Volltext Prokla 44
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so in eine die Erkenntnis hemmende strukturalistische globale ErkHirungsschablone; die<br />
gezwungenerma£en die hochst unterschiedlichen Entwicklungsprozesse in der 3. Welt auf<br />
allgemeinste gemeinsame Merkmale reduziert. Denn nut auf der oberflachlichsten Ebene<br />
kann man von der Peripherie und dem peripheren Kapitalismus sprechen. Daftir ist die<br />
enorme Differenzierung der historischen Ausgangsbedingungen (weltmarktabhangige<br />
Produktion seit dem 16. Jh. in Lateinamerika und Kolonialisierung Afrikas und Asiens mit<br />
unterschiedlichen vorkapitalistischen Produktionsweisen und hochst unterschiedlichen Penetrationsgraden<br />
kapitalistischer Produktionsweise im 19. Jh.), der sozialokonomischen<br />
Entwicklungsprozesse (Urbanisierung, Form und AusmaB det Agrarentwicklung, Zeitpunkt<br />
und Form def nationalen Unabhangigkeit, Veranderung der Klassenstruktur) und<br />
Entwicklungswege (binnenmarktorientierte yersus exportorientierte Entwicklung) SOWle<br />
des heutigen Entwicklungsniveaus (Brasilien versus Mauretanien) zu groB.<br />
Ohne Anspruch auf Allgemeingu.ltigkeit rur die verschiedenen Landergruppen def 3.<br />
Welt, will ich im folgenden nur kurz auf die geringe Erklarungskraft der expliziten und<br />
impliziten Annahmen der Theorie des peripheren Kapitalismus rur die binnenmarktorientierten<br />
Flachenstaaten def 3. Welt, die man heute auch als halbindustrialisierte Lander bezeichnen<br />
konnte, eingehen. 80 Ich werde mich dabei auf Brasilien als paradigmatischem<br />
Land rur diese Liindergruppe beziehen, nicht nur, weil ich seitJahren uber dieses Land arbeite,<br />
sondern auch deshalb, weil Senghaas gerade am Beispiel dieses Extremfalles »relativ<br />
differenzierter Produktivkraftentfaltung an de! Spitze de! 3. Welt« die Dauerhaftigkeit typischer<br />
Merkmale von Peripherie-Okonomien und die strukturelle Unmoglichkeit autozentrierter<br />
kapitalistischer Entwicklung meint schlussig nachweisen zu konnen. 81<br />
Unstrittig ist dabei zunachst, daB die brasilianische Gesellschaft und Wirtschaft ills Produkt<br />
eines 1m 16. Jahrhundert einsetzenden Penetrationsprozesses dutch sich ablosende<br />
Metropolen (Portugal, Holland, England) von Anfang an dutch einen extrem hohen Grad<br />
def Integration in die von den Metropolen beherrschte internationale Arbeitsteilung gekennzeichnet<br />
war. Die brasilianische Gesellschaft entstand als abhangige Kolonialgesellschaft,<br />
deren regionale EXpoftokonomien sich im Verlauf von klassischen Exportzyklen<br />
(erst Zucker, dann Gold und nach def Unabhangigkeit im 19. Jahrhundert Kaffee, Kakao<br />
und Gummi) als relativ eigenstandige Regionen mit jeweils spezifischen Sozial- und Klassenstrukturen<br />
in einem langen historischen ProzeB herausbildeten. 82<br />
Die brasilianische Gesellschaft steHte daher zunachst nicht mehr als eine Konfoderation regionaler<br />
Gesellschaften dar, deren Zusammenhang durch die konfliktive Allianz def regionalen<br />
Agraroligarchien auf def Ebene des politisch schwachen Bundesstaates eher politisch<br />
als okonomisch vermitte1t war.<br />
Wahrend die AgraroHgarchien des Nordostens, des Sudens und des Zentrums den noch<br />
weitgehend vorkapitalistischen Charakter der Produktionsverhaltnisse auch nach der Abschaffung<br />
def Skaverei 1886 konservieren konnten, kam es seit 1880 in der Sao Paulo-Region<br />
zu de! raschen Durchsetzung eines auf freier Lohnarbeit italienischer Einwanderer beruhenden<br />
Agrarkapitalismus, der diese Region bald zum groBten Kaffeeproduzenten der<br />
Welt werden lieB. Trotzdem entwickelte sich keine reine Monokultur-Exportwirtschaft,<br />
sondern ganz im Gegenteil - ahnlich wie in anderen weillen Siedlungskolonien - eine autozentrierte<br />
regionale Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur. 83<br />
Die hohe Wachstumsdynamik def Kaffeewirtschaft induzierte nicht nut den forcierten<br />
Aufbau dner relativ differenzierten regionalen Infrastruktur (Eisenbahn, StraBen, »elektrische<br />
Energie«) durch die einheimische Kaffeebourgeoisie, sondern ebenso die dynamische<br />
Zur Kritik von Dieter Senghaas 125