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James M. Brophy Im Volksmund: Literaten und populäre politische Kultur im Vormärz Landläug wird mit dem Vormärz eine Zeit der politischen Gärung und des Aufbegehrens gegen die seit 1819 in Deutschland verbreitete Restaurationszeit verbunden, ja manche erblicken im Vormärz bereits den Durchbruch zur politischen Moderne. 1 In dieser Zeit hat sich ein neues Bewusstsein von Partizipation am Staatsleben bei den niedrigen Sozialschichten der Gesellschaft herausgebildet. Der moderne Verfassungsgedanke und die Ideen der Volkssouveränität – also jene Ideale der Französischen Revolution – haben eine neue Popularität erlangt. Es ist durchaus zweifelhaft, ob die im 18. Jahrhundert intendierte und zum Teil begonnene Aufklärung in der breiten Bevölkerung auch tatsächlich erfolgreich gewesen ist; und darüber hinaus könnten wir darüber debattieren, wie sich die deutsche Rezep tion der Französischen Revolution während der Jahre 1792–1815 messen läßt. Aber unbestritten ist die Tatsache, dass Deutschland – besonders die westlichen Territorien – am sogenannten Zeitalter der demokratischen Revolutionen in Westeuropa teilgenommen hat. Der Liberalismus und die Demokratie forderten den engen politischen Rahmen der Restauration heraus und entwickelten – trotz strenger Zensur und erdrückender Bundesgesetze – eine durchaus kritische, politische Kultur. Das Echo auf die Juli-Revolution in Frankreich, auf die Staatsgründung Belgiens und auf den Befreiungskampf der Polen war im Mai 1832 die erste moderne politische Massendemonstration auf deutschem Boden: das Hambacher Fest. Diese Volksversammlung von 30.000 Menschen auf einer Burgruine in Neustadt in der Pfalz signalisierte eine neue Dimension der oppositionellen Kräfte: nicht nur Intellektuelle und Literaten hingen an verfassungsrechtlicher Einheit und Freiheit, sondern auch eine heterogene Mischung von Bürgern, Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern. Aus gutem Grunde nahmen Metternich und andere Staatsmänner des Deutschen Bundes die Jahre nach 1830 als eine Krisenzeit wahr. Denn mehr und mehr soziale Schichten der deutschen Gesellschaft begehrten gegen die Politik der Restauration – nämlich gegen ihre politische Rechtlosigkeit und Bevormundung als bloße Untertanen – auf. Als Gegenmuster zum Ständestaat hatte sich das Ideal einer partizipatorischen Verfassungspolitik Publizität verschafft und so Schritt für Schritt den Weg zu den Märzerrungenschaften und zur Paulskirche im Jahre 1848 bereitet. Aber wie kam es zu einer Vorstellung von oppositioneller Politik im Volk? Auf welcher Basis konnten die zumeist ungebildeten unteren Schichten überhaupt „Opposition“ betreiben? Welche Möglichkeiten boten sich und wie wurden sie aufgegriffen? Gab es spezische Formen oppositionellen Verhaltens, die ihnen eigen waren? Die kommunikative Dimension, die wir zu bedenken haben, ist vielfältig und komplex. Für das Rheinland kommen etwa ins Spiel: die transnationale Symbolik, der politisierte Grenzverkehr, die internationalen Kommunikationsnetzwerke zum Beispiel der wandernden Handwerker, die Religion, die politische Ökonomie, das besondere Rheinische Recht und nicht zuletzt die Marktkultur. Die Facetten dieser Fragestellung sind viele, und nicht alle können hier behandelt werden. Vor allem hat auch das politische Engagement deutscher Literaten eine nicht unwesentliche Rolle gerade in Bezug auf die Politisierung einer breiteren Bevölkerung gespielt. Zu reden ist über die Generation von Ludwig Börne, Heinrich Heine, Karl Gutzkow, Ernst Dronke, Hoffmann von Fallersleben, Georg Herwegh und viele andere. Weiterhin denkt man an Linkshegelianer wie Bruno Bauer, Ludwig von Feuerbach und Karl Marx, die in jenen Jahren die deutsche Philosophie auf eine materialistische, anthropozentrische und 18

James M. Brophy<br />

<strong>Im</strong> <strong>Volksm<strong>und</strong></strong>: <strong>Literaten</strong> <strong>und</strong> <strong>populäre</strong> <strong>politische</strong> Kultur im Vormärz<br />

Landläug wird mit dem Vormärz eine Zeit<br />

der <strong>politische</strong>n Gärung <strong>und</strong> des Aufbegehrens<br />

gegen die seit 1819 in Deutschland verbreitete<br />

Restaurationszeit verb<strong>und</strong>en, ja manche erblicken<br />

im Vormärz bereits den Durchbruch zur<br />

<strong>politische</strong>n Moderne. 1 In dieser Zeit hat sich<br />

ein neues Bewusstsein von Partizipation am<br />

Staatsleben bei den niedrigen Sozialschichten<br />

der Gesellschaft herausgebildet. Der moderne<br />

Verfassungsgedanke <strong>und</strong> die Ideen der Volkssouveränität<br />

– also jene Ideale der Französischen<br />

Revolution – haben eine neue Popularität<br />

erlangt. Es ist durchaus zweifelhaft, ob die<br />

im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert intendierte <strong>und</strong> zum Teil<br />

begonnene Aufklärung in der breiten Bevölkerung<br />

auch tatsächlich erfolgreich gewesen<br />

ist; <strong>und</strong> darüber hinaus könnten wir darüber<br />

debattieren, wie sich die deutsche Rezep tion<br />

der Französischen Revolution während der<br />

Jahre 1792–1815 messen läßt. Aber unbestritten<br />

ist die Tatsache, dass Deutschland – besonders<br />

die westlichen Territorien – am sogenannten<br />

Zeitalter der demokratischen Revolutionen<br />

in Westeuropa teilgenommen hat.<br />

Der Liberalismus <strong>und</strong> die Demokratie forderten<br />

den engen <strong>politische</strong>n Rahmen der Restauration<br />

heraus <strong>und</strong> entwickelten – trotz<br />

strenger Zensur <strong>und</strong> erdrückender B<strong>und</strong>esgesetze<br />

– eine durchaus kritische, <strong>politische</strong> Kultur.<br />

Das Echo auf die Juli-Revolution in Frankreich,<br />

auf die Staatsgründung Belgiens <strong>und</strong> auf<br />

den Befreiungskampf der Polen war im Mai<br />

1832 die erste moderne <strong>politische</strong> Massendemonstration<br />

auf deutschem Boden: das Hambacher<br />

Fest. Diese Volksversammlung von<br />

30.000 Menschen auf einer Burgruine in Neustadt<br />

in der Pfalz signalisierte eine neue Dimension<br />

der oppositionellen Kräfte: nicht nur<br />

Intellektuelle <strong>und</strong> <strong>Literaten</strong> hingen an verfassungsrechtlicher<br />

Einheit <strong>und</strong> Freiheit, sondern<br />

auch eine heterogene Mischung von Bürgern,<br />

Bauern, Handwerkern <strong>und</strong> Tagelöhnern. Aus<br />

gutem Gr<strong>und</strong>e nahmen Metternich <strong>und</strong> andere<br />

Staatsmänner des Deutschen B<strong>und</strong>es die Jahre<br />

nach 1830 als eine Krisenzeit wahr. Denn<br />

mehr <strong>und</strong> mehr soziale Schichten der deutschen<br />

Gesellschaft begehrten gegen die Politik<br />

der Restauration – nämlich gegen ihre <strong>politische</strong><br />

Rechtlosigkeit <strong>und</strong> Bevorm<strong>und</strong>ung als<br />

bloße Untertanen – auf. Als Gegenmuster zum<br />

Ständestaat hatte sich das Ideal einer partizipatorischen<br />

Verfassungspolitik Publizität verschafft<br />

<strong>und</strong> so Schritt für Schritt den Weg zu<br />

den Märzerrungenschaften <strong>und</strong> zur Paulskirche<br />

im Jahre 1848 bereitet.<br />

Aber wie kam es zu einer Vorstellung von<br />

oppositioneller Politik im Volk? Auf welcher<br />

Basis konnten die zumeist ungebildeten unteren<br />

Schichten überhaupt „Opposition“ betreiben?<br />

Welche Möglichkeiten boten sich <strong>und</strong> wie<br />

wurden sie aufgegriffen? Gab es spezische<br />

Formen oppositionellen Verhaltens, die ihnen<br />

eigen waren? Die kommunikative Dimension,<br />

die wir zu bedenken haben, ist vielfältig <strong>und</strong><br />

komplex. Für das Rheinland kommen etwa<br />

ins Spiel: die transnationale Symbolik, der<br />

politisierte Grenzverkehr, die internationalen<br />

Kommunikationsnetzwerke zum Beispiel der<br />

wandernden Handwerker, die Religion, die <strong>politische</strong><br />

Ökonomie, das besondere Rheinische<br />

Recht <strong>und</strong> nicht zuletzt die Marktkultur. Die<br />

Facetten dieser Fragestellung sind viele, <strong>und</strong><br />

nicht alle können hier behandelt werden.<br />

Vor allem hat auch das <strong>politische</strong> Engagement<br />

deutscher <strong>Literaten</strong> eine nicht unwesentliche<br />

Rolle gerade in Bezug auf die Politisierung<br />

einer breiteren Bevölkerung gespielt.<br />

Zu reden ist über die Generation von Ludwig<br />

Börne, Heinrich Heine, Karl Gutzkow, Ernst<br />

Dronke, Hoffmann von Fallersleben, Georg<br />

Herwegh <strong>und</strong> viele andere. Weiterhin denkt<br />

man an Linkshegelianer wie Bruno Bauer,<br />

Ludwig von Feuerbach <strong>und</strong> Karl Marx, die<br />

in jenen Jahren die deutsche Philosophie auf<br />

eine materialistische, anthropozentrische <strong>und</strong><br />

18


historische Richtung hin neuorientierten. Nicht<br />

zuletzt entstand zu jener Zeit ein neuer Journalismus<br />

– etwa die sozialkritischen Reportagen<br />

vom Elend <strong>und</strong> sozialer Ungerechtigkeit von<br />

Georg Weerth, Berichte von Friedrich Engels<br />

aus Manchester <strong>und</strong> die von Karl Marx herausgegebenen<br />

Artikel der „Rheinischen Zeitung“<br />

über die verheerende Armut der Moselwinzer.<br />

Aber Bauern lasen die „Rheinische Zeitung“<br />

nicht <strong>und</strong> genauso hatten die Handwerker<br />

keine Kenntnis vom politisch-philosophischem<br />

Diskurs kleiner elitärer Kreise.<br />

Die traditionellen bürgerlichen Drucksachen<br />

wie Almanache, Journale <strong>und</strong> Bücher reichten<br />

bei weitem nicht hin, um bäuerliche <strong>und</strong><br />

handwerkliche Schichten zu beeinussen. Sicherlich<br />

gibt es hier <strong>und</strong> da Beweise, dass unterbürgerliche<br />

Schichten Zeitschriften gelegentlich<br />

gelesen haben oder dass sie ihnen<br />

vorgelesen wurden; auch tauchen sporadisch<br />

Pamphlete <strong>und</strong> iegende Blätter auf, die mit<br />

ungelenker Handschrift geschrieben waren.<br />

Aber für den Vormärz muss man die <strong>populäre</strong><br />

Leserschaft von Zeitungen <strong>und</strong> verbotenen<br />

Schriften eher gering bemessen. Periodika<br />

<strong>und</strong> <strong>politische</strong> Pamphlete haben eher eine<br />

zweitrangige kommunikative Rolle bei unterbürgerlichen<br />

Schichten gespielt. Man darf deren<br />

Einuss nicht überschätzen.<br />

Und doch existierte ein enges Verhältnis<br />

zwischen dem Gedankengut deutscher <strong>Literaten</strong><br />

<strong>und</strong> der <strong>politische</strong>n Vorstellungskraft unterbürgerlicher<br />

Schichten. Wieso? <strong>Im</strong> Vormärz<br />

wirkten deutsche <strong>Literaten</strong> auf die <strong>politische</strong><br />

Kultur des gemeinen Mannes auf anderen Wegen.<br />

Diese waren nicht das Buch oder die Zeitung,<br />

sondern vielmehr der Volkskalender <strong>und</strong><br />

die Lieder. Mit diesen Medien nahmen einfache<br />

Menschen bestimmte Themen der bürgerlichen<br />

Politik auf <strong>und</strong> brachten deren Ansichten<br />

in <strong>populäre</strong> Kreise hinein. Um dies etwas<br />

zu erläutern, möchte ich zunächst auf die<br />

Volkskalender eingehen, indem ich herausragende<br />

Beispiele <strong>politische</strong>r Kalender diskutiere.<br />

In einem zweiten Schritt werde ich mich<br />

mit der Rolle des politisierten Volksliedes auseinandersetzen.<br />

Volkskalender<br />

Wenn man den <strong>politische</strong>n Einuss des gedruckten<br />

Wortes auf das Volk messen will,<br />

muss man jene Lektüre in den Blick nehmen,<br />

die Bauern, Handwerker <strong>und</strong> Tagelöhner<br />

zur Hand nahmen – wenn sie denn lesen<br />

konnten oder ihnen vorgelesen wurde. In der<br />

Tat: Haus- <strong>und</strong> Volkskalender waren traditionell<br />

äußerst populär. Für Haushalte, die nicht<br />

über Bücher verfügten, war dies – neben der<br />

Bibel – das einzige zugängliche Lesematerial.<br />

Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieses einfache<br />

traditionelle Genre kritische <strong>politische</strong><br />

Ideen vermittelt hat. Viele Wissenschaftler haben<br />

sie in der Regel als unbedeutende Quellen<br />

für die <strong>politische</strong> Kultur des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

bewertet. Doch Wilhelm Heinrich Riehl,<br />

Ethnograph des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, war anderer<br />

Meinung. Er erkannte den Kalender als ein-<br />

ussreiches Medium der <strong>populäre</strong>n Politik an.<br />

Bereits 1852 argumentierte Riehl:<br />

„Die gänzliche Umgestaltung der Volkskalender<br />

seit länger als einem halben Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

ist ein Siegeszeichen der sozialen Politik.<br />

Wir haben jetzt Volkskalender der <strong>politische</strong>n<br />

Parteien, mehr noch der kirchlichen; die Regierungen<br />

lassen Kalender schreiben, weil sie<br />

wissen, dass sie mit ihren ofziellen Zeitungen<br />

niemals bis zu den Bauern durchdringen können,<br />

<strong>und</strong> die Opposition säumt dann auch nicht,<br />

ihrerseits mit Kalendern ins Feld zu rücken.“ 2<br />

Was Riehl selbst in den 1850er Jahren offenk<strong>und</strong>ig<br />

deutlich war, bedarf einer Erklärung. Kalender<br />

erlebten bedeutsame Veränderungen im<br />

Zeitraum zwischen 1790 <strong>und</strong> 1840. Auf verschiedene<br />

Weisen berichteten Kalendertexte über die<br />

Welt der Gegenwart. Sie lieferten einfachen Lesern<br />

<strong>politische</strong> Alternativen <strong>und</strong> zeichneten eine<br />

neue ideologische Landschaft. Es bestand durchaus<br />

eine Konvergenz in bestimmten wichtigen<br />

<strong>politische</strong>n Themen zwischen der Printkultur<br />

der Elite <strong>und</strong> der der einfachen Leute.<br />

Schlagartig veränderte sich die soziale <strong>und</strong><br />

<strong>politische</strong> Funktion des Volkskalenders als die<br />

Franzosen in Deutschland einzogen. Dafür<br />

19


gibt es viele Gründe, aber vor allem lag dies<br />

an den neuen Marktbedingungen. Die Franzosen<br />

hoben die Monopolansprüche aller privilegierten<br />

Landeskalender auf. Kalendermacher<br />

mussten jetzt auf dem freien Markt in Konkurrenz<br />

treten, um ihre Leser anzulocken, <strong>und</strong><br />

deswegen mussten sie mehr <strong>und</strong> interessantere<br />

Inhalte bieten. Neben den Zeitinformationen<br />

<strong>und</strong> den traditionellen Informationen, etwa<br />

über die Markt- <strong>und</strong> Festtage, die Posttarife,<br />

die bäuerlichen Weisheiten, die astrologischen<br />

Prophezeihungen usw. mussten Kalender vor<br />

allem bessere Texte vorlegen, um ihre Leser an<br />

sich zu binden. Eine neue Art von Texten kam<br />

auf: die Schilderung von aktuellen Zeitereignissen,<br />

Erzählungen mit zeitgenössischer Dimension,<br />

Weltgeschichte <strong>und</strong> dazu eine aktuelle<br />

Kommentierung, die den Leser nicht allein<br />

mit den Geschehnissen ließ. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />

nennen Germanisten dieses halbe Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

die „goldene Zeit der Kalenderliteratur“.<br />

Renommierte Autoren wie Berthold Auerbach,<br />

Heinrich Zschokke, Jeremias Gotthelf,<br />

Adolf Glassbrenner, Johann Peter Hebel, Karl<br />

Simrock <strong>und</strong> Alban Stolz haben in dieser Zeitperiode<br />

die Kalenderliteratur neu deniert.<br />

Um neue Leserkreise auf dem freien Markt<br />

anzuziehen, mussten die Kalenderverleger<br />

den gewohnten Stil der Volksaufklärung verändern.<br />

Der sogenannte „implizierte Leser“<br />

(nach dem Fachbegriff von Wolfgang Iser)<br />

des Volkskalenders im Vormärz wurde vollkommen<br />

neu angeredet. Der implizierte Leser<br />

bezieht sich auf das elementare Verhältnis<br />

zwischen einem Autor <strong>und</strong> seinem vorgestellten<br />

Leser. Wie wird ein Leser angesprochen?<br />

Etwa als unerfahrenes Schulkind oder als ein<br />

erwachsener, räsonierender Mensch?<br />

Üblich für Kalender des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

war die Bevorm<strong>und</strong>ung. Der typische Kalender<br />

der Volksaufklärung behandelte den Leser<br />

besserwisserisch <strong>und</strong> oberlehrerhaft: wie<br />

er das Feld besser bestellt, das Geld besser berechnet<br />

<strong>und</strong> verwendet oder wie er dem Staat<br />

tunlichst besser zu dienen hat. Eine kritischrationale<br />

Denkweise etwa über gesellschaftliche<br />

Themen kam selten vor.<br />

Während der Napoleonischen Zeit veränderte<br />

sich diese Erzählform. Das Vorbild in jener<br />

Zeit war Johann Peter Hebel: der Badenser<br />

Schriftsteller <strong>und</strong> Kalenderverleger, der die<br />

traditionelle Gattung „Hauskalender“ gr<strong>und</strong>legend<br />

verändert hat. Er übernahm die alleinige<br />

Redaktion des Badischen Landkalenders<br />

im Jahr 1807 <strong>und</strong> benannte ihn in „Der rheinische<br />

Hausfre<strong>und</strong>“ um. Während seiner Jahre<br />

als Herausgeber von 1807 bis 1815/1819<br />

schrieb <strong>und</strong> adaptierte er den größten Teil der<br />

Geschichten. Johann von Cotta, der Verleger<br />

aus Stuttgart, verwandelte diese Geschichten<br />

in Buchform zum „Schatzkästlein des Rheinischen<br />

Hausfre<strong>und</strong>s“ im Jahre 1811 <strong>und</strong> dann<br />

wieder 1818. Damals wie heute werden Hebels<br />

Schriften wegen ihres lapidaren Stils, ihrer erzählerischen<br />

Komprimierung <strong>und</strong> unaffektierten<br />

Sprache geschätzt. Noch wichtiger ist wohl<br />

Hebels Verhalten gegenüber seinen Lesern,<br />

denn er erhob sie in einen teilhabenden Status<br />

innerhalb des narrativen Dialogs.<br />

Er sprach sein Publikum als „den geneigten<br />

Leser“ an. Er unterließ das ngerhebende Moralisieren<br />

der frühen Kalender <strong>und</strong> schlug stattdessen<br />

einen persönlich-intimen Ton an, der<br />

die soziale Distanz zwischen Erzähler <strong>und</strong> Leser<br />

verringerte. Da der Leser als „ein Fre<strong>und</strong><br />

des Hauses“ akzeptiert wurde, so schrieb Hebel,<br />

„spricht man zu dem Leser auf eine innige<br />

Weise <strong>und</strong> verbindet sich mit ihm durch ungenierte<br />

Gesten“. 3 Mit spitzbübischen Hinweisen<br />

an die Leser entkamen Diebe der Bestrafung,<br />

triumphierten Schurken über anständige Bürger,<br />

herrschten Untertanen über ihre Herren <strong>und</strong><br />

einfache Leute überlisteten auf geschickte Weise<br />

die Autoritäten. Ohne moralische Gr<strong>und</strong>sätze<br />

in Frage zu stellen vertraute Hebel darauf, dass<br />

seine Leser eine gut erzählte Geschichte mit<br />

kleinen subversiven „Seitensprüngen“ ohne moralische<br />

Herablassung genießen konnten. Diese<br />

Kombination aus solider Kalenderinformation<br />

<strong>und</strong> ausgiebiger Literatur ließ die Verkaufszahlen<br />

von 17.000 im Jahr 1803 auf 40.000 im Jahr<br />

1811 ansteigen. 4 Der Erfolg gab Hebel Recht.<br />

Neben einer Veränderung der Stimmlage<br />

deuten auch andere Anzeichen darauf hin,<br />

20


dass Hebel seine Leser ernst nahm. Seine <strong>politische</strong>n<br />

Tagebücher (Weltbegebenheiten) erklären<br />

die <strong>politische</strong>n <strong>und</strong> militärischen Komplexitäten<br />

der napoleonischen Jahre eindeutig,<br />

informativ <strong>und</strong> klar. Damit erweitert er das<br />

Netzwerk der <strong>politische</strong>n Kommunikation, indem<br />

er seine Kalenderleser einschließt. Seine<br />

Berichte respektierten die Intelligenz des Lesers,<br />

indem sie weder schlechte Nachrichten<br />

beschönigten noch herablassenden Trost<br />

spendeten.<br />

Auf ähnliche Weise verankerte Hebel seine<br />

ktionalen Erzählungen mit Fakten. Er setzte<br />

einen historisch durchaus bewussten Leser voraus,<br />

denn er lud sein Publikum dazu ein, sich<br />

mit der breiteren Sphäre europäischer <strong>politische</strong>r<br />

<strong>und</strong> kultureller Angelegenheiten auseinanderzusetzen.<br />

5 Er sprach einfachen Lesern<br />

Intelligenz, analytische Einsicht <strong>und</strong> unabhängiges<br />

Urteil zu <strong>und</strong> führte sie so in die Gemeinschaft<br />

räsonierender Subjekte ein. Ein<br />

erster Schritt zu einer wahrhaft <strong>politische</strong>n<br />

Öffentlichkeit in Deutschland war gemacht.<br />

Hebels Leistung el auf fruchtbaren Boden.<br />

Nach 1800 begannen Kalender damit,<br />

über Verfassungspolitik in aller Welt zu berichten:<br />

ob Griechenland, Frankreich, Großbritannien<br />

<strong>und</strong> selbst Lateinamerika – der „geneigte<br />

Leser“ nahm an den Diskussionen teil.<br />

Während der 1820er Jahre feierte zum Beispiel<br />

das annotierte <strong>politische</strong> Tagebuch mit<br />

dem umständlichen Titel „Gemeinnützig-unterhaltender<br />

Volkskalender für das Königl.<br />

Preuss. Rheinland-Westfalen“ die Siege lateinamerikanischer<br />

Republikaner, lamentierte<br />

über das Phlegma der Griechen in ihrem Freiheitskampf,<br />

lobte die Aufhebung der Sklaverei<br />

in Mexiko <strong>und</strong> berichtete über die Einschränkung<br />

der Freiheiten <strong>und</strong> der <strong>politische</strong>n Rechte<br />

der Polen durch den russischen Zaren. Mit unverhohlener<br />

Begeisterung für den Kampf der<br />

Lateinamerikaner um Unabhängigkeit las sich<br />

ein Eintrag von 1824 folgendermaßen: „Glorreicher<br />

Sieg der Peruaner!!! Es gelingt dem<br />

kolumbianischen Feldherrn Sucre, den Spaniern<br />

bei Ayachucho den Todesstoß zu versetzen,<br />

<strong>und</strong> in dieser Schlacht die Freiheit Perus<br />

auf immer zu vollenden.“ 6 Auf ähnliche Weise<br />

berichtete der Volkskalender voller Mitgefühl<br />

über „die tapferste Gegenwehr der Griechen“<br />

in Missolonghi. Diese Auslandsberichte<br />

dienten eindeutig als Ersatz für Kritik an den<br />

heimischen Zuständen, indem <strong>politische</strong> Ambitionen<br />

ausgedrückt wurden, die im eigenen<br />

Lande nicht frei ausgesprochen werden<br />

konnten.<br />

Der Wert des Kalenders als Instrument,<br />

um einfache Leute zu politisieren, entging den<br />

Vormärz-Liberalen nicht. Philipp Christmann,<br />

ein Buchhändler, Buchdrucker <strong>und</strong> Kalenderhersteller,<br />

der zugleich ein führender Organisator<br />

des Hambacher Fests von 1832 war, benutzte<br />

„Den Boten vom Haardtgebirge“ dazu,<br />

den liberalen Einuss zu stärken. Er behandelte<br />

ausgiebig das polnische Problem in seiner<br />

Ausgabe von 1832, indem ganzseitige lithographische<br />

Portraits polnischer Helden gedruckt<br />

wurden: Grzegorz Józef Chopicki <strong>und</strong><br />

Jan Zygmunt Skrzynecki. Der Hauptbeitrag<br />

zeigte die Ungerechtigkeiten der Teilung Polens<br />

zwischen 1772 <strong>und</strong> 1793 auf, um schließlich<br />

heroisch zu beschreiben, wie die polnischen<br />

Truppen ihre „ewigen Lorbeeren … auf<br />

dem Feld des Ruhmes“ erlangten. 7 Die epische<br />

Erzählung erstreckte sich auf neun zweispaltige<br />

Seiten, einer Länge, die hohes <strong>politische</strong>s<br />

Interesse voraussetzte – offenbar war dies bei<br />

den Lesern vorhanden.<br />

<strong>Im</strong> selben Jahr verschenkte man zum Kalender<br />

eine kompakte <strong>politische</strong> Fibel. Mit<br />

dem Titel „Über Staats- <strong>und</strong> bürgerliche Verhältnisse“<br />

bot ein Teil der Ausgabe eine Serie<br />

von Sachartikeln über die Begriffe: „Bauernstand“,<br />

„Constitution“, „Preßfreiheit“, „Budget“<br />

<strong>und</strong> „Abgaben“. In pointierter Sprache<br />

hielten die Autoren die Leser dazu an, die Rolle<br />

der einfachen Leute im Staatsleben anzuerkennen,<br />

die Notwendigkeit der Verfassungsmacht<br />

zu begreifen <strong>und</strong> Regierungen nicht von<br />

Kritik auszunehmen. <strong>Im</strong> folgenden Jahr 1833<br />

veröffentlichte Christmann eine ausführliche<br />

Berichterstattung über das Hambacher Fest. 8<br />

Auf diese Weise verknüpften sich die Netzwerke<br />

des Vaterlands- <strong>und</strong> Pressevereins – der<br />

21


Organisatoren des Festes – mit Tausenden von<br />

einfachen Lesern, die sonst keine bestimmte<br />

Verbindung zum Fest oder dessen <strong>politische</strong>r<br />

Botschaft besaßen.<br />

Nehmen wir einen anderen Kalender, „Der<br />

Wanderer am Rhein“ (1839–50), eine in Mannheim<br />

herausgegebene Schrift von Heinrich<br />

Hoff, einem eifrigen Journalisten, Redakteur<br />

<strong>und</strong> Demokrat. Er verlegte solche Bücher wie<br />

„Die Revolution. Historisch-romantisches Sittengemälde<br />

der neuen Zeit“ (1835), „Sendschreiben<br />

an Karl Gutzkow, von einem Fre<strong>und</strong>e<br />

der Wahrheit“ (1836), „Die Radicalreform des<br />

Staats- <strong>und</strong> Privatrechts“ (1838), „Vier Fragen<br />

beantwortet von einem Ostpreussen“ (1841),<br />

„Deutsche Zeitung ohne Censur“ (1846), „Die<br />

Opposition“ (1846), <strong>und</strong> den „Bericht über die<br />

Ereignisse zu Köln vom 3. <strong>und</strong> 4. August 1846<br />

<strong>und</strong> den folgenden Tagen“ (1846). In den Jahren<br />

1838–40 gab er auch die kritisch-satirischen<br />

Zeitungen „Deutscher Postillon“ <strong>und</strong><br />

„Rheinischer Postillon“ heraus. Weiterhin veröffentlichte<br />

er Heinrich Püttmanns „Das deutsche<br />

Bürgerbuch“ (1846), sowie Adolfe Thiers’<br />

„Geschichte der Französischen Revolution“<br />

(1844). Nach der Rheinkrise von 1840–41 war<br />

das letztere Werk gewiss eine gezielte Provokation<br />

der Behörden des Deutschen B<strong>und</strong>es.<br />

Sein „Deutsches Volksliederbuch“ von 1847<br />

war ebenfalls durchaus demokratisch gesinnt:<br />

Es brachte ihm Anklagen wegen Majestätsbeleidigung<br />

ein. Kurzum, Hoff war ein durchaus<br />

radikaler Aktivist.<br />

Warum aber beschäftigte er sich in den<br />

1840er Jahren bloß mit Kalendern? Ihm kam<br />

es auf ein neues <strong>und</strong> breiteres Publikum an. In<br />

seinem Kalender lieferte er eine tiefgehende<br />

<strong>und</strong> ausgewogene Darstellung der Chartisten-<br />

Bewegung in England. Er berichtete weiterhin<br />

über O´Connells parlamentarische <strong>und</strong> versammlungs<strong>politische</strong><br />

Kämpfe, die die Misere<br />

der irischen Katholiken im Britischen Reich zu<br />

lindern suchten. In einer anderen Ausgabe untersuchte<br />

er ausführlich die furchtbare Armut<br />

im industriellen England. In diesem Zusammenhang<br />

stellte er eine ähnliche hoffnungs lose<br />

Verwahrlosung unter rheinischen Winzern<br />

<strong>und</strong> schlesischen Webern fest. Der im Kalender<br />

aufgeführte leidenschaftliche Bericht des<br />

Weberaufstandes in Schlesien im Jahr 1844,<br />

eine heftige Kritik der preußischen Brutalität,<br />

war begleitet von einer ganzseitigen Illustration<br />

der preußischen Husaren <strong>und</strong> Infanterie-<br />

Bajonette <strong>und</strong> von ihren Attacken auf hungernde<br />

Weberfamilien. 9<br />

Ein letztes Beispiel, wie Kalender die<br />

Grenzen der Zensur ausgetestet haben, ist<br />

„Das Buch für Winterabende: Volksbuch <strong>und</strong><br />

Volkskalender“. In Karlsruhe gedruckt von<br />

Moritz Honek (Moritz Cohen) <strong>und</strong> im gesamten<br />

Rheinland verkauft, gab dieser Autor dem<br />

Leser eine Schilderung des moderaten Verfassungsliberalismus<br />

Badens. Die <strong>politische</strong>n<br />

<strong>und</strong> kulturellen Essays seines Kalenders hatten<br />

zum Ziel, aufgeklärte <strong>und</strong> teilhabende<br />

Staatsbürgerschaft zu schaffen <strong>und</strong> die Prominenz<br />

des parlamentarischen <strong>politische</strong>n Lebens<br />

in Deutschland zu steigern. Bekannte Liberale<br />

wie Karl Mathy, Karl Büchner <strong>und</strong> Karl<br />

Gutzkow verfassten Beiträge. Artikel zum Zustimmungsrecht<br />

des Parlamentes in Steuerangelegenheiten,<br />

über den Gebrauch des Zehnt,<br />

über die Notwendigkeit einer Amnestie für <strong>politische</strong><br />

Vertriebene von 1830 bis 1833 <strong>und</strong> zur<br />

Trennung des Status der Justizbeamten von<br />

der staatlichen Beamtenlaufbahn waren auf liberale<br />

Reformen gerichtet. Essays kritisierten<br />

die „hässliche Kriecherei“, die das Gerichtswesen<br />

auf das Verhalten der Bürger ausübte<br />

<strong>und</strong> machten sich über die Titelsüchtigkeit<br />

der Deutschen lustig. Der Kalender brachte einen<br />

langen Artikel über Friedrich Dahlmann,<br />

den frühen Vorreiter des deutschen Konstitutionalismus,<br />

<strong>und</strong> lieferten eine Fortsetzungsserie<br />

von Portraits deutscher Parlamentsabgeordneter.<br />

Humor auf Kosten <strong>politische</strong>r Eliten<br />

kam ebenso vor, wie z.B. „Der deutsche Weg<br />

ins Ministerium“ von Karl Gutzkow:<br />

„Der deutsche Weg, ein Minister zu werden,<br />

ist nicht selten dieser: Der junge Adelige<br />

besucht das Gymnasium. Abgang aus Prima<br />

mit No. III. Ankunft in Göttingen oder Bonn<br />

mit zwei großen H<strong>und</strong>en. Examen. Durchfall.<br />

Übergang vom Recht zur Verwaltung.<br />

22


Landrathsstelle. Landrath, immer noch Landrath,<br />

aber Ritter vieler Orden, Chef einer Regierung.<br />

Vicepräsident einer Provinz. Präsident<br />

einer Provinz. Minister.“ 10<br />

Schließlich wurde die <strong>politische</strong> Agenda<br />

des Kalenders abger<strong>und</strong>et durch einen Aufruf<br />

zur nationalen ‚Gemeinsamkeit’ <strong>und</strong> zum<br />

‚Brudersinn’: „Die deutsche Nation ist gottlob<br />

wieder im Aufsteigen begriffen, weil sie der<br />

schnöden, vaterlandsverrätherischen Uneinigkeit<br />

<strong>und</strong> Zersplitterung abgesagt hat <strong>und</strong> sich<br />

wieder als ein Ganzes fühlt.“ 11 Beinahe alle<br />

Elemente des südwestlichen deutschen Liberalismus<br />

fanden sich in dem Büchlein wieder.<br />

Autoren <strong>und</strong> Herausgeber fügten also aktuelle<br />

<strong>politische</strong> Themen in traditionelles Lesegut<br />

wie zum Beispiel Volkskalender ein.<br />

Dadurch kamen die drängenden Fragen der<br />

Vormärz-Ära an eine gänzlich andersgeartete<br />

Leserschaft heran. Volkskalender haben neue<br />

Ebenen, neue Akteure <strong>und</strong> neue Räume <strong>politische</strong>r<br />

Öffentlichkeit erreicht – der sogenannte<br />

einfache Mensch las <strong>und</strong> räsonierte über Politik.<br />

In vielen Kalendern – mit Auagen von<br />

Zehntausenden – erfuhr man nicht nur traditionelle<br />

Themen. Der Leser setzte sich mit einer<br />

aktuellen <strong>politische</strong>n Kultur auseinander:<br />

mit Verfassungen, Regierungsformen, der gesetzgeberischen<br />

Gewalt des Volkes, mit vergleichbaren<br />

<strong>politische</strong>n Entwicklungen <strong>und</strong><br />

kontroversen Ereignissen. Darüber hinaus gab<br />

es mit den Texten eine implizite Herausforderung:<br />

Man sollte sich bitte eine eigene Meinung<br />

bilden, Partei nehmen, sich engagieren.<br />

Der aufgeklärte Franzosenfre<strong>und</strong> Johann Peter<br />

Hebel, der Hambachliberale Philipp Christmann<br />

<strong>und</strong> der Mannheimer Radikale Heinrich<br />

Hoff gehören vielleicht nicht zum Pantheon<br />

der großen <strong>Literaten</strong> des Vormärzes. Aber mit<br />

ihren Texten gestalteten sie eine vereinfachte<br />

<strong>politische</strong> Fibel – ein frühes Gr<strong>und</strong>gesetz –<br />

<strong>und</strong> insofern gelten sie als wichtige Gestalter<br />

einer <strong>politische</strong>n Öffentlichkeit <strong>und</strong> Vermittler<br />

<strong>politische</strong>r Ideen im Deutschland der Vorrevolutionszeit.<br />

Volkslieder<br />

Aus der Erfahrung einer vormärzlichen <strong>politische</strong>n<br />

Kultur konnte Friedrich Hecker 1848<br />

schreiben: „[Das <strong>politische</strong> Lied ist] das unzerstörbare<br />

Eigenthum des Individuums. Er lernt<br />

das Lied zum erstenmale, er singt es im brausenden<br />

Jubel <strong>und</strong> in der Hinreissung oder Begeisterung<br />

des Moments, aber in den stillen St<strong>und</strong>en,<br />

in welchen der Mensch blos in sich blickt, <strong>und</strong><br />

wo er in Träumerei versunken ruht, beim Gehen<br />

<strong>und</strong> Wandern summt still im Herzen das <strong>politische</strong><br />

Lied … der Mensch wird Politiker.” 12<br />

In der Tat haben Menschen aller Herkunft<br />

– mindestens seit dem Dreißigjährigen<br />

Krieg – von Zeitungssängern, Bänkelsängern,<br />

Marktschreiern <strong>und</strong> Kolporteuren aktuelle <strong>politische</strong><br />

Ereignisse durch Lieder erfahren. Und<br />

– nach Hecker – räsonierten sie auch über das,<br />

was sie hörten. Als Kommunikationsmedium<br />

ist das Lied ein zentrales Element der <strong>populäre</strong>n<br />

Öffentlichkeit. Es verbindet mündliche<br />

<strong>und</strong> schriftliche Kultur <strong>und</strong> vereinigt soziale<br />

Schichten, die sich sonst nie Kommunikationssphären<br />

teilten. Die Musik <strong>und</strong> das Lied<br />

waren <strong>und</strong> sind universell. Ähnlich wie die<br />

neue Kalenderliteratur setzte auch die Gattung<br />

des <strong>populäre</strong>n Liedes einen Sänger voraus, der<br />

selbstbewusst auftrat <strong>und</strong> sich dezidiert als aktiv<br />

handelnder Bürger verstand. In den Liedern<br />

ndet sich immer wieder der Topos des Volkes<br />

als selbstständig handelndes <strong>politische</strong>s Subjekt.<br />

Insbesondere unterbürgerliche Schichten<br />

wurden aufgefordert, Partei zu ergreifen <strong>und</strong><br />

zu einer <strong>politische</strong>n Identität zu nden.<br />

Das Verhältnis der Literatur <strong>und</strong> der Autoren<br />

zur <strong>populäre</strong>n Singkultur des Vormärzes<br />

war komplex. Das ‚<strong>politische</strong> Lied’ als Begriff<br />

bedarf der Präzisierung. Das <strong>politische</strong><br />

Lied war weder ein althergebrachtes Volkslied<br />

noch war es unbedingt populär. Es war<br />

eher ein Kunstlied, das nach Popularität strebte.<br />

Musikhistoriker nennen es auch ‚Kunstlied<br />

im <strong>Volksm<strong>und</strong></strong>’. Und einige von diesen sind<br />

echte Volkslieder geworden, das heißt Lieder,<br />

die mehr als eine Generation <strong>und</strong> in vielen<br />

Variationen gesungen wurden. Politisierten<br />

23


Kunstliedern im <strong>Volksm<strong>und</strong></strong> gilt jetzt unser<br />

Interesse.<br />

Für die Neuzeit kann man Tausende von<br />

politisierten Liedertexten belegen. Historiker<br />

haben beispielsweise etwa 2.300 <strong>politische</strong><br />

Lieder aus der Zeit der Französischen Revolution<br />

gesammelt <strong>und</strong> Dutzende davon haben<br />

den Sprung über den Rhein geschafft. Zwischen<br />

1800 <strong>und</strong> 1848 entstanden in Deutschland<br />

selbst H<strong>und</strong>erte von politisierten Liedern.<br />

Nach 1830 war das Genre ‚Freiheitslieder’ in<br />

der Singkultur Deutschlands fest verankert.<br />

Dies war ein Durchbruch, denn nun transportierten<br />

auch die Lieder die <strong>politische</strong>n Diskurse<br />

ins Volksleben. Konkurrierende Visionen<br />

<strong>und</strong> Prinzipien, wie man Staat <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

organisieren sollte, prägten die <strong>politische</strong><br />

Landschaft, <strong>und</strong> Lieder spiegelten diesen<br />

Parteigeist des frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Doch war die <strong>populäre</strong> Singkultur nicht ein<br />

Beiwerk oder ein bloßes Geschenk aus der Feder<br />

bürgerlicher <strong>Literaten</strong>. Eher war das Popularisierungsphänomen<br />

eine kulturelle Wechselbeziehung<br />

zwischen <strong>populäre</strong>m Geschmack,<br />

künstlerischer Produktion <strong>und</strong> den Rahmenbedingungen,<br />

die Markt <strong>und</strong> Staat setzten. Die<br />

Gemüter der <strong>populäre</strong>n Kultur <strong>und</strong> die Federn<br />

der <strong>Literaten</strong> beeinussten sich wechselseitig.<br />

Zwischen der Französischen Revolution<br />

<strong>und</strong> der Revolution von 1848 sang man am<br />

Rhein <strong>und</strong> in Deutschland dreierlei Arten <strong>politische</strong>r<br />

Lieder. Zuerst sind jene Lieder aus der<br />

Zeit der Französischen Revolution <strong>und</strong> der Befreiungskriege<br />

1813–1815 zu erwähnen. Mindestens<br />

zwei Generationen von Rheinländern<br />

konnten solche Lieder wie die „Marseillaise“,<br />

„Ça Ira“ <strong>und</strong> „La Carmagnole“ auswendig singen.<br />

Öffentliche Darbietungen dieser französischen<br />

<strong>Im</strong>porte mit universeller Geltung<br />

wurden von Liberalen <strong>und</strong> Demokraten im<br />

Vormärz bewusst inszeniert, da sie für preußische<br />

<strong>und</strong> rheinbayerische Behörden eine Provokation<br />

darstellten. Die „Marseillaise“ war<br />

übrigens das erste Lied im Festprogramm des<br />

Hambacher Fests – ein musikalisches Motto,<br />

wenn man so will. 13<br />

Auch Lieder über Napoleon sind nicht<br />

zu vergessen. Zwar waren die kolportierten<br />

Liedtexte über Napoleon vielfach negativ gefasst,<br />

aber sicherlich nicht alle. „Bertrands<br />

Abschied“, ein rührender Tribut an Napoleons<br />

loyale Soldaten, war das populärste Lied<br />

unter den Rheinländern – besonders im Vormärz.<br />

Seine Popularität hat nicht nur ein Sequel<br />

inspiriert, sondern auch neue Textversionen<br />

nach sich gezogen: als Polenlied während<br />

der 1830er Jahre sowie gleichfalls während<br />

der 1848er Revolution, als eine demokratische<br />

Hommage an Friedrich Hecker auftauchte.<br />

Gerade für Autoren bot dieses Genre viele<br />

Möglichkeiten: z.B. Heines „Zwei Grenadiere“<br />

<strong>und</strong> Hoffmann von Fallerslebens „Marseillaise“<br />

<strong>und</strong> „Reveille“. Der Mythos „Napoleon“<br />

hielt lange an. Napoleonsänger fanden sich auf<br />

Festen <strong>und</strong> Märkten bis in die 1850er Jahre.<br />

Auch die Lieder der Befreiungskriege wurden<br />

sehr wichtig für die <strong>populäre</strong> <strong>politische</strong><br />

Kultur. Lieddrucke von Theodor Körner, Max<br />

von Schenckendorf, Ernst Moritz Arndt <strong>und</strong><br />

Friedrich de La Motte Fouqué wurden in Auflagen<br />

von 10.000 Stück verteilt <strong>und</strong> sehr verbreitet<br />

gesungen <strong>und</strong> variiert. Der Aufruf zur<br />

Volksbewaffnung <strong>und</strong> zur Neukonstituierung<br />

der deutschen Nation waren Signale für ein<br />

neues Zeitalter.<br />

<strong>Im</strong> Vormärz wandelte sich aber die Bedeutung<br />

des Freiheitsbegriffs dieser Lieder. Während<br />

in der Napoleonzeit die Motive „Franzosenhass“<br />

<strong>und</strong> „Befreiung von der Tyrannei“<br />

dominierten, legten die Sänger im Vormärz<br />

den Akzent auf die „Menschenrechte“, die<br />

„Verfassung“, wie etwa in Ludwig Uhlands<br />

„Nachruf“ formuliert:<br />

Und wenn sich Männer frei erheben<br />

Und treulich schlagen Hand in Hand<br />

Dann tritt das innre Recht ins Leben<br />

Und der Vertrag giebt ihm Verstand. 14<br />

Das zweite Genre waren sogenannte „Polenlieder“.<br />

Während <strong>und</strong> nach dem vergeblichen<br />

Aufstand der polnischen Freiheitskämpfer<br />

feierten die Deutschen den tapferen<br />

24


polnischen Kampf mit Liedern – nicht nur im<br />

Vereinsraum, sondern auch auf dem Markt<br />

<strong>und</strong> im Wirtshaus. Elf Polenlieder gelten als<br />

Volkslieder <strong>und</strong> acht davon blieben am Rhein<br />

im <strong>Volksm<strong>und</strong></strong> für drei Generationen lebendig.<br />

„Noch ist Polen nicht verloren“ <strong>und</strong> zahlreiche<br />

Umwidmungen sind bis heute sehr bekannt,<br />

besonders zur Karnevalszeit. Populär<br />

war auch Philipp Jacob Siebenpfeiffers „Polnisches<br />

Mailied“. Als Journalist, Vereinsliberaler<br />

<strong>und</strong> Organisator des Hambacher Fests hob<br />

Siebenpfeiffer darin auf eine Parallelität des<br />

Schicksals von Polen <strong>und</strong> Deutschen ab:<br />

Wir sahen die Polen, sie zogen aus<br />

Als des Schicksals Würfel gefallen<br />

Sie liessen die Heimath des Vaterhaus<br />

In der Barbaren Räuberkrallen:<br />

Vor des Czaren nsterem Angesicht<br />

Beugt der Freiheit liebende Polen nicht<br />

Auch wir, Patrioten, wir ziehen aus<br />

In fest geschlossenen Reihen;<br />

Wir wollen uns gründen ein Vaterhaus,<br />

<strong>und</strong> wollen der Freiheit es weihen<br />

Denn vor der Tyrannen Angesicht<br />

Beugt länger der freie Deutsche sich nicht. 15<br />

Polenlieder gehörten zum Liederkanon des<br />

Volkes bis zum Ersten Weltkrieg. Die tragische<br />

Sentimentalität des Nationalgefühls <strong>und</strong><br />

die Betonung der konkreten Heldenguren,<br />

deren Taten <strong>und</strong> Hoffnungen gut nachvollziehbar<br />

waren, erklärt wohl die breite <strong>und</strong> andauernde<br />

Rezeption solcher Lieder.<br />

Als dritte Gattung politisierter Volkslieder<br />

muss man die „Sandlieder“ kurz erwähnen.<br />

Die Hinrichtung von Karl Sand, nachdem<br />

er 1819 den Schriftsteller August von Kotzebue<br />

im Namens des Vaterlandes ermordet hatte, galt<br />

als Märtyrertod nicht nur für Burschenschaftler,<br />

sondern auch für Bänkelsänger, Kolporteure<br />

<strong>und</strong> Lithographienverkäufer. Lieder, Bilder<br />

<strong>und</strong> Pamphlete über Sand kursierten durch<br />

Deutschland. John Meier, Professor für Deutsche<br />

Philologie and Begründer des Deutschen<br />

Volksliedarchivs in Freiburg im Breisgau, dokumentierte<br />

31 Variationen des Liedes „Ach,<br />

sie naht die bange St<strong>und</strong>e“, die Rheinländer<br />

bis zum Ersten Weltkrieg gesungen haben. <strong>Im</strong><br />

Vormärz waren die neun Versionen von „O<br />

Sand, wer ist dir gleich“ noch <strong>populäre</strong>r. 16<br />

Die Aufsichtsbehörden haben diese Lieder<br />

als oppositionell eingestuft, insofern ein<br />

Verbrecher als <strong>politische</strong>r Held gefeiert wurde.<br />

Geschrieben <strong>und</strong> gesungen nach Art <strong>und</strong><br />

Stimmung der Befreiungskriegslieder haben<br />

die „Sandlieder“ die Herzen für die deutsche<br />

Nation gerührt. <strong>Im</strong> Gr<strong>und</strong>e aber waren die<br />

Feinde in den Sandliedern nicht die Franzosen,<br />

wie in der Zeit der Befreiungskriege, sondern<br />

die deutschen Regierungen.<br />

Die wichtigste Gruppe der <strong>politische</strong>n Lieder<br />

war aber die der sogenannten „Freiheitslieder“,<br />

deren oppositioneller <strong>politische</strong>r Inhalt<br />

durchaus modern klingt. Die ersten deutschen<br />

Freiheitslieder tauchten vor der Französischen<br />

Revolution auf. „Die Gedanken sind frei“ war<br />

beispielsweise ein Marktdruck im südwestlichen<br />

Deutschland während der 1780er Jahre.<br />

Seit der Jahrh<strong>und</strong>ertwende war das Lied im<br />

<strong>Volksm<strong>und</strong></strong>, aber auch in bürgerlichen Kreisen<br />

verbreitet, denn Ludwig Achim von Arnim<br />

<strong>und</strong> Clemens Brentano nahmen das Lied in ihre<br />

dreibändige Sammlung „Des Knaben W<strong>und</strong>erhorn“<br />

(1805–08) auf. Das Lied feierte das unveräußerliche<br />

Recht des freien Denkens:<br />

Die Gedanken sind frei<br />

Wer kann sie erraten?<br />

Sie iehen vorbei<br />

Wie nächtliche Schatten;<br />

Kein Mensch kann sie wissen,<br />

Kein Kerker verschließen;<br />

Wer weiß was es sei?<br />

Die Gedanken sind frei<br />

Ja fesselt man mich<br />

<strong>Im</strong> nsteren Kerker,<br />

So sind doch das nur<br />

Vergebliche Werke.<br />

Denn meine Gedanken<br />

Zerreißen die Schranken<br />

Und Mauern entzwei:<br />

Die Gedanken sind frei. 17<br />

25


Dieses Lied sowie viele andere Freiheitslieder<br />

sind von keinem individuellen Autor, sondern<br />

haben ihre Wurzeln in der politisierten<br />

Volkskultur. Das „Fürsten zum Land hinaus!“<br />

hat eine ähnliche Genese. Dieses prägnante antiaristokratische<br />

Lied tauchte kurz vor dem Hambacher<br />

Fest auf, wurde auf dem Fest gesungen<br />

<strong>und</strong> genoss nachher im Vormärz eine besondere<br />

Popularität. Das Lied gilt als eine Anklage<br />

gegen alle Fürsten Deutschlands. Eine Version<br />

dieses Liedes enthält 26 Strophen <strong>und</strong> jede einzelne<br />

dieser Strophen richtet sich gegen ein anderes<br />

Herrscherhaus. Es fängt mit der Wiener<br />

Reichskrone an <strong>und</strong> kritisiert querdurch Bayern,<br />

Sachsen, Hannover, Württemberg, Hessen,<br />

Oldenburg, Weimar, Braunschweig usw.<br />

Eine bekannte Variation endet mit: „Nun ist im<br />

Lande Raum / jetzt panzt den Freiheitsbaum.<br />

Hoch!“ 18 Mit diesem Schluss manifestiert sich<br />

das neuzeitliche Bewusstsein von Menschenrechten<br />

<strong>und</strong> Volksrevolution.<br />

Neben solchen anonymen Freiheitsliedern<br />

mit sozusagen „autochthoner Kraft“ gab es auch<br />

einige, die – ursprünglich als „Kunstlieder“ von<br />

<strong>Literaten</strong> gesetzt – dann gleichfalls Liedgut des<br />

Volkes wurden. „Es saßen sechs Studenten“ ist<br />

wohl exemplarisch für einen solchen Weg, weil<br />

dieses Kunstlied in ein echtes Volkslied umgewandelt<br />

wurde <strong>und</strong> darüber hinaus auch ein<br />

neues Deutungsmuster der Politik des Vormärz<br />

lieferte. Der Urheber dieses Liedes ist umstritten,<br />

in Frage kommen die Studenten Blos oder<br />

Wilhelm Sauerwein. Beide waren Studenten,<br />

die im Jahre 1833 an einer sehr schlecht organisierten<br />

Verschwörung teilnahmen, die das<br />

Ziel verfolgte, eine Frankfurter Polizei-Wache<br />

zu stürmen, <strong>und</strong> sich der Illusion hingaben, damit<br />

eine ‚Volksrevolution’ entfachen zu können.<br />

Der Komplott scheiterte, aber das Lied bot<br />

eine andere Sicht auf die Ereignisse, indem es<br />

über die erfolgreiche Befreiung der verhafteten<br />

Studenten im Jahre 1837 berichtet. Dem Lied<br />

zufolge waren diese Studenten keine dummen<br />

Verschwörer, sondern heldenhafte Streiter für<br />

eine künftige Republik.<br />

Mit diesem Text wird die kollektive Erinnerung<br />

an dieses Ereignis vollkommen umgestaltet.<br />

Die ersten Strophen konzentrieren sich<br />

auf den Ausbruch der Studenten, aber die letzten<br />

Strophen widmen sich der Bedeutung des<br />

Aufstandes:<br />

Jetzt geht’s für Deutschlands Rechte,<br />

Jetzt geht’s für Deutschlands Sieg.<br />

Wir sind keine Knechte,<br />

Frei lebt die Republik.<br />

Und wenn die Fürsten fragen:<br />

„Wo ist Absolom?“<br />

So könnt Ihr ihn’n sagen,<br />

Der letztet hänget schon<br />

Er hänget an keinem Galgen<br />

Er hänget an keinem Strick<br />

Er hänget an der Fahne<br />

Der freien Republik. 19<br />

Das Lied zirkulierte in Deutschland als<br />

verbotenes Flugblatt während der 1840er Jahre,<br />

<strong>und</strong> mehrere Varianten folgten unter drei<br />

Titeln: „Das Lied der Verfolgten“, „Das Absolumlied“<br />

<strong>und</strong> „Es saßen sechs Studenten zu<br />

Frankfurt“. <strong>Im</strong> Vormärz ging das Lied schnell<br />

in die mündliche Volkskultur ein; es gibt Belege<br />

für mindestens zwanzig Varianten, die über<br />

Jahrzehnte besonders von Handwerkern, Arbeitern<br />

<strong>und</strong> später sozialdemokratischen Vereinen<br />

gesungen wurden.<br />

Frechheit <strong>und</strong> Ironie charakterisieren andere<br />

<strong>populäre</strong> Lieder der 1840er Jahre. Adolf<br />

Glassbrenners „Tschechlied“ von 1844, ein<br />

Bänkellied mit mindestens elf Variationen,<br />

spiegelt eine neue Stimmung des Volkes wider,<br />

denn dieses Bänkellied drückt einen neuen<br />

Grad von Spott <strong>und</strong> Indifferenz gegenüber der<br />

Institution der Monarchie aus. Das Lied handelt<br />

von dem Attentatsversuch eines Bürgermeisters<br />

namens Tschech auf Friedrich Wilhelm<br />

IV. im Jahre 1844. Hier nur eine Strophe<br />

als Beispiel einer Bänkelliedversion von 1844:<br />

Wer war wohl je ein Mensch so frech,<br />

Wie der Königsmörder Tschech!<br />

Denn er traf bei einem Haar<br />

Unser teueres Königspaar<br />

26


Hieraus nun jedermann ersicht:<br />

Trau keinem Bürgermeister nicht! 20<br />

Die sarkastische respektlose Doppeldeutigkeit<br />

jener letzten Zeile war für Bänkelgesang<br />

unerhört. Anhand der Verbreitung <strong>und</strong><br />

Rezeption dieses Bänkelliedes kann man die<br />

Steigerung von Spott <strong>und</strong> Hohn gegenüber<br />

dem preußischen König während der 1840er<br />

Jahre messen. <strong>Literaten</strong> wie Glassbrenner <strong>und</strong><br />

Sauerwein haben mit Esprit <strong>und</strong> Schärfe zu einer<br />

<strong>politische</strong>n Kultur beigetragen, die durchaus<br />

eine gewisse Reife <strong>und</strong> unabhängige Position<br />

der öffentlichen Meinung aufwies.<br />

Aus Parodien sprach dieser neue Geist<br />

ebenfalls. Die nuancierte zweideutige Rezeption<br />

von Nikolaus Beckers „Sie sollen ihn nicht<br />

haben, den freien deutschen Rhein“ dient wohl<br />

als wichtigstes Beispiel für den Unterschied<br />

zwischen ofzieller <strong>und</strong> <strong>populäre</strong>r <strong>politische</strong>r<br />

Kultur. Dieses Lied gilt als ein Echo der öffentlichen<br />

Meinung auf die Rheinkrise im Jahre<br />

1840. Beckers Lied, das wesentlich als eine<br />

Gegenwehr gegen die Bedrohung durch Frankreich<br />

galt, wurde zwischen 1840 <strong>und</strong> 1843<br />

stark rezipiert. Aber die Popularität war vorübergehend.<br />

Nach etlichen ofziellen Aufführungen<br />

<strong>und</strong> einer breiten Rezeption in den Gesangsvereinen<br />

kam das Lied dennoch nicht im<br />

Volkslied an. Als Flugblatt verschwand es nach<br />

1844 <strong>und</strong> die wenigen Variationen aus dem 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, die Wissenschaftler gesammelt<br />

haben, sind verhöhnende Parodien. Die <strong>populäre</strong><br />

Rezeption war also durchaus kritisch gegenüber<br />

diesem Hurranationalismus. Statt den<br />

braven Jingoismus des Liedes zu billigen, gab<br />

es eine Reihe von gnadenlosen Persiagen.<br />

1842 sangen Frankfurter Handwerker:<br />

Sie sollen ihn nicht haben,<br />

Den Rheinstrom deutsch <strong>und</strong> frei,<br />

Solang sich Fettbäuch laben,<br />

An B<strong>und</strong>espolizei.<br />

Solange im deutschen Lande,<br />

Nicht Einheit alles gilt,<br />

Solang man Schmach <strong>und</strong> Schande,<br />

Fürstliche Hoheit’ schilt. 21<br />

Oder eine 1841 in Strassburg gedruckte<br />

Version vom ehemaligen Hambacher <strong>und</strong> Burschenschaftler<br />

Georg Fein:<br />

Erst der vier<strong>und</strong>dreißig Dränger<br />

Werdet Ihr im eigenen Haus!<br />

Sonst, ihr Renommisten-Sänger!<br />

Lacht ein freies Volk euch aus. 22<br />

<strong>Literaten</strong> haben diese skeptische Haltung<br />

gegenüber einer angeblichen deutschen Freiheit<br />

nur unterstützt. Georg Herwegh schrieb<br />

zum Beispiel sehr pointiert:<br />

Singt alle Welt: Der freie Rhein!<br />

So sing doch ich: Ihr Herren, nein!<br />

Der Rhein, der Rhein könnt freier sein. 23<br />

Heinrich Heine war über Beckers Lied<br />

so irritiert, dass er den ganzen 5. Caput des<br />

„Deutschland ein Wintermärchen“ Beckers<br />

<strong>politische</strong>r Naivität gewidmet hat. In der Stimme<br />

des Vater Rheins schrieb Heine:<br />

Das dumme Lied <strong>und</strong> der dumme Kerl!<br />

Er hat mich schmählich blamiert,<br />

Gewissermaßen hat er mich auch<br />

Politisch kompromittiert. 24<br />

Weshalb einfache Leute Lieder über Karl<br />

Sand, Polen, Hambach oder die <strong>politische</strong> Freiheit<br />

gesungen haben, aber nicht über den ofziellen<br />

Nationalismus der Rheinkrise, bleibt<br />

eine interessante offene Frage. Meines Erachtens<br />

zeigt die fehlende Akzeptanz dieses Liedes<br />

von Seiten der Volkskultur eine <strong>politische</strong><br />

Reife, die das <strong>politische</strong> Handeln unterbürgerlicher<br />

Schichten während der 1848er Revolution<br />

vorwegnimmt.<br />

Hier wird also die Konvergenz von Ansichten<br />

<strong>und</strong> Stimmungen von <strong>Literaten</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>populäre</strong>r Kultur betont. Beide nahmen den<br />

Zorn <strong>und</strong> das Pathos der Zeit auf <strong>und</strong> packten<br />

den oppositionellen Geist in neue Lied<strong>und</strong><br />

Textformen. Die <strong>Literaten</strong> versuchten, die<br />

authentische Stimme der Strasse nachzuahmen.<br />

Umgekehrt hat der einfache Mann diejenigen<br />

Kunstlieder sehr gern gesungen, die<br />

27


seinem Empnden nach den richtigen Klang<br />

<strong>und</strong> den korrekten Sinn wiedergaben. Literarisches<br />

Engagement war mit dem <strong>politische</strong>n<br />

Verhalten einfacher Menschen durchaus verzahnt.<br />

Aber <strong>Literaten</strong> waren nicht immer<br />

Wortführer der Stimmung des Volkes. Oppositionelle<br />

Empörung im <strong>Volksm<strong>und</strong></strong> kam auch<br />

aus anderen Quellen. Der Aufstand der schlesischen<br />

Weber im Jahre 1844 ist ein gutes Beispiel<br />

dafür. Heinrich Heine, Georg Herwegh,<br />

Ferdinand Freiligrath, Hermann Püttmann,<br />

Carl Grün, Louise Otto, Ernst Dronke, Ludwig<br />

Pfau, Georg Weerth <strong>und</strong> andere <strong>Literaten</strong><br />

haben beeindruckende Weberlieder gedichtet.<br />

Aber das anonyme Lied „Das Blutgericht“, mit<br />

sieben Variationen <strong>und</strong> Dutzenden von beißenden<br />

Strophen, liefert einen überzeugenden<br />

Beleg dafür, dass dieses Weberlied im <strong>Volksm<strong>und</strong></strong><br />

ankam. 25 In diesem Fall waren <strong>Literaten</strong><br />

im wahrsten Sinne des Wortes eher „hinkende<br />

Boten“ als Meinungsführer.<br />

Darüber hinaus gab es auch Themen, bei<br />

denen die <strong>populäre</strong> Kultur <strong>und</strong> die <strong>Literaten</strong><br />

divergierten. Religion ist ein gutes Beispiel.<br />

Georg Herwegh hat zum Beispiel die Abhängigkeit<br />

des Volkes von der Religion mehrmals<br />

negativ thematisiert, etwa in seinem „Aufruf“<br />

oder in „Das Lied vom Hasse“, aber diese Lieder<br />

fanden keinen <strong>populäre</strong>n Widerhall. Ähnlich<br />

erging es dem Lied „Die Freifrau von Droste-<br />

Vischering“, eine Parodie von Rudolf Löwenstein,<br />

dem späteren Redakteur des „Kladderadatsch“,<br />

über die von der katholischen Kirche<br />

veranstaltete Massenpilgerfahrt nach Trier im<br />

Jahre 1844. Bürgerliche protestantische Liberale<br />

haben dieses antikatholische Lied feierlich<br />

gesungen and nachgedruckt, aber seine <strong>populäre</strong><br />

Rezeption ist fragwürdig. Lieder im Namen<br />

der Religionsfreiheit entstanden im Vormärz,<br />

aber sie stammten nicht aus literarischer<br />

Feder. Das Thema Religion unterstreicht den<br />

wichtigen Punkt, dass Literatur <strong>und</strong> <strong>populäre</strong><br />

Kultur je nach Situation durchaus verschiedene<br />

Ziele haben konnten.<br />

Nach meinem Dafürhalten sollte die Rolle<br />

der engagierten <strong>Literaten</strong> betont werden. Sie<br />

waren sozusagen die Triebfeder für die Entdeckung,<br />

die Aufnahme <strong>und</strong> die Handhabung<br />

der <strong>politische</strong>n Ideale der bürgerlichen Gesellschaft<br />

seitens der Volkskultur. Durch <strong>Literaten</strong><br />

fanden im Vormärz tiefgreifende Veränderungen<br />

in den traditionellen Lese- <strong>und</strong><br />

Singstoffen des Volkes statt. Hunger, Zorn <strong>und</strong><br />

Verzweiung waren ausschlaggebende Voraussetzungen<br />

<strong>populäre</strong>r Politik, aber solche<br />

<strong>Im</strong>pulse erforderten kulturelle Formen, um instrumentalisiert<br />

zu werden. Um politisch zu<br />

handeln <strong>und</strong> um vorwärtsblickende <strong>und</strong> prospektive<br />

Ziele zu artikulieren, suchte das einfache<br />

Volk, der in der damaligen Zeit sogenannte<br />

„gemeine Mann“, neue Darstellungsformen<br />

<strong>und</strong> rhetorische Topoi. Die Lernprozesse, mit<br />

denen einfache Menschen ihre eigene kritische<br />

Urteilskraft auszubilden begannen, elen<br />

nicht vom blauen Himmel.<br />

Die dem <strong>Volksm<strong>und</strong></strong> eigenen rhetorischen<br />

Eigenschaften Ironie, Parodie <strong>und</strong> kritische<br />

Sachlichkeit gehörten zu den wichtigsten kulturellen<br />

Prozessen der Neuzeit. Diese ursprünglichen<br />

Fähigkeiten verbanden sich mit<br />

den reektierten <strong>politische</strong>n Perspektiven, die<br />

engagierte <strong>Literaten</strong> eröffneten. So stießen sie<br />

neue <strong>politische</strong> Fenster auf. Beide agierten interferent<br />

<strong>und</strong> interdependent in sozialen Räumen<br />

der <strong>populäre</strong>n Kultur. Mit Fug <strong>und</strong> Recht<br />

kann man sagen, dass mit der Popularisierung<br />

der <strong>politische</strong>n Öffentlichkeit im Vormärz eine<br />

neue <strong>politische</strong> Periode anbrach. Trotz Zensur<br />

<strong>und</strong> trotz der vielen Maßnahmen gegen Meinungs-<br />

<strong>und</strong> Versammlungsfreiheit – „trotz alledem“<br />

wie man damals gesungen hat – ist<br />

eine <strong>politische</strong> Kultur in Deutschland entstanden,<br />

die die soziale Basis einer künftigen Massendemokratie<br />

gelegt hat.<br />

Kurze Bibliographie<br />

Für eine umfassende Darstellung des Verhältnisses<br />

zwischen Öffentlichkeit <strong>und</strong> <strong>populäre</strong>r<br />

Kultur im Vormärz vgl. meine Studie „Popular<br />

Culture and the Public Sphere in the Rhineland,<br />

1800–1850“. Das Werk wird in deutscher Übersetzung<br />

unter dem Titel „Trotz alledem <strong>und</strong> alledem.<br />

Politik <strong>und</strong> Volkskultur im Rheinland<br />

28


(1800–1850)“ im Böhlau Verlag, Köln, im Jahr<br />

2010 erscheinen. Zur neueren Forschung über<br />

Volkskalender siehe Susanne Greilich <strong>und</strong><br />

York-Gotthart Mix (Hrsg.): „Populärer Kalender<br />

im vorindustriellen Europa: Der ‚hinkende<br />

Bote’/‚Messager Boiteux’“ (Berlin, 2006). Für<br />

politisierte Volkslieder im Vormärz <strong>und</strong> in der<br />

Revolution von 1848/49 siehe Barbara James<br />

<strong>und</strong> Walter Mossmann: „Glasbruch. Flugblattlieder<br />

<strong>und</strong> Dokumente einer zerbrochenen Revolution“<br />

(Darmstadt, 1983), sowie Wolfgang<br />

Steinitz: „Deutsche Volkslieder demokratischen<br />

Charakters aus sechs Jahrh<strong>und</strong>erten“,<br />

2 Bde., (Frankfurt, 1979).<br />

Anmerkungen:<br />

1 Dieser Vortrag wurde am 15. Januar 2009 im<br />

Engels-Haus des Historischen Zentrums zu<br />

<strong>Wuppertal</strong> gehalten. Da der Text als Vortrag<br />

geschrieben wurde, ist er nur leicht annotiert.<br />

Der Autor dankt Dr. Eberhard Illner <strong>und</strong> Prof.<br />

Dr. Volkmar Wittmütz für ihre redaktionelle<br />

Hilfe.<br />

2 Riehl (1910), S. 38.<br />

3 Zitiert nach Heidegger (1957), S. 18.<br />

4 Voit (1994), S. 46.<br />

5 Mix (2001), S. 27.<br />

6 Gemeinnützig-unterhaltender Volkskalender<br />

für das Königl. Preuss. Rheinland-Westfalen<br />

auf das Jahr 1826, Münster u. Hamm: G. A.<br />

W<strong>und</strong>ermann, S. 262.<br />

7 „Polens Untergang <strong>und</strong> Wiedergeburt“, in: Der<br />

Bote vom Haardtgebirge. Ein Kalender fürs<br />

Jahr 1832, Neustadt an der Haardt: Ph. Christmann,<br />

unpaginiert.<br />

8 „Das Volkfest zu Hambach (Mit einer Abbildung)“,<br />

Der Bote vom Haardtgebirge. Ein Kalender<br />

fuers Jahr 1833, Neustadt an der Haardt:<br />

Ph. Christmann.<br />

9 „Wie’s mit den Armen in der Welt aussieht“,<br />

Der Wanderer am Rhein. Ein Volkskalender<br />

auf das Jahr 1847, Mannheim: Heinrich Hoff,<br />

S. 20–22.<br />

10 Karl Gutzkow: „Weg in Deutschland ins Ministerium<br />

zu kommen“, Buch für Winterabende.<br />

Volksbuche u. Volkskalender auf 1844, Karlsruhe:<br />

M. Honek, S. 107.<br />

11 Karl Andree: „Einige Worte über die deutschen<br />

Auswanderungen“, Buch für Winterabende.<br />

Volksbuch u. Volkskalender auf 1844, S. 186.<br />

12 Fr. Hecker: „Das <strong>politische</strong> Lied“, Vorwort zu<br />

Karl Heinrich Schnauffer: „Neue Bilder für das<br />

Teutsche Volk“, Rheinfelden, 1848.<br />

13 „Die Drei Sterne. Festgesang bei dem deutschen<br />

Maifest auf dem Hambacher Schloss am<br />

27. Mai 1832“, Neustadt, 1832, S. 2.<br />

14 Ludwig Uhland: „Nachruf“, in: Arnold Ruge,<br />

ed., Die <strong>politische</strong>n Lyriker unserer Zeit, Leipzig,<br />

1847, S. 9.<br />

15 Steinitz (1979), S. 30.<br />

16 Meier (1917), S. 192.<br />

17 Steinitz (1979), S. 163f.<br />

18 Steinitz (1979), S. 23f.<br />

19 Steinitz (1979), S. 80.<br />

20 Ditfurth (1872), S. 79–80.<br />

21 Adler (1977), S. 69.<br />

22 Faber (1966), S. 392 Anm. 201.<br />

23 Deetjen (1920), S. 40.<br />

24 Heine (1979), Caput V, S. 19.<br />

25 Steinitz: (1979), S. 230–43.<br />

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