Volltext Prokla 44
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l'tWl!':klut1lg einer diversifiziertefi und verflocbtenen binnenmarktorientierten Landwittin<br />
der kleine Warenproduzenten mit - im nationalen Vergleich - hoher Produktiviaile<br />
regional benotigten Agrarprodukte auf den fur den Kaffeeanbau nicht mehr<br />
llilllnellden Boden produzierten. Dadurch wurde die Versorgung der neuen Lohnarbeiter<br />
.·~Qln,tljlgente und der stadtischen Mittelklassen mit relativ billigen Nahrungsmitteln (Boh<br />
Mais, Kartoffeln, Fleisch) sichergestellt, wahrend die Lebensmittelimporte Sao<br />
nur Produkte des gehobenen Oberschichtenkonsums (Kase, Butter, Weine, Oliven~<br />
Frankreich) umfaBten. Zwischen 1901! 1906 und 1925/30 wuchs nicht nur die Nahrung:smittc:lp,rocluk:ticln<br />
Sao Paulos im Durchschnitt mehr als dreimal so. schnell wie die<br />
sondern ebenso' schnell expandierte auch die regionale Produktion<br />
iag:(ariscliler Rohstoffe fur die Industrie (Baumwolle, Jute, Zucker, pflanzliche Ole etc.), was<br />
rapiden Verdrangung der Importe aus anderen brasilianischen Regionen fUhrte. 84<br />
der Grundlage dieser dynamischen breitgefacherten Agrarentwicklung entstanden in<br />
gleichen Zeitraum stadtische Konsumgiiter-, aber auch Produktionsgiiterindustrien,<br />
wegen des Fehlens eines einheimischen Handwerks von vornherein mit modernster<br />
. (Elektromotor) als relativ 'groBe Fabriken (Textil, Papier, Zement, Eisen,<br />
.S,·bii'th'l11 Bra,uerei) oder relativ moderne Kleinbetriebe (Mobel, Nahrungsmittel, Schuhe)<br />
;,',Ientsta,llldc:n und bereits 1913 zur weitgehenden Selbstversorgung der Region mit den wich<br />
Konsumgiitern fUhrten. 85 Die Kaffeebourgeoisie behinderte diese Entwicklung kei<br />
'n;esWegs, sie war vielmehr fiber die Errichtung erster regionaler Banken und vor allem in<br />
den Phasen niedriger Kaffeepreise z.T. direkt an der Finanzierung dieser ersten regionalen<br />
Industrialisierungsphase beteiligt. Wichtig fur das Verstandnis dieser dynamischen kapita<br />
'Iistischen Entwicklung in der Hauptexportregion Brasiliens ist natiirlich die simple Tatsa-<br />
I daB die Sao Paulo-Region weitgehend eine Einwanderungsregion war: fast aIle Vnternehmer,<br />
Handwerker, Handler und 90 % det Industriearbeiter waren Einwanderer (zu<br />
80 % Italiener), die Sao Paulo mit ihrem importierten know how schnell zu einem'Klein<br />
Norditalien machten. Ebenso wie in Italien die norditalienische kapitalistische Entwick-<br />
Zeit durch die agtarische Rfickstandigkeit des Sfidens verzogert wurde, blieb<br />
die Dynamik det agrar- und industriekapitalistischen Entwicklung Sao Paulos auf eine<br />
L"IS,vU,,"J'" Entwicklung beschrankt. Die fehlende infrastrukturelle Verbindung zwischen<br />
den regionalen Okonomien, die erst nach 1950 beseitigt wurde, war sicherlich ein Grund<br />
fur diese Entwicklung. Entscheidender abet war die Konservierung vorkapitalistischer oder<br />
zumindest archaischer Produktionsverhaltnisse durch die traditionellen Grundeigentiimer-<br />
\ 'klassen des Nordostens, des Zentrums und des Sfidens (Latifundium/Minifundium-Komdie<br />
auf die Verdrangung ihrer regionalen Exportprodukte yom dynamisch wachsen<br />
Sao Paulo-Markt nicht oder nur partiell durch kapitalistische Modernisierung reagier<br />
, ten.Wenn die Kaffeebourgeoisie Sao Paulos vor 1930 wirklich - wie Senghaas und einige<br />
brasilianische Autoren meinen - fiber die absolute Hegemonie im Staatsapparat und in der<br />
braSilianischen Gesellschaft verfUgt hatte, ware die Dynamik der Kapitalakkumulation si-<br />
, cherlich nicht regional beschr~nkt geblieben. Angesichts der Festigkeit der regionalen Sozialstrukturen,<br />
der fehlenden interregionalen Infrastruktur und der bedeutenden politischen<br />
und militarischen Macht der traditionellen Agraroligarchien (die hohen Militars kaaus<br />
dem Sfiden und aus Minas Gerais), muBte sith die Kaffeebourgeoisie Sao Paulos<br />
auf das konfliktive Bfindnis mit diesen Klassen auf bundesstaatlicher Ebene einlassen, urn<br />
ihren wirtschaftspolitischen Interessen auch in der nationalen AuBenwirtschaftspolitik Geltung<br />
zu verschaffen. Das fur die gesamtbrasilianische Entwicklung verheerende Res]Jltat<br />
Thomas Hurtienne