti. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der<br />
Philosophischen <strong>Fakultät</strong> II der Julius-Maximilians-Universität zu<br />
Würzburg. Aschaffenburg 1990.<br />
- Göpfert, Herbert G.: Zu den „Stimmen von Marrakesch“. In: Kaszynski,<br />
Stefan H. (Hg.): <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong> Anthropologie und Poetik. München/<br />
Poznan 1984. S.135-150.
28<br />
- Helwig, Werner: <strong>Die</strong> Gesichter <strong>des</strong> <strong>Elias</strong> Canetti. In: Merkur. Heft 8/<br />
1970.<br />
- Neumann, Gerhard (Hg.): Canetti als Leser. Freiburg im Breisgau 1996.<br />
- Piel, Edgar: <strong>Elias</strong> Canetti. (Autorenbücher; 38). München 1984.<br />
- Said, Edward W.: “Orientalismus“. Übers. von Liliane Weisberg.<br />
Frankfurt/ Berl<strong>in</strong>/ Wien 1981.<br />
- Steussloff, Axel Gunther: Autorschaft und Werk <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong>. Subjekt -<br />
Sprache - Identität. Freiburg 1994.<br />
- Wieprecht-Roth, Stefanie: „<strong>Die</strong> Freiheit <strong>in</strong> der Zeit ist die Überw<strong>in</strong>dung<br />
<strong>des</strong> To<strong>des</strong>“. Überleben <strong>in</strong> der Welt und im unsterblichen Werk. E<strong>in</strong>e<br />
Annäherung an <strong>Elias</strong> Canetti. Würzburg 2004.<br />
- Zeyr<strong>in</strong>ger, Bruno: <strong>Die</strong> Erfahrung der Fremde. <strong>Elias</strong> Canetti: <strong>Die</strong> Stimmen<br />
von Marrakesch. Italo Calv<strong>in</strong>o: Le città <strong>in</strong>ivisibili. Ludwigsburg 1995.
29<br />
<strong>Die</strong> <strong>Darstellung</strong> <strong>des</strong> “<strong>Orients</strong>“<br />
<strong>in</strong> <strong>Elias</strong> <strong>Canettis</strong> “<strong>Die</strong> Stimmen von Marrakesch“<br />
Inhaltsverzeichnis:<br />
1. Aufzeichnungen nach e<strong>in</strong>er Reise...............................................................3<br />
2. Flanieren durch Marrakesch........................................................................4<br />
3. Marokko 1954..............................................................................................8<br />
4. <strong>Die</strong> Stimmen................................................................................................9<br />
4.1. Hörerlebnisse <strong>in</strong> Marrakesch ..............................................................10<br />
4.2. Stimmen zwischen Leben und Tod.....................................................12<br />
5. Orient-Bilder ..............................................................................................14<br />
6. Phantasie und Wirklichkeit ........................................................................17<br />
7. “Gute Reisende s<strong>in</strong>d herzlos“ ....................................................................23