Volltext Prokla 44
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die hausliche Gebrauchswertproduktion, Technisierung des Haushalts).60 Die relative Verstetigung<br />
der Massennachfrage dutch keynesianische Vollbeschaftigungspolitik, die Auflosung<br />
vorindustrieller Produktions- und Konsumtionsformen, die kapitalistische Modernisierung<br />
der Landwirtschaft und des Dienstleistungssektors fuhrten zu jener dynamischen<br />
Verkettung von hochproduktiver Landwirtschaft, Massenkonsum- und Produktionsgiiterindustrien,<br />
die das Senghaassche »metropolitane Entwicklungsprofil« mit seinen hohen<br />
okonomischen und sozialen Grundleistungen fur die Mehrheit def Bevolkerung uberhaupt<br />
erst moglich machte.<br />
Als Resultat def bisherigen Darstellung kann m.E. festgehalten werden, daB bereits die<br />
englische Industrialisierung trotz ihres bereits fruhzeitig erreichten hohen Grades def<br />
Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhaltnisse und def relativen Modernitat def<br />
Sozialstruktur (Kleinbauern und Handwerker besaBen kein gesellschaftliches und politisches<br />
Gewicht mehr) zumindest bis zum 1. We1tkrieg (also ca. 130 Jahre nach Beginn der<br />
industriellen Revolution) dutch einige zentrale Merkmale bzw. Resultat »struktureller Heterogenitat«<br />
gekennzeichnet war: extreme Ungleichheit def Einkommensverteilung, hoher<br />
Anteil des Luxuskonsums, geringe Bedeutung der industriellen Massenkonsumgiiterproduktion,<br />
hohe absolute Armut und soziale Marginalisierung (traditionelle »Arbeiterkultur«!).<br />
Inwieweit unterscheidet sich nun die nachholende kapitalistische Entwicklung in PreufienlDeutschlandvon<br />
diesem »klassischen« Entwicklungsprofil?61 1m Hinblick auf die oben<br />
genannten Merkmale struktureller Heterogenitat ergeben sich z.T erhebliche Abweichungen,<br />
die allerdings weitgehend mit dem insgesamt hoheren Entwicklungsniveau, abet der<br />
geringeren Wachstumsdynamik Englands zusammenhangen: Die Ungleichheit def Binkommensverteilung<br />
war nach den vorliegenden von Kuznets zusammengestellten groben<br />
Schatzungen von Procopovitch und Mueller fur Preufien und Sachsen deutlich niedtiger,<br />
wenn man den Anteil def oberen 5 % als Indikator vetwendet, oder fast gleich hoch (Anteil<br />
der unteren 60 % als Indikator) wie in England: Sachsen 1896: Anteil der oberen 5 %<br />
am Volkseinkommen 36 %, der oberen 20 % 57 %, def unteren 60 % 26,5 %; Preufien<br />
1896: obere 5 % 27 %, obere 20 % 45 %.62 Der Anteil def Vermogenseinkommen am<br />
Volkseinkommen war allerdings im Deutschen Reich 1895 fast gleich hoch wie in England<br />
(47 %), was sich aus dem hoheren Anteil def Selbstandigen in Deutschland erklart. 63 Die<br />
durchschnitdichen jahrlichen Wachstumsraten der Reallohne 1860/1913 lagen in Deutschland<br />
und Frankreich mit 1,8 % deutlich tiber den Raten Englands (1 %).64 Das durch.<br />
schnittliche Lohnniveau in Deutschland betrug im Vergleich zum englischen 1860 50 %<br />
und stieg dann 1905 auf 65 %, 1913 auf 80 % .65 Die Bruttoinvestitionsrate stieg von<br />
18,9 % 1871/90 auf 23 % und lag damit fast dreimal so hoch wie in England (8,4 %<br />
1900/14).66<br />
Hinter dieser insgesamt dynamischeren Entwicklung im Deutschen Reich verbarg sich aIlerdings<br />
eine ungleichgewichtige Wachstumsstruktur und ein scharfes Produktivitats-, Konzentrations-<br />
und Lohngefalle zwischen den weltmarktorientierten, auf hochstem Niveau<br />
akkumulierenden Sektoren (Montanindustrie, Chemie und Elektrotechnik) und den traditionellen<br />
Produktionszweigen (Landwirtschaft, Textil, Bekleidung), in denen vorkapitalistische<br />
und vorindustrielle Produktionsweisen noch bis zum Ende des 19.<br />
votherrschten.<br />
Die Wachstumsrate def Produktion und der Produktivitat SOWle das Lohnniveau<br />
waren in den modernen Sektoren mehr als doppelt so hoch wie in den traditionellen<br />
Sektoren. 67 Wahrend im modernen Sektor der Anteil def in modernen Industriebetrieben<br />
Zur Kritz'k von Dieter Senghaas 121