Volltext Prokla 44

Beschaftigten tiber 70 % ausmachte, herrschten in den traditionellen Sektoren noch
Handwerk, Heimarbeit, Manufaktur und landliche Kleinbetriebe vor. Der Anteil de! ttaditionellen
Mittelklassen war daher mit 34 % aIler Beschaftigten 1907 wesentlich hoher als
in England.68 .
Die »duale Akkumulationsstruktur« (Kemp, Spohn) im Deutschen Reich ist narurlich vo!
dem Hintergrund def besonderen Bedingungen nachholender Entwicklung zu sehen. Die
Auflosung feudaler Produktionsverhaltnisse erfolgte zumindest 1m Osten Deutschlands
erst Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem »Modernisierungsdruck« de! englischen Handels-
und de! franzosischen Militarkonkurrenz durch kapitalistische Anpassung: Die rechtlichen
und institutionellen Beschrankungen def kapitalistischen Produktionsweise wurden
beseitigt (btirgerliches Recht, Konstitution des nationalen Wirtschaftsraumes dutch Zollverein
und Reichsgrundung), das Btirgertum aber nach seiner Niederlage 1848 und im Verfassungsstreit
in eine konfliktive Klassenallianz unter def politischen Vorherrschaft des
alten Grundadels, der die oberen Range def staatlichen Btirokratie und des Militars monopolisierte,
gezwungen.69
Der Durchbruch zur kapitalistischen Industrialisierung erfolgte wegen def Freihandelspolitik
def preufiischen Agrarier nicht in def Textilproduktion, sondern erst tiber den Eisenbahnbau
in Verbindung mit der srurmischen Entwicklung def Montanindustrie ab 1850.1°
Innerhalb der folgenden 50 Jahre tiberfltigelte die deutsche Schwer-, Elektro- und Chemieindustrie
den englischen Rivalen in Produktionsbedingungen, Produktivitat und in def
Weltmarktkonkurrenz. Wahrend England auf sein groBes Empire ausweichen konnte, etoberte
Deutschland die kontinental-europaischen Markte. Hintergrund dieses erstaunlichen
Erfolges war die schnelle Anwendung inoderner Produktionsverfahren in GroBbetrieben,
der hohere Grad an Konzentration und Zentralisation des Kapitals und die Investionsfinanzierung
dutch die GroBbanken (»Finanzkapital«).
1m Vergleich zu England wurde wahrscheinlich ein weitaus hoherer Tei! des von den
Grund- und Kapitaleigenrumern angeeigneten Mehrprodukts vor aHem in der Schwerindustrie
und in def Infrastruktur investie'rt: Die deutsche Investitionsrate war 1913 fast dreimal
so hoch wie die englische. Dadurch bedingt stiegen industrielle Beschaftigung und Reallohne
in den industriellen Agglomerationszentren vor aHem ab 1895 schneller als in England,
so daB der Lebensstandard def Lohnarbeiter (1907 ca. 50 % def Bevolkerung) und def
Staatsbediensteten (ca. 8 %) tiber den dtirftigen »Kartoffelstandard« (Abel) def 50erJahre
stieg und den Massenabsatz von industriell gefertigten Schuhen und in Heimarbeit und
Werksfatten gefertigten Konfektionen stimulierte. 71 Andererseits wuchs die dem unmittelbaren
Bedarf dienende Konsumgtiterproduktion wesentlich langsamer als die moderne
Schwerindustrie mit ihrem hohen Grad an Kartellbildung und Zentralisation des Kapitals.
Die seit 1~00 zunehmenden Absatzprobleme def Stahlindustrie wurden im Rahmen der
zunehmend aggressiveren Weltmachtpolitik Wilhelms n. durch den rasanten staatlichen
Flottenbau, den Rtistungswettlauf mit England und die Waren- und Kapitaloffensive in
den si.i.dost- und osteuropaischen Raum »gelost«.72
staatliche Untersrutzung der Schwerindustrie erfolgte im Rahmen de! konservativen
!-'v'm....''"H....'' Herrschaftsformen des wilhelminischen Reiches urn den Preis einer Subventionierung
de! Landwirtschaft (Agrarzolle), in de! 1880 noch 50 % der Beschafcigten tatig
waren. Der Strukturwandel der Landwirtschaft mit ihrem hohen Anteil an Klein- und Mittelbauern
mit geringen und ciner kleinen Junkerschicht mit gro£en Bodenflachen wurde
wesentlich verlangsamt: Bis 1900 herrschte noch die extensive
def landwirt-
122 Thomas Hurtienne