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Volltext Prokla 44

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ProIda<br />

Zeitschrift fUr poI"lIische Okonomie<br />

unci sozialstische Porlh"il<br />

Neoliberale<br />

KontelTevolution<br />

<strong>44</strong><br />

DIe_ ...........<br />

HIII'IIIIIfwdenI auf clem WeItnatct?<br />

*<br />

Einzelheft<br />

DM9.-<br />

1m Abo<br />

Mit IIti!rii9tn yon: DM 8.­<br />

E. Altvater, U. MiiIIer-:II.e .. berg,<br />

Ch. Mouffe, Th. ferguson! J. R!P.', Rotbuch<br />

A. SchubeIt, Th. H ___ , M. BUhler Verlag


<strong>Prokla</strong> Heft <strong>44</strong> (11. Jahrgang 1981 Nr. 3)<br />

Probleme des Klassenkampfs<br />

Zeitschrift fur politische Okonomie und sozialistische Politik<br />

Editorial ............................................................. 1<br />

Elmar Altvater, Der gar nicht'diskrete Charme der neoliberalen Konterrevolution . . 5<br />

Urs Muller-Plantenberg, Die mogliche historisch-politische Bedeutung der dritten<br />

groBen Depression ...........•....... :.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

Chantal Mouffe, Die I?emokratie unddie neue Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

Thomas Ferguson I Joel Rogers, Der Sieg Reagans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

Alexander Schubert, Die militaristischen Androhungen des Neokonservatismus<br />

von Reagan ............................... : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

Thomas Hurtienne, Peripherer Kapitalismus und autozentrierte Entwicklung . . . . . 105<br />

Marcel Buhler, Weltmarkt, internationale Arbeitsteilung und nationale<br />

Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139<br />

Redaktion: Elmar Altvater, Monika Fuhrke, Kurt Hubner, Eckart Hildebrandt, Jurgen Hoffmann<br />

(geschilftsfuhrend), Ulrich Jurgens, Willfried Spohn, Frieder O. Wolf.<br />

Die <strong>Prokla</strong> erscheint regelmaBig mit vier Nummern imJahr, Gesamtumfang 640 Seitenjahrlich.Jedes<br />

Heft kostet im Jahresabonnement 8.-, im Einzelverkauf 9.-. Abonnement fiber eine Buchhand.<br />

lung oder fiber den Verlag. Wenn Sie fiber den Verlag abonnieren, erhalten Sie von einer Versand·<br />

buchhandlung, die mit dem Verlag kooperiert, eine Vorausrechnung fUr die nachsten Hefte (32.­<br />

DM plus Porto). Nach Bezahlung erhalten Sie die Hefte jeweils sofort nach Erscheinen zugeschickt.<br />

Verlagsadresse: Rotbuch Verlag GmbH, Potsdamer Str. 98, 1000 Berlin 30, Telefon 030/2611196<br />

(den Verlag und Vertrieb fUr alle friiheren Hefte, <strong>Prokla</strong> 1 . 21, hat der<br />

Verlag Olle & Wolter, Postfach 4310, 1000 Berlin 30 fibernommen.)<br />

Redaktionsadresse: Postfach 100529, 1000 Berlin 10, Telefon 030 / 3134913<br />

(Montag 16.30 . 18.30 Uhr) oder 030 / 8838999<br />

Die Redaktion ladt zur Einsendung von Manuskripten ein: Sie leitet sie zur Behandlung in eins der<br />

zustandigen Redaktionskollektive der <strong>Prokla</strong> weiter. Bitte Rfickporto beilegen. Eine Haftung kann<br />

nicht fibernommen werden.<br />

<strong>Prokla</strong><br />

wird herausgegeben von der »Vereinigung zur Kritik der politischen Okonomie e.V.«,<br />

die jahrlich in ihrer Vollversamlung die Redaktion der Zeitschrift wahlt<br />

presserechtlich verantwortlich fUr diese Nummer: B. Blanke,]. Hoffmann<br />

© 1981 Rotbuch Verlag Berlin<br />

Alle Rechte, auch das der Ubersetzung vorbehalten<br />

Satz: Dtuckladen Bochum, Bochum - Dtuck: DRUCKHAUS Neue PRESSE, Coburg<br />

ISBN: 3 88022 5<strong>44</strong> 3<br />

Titelbild unter Verwendung von 'portable War·Memorial' von Edward Kienholz. Die Textabbildun·<br />

gen stammen grolltenteils von Ilse Niketta unter Mitarbeit von Urs Mfiller.Plantenberg.


Editorial: Neoliberale Konte"evolution - Die neue amerikanische<br />

Herausforderung auf dem Weltmarkt?<br />

Wahrend der Abfassung dieser Zeilen wird in den Nachrichten bekanntgegeben, dail dec<br />

»Sachverstandigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« soeben<br />

ein Sondergutachten herausgegeben hat, in dessen Zentrum Vorschlage zum Abbau dec.<br />

Staatsverschuldung stehen. Die von der Bundesregierung fUr 1981 vorgesehene Neuver".<br />

schuldung in Hohe von 69 Mrd. DM solI nach den Vorstellungen der Sachverstandigen urn<br />

35 bis 40 Mrd. DM reduziert werden. Mit dem Argument, dafi die ftskalpolitischen Ma6:<br />

nahmen des Staates die Gefahr steigender Budgetdefizite fUr die nachstenJahre nath sich<br />

zogen und schon heute eine Vertrauenskrise mit unabsehbaren Folgen fUr die Wahrung·<br />

ausgelost hatten, wird yom SVR ein rigidesAustetity-Programm formuliert, das in seiden<br />

Ausmafien selbst noch die einschneidenden Regelungen des Haushaltsstrukturgesetzes des .<br />

Krisenjahres 1975 iibertrifft. Die vorgeschlagene Reduktion der Sozialausgaben (Kiirzungen<br />

der Sozialhilfe, der Ausbildungsforderung, des Wohngeldes, der Zuschiisse zur Arbeitslosenversicherung,<br />

des Arbeitslosengeldes usw.), die Aufhebung der bislang unbegrenzten<br />

Defizithaftung des Bundes gegeniiber der Bundesanstalt fUr Arbeit, die Um~<br />

schichtung der Steuereinnahmen hin zu einer Erhohung der Verbrauchssteuern und die<br />

Kiirzung der staatlichen Personalausgaben bedeuten politisch eine Kampfansage an diein<br />

erfolgreichen sozialen Kampfen erreichten Errungenschaften der sozialen Sicherung unci<br />

okonomisch eine Forcierung der »bereinigenden Wirkungen der Krise«. Durch die resttikti"<br />

ve und prozyklische Haushaltspolitik solI der zyklische Krisentrend verstarkt werden - und<br />

so vor allem die Gewerkschaften fUr ihre Verweigerung eines Lohnabschlusses in Hohe des.<br />

Produktivitatszuwachses durch die beschleunigte Freisetzung von Arbeitskraften bestraft<br />

werden. 1m Zentrum der Neustrukturierung der biirgerlichen Herrschaft steht also eine<br />

Veranderung des Verhaltnisses von Staat und Gewerkschaften, mit der Tendenz, die etablierten<br />

korporativen Strukturen seitens des Staates aufzulosen. Die Desorganisation des<br />

Systems der industriellen Beziehungen wird dabei nicht nur zu einer weiteren Belastung<br />

des Verhaltnisses von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung fUhren, sondern auch<br />

die Notwendigkeit einer Veranderung der gewerkschaftlichen Politik offenlegen.<br />

Die in der Senkung der Sozialleistungen angelegte Reduktion des Kollektivlohns, also des<br />

Lohnanteils, der die politisch regulierte und systemnotwendige Reproduktion der Arbeitsc<br />

kraft garantiert, bewirkt nicht nur eine ErhOhung cler Mehrwertrate, sondern hat dariioer"<br />

hinaus Bedeutung fUr den Gesamtreproduktionsproze6 des Kapitals. Da die ansteigenden<br />

Staatsdefizite infolge der vermehrten staatlichen Inanspruch~ahme der okonomischen Res.­<br />

sourcen destabilisierende Tendenzen verstiirken, ergibt sich systemimmanent der Zwang<br />

einer Riickverteilung der Ressourcen yom staatlichen in den privaten Bereich. InfQIge des<br />

auch die gesamten siebziger Jahre hindurch erfolgenden Anstiegs der Kapitalintensitat ist<br />

fUr die Einrichtung eines neuen Arbeitsplatzes eine erhOhte Kapitalsumme erforderlich,.<br />

die bei den geringen Zuwachsraten der Produktion nur durch eine Ausweitung der Investi,


tionsquote bereitzusteUen ist. Kreislauftheoretisch folgi daraus dne Vertingerungder prj.<br />

vaten und staatlichen Konsumquote. Das Restriktionsprogtamm des SVR zieh also nicht<br />

bloB auf eine Behebung der strukturellen Fiskalkrise des Staates, sondern datiiberhinaus<br />

undvorrangig auf eine Forderung des Akkumulationsprozesses durch die Schaffung neue!<br />

Profitanreize. Wahrend okonomisch die Wiederherstellung def Profitabilitat des Kapitals<br />

sichergestellt werden solI, kommt dem Abbau def Sozialleistungen die Funktion zu, einen<br />

veranderten politischen, sozialen und ideologischen Rahmen fur die erneute Verwertung<br />

von Kapital zu schaffen.<br />

DasProgramm des SVR, das im Verlauf des Sommers in nut wenig modifizierter Form von<br />

der Bundesregierung ubernommen zu werden draht, remt sich damit in die Restrukturie·<br />

rungsprozesse ein, wie sie seit de! Weltwirtschaftskrise in nahezu allen kapitalistischen Lan.<br />

dem als Vorbedingung fur dnen neuen und tragfahigen Aufschwung zu beobachten sind.<br />

Untersuchung dieser Prozesse bilden auch die thematischen<br />

dieser<br />

PROKLA·Ausgabe. In Anknupfung an Heft 42, in dem versucht wurde, die Krisenmo·<br />

mente zu bestimmen, die gegenwartig die als Resultat des Zweiten Weltkriegs entstande·<br />

okonomischen und politischen Strukturen def kapitalistischen »Weltordnung« unter·<br />

graben und zerstoren, sollen in den folgenden Beitragen die Restukturierungsprozesse und<br />

die damit verbundenen theoretischen und strategischen Ansatze dner Analyse unterzogen<br />

werden.<br />

Elmar Altvater untersucht in seinem Beitrag<br />

die Ursachen def Renaissance def neolibera·<br />

len,okonomischen Theorien in den siebziger<br />

Jahren und versucht im AnschluB die gemeinsamen<br />

Wurzeln des Neoliberalismus<br />

und des Konservatismus freizulegen. Die<br />

okonomisch-politische Dimension dieser<br />

Strategie wird als eine Individualisierung und<br />

EtJ.tpolitisierung gesellschaftlicher Probleme<br />

und als dne »Entstaatlichung« des »dutchstaatlichten<br />

Kapitalismus« (K. Renner) interptetiert.<br />

Urs Miitler-Plantenberg interpretiert die okonomische Entwicklung seit Mitte der siebziger<br />

Jahre als die Dritte GroBe Depression des Kapitalismus. 1m Vergleich mit den beiden VOfhergehenden<br />

GraBen Depressionen sieht er die mogliche historisch·politische Bedeutung<br />

der gegenwartigen kapitalistischen Entwicklungsphase in def Ruckkehr zu einem liberalen<br />

Kapitalismus des 19. ]hdts. Am Beispiel Chiles wird gezeigt, wekhe Bedeutung die staatliche<br />

Politik fur die RuckfUhrung def okonomischen und politischen Strukturen in ein solches<br />

Kapitalismusmodell hat.<br />

Alex Schubert analysiert in seinem Aufsatz die auBenpolitischen Strategien der USA und<br />

die moglichen militarischen Bedrohungen nach dem Amtsantritt von im Kontext<br />

der okonomischen Umstrukturierungen. Und Ferguson / Rogers untersuchen die internen<br />

politischen und personellen Verflechtungen zwischen Industrie, Gewerkschaften und po·<br />

litischen Institutionen, die zum Wahlsieg Reagans und def von ihm betriebenen Politik gefUhrt<br />

haben.<br />

Chantal Mouffe zeigt die Uisachen fur die Massenwirksamkeit def Neoliberalen, Neokon.<br />

servativen und Neuen Rechten in USA und Frankreich, die antistaatliche und<br />

2 Editorial


- burokratischeRessentimentsund populate Gegenbewegungen gegendie Zerstorung<br />

Familie, Abtreibung, Homosexualitat, »Gegenkultur« und »Kollektivismus« geschicktfUr<br />

sich zu nutzen wissen.<br />

Die Verschiebungen auf dem Weltmarkt und die Umorganisation def nationalen Reproduktionsprozesse<br />

sind das Thema von Marcel Buhler. Dber eine systematische Rezeption<br />

neuerer franzosischer Internationalisierungstheorien wird der bundesrepublikanischeh<br />

marxistischen Weltmarktdiskussion dne veranderte Analyseperspektive vorgeschlagen. Die<br />

Analyse der Bedingungen def Kapitalverwertung zur Erklarung def WeltmarktverschiesoIl<br />

in def Untersuchung def historischen Veranderungen def Reproduktion dominanter<br />

Gesellschaftsformationen aufgehoben werden.<br />

Thomas Hurtienne nimmt in seinem Beitrag die Schoeller-Muller-Plantenberg-Debatte<br />

tiber die Dberwindung von Abhangigkeit und Unterentwicklung (Heft 42) aus einer anderen<br />

wieder auf. Durch dne Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Dieter<br />

Senghaas versucht er der Dependenztheorie bzw. de! Theorie des<br />

Kapitalismus<br />

ihre analytisch-historische Erklarungskraft zu bestreiten und deren politisch-strategischen<br />

SchluiSfolgerungen in Frage zu stellen.<br />

Da aus technischen GrUnden der Name der Dbersetzer des Balibar-Textes aus Heft 43 ent"<br />

fallen ist, mochten wir dies hier nachholen: Wit danken Peter Schottler und F.O. Wolf fUr<br />

ihre Dbersetzungsarbeit.<br />

Heft 45 def PROKLA erscheint im Dezemher 1981 mit dem Tite! »Staat, kein Staat, alternativer<br />

Staat?« mit Beitragen von B. Blanke, H. Gerstenberger, J. Hoffmann, U. Jiirgens, P. SchUmann,<br />

Th. Blanke, R. Hicke! u.a.<br />

Heft 46 wird Beitrage ZUI Entwicklung def Gewerkschaften in def Bundesrepublik enthalten und<br />

erscheint im Marz 1982.


AB 14. BER<br />

NJEDEM KI SK:<br />

DIE VERSAfTUNG<br />

NUTTE1EUROPAS<br />

UTERATUR<br />

AUf DEM STRICH<br />

PHONIXE,<br />

fRISCH GEHAUTET<br />

GEHTDOCH<br />

NACH DRUSEN<br />

DIE PRIV ArE<br />

ANEIGNUNG<br />

DES DRAMAS<br />

DICHrUNG<br />

UNDNEUROSE<br />

APOKAl YPTISCHES<br />

TAGEBUCH<br />

BOB DYLANS<br />

HOPE-SHOW<br />

KUl rURfORDERUNG<br />

UND DEUTSCHE<br />

PROV'NZ'AUTAT


Elmar Altvater *<br />

Der gar nicht diskrete· Charme der neoliberalen Konte"evolution<br />

»Das Programm des Liberalismus hatte ... , in ein<br />

einziges Wort zusammengefafit, zu lauten: Eigen:<br />

tum, das hellit: Sondereigentum an den Produk~.<br />

tionsmitteln ... AUe anderen Forderungen des Li-· .<br />

beralismus ergeben sich aus dieser Grundforde'-'<br />

rung.« Ludwig von Mises 1927, S. 17<br />

Noch vor einemJahrzehnt glaubten viele, sie sei am SchluB ihrer Weisheit und Wirksam~ ..<br />

keit angelangt und zu Recht der Vergessenheit anheimgefallen: die Theorie des Neo-Libe-·<br />

ralismus. In allen Landern der westlichen Welt hatte die keynesianische Theorie des Staatsinterventionismus<br />

obsiegt; die Keynesianer besorgten das Geschlift der wissenschaftlich~h.<br />

Politikberatung und nicht mehr die Neoliberalen. tiberall dort, wo sie noch eine Rolle spiel:<br />

ten, kompromittierten sie sich mehr als sie mit ihren VerOffentlichungen wieder gutIlla'\<br />

chen konnten. Es schien so, als ob der Stern des neoliberalen Nobel-Preistragers Milton<br />

Friedman als Berater der Nixon-Regiemng mit deren skandalosem Abgang sinken wiirde.<br />

Die Anriichigkeit der Neoliberalen Friedrich von Hayek - ebenfalls Nobelpreistrager ":'<br />

Friedman und einer ganzen Schwadron von smarten Chicago boys wurde durch die Unter..:<br />

sriitzung der Pinochet-Diktatur noch verstarkt.<br />

Und dennoch: offensichtlich ist die liberale Theorie nicht totzukriegen. Gegenwartig et:<br />

lebt sie in verschiedenster Form (als Neoliberalismus, Neokonservatismus, Neoklassik, Mo~.<br />

netarismus) eine erneute Renaissance. Dies ist weder der Intelligenz noch der Attraktivttat,<br />

der Phantasie, dem Charme dieser »Konterrevolution« in der Theorie - so Friedman ilber·<br />

den Monetarismus hOchst selbstbewuBt - geschuldet. Das Interesse, das<br />

diese<br />

Theorie beanspmcht, ist eher aus den Defizienzen der bisher im Zentrum ~." ..."...."u<br />

rien und Politikk~nzepte zu verstehen. Die okonomische Krise der 70erJahre hat die Hoffnung~n<br />

des keynesianischen Krisenmanagements zerstort; die GewiBheit, daB der Sozial~\<br />

staat als materielle Gmndlage der sozialen Demokratie und in dieser Eigenschaft<br />

politische Festung der Sozialdemokratie unangefochten die Gefahrdungen der Krise<br />

hen konnte, is~ berechtigtem Zweifel gewichen; die individuellen und kollektiven Hoffnungen<br />

und Perspektiven derJahre der Prosperitat haben sich zerstreut und in diesem Zu~\<br />

sammenhang ist MiBtrauen gegenuber den Emanzipationsvorstellungen und -theorieudei ..<br />

60er Jahre entstanden. Der Neoliberalismus gewinnt also ohne eigenes Zutun Punkte*<br />

und verspielt sie nicht gleich wieder, da er jegliche Anspriiche von Individuen an die Gesellschaft<br />

zuriickweist und also auch keine, dann nicht einlosbare Versprechungen macht.<br />

Erfolg und Scheitern sind Probleme des Individuums und haben nichts mehr mit der G.e..:<br />

sellschaft oder dem Staat zu tun. Gesellschaftliche Probleme werden also indilIidualisiert<br />

und damit zugleich scheinbar depolitisiert.<br />

• Elmar Altvater ist Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universitat Berlin urid langjiihriger<br />

Mitarbeiter und Redakteur der PROKLA.<br />

Neoliberale Konteffellolution


DasWort vom Scheitern des Keynesianismus bedarf dner Erlauterung. Als wirtschaftspolitisches<br />

Konzept kann der Keynesianismus als ein staatlich vermittelter Klassenkompromifi<br />

interpretiert werden. Der Konsens def lohnabhangigen Massen mit dem kapitalistischen<br />

System nach dem zweiten Weltkrieg wurde nicht zuletzt dadurch immer wieder reproduziefr,<br />

daB der Staat die materiel1en Bedingungen zu garantieren schien (hoher Beschaftigungsstand<br />

und steigende Reallohne), die den Interessen der Massen entgegenkamen. Die<br />

Prosperitatsperiode war also keineswegs nur dne Phase Akkumulationsbedingungen<br />

des Kapitals, sondern gleichzeitig Grundlage des Klassenkonsenses und damit zusammenhangend<br />

der Legitimitat des Staates.<br />

Dieses historische Modell unterscheidet sich in mehreren Punkten von liberalenl neolibera-<br />

VAO":"U"!>CH tiber eine frde Marktwirtschaft: Erstens wild<br />

angenommen,<br />

daB ein System von auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden privaten<br />

Entscheidungen nicht aus seiner heraus einen Beschaftigungsstand<br />

erreichen kann daher der staatlichen Intervention heda!f. Diese<br />

Keynes'sche Grundannahme sowohl eine Kritik am Effizienzbegriff def libera-<br />

Theorie, die ja traditionell nur dem Markt die Fahigkeit 6konomische Rationalitat<br />

'und Effizienz realisieren zu k6nnen, als auch am Gerechtigkeitsbegriff. Denn es<br />

wird davon ausgegangen, daB eine Gesellschaft ungerecht ist, wenn Menschen, die arbeiten<br />

wollen, daw keine Gelegenheit mangels ArbeitspHitzen finden k6nnen. Die liberale<br />

,Theorie wiirde immer dagegen einwenden, daB Arbeitswilligkeit bei entsprechend reduzierterEntlohnung<br />

auch realisiert werden k6nne und - grundsatzlicher - jeder Mensch<br />

selbst verantwortlich fur sein Geschick sei undsich nicht auf staatliche Leistungen verlassen<br />

dtirfe. Zweitens enthalt def Keynesianismus eine Kritik an def liberalen Vorstellung von<br />

cler Qualitat des Menschen als eines Nutzen maximierenden und Leid minimierenden<br />

selbstverantwortlichen Individuums, insofern als er zum einen die Gemeinsamkeit der<br />

6Konomischen und sozialen Lage von Klassen in Rechnung stellt und zum zweiten den<br />

nach dem ersten Weltkrieg erfolgten »Eintritt def Massen in den Staat« vermittelt durch<br />

deren Organisationen (Ch.Maier 1975) als politisches Faktum berucksichtigt. Der Keynesianismus<br />

tragt also, anders als die neoliberale Theorie, dem Tatbestand Rechnung, daB<br />

m.it der Entwicklung des Kapitalismus soziale Veranderungen stattgefunden haben, die ei-<br />

Anpassung der theoretischen<br />

von Wirtschaftspolitik erforderlich machen.<br />

Grundsatzlich stellt der<br />

den Versuch einer Versohnung def<br />

der Arbeiterklasse« dar und sich damit auf dn<br />

da es ihm ausschieBlich urn<br />

6 Elmar Altvater


Konsequenz fuhrt diese Option zu einem technologisch-technokratischen, durchrationalisierten<br />

autoritaren Staatswesen, das sowohl den EinfluJS def Massen auf die Entscheidungstrager<br />

minimiert als auch die Interessen des »Gesamtkapitals« (undzwar auf weltweiter<br />

Ebene) gegen einzelkapitalistische Sonderinteressen durchzusetzen sucht. Es ist dies def<br />

Weg, der von der tn/atera/en Kommission weltweit propagiert wurde, urn def aus den in<br />

def Krise uneinlosbaren Versprechungen def Massendemokratie resultierenden »Ungerechtigkeit«<br />

begegnen zu konnen. Jedoch sieht es so aus, als ob dieser Ausweg inzwischen an<br />

Attraktivitat verloren hat. (Zum Trilateralismus vgl. die Sammlung von Holly Sklar 1980)<br />

Neoliberalismus als l(J,?OlOJ(I:e<br />

Denn def andere aus dem in dem sich Keynesianismus und seine politische<br />

Organisationsform, soziale, liberale Demokratie befinden, erscheint einfacher und<br />

angemessener: Der Staat soil keine zusatzliche Kapazitat zur Intervention in die Gesell-.<br />

schaft, sondern gegenuber den Tragern des kapitalistischen Akkumulationsprozesses weniger<br />

Kompetenz, ein auf ein absolut notwendiges Minimum reduziertes Interventionspotential<br />

erhalten. Dec »durchstaatlichte Kapitalismus« (Karl Renner 1917) soli wieder »entstaatlicht«<br />

werden: durch einen Abbau def Sozialstaatsleistungen (SchluJS mit dem »Sozialklimbim«);<br />

dutch Reduzierung det Staatsquote (weniger Steuern, weniger Staatsausgaben);<br />

dutch Reduzierung der Interventionskapazitat (Deregulierung; d.h. Reduzierung<br />

der Auflagen, z.B. def UJ:llweltschutzaufiagen, fur private Unternehmen); durch eine VeI"<br />

kleinerung des offentlichen Sektors (Reprivatisierung). De! Markt soil wieder zur Geltung<br />

gelangen und in seinem Funktionsmechanismus nieht durch die Rucksichtnahme auf die<br />

Kompromillparteien gestort werden. Dieser Weg fuh!t direkt zum Neoliberalismus, det<br />

den keynesianischen Traumen von einem sozialen Staat »two cheers for capitalism« (Irving<br />

Kristol 1978) entgegenruft.<br />

Es ist leicht, Belege fur diese Position zu finden. In der Bundesrepublik hat sie eine lange<br />

Tradition, da hier in den 40er Jahren mit Walter Eucken, Wilhelm Ropke, Alexander von.<br />

Rustow, Franz Bohm und anderen eine neoliberale Schule (Ordo-Liberalismus) entstanden<br />

ist, die in def akademischen Wirtschaftswissenschaft bis in die 60er Jahre hinein noch dominant<br />

war, wo in anderen Landem Hingst def Keynesianismus die Forschung und lehre<br />

beherrschte. Erst Mitte def 60er Jahre verlor hierzulande der Neoliberalismus an Boden,<br />

nachdem die Regierung Erhard (»Vater def Marktwirtschaft« mit seinem langjahrigen<br />

Kompagnon Alfred Muller-Armack, »Erfinder« des Konzepts der »sozialen Marktwirtschaft«)<br />

zurucktreten muJSte und das Stabilitats- und Wachstumsgesetz verabschiedet worden<br />

war (das »beste wirtschaftspolitische Instrumentarium der Welt«, wie es Schiller ebenso<br />

wie Ehrenberg bejubelten). Doch lange sollte die keynesianische Hochzeit nlcht dauern.<br />

Etwa 1973 wird def sogenannte »Faradigmenwechsel« datien, als def Sachverstandigenrat<br />

ZU! Begutachtung def gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom keynesianischen Nachfragemanagement<br />

abruckte und eine monetaristische Geldmengenpolitik zu favorisieren begann.<br />

Wenig spater folgte die Deutsche Bundesbank diesem Schwenk. De! wissenschaftIiche<br />

Beirat beim Bundesministerium fur Wirtschaft in aller wiinschenswerten Deutlichkeit<br />

1978 sein (neo)liberales Dogma dar: Die Marktwirtschaft sei uberlegen effizient; zu<br />

Storungen def Funktionsweise des Systems komme es einmal durch eine feindliche Einstellung<br />

ZUI Marktwirtschaft, zum anderen durch Einzelinterventionen ohne ordnungspoliti-<br />

Neoliberale KonterrelJo/ution 7


sche Reflexionen. Die Marktwirtschaft habe eine auBerordentlich hohe Problemverarbeitungskapazitat<br />

aufgrund von unburokratischen Koordinationsmechanismen. Der Staat sol­<br />

Ie 5ich im wesentlichen auf ordnungspolitische MaEnahmen und notwendige Korrekturen<br />

beschranken, also dafur sorgen, daB der Preiswettbewerb moglichst gut funktioniere, daB<br />

das System von Risiko und Ameiz nicht durch staatliche Einzelinterventionen gestort wetde.<br />

In diesem Zusammenhang muBten Gewinne als Ameize innerhalb def Marktwirtschaft<br />

von allen anerkannt werden, insbesondere auch von den Gewerkschaften, die keine lohnpolitischen<br />

Strategien mit Umverteilungscharakter durchfuhren durften. In das gleiche<br />

Horn stoBen die Vorschlage def CDU/CSU-Theoretiker Biedenkopf und Miegel, die<br />

nicht nur ins Wahlprogramm 1980 Eingang gefunden haben, sondern inzwischen die theoretischen<br />

Fundierung der politischen AuBerungen von CDU I CSU abgeben. U nd wenn<br />

wir nicht nut die Bundesrepublik betrachten, dann erweist 5ich die politische Bedeutung<br />

dieser Theorie(n) noch klarer: Mit Thatcher in GroBbritannien und Reagan in den USA<br />

sind politische Fuhrer an die Macht gekommen (ode! haben wie StrauB zur Macht gest!ebt<br />

oder sind wie Barre in Frankreich an def Macht gewesen), die sich explizit auf das neoliberale<br />

Dogma beziehen und damit nicht nur Wirtschaftspolitik, sondern Gesellschaftspolitik<br />

betreiben.<br />

Damit aber geht es nlcht nur urn die Theorie, urn ihre'Stringenz, Konsistenz und Reichweite.<br />

Es geht auch urn die Frage, wieso sie Ausdtuck einer popuiistischen Bewegung werden<br />

kann, wieso es zu einer neoliberal-konservativen Stimmung kommen konnte, die Ende<br />

def 70er, Anfang der 80erJahre tiefgreifende politische Veranderungen herbeifiihrte. »Die<br />

Stimmung in def westlichen Welt ist neoliberal und konservativ«, schreibt triumphierend<br />

US News & World Report, und offensichtlich ist dieser Triumph weder Einbildung noch<br />

Selbstbettug. Hier kommt tatsachlich noch ein weiteres Dilemma des Keynesianismus und<br />

def mit ihm nahtlos verbundenen Sozialdemokratie (in ihren verschiedenen Auspragungen)<br />

zum Ausdruck. Urn namlich die Umverteilungsprozesse zugunsten def Sozialleistungen<br />

steuern zu konnen, ml,lEte der Staatsapparat bedeutsam ausgeweitet werden. Es<br />

entsteht die neue Schicht der Sozialburokratie, die das System der Umverteilung zu ihrer<br />

eigenen Reproduktion benutzt und verwaltet, ohne allerdings EinfluB auf die Quellen der<br />

Fonds zu haben, die umverteilt werden sollen. Die staatliche Burokratie kontrolliert Mittel<br />

in einem immensen Umfang, abet sie kontrolliert weder die Produktionsbedingungen, die<br />

Produktivitat, noch die Technologien oder die Organisation des Arbeitsprozesses; also bIeiben<br />

die Voraussetzungen des Wachstums, von dem ihre Aktivitaten und damit ihre Existenz<br />

abhangen, ebenso aufierhalb ihres EinfluBbereiches wie die Ursachen fur all die Schaden,<br />

deren Symptome sie mit ihren Mitteln heilen sol! (Rehabilitierung von Schaden an<br />

Gesundheit und Leben durch den Charakter des Arbeitsprozesses beispielsweise). Gleichgiiltig<br />

wie ausgepragt und umfangreich die staatliche und parastaatliche Sozialburokratie<br />

auch ist, ihre Machtbefugnis bleibt auf die Korrektur von Symptomen beschrankt, die im<br />

von ihr nicht kontrollierbaren ProduktionsprozeB ihre Ursache haben. Wenn nun infolge<br />

det allgemeinen Weltwirtschaftskrise die okonomischen Bedingungen des Wachstums unterhOhlt<br />

dann verringert sich notwendigerweise die Leistungsfahigkeit des Sozialsystems,<br />

wahrend jedoch die Sozialburokratie erhalten bleibt und moglicherweise sogar<br />

noch wachst. In eine! solchen Situation reagiert def Sozialstaat nut hilfl05: die Einsparungen<br />

bei bestimmten Leistungen erscheinen als die Rucknahme von Versprechungen, als Ineffizienz<br />

des Sozialstaats, def mit all seinen sichtbaren und erfahrbaren Burokratien<br />

bestehen bleibt. Ja, mehr noch. In def Phase von Wachstum und Vollbeschaftigung bleibt<br />

8 Elmar Altvater


.der Sozialstaat mitseinen Institutionen irn Hintergtund; solange man beschaftigdst,<br />

braucht man nicht auf den langen Gangen des Arbeitsarntes zu warten. Aber in det Kri$.e;<br />

erf'ahrt man zugleich die Arroganz der verwaltenden Biirokratie und ihre Ineffizienz.<br />

Dafiir kann der Sozialstaat nichts; denn sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die Inflati()t:I. .;;"<br />

deren Raten nicht zufallig zum »discornfort Index« addiert werden - sind keineswegs durcli;<br />

den keynesianischen Staat erzeugt worden. Die Ursachen der Erscheinungsformen der Kri~ ..<br />

se als »discornfort« fUr die Menschen liegen tiefer in der Widerspriichlichkeit des kapitalisti~,<br />

schen AkkuplUlationsprozesses, die vom Interventionsstaat zwar reguliert aber nicht aufg.e'­<br />

hoben werden kann: AIlc;rdings haben iiberJahrzehnte die Keynesianer selbst - und nicht<br />

nur die »rechtenli: sondern auch »linke« Keynesianer - die Meinung propagiert, der modet- .<br />

ne Interventionsstaat konne eine erfolgreiche Krisenvermeidungsstrategie durchfUhrell,<br />

Die deutsche Sozialdemokratie hat bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise Mittedei<br />

70er Jahre das wirtschaftspolitische Instrumentarium der BRD als 1>das modernste« del'<br />

Welt deklariert, mit dem jede Krise gemanagt werden konne. F* viele kritische Theoreti~·<br />

ker ist durch den Staatsinterventionismus der Krisenbegriff iibeihaupt fragwiirdig gewor~<br />

den, sofern er sich an »Bewegungsgesetzen« des Kapitals festrnachte. Der vom Neoliberalis~<br />

mus demagogisch ausgenutzten Krise des Wohlfahrtsstaates, des Keynesianismus, des.<br />

sozialdemokratischen Reformismus sind die Keynesianer nun konfrontiert, ohne offensiv·<br />

wirkende Argumente gegen die Denunzierung des Sozialstaats als einer riesigen, kostspieH,<br />

genund obendrein ineffizienten Maschine, die fUr Inflation, hohe Steuerbelastung unCi<br />

wachsende Staatsverschuldung verantwortlich sei, ins Feld fUhren zu konnen.Sie sind<br />

sprachlos, wenn der Sozialstaat nicht mehr nur als eine Garantieinstitution zur Sicherung<br />

von Wohlstand, sondern als eine Belastung der Realeinkommen erfahren wird.<br />

Hier ist der Punkt, an dem die neoliberale Forderung nach weniger Staat, nach Verringe,<br />

rung der Sozialbiirokratie, nach Privatisierung im Sinne von Individualisierung, nach weni ..<br />

ger Steuern und restriktiver Geldpolitik das akademische Gehause als Theorie der Wirt- .<br />

schaftpolitik verlassen und zur Ideologie einer populistischen Bewegung werden kann. Irving<br />

Kristo! hat dies klar erkannt: Amerikanischer Populismus ist nach seiner Meinung.der<br />

Radikalismus der Kleinbiirger, die wegen der hohen Inflationsraten und Steuern, wegen<br />

der Staatsverschuldung und der ineffizienten Verwaltung emport sind. »Das Problem ist<br />

die Biirokratisierung der arnerikanischen Gesellschaft und die Tatsache, daB die Biirokratie<br />

keinen Erfolg darin gehabt hat, das zu verhindern, was keine Biirokratie als Millerfolg verbuchen<br />

darf: narnlich die wirkungsvoIle ErfUIlung ihrer Versprechen« (Kristol 1978, S.<br />

216). Der Neoliberalismus schwingt sich nun zum Anwalt der radikalisierten Kleinbiirger<br />

auf: gegen Verschwendung und Ineffizienz, gegen die Gleichmacherei und fUr mehr Freiheit<br />

vom Staat, fUr das Individuum und fUr den Markt. Sein Versprechen lautet: Wenn Du<br />

Dich irn Sinne des Systems rational verhaltst, und wenn der Markt freie Entscheidungen abstimmen<br />

kann, dann wird als Ergebnis die »unsichtbare Hand« des Marktes fUr Dich und<br />

fUr die Gesamtheit aIler Individuen ein Optimum an Wohlstandschaffen ... Und Du wirst<br />

gegen die nivellierende Gleichmacherei des Wohlfahrtsstaates Deine Einzigartigkeitals Individuum<br />

realisieren konnen ... Und die okonomischen Freiheiten des Marktrnechanismus<br />

sind die besten Voraussetzungen fUr Deine politischen Freiheiten gegen die totalitaren·<br />

Tendenzen der Staatseingriffe .,.<br />

Es wurde gesagt, der Neoliberalismus mache keine Versprechen, die sich als nicht einlosbar<br />

heraussteIlen; er entwickle keine politische Prograrnmatik, die sich in der Krise als uno.<br />

durchfUhrbar erweise; er reduziere seine Botschaft auf das Versprechen, die vom Sozial~<br />

Neoliberale KontefTevolution 9


oder W ohlfahrtsstaat gesetzten Fesseln def biirgerlichenEigeninitiative zu losen. Es ist.allerdings<br />

zu betonen, daB diese liberale Selbstbescheiclung nicht nur fur den populistischen<br />

Erfolg des liberalen Programms verantwortlich ist, sondetn daB darin auch alle Momente<br />

des Scheiterns angelegt sind. Denn natiirlich haben die Individuen die Etwartung, daB die<br />

»Befreiung« von def Belastung, die def Staat darstellt, Ihnen auch materiell zugute kommt.<br />

Doch gerade dies kann nicht def Fall sein, da dies mit den Grundannahmen des Liberalismus<br />

konfligieren wiirde: Die Sicherung def Individualitat und ihref Rechte, dabei namrlich<br />

insbesondere des Eigentumsrechts aufYerwertung, impliziert den Konflikt. Denn Ei.<br />

gentum kann nur gegen die Nicht-Eigentiimer gesichert werden; es ist ein Ausschluflrecht,<br />

Eigentumsrecht ist AusschluBrecht: Nach der Raumung der Abbruch des<br />

Spekulationsobjekts.<br />

das def Staat des Liberalismus zu garantieren hat. Dies lailt sich moralisch zwar begriinden<br />

(vgl. die kritischen Dberlegungen von Cohen 1981), abet es ist iiberhaupt nlcht einzusehen,<br />

warum dieses Recht und seine moralische Fundierung von allen denjenigen, denen es<br />

materiell nichts im aktuellen Fall- also nicht nur grundsatzlich, als ein Naturrecht -<br />

- akzeptiert werden 5011. Der Neoliberalismus ist von seiner Grundstruktur her kein theoretisch-praktischer<br />

Diskufs, def auf eine ideologische Synthese in def Gesellschaft zidt - und<br />

darin unterscheidet er sich auch vom Keynesianismus. Er produziert Konflikte, Rebellionen,<br />

wie in Grol3britannien unter Thatcher beobachtet werden kann. Aber indem er zugleich<br />

den »organisierten Kapitalismus« »desorganisiert«, setzt er auch einen Prozefl def Des-Organisierung<br />

und Des-Integration der subalternen Schichten und Klassen als organisierter<br />

Macht in Gang und hat es dann bei Konflikten und meglichen Rehellionen zunachst nur<br />

mit schlecht organisierten, individualisierten Bewegungen zu tun, die dann politisch 1S0-<br />

liett werden kennen. Auf Dauer wird dies gam sieher nicht so bleiben. Doch ist es zu bedenken,<br />

dafi die Organisierung von Interessen gegen die neoliberale Desorganisierung an-<br />

10 Elmar Altvater


derserfolgen muB als unter denVerhaltnissen des »organisierten Kapitalismus« miteinem<br />

keynesianisch operierenden Interventionsstaat, def nach den Regeln der liberalen Demokrade<br />

gestaltet ist. Dazu nur ein Stichwort: Det keynesianische KlassenkompromiB eroffnet<br />

welte Moglichkeiten fur Formen korporativer Politikstrukturen, die in den vergangenen<br />

Jahren vielfaltiger Gegenstand politikwissenschaftlicher Analysen geworden sind. Der<br />

ernstgemeinte Neoliberalismus hingegen bedeutet die radikale Auflosung des Korporatis'<br />

mus, des gesellschaftlichen oder staatlichen gleicherweise. Die Austauschbeziehungen zwischen<br />

den Klassen werden nlcht mehr als mehr oder staatlich vermittelte organi7<br />

sondern def Brutalitat des Marhes, auf dem nur noch das Recht des Starkeren<br />

uberantwortet. Es ist nicht schwer vorstellbar, daB dieser Wechsel fur die Organisierung<br />

von Intetessen sowle die Formen von Konflikten auBerordentlich konsequenzenreich 1St.<br />

Freier Marlet und starker Staat<br />

Doch verbleiben wirnoch einen<br />

das ja nlcht nur<br />

Freiheit verspricht und damit sondern das auch gegen die<br />

H""'~"'.H"_L".H Wohlfahrtsstaat besorgte Gleichmacherei zu Felde zieht. An<br />

Neoliberalismus mit dem konservativen Denken treffen, fur das<br />

tarismus schon immer das groBte aller Greuel gewesen ist. »Ungleichheit ist nicht bedauerlich,<br />

sondern hochst erfreulich. Sie ist einfach notig ...« (Hayek in der Wirtschaftswoche<br />

yom 6.3.1981) Denn dutch Gleichmacherei, d.h. dutch Umverteilung, werde def »marktC<br />

wirtschaftliche Signalapparat« gestort und damit eine Auslese def Besten verhindert. Und<br />

dies gilt alluberall, auch im Verhaltnis der reichen und armen Lander beispielsweise: Denn<br />

»sehen Sie, in den nachsten 20 Jahren soH sich die Weltbevolkerung erneut verdoppeln.<br />

Fur eine Welt, die auf egalitare Ideen gegrundet ist, ist das Problem def Uberbevolkerung<br />

aber unlosbar. Wenn wit garantieren, daB jeder am Leben erhalten wird, def erst einmal<br />

geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses<br />

zu<br />

len. Gegen die Uberbevolkerung gibt es nur die eine Bremse, namlich daB sich nur die Vol·<br />

ker erhalten und vermehren, die sich auch selbst erniihren ki:innen ...« (ebenda) Gleichmacherei<br />

verletzt die biologischen Unterschiede der Menschen und es<br />

wird das def Auslese der Besten gestort. Individualitat als Voraussetzung und<br />

Nahrboden von Eliten bnn sich nicht entfalten. Und ohne Eliten gibt es keinen gesell-<br />

"TRiAL A!JD ER,ROR 1ST MS PRiNZ-If><br />

VOM 'Pfl-iI1ATi3l\J DEN NSAl\JDE.RTHAL.E.f( L/.ND 50KI


schafdidien Fortschritt; denn Auslese ist das Prinzip der Fortentwicklung des Menschen,<br />

. Die. mtnschIiche Evolution etscheint als ein Prozell von »trial and error«, fUr dessen optima­<br />

Ie Funktion Voraussetzungen geschaffen werden mussen. In der Okonomie ist der Ort fUr<br />

das Ausspielen von Versuch und Irrtum der Markt; er ist das »Entdeckungsverfahren« (Hay­<br />

.. ~. 1m »Industriemagazin«, Sept. 1980) fUr Optimallosungen, fUr die Auslese von Eliten.<br />

Ni.chts ist fUr die menschliche Entwicklung abtraglicher als vorausgesetzte Gleichheit der<br />

Menschen und diesem Prinzip verpflichtete staadiche Eingriffe in das »Entdeckungsverfahten«.<br />

Gleichheit fUhrt zur Uniformitat und von dort aus direkt zum Totalitarismus (Alain<br />

de Benoist, nach Le Monde diplomatique, Mai 1981). In der Warnung vor dem »Weg in<br />

die Knechtschaft«, auf dessen Gefahren Hayek 19<strong>44</strong> hinwies, treffen sich die Konservativen<br />

und Liberalen, die neue Rechte und die Monetaristen, um einen Entwurf fUr eine neue<br />

Ordnung der Gewahrleistung von. Freiheit, Leistung uQd Auslese zu errichten. »Ordo«<br />

heillt also das Schlusselwort der Neo-Liberalen nicht zufallig; oder, weniger altphilologisch-vornehm<br />

und subtil, in der hemdsarmelig-direkten Sprache von Milton Friedman:<br />

.»Die grundlegende Voraussetzung (fUr die Freiheit des Tausches - E.A.) ist die Aufrechterhaltung<br />

von law and order«. (Friedman 1962, S. 14)<br />

Die Liberalen sind also durchaus kein Feind eines starken Staates, wie Herbert Marcuse<br />

1934 bewiesen hat. In dieser Auffassung konnen sie sich durchaus von Zitaten der liberalen<br />

Klassiker von Locke uber Adam Smith bisJ.St. Mill bestarken lassen. Allerdings ist hierbei<br />

zu betonen, daB der klassische Liberalismus in dieser Frage keineswegs widerspruchsfrei<br />

sein kann. Denn einerseits reklamiert er llorstaatliche individuelle Freiheitsrechte als Natu"echte,<br />

die auch gegen den Staat zu verteidigen sind, andererseits hat die Staatsgewalt<br />

die Aufgabe, die individuellen Freiheitsrechte zu schutzen. Hier handelt es sich um einen<br />

»logischen Antagonismus«, der - wie Franz Neumann hervorhebt - durchaus zu einem »relllenAntagonismus«<br />

werden kann, und der das Schwanken des Liberalismus zwischen der<br />

Vorstellung einer libertaren, staatsfreien Gesellschaft und eines autoritaren Staatswesens,<br />

zwischen Anarchie und dem Absolutismus der k.u.k. Monarchie, erklaren kann. In der Iioeralen<br />

Figur des »Rechtsstaates« ist der Versuch gemacht worden, diesem Antagonismus<br />

die Schiirfe dadurch zu nehmen, daB staatsfreie Sphiire des Individuums und staatliche<br />

Sphiire kalkulierbar und verlii6lich voneinander getrennt werden. Bourgeois und Citoyen<br />

erhalten ihre zugewiesenen Bereiche.<br />

In der neoliberalen Theorie allerdings ist von diesem Grundkonflikt des Liberalismus kaum<br />

noch etwas zu spuren. Zwischen der Freiheit des Individuums und der Freiheit ger Verwertung<br />

von Eigentum als Kapitalakkumulation entscheidet sich der NeoliberaIismus eindeurig<br />

fUr die Garantie der letzteren durch einen starken Staat. Dies hat narurlich auch damit<br />

zu tun, daB die staadiche ordnungspolitische Funktion in einer entwickelten »industriellen<br />

Gesellschaft« aullerordendich komplex ist, gerade 1m Vergleich zum fruhen Liberalismus<br />

der fruhen burgerlichen Gesellschaft. Insofern ist der Wandel der Iiberalen.Theorie vom<br />

klllSsischen zum »neuen« Liberalismus auch (sicherlich nicht nur) ein Spiegelbild der Entwicklung<br />

vom Fruhkapitalismus zur hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaft. Um also<br />

dasLeistungsprinzip zu gewahrleisten, Einschrankungen der Marktkonkurrenz zu ver~<br />

hindern, gleichmacherische Tendenzen zu begrenzen - so die neoliberale Theorie -,<br />

»bedarf es allerdings eines starken Staates, der unparteiisch und machrvoll uber dem wirtschafdichen<br />

Interessenkampf steht, ganz im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung,<br />

daB dem 'Kapitalismus' eine schwache Staatsgewalt entsprechen musse. Der Staat mull<br />

aber nicht nur stark sein, sondern auch unbeirrt durch Ideologien aller Art seine Aufgabe<br />

12 Elmar Altvater


klar erkennen: den 'Kapitalismus' gegen die 'Kapitalisten' zu verteidigen, so oft sic versuchen,<br />

sich einen bequemeren Weg als den durch das Leistungsprinzip vorgezeichneten zut<br />

Rentabilitat zu bahnen und ihre Verluste auf die Allgemeinheit abzuwalzen.« (Wilhelm<br />

Ropke 1946, S. 280). Der starke Staat solI den Rahmen sichern, eine Ordnungspolitik betreiben,<br />

die die Grundlage dieser Ordnung, namlich das Eigentum erhalt und dessen Ver,<br />

wertung ermoglicht - wie Ludwig von Mises sehr klar formuliert. DeI Staat soll sich aber<br />

aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen (Austauschbeziehungen zwischen<br />

den Individuen) heraushalten und hier den Marh als Auslese- und Entdeckungsmechanismus<br />

voll zur Geltung kommen lassen. Dieser prinzipiellen Unterscheidung von<br />

Ordnungspolitik (erlaubt) und Prozefipolitik (nicht erlaubt) des Staates folgt die fcinsinnig-zynische<br />

Unterscheidung zwischen einem autoritaren und totalitiiren System: Das erste<br />

ist durchaus akzeptabel im neoliberalen Sinne, da ZUI Erhaltung der Ordnung Autoritat<br />

von seiten des Staates unabdingbar ist. (Daher widerspricht der Entwurf def »formierten<br />

Gesellschaft« durch Ludwig Erhard Anfang def 60erJahre keineswegs seinem neoliberalen<br />

Weltbild.) Das letztere jedoch ist dadurch gekennzeichnet, daB der Staat nlcht nur.die<br />

Ordnung siehert, sondern in aBe Bereiche der geseHschaftlichen Totalitat eingreift, also<br />

auch in die Marktprozesse. Das ist notwendig mit Beschrankungen def Verfiigung tiber Eigentum<br />

verbunden und infolgedessen fur den Neoliberalismus nicht zu akzeptieren. In<br />

dies em Sinne ist das Chile Pinochets ein autoritares und mithin akzeptables Regime, wahrend<br />

Cuba als totalitares Regime bekampft und moglichst eliminiert werden mtisse.<br />

Der Rahmen der auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden Marktwirtschaft<br />

(freie Verkehrswirtschaft sagt die Freiburger Schule def »alten« Neoliberalen der 40er Jahre)<br />

wird yom starken Staat durch Gesetze und die Zwangsmittel, init denen ihre Einhaltung<br />

erzwungen wird, und eine dem Wachstum des Produktionspotentials entsprechende Geld~<br />

versorgnung hergestellt. (Anzumerken ist hier allerdings, daB cine Reihe neoliberaler Theoretiker,<br />

allen voran F.A. von Hayek, die zweite Bedingung nicht mehr akzeptiert; nach<br />

ihrer Auffassung sollte das Geld von Privaten und nicht yom Staat geschaffen werden.)<br />

Also »beseitigt die Existenz eines freien Marhes natUrlich nicht die Notwendigkeit einer<br />

Regierung. 1m Gegenteil, der Staat ist wesentlich sowohl als Forum, urn die Spielregeln<br />

festzulegen, als auch als der Schiedsrichter, der die Spielregeln interpretiert und ihre Einhaltung<br />

erzwingt.« (Friedman 1962, S. 15) Diese simple Idee ist konstitutiv fur das liberale<br />

Denken. Und es ware auch nichts gegen sie einzuwenden, wilrde es bei dem Spiel nicht urn<br />

Ausbeutung von Menschen durch Menschen, urn die Aneignung aus Eigentumstiteln, urn<br />

Verwertung von Kapital gehen. So betrachtet, entpuppt sich die liberale Theorie als eine<br />

ziemlich finstere Erfindung.<br />

Erstens wird es im marktwirtschaftlichen Spiel Gewinner und Vedierer geben. Dieses Pmc<br />

blem ware keines, wtirden sich Gewinne und Verluste gleichmaBig verteilen. Jedoch ist def<br />

Markt der »Nullsummen-Gesellschaft« eine auBerordentlich konservative Instanz. Denn<br />

auf ihm zahlen nlcht Kopfe, sondern die Dicke der Brieftaschen. »Die individuellen Praferenzen<br />

bestimmen die Marktnachfrage nach Gtitern und Dienstleistungen. Abet diese individuellen<br />

Praferenzen sind mit den Einkommen gewichtet, bevor sie auf dem Matkt miteinander<br />

in Beziehung treten.« (Thurow 1980, S. 194) Wet also hat, dem wird durch den<br />

Marktmechanismus mehr gegeben. Wet nicht hat, wird auch selten das Gluck haben,<br />

mehr zu bekommen. Eine dnmal gegebene Verteilung (die Ungleichheit def Voraussetzungen,<br />

die die Konservativen naturalisieren) wird durch den Marktmechanismus ohne<br />

korrigierende Einwirkung verfestigt.<br />

Neoliberale Konte"evoiution 13


~tt~1n.r 1st abet ein nochtriftigeter Einwarid an~m~ldet1. Friedmangeht davon aus, daE<br />

»pIClh1:l~cfie.Freiheit als Abwesenheit von Zwang eines Menschen gegeniiber seinem Mit·<br />

(Friedman 1962, S. 15) definiert werden konne. Dieser Definition liegt die formale<br />

und Gleichheit des biirgerlichen Individuums als Staatsburgerzugrunde. Bereits<br />

"",,,,,,.';; .....


»lnterdependenz def Ordnungen« wild durch die Einschrankung okonomischerFreiheiteil·<br />

auch die politische Freiheit aufgehoben - sagt Eucken. Umer diesem Aspekt betrachtet,<br />

kann der Neoliberalismus auch als die okonomische Variante def Totalitarismustheorie bezeichnet<br />

werden. Jedoch haben wir bel der Vorstellung def »neuen« Neoliberalen gesehen,<br />

daB die Interdependenz der Ordnungen asymmetrisch ist: Eine Einschrankung okonomi..<br />

scher (Markt)freiheiten hat politische Unfreiheit zur FoIge; jedoch muB keineswegseine<br />

Einschrankung de! politischen Freiheiten durch einen autoritaren Staat die Beschneidung<br />

von okonomischen Freiheiten zur Foige haben! Die aiten Neoliberalen oder Ordo-Liberalen<br />

waren vielleicht betrubt tiber diese Asymmetrie gewesen und hatten sich hilflos libel<br />

die »Unnatur«der Existenz des Proletariats beklagt. Die »neuen« Neoliberalen haben dne<br />

LosungfUr das Problem parat, die auch den eigentlichen Fortschritt gegenUber def Tradition<br />

des Liberalismus ausmacht: Sie lassen die verschiedenen Ordnungen (die okonomische<br />

und politische Sphare) nlcht mehr gelten, eleminieren auf diese Weise mogliche Widerspruche<br />

und nehmen dem Begriff det »Interdependenz der Ordnungen« seinen Sinn, Statt<br />

dessen entwickeln sie eine Methodoiogie rationalen Handelns, das in jeder Hinsicht und in<br />

allen LebensauEerungen und Entscheidungssituationen okonomischen folgr. In<br />

def politischen Sphare wird nach den gleichen Prinzipien entschieden wie in det Okono,<br />

mie, im Denken von militarischer Strategie und Taktik erkennen wir das gleiche Muster<br />

wie in der Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen. Henri Lepage hat in seinem UberbEck<br />

Uber den US-amerikanischen Neoliberalismus def 60er und 70er Jahre den Nagel sicherlich<br />

auf den Kopf getroffen, wenn er sagt, daB die Grundlage def Philosophie des politischen<br />

Liberalismus die okonomische Theorie sei, als »wissenschaftlicher Unterbau derkapitalistischen<br />

Gesellschaft.« (Lepage 1979, S. 11)<br />

Ais dne Methodologie »wird die Okonomie nicht durch den marktmaBigen oder materiellen<br />

Charakter des zu behandelnden Problems definiert, sondern sie umfaBtjede Fragestel.<br />

lung, bei def es um die Ressourcenverteilung oder die Wahl in einer Knappheitssituation<br />

geht, d.h. in def eine Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden Zielen getroffen werden<br />

muK« (Gary S. Becker, zit. nach Lepage 1979, D. 19) Die Okonomie fuhlt sichals<br />

Theorie nun zustandig fur die Lehre von den politischen Institutionen, die Theorie def Familie,<br />

die Kriminalitatsforschung, die namrliche Auslese von Tierarten usw., also fur die<br />

Erklarung def Welt und was sie im Innersten zusammenhalt. Und nlcht nur das: Der Neoliberalismus<br />

laBt s1ch nicht auf Desknption festlegen, er offeriert sich als Theone normativer<br />

Praskription, als eine dem Rationalprinzip verpflichtete Entscheidungsiehre. Als Joseph<br />

Schumpeter in seiner Schrift »Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie« (1942) alseiner<br />

der ersten den (kapitalistischen) demokratischen PrazeE in okonomischen Kategorien<br />

(Stimmenmaximierung) untersuchte, und in den 50erJahren Anthony Downs ode! Dahl<br />

und Lindblohm diese Idee zu umfassenden Modellen verfeinerten, als die Morgenstern'­<br />

sche Spieltheorie von Arrow zu einer allgemeinen Entscheidungstheorie formalisiert worden<br />

war, konnte nicht angenommen werden, daB damit Grundsteine einer Methodologie<br />

geschaffen wurden, die von den Neoliberalen def 70erJahre als Sesam-Offne-Dich fur aIle<br />

Weltfragen benutzt wird. Gordon Tullock, einer def wenigen Neoliberalen, def auch an<br />

den Konzepten def trilateralen Kommission mitgearbeitet hat, verwendet zur Benennung<br />

dieses tota/en Erklarungsanspruchs der Okonomie (als Methodologie, nicht etwa als politische<br />

Okonomie) das Wort vom »Imperiaiismus der Okonomie«, das Lepage begeistert und<br />

mithin affirmativ zitiert.<br />

Indem alle menschlichen Lebensbereiche und -auBerungen def okonomischen Methodolo-<br />

Neoliberate Konterrcvolution 15


gie zuganglich gemacht werden sollen, wird auch die Struktur der Beziehungen; des Denkensund<br />

Handelns der Menschen deflniert: es wird dem okonomischen Rationalkalkiil<br />

subsurniert. Wird dieses nun noch als eine normative Regel interpretiert, wie es in def brutalen<br />

Gedankenlosigkeit def Chicago boys passiert, dann kann sogar noch die imperialistische<br />

Vergewaltigung (zunachst »nUf« im methodologischen Sinne) noch als Begrundung<br />

dafur herhalten, daB »der Kapitalismus nicht mehr und nicht weniger als etn Bollwerk def<br />

Ft.eiheit« (Lepage 1979, S. 237) sel. Die »Revolution« im okonomischen Denken, von def<br />

Lepage in seinem Buch suggestiv spricht, wenn Milton Friedman den gleichen Gegenstand<br />

schnoddrig und selbstbewuBt als dne »Konterrevolution« bezeichnet, besteht im Grund<br />

darin, ,daB die okonomische Theorie als eine Methodologie formalisiert und asthetisiert auf<br />

aIle AuBerungen menschlichen, gesellschaftlichen Lebens angewendet wird - urn es seiner<br />

Sonderheiten, Inhalte und lnteressen zu berauben. An die Stelle def lnterdependenz von<br />

Ordnungen tritt in dieser Revolution/Konterrevolution die einseitige Dependenz, die<br />

Usurpation gesellschaftlicher Beziehungen durch das Kalkiil von Okonomen,die - urn Oscar<br />

Wilde zu zitieren - den Preis von aHem und den Wert von nichts kennen. Der »okonomische<br />

Imperialismus«, den Tullock und narurlich def Nachbeter Lepage propagieren, 1st<br />

nichts anderes als det versuchte Export einer Borniertheit, die in Krisenzeiten aus Grunden,<br />

die wir bereits angedeutet haben, die Tendenz hat, epidemisch zu wirken.<br />

DerMensch als Humankapital<br />

Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem wir entweder den SchIeier des Vergessens<br />

vorden Neoliberalismus ziehen konnen, oder uns den Einzelheiten seines Diskurses zuwenden<br />

miissen. Das erste ware uns sympathisch, das letztere miissen wit run, um den okonomischen<br />

lmperialismus zu »entkolonialisieren«, d.h. aufzuzeigen, daB die Unterwerfung<br />

aIle! Lebensbereiche unter das okonomische Kalkiil einem brutalen Vergewaltigungsversuch<br />

gleichkommt. Nehmen wit ein Beispiel, namlich die Theorie des Humankapitals, mit<br />

def Privatisierung und Individualisierung im Bildungssystem begrundet werden. Nach Lepage<br />

ist diese Theorie »grundlegend« erarbeitet durch den »vermutlich begabtesten Okonomen<br />

seiner Generation«, namlich Gary S. Becker (Lepage 1979, S. 18). Dagegen ist zunachst<br />

einzuwenden, daB die Vorstellung einer Kapitalisierung des Menschen so alt wie die<br />

politische Okonomie selbst ist. Schon William Petty stellte Ubedegungen in dieser Richtung<br />

an, und die formalen Kategorien und Methoden zur Berechnung des »Humankapitals«<br />

sind von det Versicherungslehre einerseits entwickelt worden (die ein Interesse damn<br />

hatte, Versicherungsbeitrage und -summen auf das »rationale« Kriterium des in Geld<br />

quantifizierbaren »Werts« des Menschen zu grunden) und andererseits von den Militarstrategen,<br />

die mit Hilfe des Grenzkostenkalkiils ihre Wahlhandlung zwischen Einsatz von Kanonenfutter<br />

und den Kanonen selbst rationalisieren wollten. Herr Heinrich von Thiinen,<br />

bekannt wegen seiner Standorttheorie in der Volkswirtschaftslehre, hat den Militars einige<br />

Argumente geliefert. Also gam neu ist die Humankapital-Theorie nlcht (vgl. Kiker 1966).<br />

Neu sind lediglich die SchluBfolgerungen (und methodischen Verfeinerungen), die die neoliberalen<br />

Okonomen ziehen. Bildungsaufwendungen werden als Investitionen in den<br />

Menschen verstanden. Damit wird Humankapital akkumuliert, das in Form von Lebenseinkommen<br />

Zinsen abwirft. Je.mehr Bildung ein Mensch akkumuliert, je greBer also sein<br />

U""H".U"","pH"', desto hahet auch - so lautet die These - sein Lebenseinkommen. Mit dieser<br />

16 Elmar Altvater


simplen Idee wird nun die Privatisierung, die Entstaatlichung des Bildungssystems als eine<br />

politische Forderung abgeleitet. Jeder soll einen Ausbildungsgutschein erhalten, mit dem<br />

die Bildung nach Wahl bezahlt werden kann. Gewahlt werden narurlich die in def Konkurrenz<br />

des Bildungsangebots besten Anstalten. Je mehr einer Bildung in Anspruch<br />

nimmt, desto hOher verschuldet er sich, desto groBe! def zuruckzuzahlende Ausbildungskredit.<br />

Aber er besitzt ja auch ein entsprechend groBeres Humankapital, aus dem ein entsprechend<br />

hohes Lebenseinkommen flieBt. Die Frage ist nur, ob die Arbeitsmarkte Positionen<br />

nach dem akkumulierten Humankapital verteilen, und ob ntcht andere Kriterien viel<br />

wichtiger sind. Die Neoliberalen haben aber gegen diesen Einwand das Argument parat,<br />

daB man nur die Arbeitsmarkte von monopolistischer Macht (sprich: Gewerkschaften) be"<br />

freien muBte, damit sich dne der Verteilung von Humankapital entsprechende Lohndifferenzierung<br />

durchsetzen wiirde, die uberdies noch Vollbeschaftigung beinhalte.Denn die<br />

Faktoreinkommen wiirden sich nach den Grenzproduktivitaten ihrer Verwendung bei frei<br />

funktionierenden Markten richten konnen.<br />

En passant soH mit dieser Konzeption des Bildungssystems aber noch ein weiteres Problem<br />

gelost werden. Da sich die einzelnen Bildungsdnrichtungen nicht meh! langer fiber den<br />

Staatshaushalt, sondern aus den Studiengebuhren der Auszubildenden finanzieren, diese<br />

aber infolge der spezifischen Finanzierungsmodalitaten dne besonders gut verwertbare Berufsqualifikation<br />

anstreben miissen, wird die Bildung an den aus der jeweiligen okonomischen<br />

Entwicklung resultierenden Qualifikationsbedarf angekoppelt. Die Ausbildungsinhahe<br />

werden dem Verwertungsinteresse untergeordnet. Die Unternehmen als Arbeitskraftenachfrager<br />

sttukturieren mit ihren kurz/ristigen Bedarfsanforderungen den langfristigen<br />

Ausbildungsgang. Nun weill man vom »Hanauer Schweinezyklus«, der auf englisch das<br />

»Cobweb-Problem« genannt wird, daB es auf Markten, deren Nachfrage kurzfristig<br />

schwankt und das Angebot abe! langere Fristen zur Anpassung an Nachfrageverschiebungen<br />

braucht, zu standigen Ungleichgewichten kommen muE, die sich nur im Grenzfall<br />

fiber einen langeren Zeitraum zu einem Gleichgewicht austarieren konnen, die aber auch<br />

je nach den Elastizitaten von Nachfrage und Angebot das krasse Gegenteil, namlich eine<br />

dauernde Verscharfung def Ungleichgewichtssituation hervorrufen konnen. Dies bedeutet<br />

also, daB die Marktsignale hier standig auf »fot« stehen und ihre Lenkungs- und Auslesefunktion<br />

lediglich pathologisierend ausuben konnen.<br />

Nun hat Marx schon kritisiert, daB es genauso<br />

aberwitzig ist, von einem Humankapital zu<br />

sprechen wie davon, daB das Kapital des Sehens<br />

das Auge sd. Und tatsachlich ist das<br />

»Humankapital« nichts anderes als ein spezieH<br />

qualifiziertes Arbeitsvermogen, das sich<br />

auf dem Arbeitsmarkt gegen Kapital austauscht.<br />

Und nur wenn es einen Kaufer finder,<br />

kann das Arbdtsvermogen fungieren<br />

und als »Humankapital Zinsen werfen«. Ob<br />

es einen Kaufer findet, hangt aber nicht von<br />

den getroffenen Entscheidungen zwischen<br />

Bildung und Arbeit, sondern vom Kalkiil des<br />

Verwenders des »Humankapitals«, des Unter- Der Homo Oeconomicus maximiert sein<br />

nehmens, abo Die Neoliberalen entziehen Humankapital<br />

Neoliberale Konterrellolution 17


sich diesem Problem, indem sie dessen dichotomische Strukrur leugnen oder bestimmten,<br />

dutch die Beschrankung von Marktfreiheiten hervorgerufenen Funktionsmangeln anlasten,<br />

die durch eine Politik def Liberalisierung iiberwunden werden konnten. Diese Argumentationsweise<br />

immunisiert natiirlich gegen jede Kritik, da immer auf die immer-noch-nichthergestellte,<br />

abe! jetzt-endlich-herzustellende volle marktwirtschaftliche Ordnung mit einer<br />

weitgehenden Begrenzung des Staates verwiesen werden bnn. Die Konsequenz dieser<br />

Immunisierungsstrategie ist blanke Apologie, die sich auch der dummsten Argumente<br />

nicht schamt. Wir wollen darur einige Beispiele aus dem schon erwahnten Dberblicksbuch<br />

von Lepage zitieren, auch um den wirklich liberalen, an keine Regel von Wissenschaftlichkeit<br />

oder interpersonaler Kommunikation mehr gebundenen Umgang mit historischen<br />

Tatbestanden, Zusammenhangen und Problemen zu dokumentieren.<br />

Die Eisenbahnskandale im vorigen ]ahrhundert in den USA beispielsweise, die Machenschaften<br />

der Rauber-Barone werden nicht dem kapitalistischen Wildwuchs zugeschrieben,<br />

»sondern vielmehr dem damaligen politischen Apparat ... , weil dieser es zulieB, daB einige<br />

skrupellose Individuen die Hoheitsrechte des Staates zu ihrem eigenen Vorteil<br />

ausnutzten«. (S. 45) Die Werbung dient in diesem Zusammenhang auch keineswegs def<br />

Manipulation, sie ist Mittel der Information, die rur die Konsumenten die Informationsund<br />

Transaktionskosten senkt; sie hat also eine gesellschaftlich auBerordentich positive Bedeutung.<br />

Auch bei seinen Dberlegungen gegen die Kritik an monopolistischer Macht ist<br />

sich Lepage rur kein noch so apologetisches Argument zu schade. Hinsichtlich der Bedeutung<br />

von Monopolen haben es nach seinen W Often »einige Bilderstiirmer in den letzten<br />

, ]ahren gewagt«, die Rolle def groBen Unternehmen und des Staates aufs Neue zu untersuchen<br />

»und sind dabei immerhin zu iiberraschenden SchluBfolgerungen gekommen«<br />

(S. 48). Zu diesen von Lepage apostrophierten Bilderstiirmern gehort allerdings auch das<br />

American Enterprise Institute, das nach seinen Worten wiederum eine )}bemerkenswerte<br />

kritische Srudie« herausgegeben hat. Es ist tatsachlich bemerkenswert kritisch und iiberraschend,<br />

daB die Lobby der groBen Monopole zu dem Ergebnis kommt, daB die Monopole<br />

eigentlich keine Monopole sind und lediglich soviel Aufsehen machen, weil die Gegner def<br />

Monopole ihnen den )}Erfolg neideten« (S. 49). Abet es geht noch weiter, indem Lepage<br />

den Nobelpreistrager von Hayek mit seiner Apologie def kapitalistischen Industrialisierung<br />

zitiert. Das Elend der Industrialisierung sei gar nicht so schlimm gewesen, denn schlieBlich<br />

musse man die »opportunity costs« kalkulieren: wieviele Menschen hatten sterben mussen,<br />

wenn es nicht zur Industrialisierung gekommen ware. Dies liegt auf def gleichen Ebene wie<br />

folgende Logik, die ebenfalls von F.A. von Hayek und Helmut Schoeck stammt: Das Automobil<br />

ist gar nicht so schlimm, und selbst die Automobilunfalle durfen nicht uberbewertet<br />

werden, denn man muB sich mal vorstellen, was passieren wiirde, wenn ane die Menschen,<br />

die heute mit dem Auto fahren, statt dessen pferde benutzen wiirden. Die Anzahl der todlichen<br />

Unfalle ware sicherlich bei weitem bOher. Fur solche Beipiele hat er wahrlich den<br />

Nobelpreis verdient.<br />

DaB Lepage dann noch Gewahrsmanner liberaler Theorie zitiert, die die Losung def Umweltprobleme<br />

in def Schaffung neuer Eigentumsrechte sehen, verwundert nicht meh!. Er<br />

mochte sogar den Anspruch auf reine Luft privatisieren. )}Auf den ersten Blick scheint dies<br />

Problem bel der Luft (das Problem def Privatisierung namlich) etwas schwieriger zu sein.«<br />

Abet unser Luftikus stellt sich die Losung durch die Schaffung einer Art Luftborse vor, auf<br />

def sogenannte Lufrverschmutzungsquoten ausgetauscht werden. So einfach ist das. Der<br />

Kreuzberger Turke geht an die Borse, um mit dem Zehlendorfer Oberstudiendirektor die<br />

18 Elmar Altvater


Unser Luftikus stellt sich die Uisung der Privatisierung der Luft durch die Schaffung einer<br />

. Art Luftborse vor:<br />

Luftverschmutzung wechselseitig auszutauschen. An dieser Stelle wird die neoliberale<br />

Theorie nun absurdes Theater. Wir verlassen daher die Ebene def und<br />

untersuchen die Grundstruktur des<br />

das offensichtlich dnes auch kluge Leute<br />

faszinierenden Charmes nicht entbehrt.<br />

Der Mensch als homo ()e,,()t.1()t,~u·us. reduziert O/el7nllml!Scl.le Rationalitiit<br />

'-''-'AD',H'.U'' Rationalitat<br />

fur dne minimale Plausibilitat des<br />

die sich def okonomischen Rationalitat unterwenen. wissen<br />

rudimentare VonoIm def totalen Rationalidit aller Lebensdes<br />

sardischen Hirten sein mu£. Rationalitat<br />

ist kulturellbestimmt und nicht auf ein in mathematischen Formeln faBbares<br />

Kalkul reduzierbar. lndem von den Neoliberalen dies unterdruckt<br />

bekommt mIe Theorie eine lebensfeindliche<br />

des Indivi·<br />

duums UlJ."Ull".HK'g<br />

»homo oei:ot,101.1Z1C'US«<br />

sowohl von seinen<br />

die<br />

den<br />

Ne,?lzt'era/e Konterrevolution<br />

19


dividuum als automatisches Subjekt, ist dennaU(;:h die anthropologische Grundvoraussetzung<br />

def neuen (wie de! alten) Neoliberalen: »Alle mikrookonomischen Arbeiten versuchen<br />

im Grunde immer wieder, das Paradigma des 'homo oeconomicus' empirisch nachzuweisen,<br />

das samtlichen okonomischen Analysen zugrundeliegt und von einem simplifizierten<br />

... scharf kalkulierenden, erfinderischen und maximierenden Individuum ausgeht.«<br />

(ebenda) Nichts da, ihr sympathischen Gestalten des homo faber, des homo ludens! Selbst<br />

der homo politicus oder def homo sociologicus sind passe; mit seinem Hauptbuch und Taschenrechner<br />

beherrscht der homo oeconomicus das Terrain. Eine absurde und noch dazu<br />

gespenstische Vorstellung fUrwahr! Und eine irrationale Vorstellung obendrein, wei! die<br />

Individuen nicht als homines oeconomici geboren werden, sondern erst dazu hingemacht<br />

werden mussen: Das freie Individuum des Neoliberalismus ist ein depraviertes Individuum,<br />

eine Puppe im freien Spiel de! Krafte, dessen Regeln unbedingt vorgegeben sind.<br />

Die zentrale Bedeutung von Privateigentum und Geld<br />

Damit das Individuum nach den Regeln def Nutzenmaximierung entscheiden und handeln<br />

kann, muB es uber einen - begrenzten - Fundus an alternativ verwendbaren Ressourcen<br />

verfUgen; es muB also privates Eigentum besitzen, um individuell entscheiden zu konnen.<br />

Kollektive Guter und Kollektiventscheidungen sollen daher moglichst weitgehend<br />

privatisiert werden. Die konsequentesten Verfechter der Theorie wrden am liebsten den<br />

Erdball in Smcke schneiden und yom Magma bis zur Ozonschicht an Privatleute aufteilen.<br />

Selbst auf dem Mond, dem Planeten und anderen Sonnensystemen wrden die furiosen<br />

Privatisierer noch, wenn es ginge, ihre Claims absteeken: ein hypertrophierter und ins UnzeitgemaBe<br />

verlangerter amerikanischer Traum von der »new frontier«. David Friedman<br />

beispielsweise moehte, daB »def Staat eines Tages seine StraBen verkaufen kann«, def Atla:ntische<br />

Ozean soIl in privatisierbare Smcke aufgeteilt werden, jeder solle in def Lage sein,<br />

sich die eigene Polizei zu halten, wie dies ja von seiten der groBen Konzerne schon Hingst<br />

ublich ist. Wer an dieser Stelle einwendet, das sei ja absurd und technisch gar nicht durchfUhrbar<br />

und uberhaupt habe ja die Finanzwirtschaftslehre gezeigt, daB es eben offentliche<br />

GUter gebe, die nicht marktmafiig verkaufbar seien, da ihre Nutzung nicht exklusiv dem<br />

Kaufer garantiert werden konne - def vergillt die groBen Hoffnungen, die die Neoliberalen<br />

auf die Enrwicklung def Elektronik setzen. Denn mit dem Computer konnen die kompliziertesten<br />

Zurechnungen durchgefUhrt, Preissetzungen vorgenommen und Benutzungsfrequenzen<br />

festgehalten werden, um dann periodisch dem Individuum wie heute die Telefonrechnung<br />

eine StraBenbenutzungs-, die Luftverbrauchs-, die Ozeanuberquerungs- oder<br />

eine AusblicksgenuBgebuhr anlasten und per Bankeinzug kassieren zu konnen. An die<br />

Stelle def »perfect competition« tritt nun die »perfectcomputation«, die tatsachlich keine<br />

unrealistische, jedoch eine gespenstische Perspektive darstellt. Das Individuum wird in diesem<br />

Modell zu einem peripheren Terminal, nach den Regeln des homo oeconomicus funktionierend,<br />

aber angeschlossen an den Zentralcomputer. Rationalitat im Sinne des »Imperialismus<br />

def Okonomie« ist hier so abstrakt gedacht, daB sie tatsachlich in mathematische<br />

Kalkulationen iibertragen werden kann, die dann einfacher im Computer durchgefUhrt<br />

werden. Die Frage ist nUI, wessen Privateigentum eigentlich die zentrale Erfassungs- und<br />

Steuerungsanlage sein sol1, we! die Programme einspeist. Big brother kann zuschlagen.<br />

Der. Neoliberalismus verkehrt sich in Orwells 1984 ...<br />

20 Elmar Altvater


Ein auf den homo oeconomicus reduzienes,<br />

rational handelndes Individuum mit - dies<br />

liegt im Begriff des Privaten - notwendig begrenzter<br />

Entscheidungskompetenz kann zwischenmenschliche<br />

Beziehungen nur im Rahmen<br />

seiner Moglichkeiten gestalten - und<br />

diese sind nach den Regeln der Okonomie<br />

definien und determinien. Sie konnen sich<br />

folglich nur als Ge~dbeziehungen herausbilden<br />

und fiber die Bewegung der Preise regulieren.<br />

(So auch Lepage 1979, S. 213) Das<br />

Geld fungien in diesem Konzept als ein<br />

Zwangsmittel, das rationales Verhalten von<br />

Individuen, aber auch von anderen Entscheidungstragern,<br />

z.B. von staatlichen Behorden,<br />

erzwingen soIl. Dies ist die Basisidee des<br />

Monetarismus jenseits der okonomischen Analysen<br />

und wirtschaftspolitischen Empfehlungen.<br />

Karl Marx hatte das Geld als »Kuppler<br />

aller menschlichen Beziehungen«<br />

• Dill IND/viDufN weJtt:le.N Nlclff IllS HoHiNES<br />

O&coNo",ici GaOItEN, ~I>UN I'1tlsser-s ERe.T<br />

DA'2.It HiN6EHACHT WE~ •<br />

bezeichnet, und er hatte dies als einen Ausdruck der Entfremdung, der Unfreiheit, de!<br />

Entmenschlichung verstanden. In den monetaristisch-neoliberalen Theorien wird dies po"<br />

sitiv gewendet und als ein gesellschaftliches Regelungsprinzip fUr im Sinne des Systems rationales<br />

Verhalten interpretien. Der Mensch wird zur »money machine«, die keine anderen<br />

Aspirationen haben darf, als einen Nutzen unter den restriktiven Bedingungen des be.<br />

grenzten Portefeuilles zu maximieren. Es ist in diesem Zusammenhang dann auch gar.<br />

nicht verwunderlich, wenn Gesellschaft als durch fiber den Markt vermittelte monetare Be-.<br />

ziehungen, also als ein quantitativer Komplex verstanden wird. Es ist wieder Lepage, der<br />

dies aufspfirt, wenn er den Fottschritt in der Geschichtswissenschaft als deren immer weiter<br />

fortschreitende Quantifizierung interpretien.<br />

Neoliberalismus als theoretischer niskurs tiber den Primat der 6konomie<br />

Nachdem in den Zeiten der Prosperitat, insbesondere seit der Studenten- undJugendrevolte<br />

und der Klassenoffensive der Arbeiter in der zweiten Halfte der 60er Jahre andere<br />

sinnsttftende Prinzipien als diejenigen eines quantitativen, in monetaren Einheiten kalkulierenden<br />

okonomischen Rationalismus das Leben und die Erwartungen an das Leben be~<br />

stimmt haben, werden nun diese emanzipativen Tendenzen wieder auf das Prokustes-Be~<br />

des okonomischen Rationalismus gefesselt. Der okonomische Liberalismus ist der Versuch<br />

einer Reduzierung der entwickelten Individualitat auf den Teilaspekt des produzierenden<br />

und konsumierenden »okonomischen Subjekts«, wie es seitJahrzehnten durch die Lehrbfic<br />

cher geisten. Der homo oeconomicus ist nicht allein eine Abstraktion yom Menschen, sondern<br />

als die nach bestimmten Regeln funktionierende Einheit in einem sich selbst steuernden<br />

System zu verstehen, wie es mit immer weiter entfalteter Perfektion von der Wiener<br />

(von Menger, von Wieser), von der Lausanner (Walras, Pareto) oder der Stockholmer Schu-<br />

Neoliberale KontefTellolution 21


,


die RUstung einzusetzen - nach innen und nach auBen. Der praktische<br />

von heute ist eine lebensbedrohliche Konzeption. Er muB theoretisch<br />

bekampft werden.<br />

(Fur Hinweise, Anregungen und Kritik danke ich besanders Kurt Hubner und Otto Kat/­<br />

scheuer.)<br />

Literatur<br />

Biedenkopf, K.M. / Miegel, M.: Wege aus der Arbeitslosigkeit, Stuttgart 1978<br />

B6hm, Franz: Das wirtschaftliche Mitbestimmungsrecht 1m Be/rieb, in: Ordo-Jahrbuch Nr. 4,1951<br />

Cohen, G.A.: Freedom, Justice and Capitalism, in: New Left Review No. 126, 1981<br />

Friedman, Milton: Capita/ism and Freedom, Chicago u. London 1962<br />

defs.: Die Gegenrevolutio'n in der Geldtheorie, in: Peter Kalmbach (Hrsg.), Der neue Monetarismus,<br />

Miinchen 1973<br />

ders.: The Counter-Revolution in Monetary Theory, 1970<br />

Gold, David A.: The Rise and Decline of the Keynesian Coalition, in: Kapitalistate No.6 (Fall 1977),<br />

S. 129 ff.<br />

Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium fur Wirtschaft, Bonn, Dez. 1978<br />

Hayek, F.A. von: The Road to Seifdom, London 19<strong>44</strong><br />

Kiker, B.F .. : The historical Roots for the Concept of Human Capital, in: Journal of Political Economy,<br />

1966, Vol. LXXV, S. 481 ff.<br />

Kristol, Irving: Two Cheers for Capitalism, New York 1978<br />

Lepage, Henri: Der Kapitalismus von morgen, Frankfurt/Main - New York 1979<br />

Maier, Charles S.: Recasting Bourgeois Europe, Princeton 1975<br />

Marcuse, Herbert: Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitaren Staatsauffassung, in: Zeitschrift<br />

fur Sozialforschung (Nachdruck), Miinchen 1970, Bd. 3, S. 161 ff.<br />

Mises, Ludwig von: Liberalismus, Jena 1927<br />

R6pke, Wilhelm: Die Lehre von der Wirtschaft, Erlenbach-Ziirich 1946<br />

Sklar, Holly: Trilatera/ism - The Trilateral Commission and Eiite Planning for World Management,<br />

Boston 1980<br />

Thurow, Lester C.: The Zero-Sum Society, Harmondsworth - New York 1980<br />

Neoliberale Konterrevolution 23


»Jetzt sind wir alle Keynesianer.«<br />

Richard Nixon 1972<br />

»Vor sieben Jahren befanden wir uns allein in der<br />

WeIt mit unserer festen antikommunistischen Haltung<br />

gegeniiber dem sowjetischen Imperialismus<br />

und mit unserem entschiedenen Eintreten fUr ein<br />

System der sozialen Marktwirtschaft, entgegengesetzt<br />

dem sozialisierenden Etatismus, der in der<br />

westlichen Welt vorherrschte ....<br />

Vor siebenJahren waren wir fast allein. Heute nehmen<br />

wir teil an einer weltweiten kategorischen<br />

Tendenz. Und ich sage Ihnen, meine Herren: Wer<br />

seine Vorstellungen geandert hat, das ist nicht<br />

Chile!«<br />

AugustoPinochetam 11. Man 1981 am Endeseiner<br />

Ansprache anlafilich der Ubernahme der chilenischen<br />

Prasidentschaft fur eine neue Amtszeit<br />

Es ist'rucht zu bezweifeln, daB wir in einer Periode einer neuen GroBen Depression leben<br />

oder .;. wie Ernest Mandel und andere sagen wrden! - in einer Periode einer langen Welle<br />

mit einem Grundton relativer Stagnation, einer Periode also, in der die zyklischen Krisen<br />

der Pfoduktion und des Handels heftiger werden und langer dauern als in den Perioden<br />

langer Wellen mit expansivem Grundton.<br />

Uns i):lteressiert hier nicht, die Forschungen uber die sogenannten Kondratieff-Zyklen 2<br />

meth~dologisch zu diskutieren; und wir wollen auch nicht uber das genaue Datum strdten,<br />

mit dem der letzte Zyklus begonnen haben mag. Fur die Zwecke dieses Artikels genugt<br />

es zu wissen, daB wir uns zu Beginn der achtzigerJahre des 20. Jahrhunderts mitten in<br />

ejner ~roBen Depression befmden. Wir mochten nun gern wissen, welche Auswirkungen<br />

diese ;neue Krisenperiode auf die Krafteverhaltnisse innerhalb der verschiedenen nationalen<br />

Wirtschaften, auf die Beziehungen zwischen ihnen und auf das Verhaltnis zwischen<br />

Wirtschaft und Politik haben konnte. Das hellit, wir wollen dazu kommen, eine These<br />

iiber die mogliche historisch-politische Bedeutung der neuen GroBen Depression zu formulieren.<br />

Urs Miiller-Plantenberg arbeitet als Wissenschaftlicher Angestellter amLateinamerika-Institut der<br />

Freien Universitat Berlin, Der vorliegende Artikel ist die Dbersetzung eines Vortrags, der Anfang<br />

April 1981 in Caracas/Venezuela in einem internationalen Seminar iiber die Weltwirtschaftskrise<br />

und ihre Auswirkung auf Lateinamerika gehalten wurde.<br />

Urs Muller-Plantenberg


Dazu ist es unvermeidlich, einen Blick auf die beiden ersten langen Perioden zu werfen,<br />

die unter den Historikem des entwickelten Kapitalismus als GroEe Depressionen bekannt<br />

sind, namlich das letzte Viertel des vergangenenJahrhunderts (genauer die Zeit zwischen<br />

1873 und 1896) und die Zeit zwischen den (ersten) beiden Weltkriegen (also zwischen<br />

1914/18 und 1939/45). Unvermeidlich erstens, weil wir nur so erkennen konnen, daEjede<br />

dieser GroEen Depressionen tiefgreifende qualitative Veranderungen in der sozialen Organisation<br />

der kapitalistischen Gesellschaften und in def Struktur des Weltmarkts zum Ergebnis<br />

gehabt hat, und zweitens, weil der Inhalt dieser tiefgreifenden Veranderungen auf<br />

die eine oder andere Weise die mogliche historisch-politische Bedeutung der gegenwartigen<br />

GroEen Depression bestimmen mufi.<br />

I. Die erste UetJl'e'ssi£m 1873 - 1896 und ihl'e .un'",,,;,,,,,,,,.<br />

In def ersten Halfte def siebziger Jahre des vorigenJahrhunderts endete eine Epoche, die<br />

mit Recht die »Bliitezeit des Kapitals« genannt worden ist. 3 In denJahren nach den Revolutionen<br />

von 1848 erlebte def Industriekapitalismus nicht nur in GroEbritannien, das weiterhin<br />

das Zentrum eines wachsenden Welthandels war, sondem auch in den USA, in<br />

Deutschland und anderen europaischen landem einen Aufstieg, wie man ihn vorher nirgends<br />

gekannt hatte. Dieser Aufstieg vollzog sich auf def Grundlage def systematischen<br />

Anwendung und Entwicklung schon lange bekannter Techniken: Die Kohle diente als<br />

Hauptenergiequelle, Eisen und Stahl als Hauptmaterial fur den Maschinenbau und die<br />

Dampfmaschine als wichtigste Bewegungsmaschine. Mit dem Bau eines Eisenbahnnetzes<br />

von Tausenden von Kilometern in aUer Welt und einer enormen Zunahme def Dampfschiffahrt<br />

wurde dieser Aufstieg auBerdem von einer Revolution des Verkehrssystems begleitet.<br />

Sie erlaubte die zunehmende Integration vieler kolonialer und halbkolonialer lander<br />

in den kapitalistischen Weltmarkt in dem MaBe, in dem diese lander zu Produzenten<br />

und Exporteuren von Rohstoffen fur die Industrieproduktion und fur die Ernahrung def<br />

Bevoikerung in den Industrielandern wurden. Die relativ niedrigen Lohne machten eine<br />

ziemlich hohe Profitrate moglich. Def Freihandd und eine Politik def Nichtinterventioh<br />

des Staates in die Wirtschaft erschienen als Garantien fur eine ununterbrochene wirtschaft­<br />

Hche Expansion. In den meisten europaischen Landem hatte es zwar der politische Liberalismus<br />

nicht erreicht, die politische Macht aus den Handen def konservativen Krafte zu erobern<br />

- und das vor aHem wegen seiner natiidichen Angst vor einer sozialen Revolution -,<br />

aber die Prinzipien des Liberalismus wurden von den Regierungen allgemein akzeptiert,<br />

wenn diese sich auch das Recht<br />

def Aristokratie einige Privilegien zu garantiereri,<br />

die Ihnen wichtig erschienen.<br />

Mit der ersten GroEen Depression andert s1ch die Geschichte. In den verschiedenen<br />

stridiindern entwickelte sich die Depression als eine Folge mehrerer Krisen der Uberakkumulation<br />

auf def Grundlage def alten Technologien def Kohle und def Dampfmaschine,<br />

wahr¢nd die neuen, auf Elektrizitat, Verbrennungsmotor und bestimmten chemischen<br />

Prozessen beruhenden Technologien noch nicht genugend weit entwickelt waren, urn eine<br />

ganze W dle groBer und gewinnbringender Investitionen zu<br />

die die gesamte<br />

technische Grundlage des Produktionssystems hatten umwalzen k6nnen. Diese Peri ode<br />

war deshalb dutch eine relativ niedrige Profitrate gekennzeichnet. Trotzdem wuchs tiberan<br />

das Industrieprodukt insgesamt, wenn auch in einem langsameren Rhythmus als in def<br />

Zur dritten GrojJen Depression 25


vorangegangenen Epoche. In def Lanclwirtschaft,die mit den Einfuhren aus Uberseezu<br />

konkurrieren hatte, waren die Auswirkungen def Krisen viel schaefer spurbar.<br />

Die grundlichsten und wichtigsten Veranderungen hatten jedoch mit def Rolle zu tun, die<br />

def Staat fUr die Wirtschaft zu spielen begann. Mit def einzigen Ausnahme Grofibritanniens,<br />

das als Welthandelszentrum den Freihandel beibehielt und nur mit einigen Sozialgesetzen<br />

in die industriellen Beziehungen eingriff, trafen aIle anderen Industrielander<br />

poIitische Mafinahmen, die schon damals von allen Fraktionen des Liberalismus als chafakteristisch<br />

fUr einen »kollektivistischen Protektionismus« gefahrlicher Art beklagt wurden.<br />

Urn das nationale Kapital und die Landwirtschaft zu schutzen, urn die »sozialen Kosten«<br />

def ka'pitalistischen Krise zu lindem und urn auf diese Weise eine soziale Revolution zu<br />

verhindem, wie man sie am Beispiel der Pariser Kommune von 1871 kennengelemt hatte,<br />

begannen die Staaten, neue Funktionen zu tibernehmen, die Ihnen vorher nicht zugefallen<br />

waren. Von nun an garantierten sie nicht mehr nUf die allgemeinen Bedingungen der<br />

Reproduktion des Kapitals, sondern bestimmtenauch tiber die konkreten Bedingungen.<br />

Die Staaten waren noch weit davon entfemt, in bezug auf Investitionen, direkte Forderung<br />

und eigene Unternehmen das Ausmafi an Aktivitat zu entfalten, das wir heute kennen,<br />

wohl aber wurden sie tatig auf den Gebieten des Zollschutzes, der Errichrung grofier<br />

offendicher lnfrastrukturanlagen, def Organisation def Sozialversicherung und des Arbeitsschutzes<br />

in Bergwerken und Fabriken. Und man darf auch die Auswirkungen nicht<br />

vergessen, die eine Politik beschleunigter Rustung und die Eroberung von Kolonien auf die<br />

Wirtschaft def Mehrheit der Industrielander hatten.<br />

Die Wirtschaftspolitik wurde damals eine der Hauptangelegenheiten des Staates. Wie aber<br />

die Politik immer mehr zur Wirtschaftspolitik wurde, so wurde auch die Wiri:schaft und<br />

mit iht die gesamte Gesellschaft politisiert. In dem Mafie, in dem der Staat in def Wirtschaft<br />

intervenierte, sahen sich die Vertreter der verschiedenen Wirtschaftsinteressen und<br />

gesellschaftlichen Gruppen gezwungen, sich immer mehr zu organisieren, urn auf den<br />

Staat Einflufi nehmen zu konnen, damit er zu ihren Gunsten oder wenigstens nicht gegen<br />

ihre Interessen interveniere. So entstanden oderwuchsen in dieser Zeit die groEen Verbande<br />

der Industrie, def Landwirtschaft, des Bergbaus, des Bankwesens, der Arbeitgeber, def<br />

Hersteller bestirnmter Waren, des Handels, die starken Gewerkschaften, die organisierten<br />

Massenbewegungen, die modernen politischen Parteien. Es war def Beginn eines gesellschaftlichen<br />

Prozesses, den die neue Wissenschaft def Soziologie dann als »Fundamentaldemokratisierung«<br />

bezeichnen sollte, def aber von Anfang an mit einer starken Tendenz<br />

zur Burokratisierung verknupft war, die notwendig erschien, damit die Organisation ihre<br />

Aufgaben gegentiber dem kapitalistischen Staat und gegentiber den Organisationen anderer<br />

soziale! Klassen erfUllen konnten.<br />

Diese grundsatzliche Veranderung der Rolle des Staates bedeutete auch, daB der Nationalstaat<br />

zum narurlichen Raum nlcht nur fUr die politischen Entscheidungen im engeren Sinne,<br />

sondeen auch fUr die kapitalistische Entwicklung wurde, zum Raum, von clem aus das<br />

national organisierte Kapital den Teil des Weltmarktes zu erobern suchte, der ihm gerecht<br />

und nQtwendig etschien. Wenn wit zu dieser Tatsache der nationalen Organisation des Kapitals<br />


II. zweite - 1939145 und ihre Jl.Jn'eo;"":I"<br />

Die<br />

dutch die Konkurrenz mehrerer<br />

innerhalb derer die<br />

Konzerne, die "UJIC \1ih·lit"rm schien nicht nur von sondern auch von<br />

innen emsthaft ,,"'.HUHL.<br />

Eo ist hier nicht<br />

die diese Simation<br />

in den verschiedenen ""'.PH."",'U;,,,,,."H<br />

daB der Faschismus in seinen unterschiedlichsten Ausdrucksformen ebenso wie die<br />

Zur dritten GroJSen Depression 27


M~LSse:ndemlok.ratJLe ttotz ailer enormen Dnterschiede, die zwischen diesen biirgerlichen Forpojl1t1!ichl~r<br />

Herrschaft existieren mogen, innerhalb des Rahmens des Organisierten<br />

.., ......p.... m' .. l1 .. ~ blieben. Besser gesagt: Sie waren die Ergebnisse unterschiedlicher Tendenzen<br />

Organisierten Kapitalismus.<br />

es sich, dafi nach der Krise von 1929 praktisch aile kapitalistischen Staaten witt-<br />

. schaftspolitische Mafinahmen ergriffen haben, die den Ideen von John Maynard Keynes<br />

entsprachen und eine weitere enorme Zunahme stattlicher Eingriffe in die Wirtschaft bedeuteten.<br />

Man muB hier feststellen, dafi sich die beruhmte Allgemeine Theorie von Keynes<br />

auf einige Grundannahmen stiitzte, die in der Wirklichkeit der dreiBiger Jahre, als, er<br />

.sie.formulierte, iiberall gegeben waren. Eine Steigerung der Beschaftigung und eine Politik<br />

der Vollbeschaftigung durch die Schaffung zusatzlicher (und sogar kiinstlither) Nachfrage<br />

von seiten des Staates muBte ohne Forderung inflationarer Tendenzen moglich sein, wenn<br />

man voraussetzte, dafi die Wirtschaft geschlossen und stationar war und dafi eine scharfe .<br />

Konttolle der Preise und LOhne oder zumindest ein hoher Grad von Disziplin der Dnter-<br />

. nehmer und der Gewerkschaften existierte. Dies


Aber diese Faktoren reichen nicht aus, das Ausma6 und die Dauer der neuen Prosperitat'Speriode<br />

zu erkIaren. Es gab andere, zusatzliche Faktoren. .<br />

Ein erster Faktor war die enorme Ausweitung der staatlichen Aktivitat in der<br />

Der so:Ziale Wohlstand in der Form der Vollbeschaftigung und eines Netzes der Soz.la1


proklamieren, hatten die Politiker derzentralen .Lander des kapitalistischeri<br />

\'W'eltsysltents keine groBen Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Die wachsende Ungletch­<br />

Situationen auf den Arbeitsmarkten der zentralen und der peripheren Lander hat­<br />

->.,,~--- Konsequenzen: eine immer groBere Differenzierung der LOhne im WeltmaBdie<br />

Arbeiter mit geringer oder gar keinerQualifikation, eine Spezialisierung der<br />

Wirtschaften auf die Produktionszweige mit hoher Kapitalintensitat und einen<br />

!lenlmc:no ungleichen Austausch von Arbeitsstunden zwischen den zentralen und peri-<br />

Wirtschaften.<br />

Gebiet, auf dem eine starke l'rotektion beibehalten wurde, war die Landwirt­<br />

Das hatte ebenfalls mit der Politik der Vollbeschliftigung zu tun. Um den Bauern<br />

genUjgerlCl hohes Einkommen zu garantieren und auf diese Weise ihren massenhaften<br />

.TI;;"»'_;~~ in den Arbeitsmarkt der Industrie und der Dienstleistungen zu verzogern, wurden<br />

die landwirtschaftlichen Produkte hohe Preise festgesetzt, was eine zunehmende Uberpr()duktion<br />

auf der Grundlage auBerordentlich hoher Arbeits- und Boden-Produktivitat<br />

.zumErgebnis hatte. Diese Uberproduktion muB entweder vernichtet oder unter den Weltlllatktpreisen<br />

verkauft oder im Rahmen der Programme gegen den Hunger in der Welt ver-<br />

,$chenkt werden. Diese Politik, die wegen der 9.oppelten Kosten rur die Verbraucher und<br />

,'dk Steuerzahler nach streng wirtschaftlichen Kriterien offensichtlich absurd ist, hatte jedoch<br />

Auswirkungen, die noch meh~ zur Verlangerung der Prosperitatsperiode im Zentrum<br />

~eittugen, indem MaBe namlich, in dem sie Kapazitaten moglicher Konkurrenten auf die­<br />

Gebiet zerstorte und auf diese Weise die iibrigen Produkte, die von den Peripherielankommerzialisiert<br />

werden, noch mehr verbilligte.<br />

also die wachsende K~nzentration der internationalen Einkommenssttuktur ermoghat,<br />

war weder eine generelle Politik des Freihandels, noch eine generelle Politik des<br />

.. sondern eine Politik, wie sie Dieter Senghaas rur eine autozentrierte Ent-<br />

,'> , .. ,,,,,.u,u,, der unterentwickelten Lander vorschlagt, namlich eine »selektive Dissoziation«<br />

eltmarkt seitens der Lander des Zenttums. 6<br />

. .., •. 1.\.,,,ll.,,,> Faktor, der zur Verlangerung der Prosperitatsperiode im Zentrum des kapitali­<br />

'~U~UJl


IV. Die An/ange der dritten Groften Depression<br />

Dieselben Faktoren, die fur einige Zeit daw beigetragen hatten, die Periode def Prosperitat<br />

in den zentralen Wirtschaften zu vertiefen und zu verlangern, waren es, die dann de<br />

Krise hervorriefen und verschiirften, als schliefilich die hohen Wachstumsraten, die fur die<br />

Zeiten def Erholung und des Wiederaufbaus charakteristisch gewesen waren, endgiiltig<br />

verschwanden.<br />

Das permanente Defizit in def Zahlungsbilanz der USA zerstorte das Vertrauen in den<br />

Dollar und in die Stabilitat des Weltwahtungssystems, was dazu beitrug, ubetall inflationare<br />

Prozesse in Gang zu setzen, die hum kontrollierbar waren.<br />

Die unbegrenzte Verwendung und Verschwendung des ultrabilligen Erdols sorgte dahlr,<br />

daB sich die Regierungen def erdolexportierenden Lander klar damber werden konnten,<br />

daB sie ein Monopol fur einen Rohstoff besaBen, def einerseits nur begrenzt vorhanden,<br />

andererseits aber fur das in def gamen Welt verfolgte Wachstumsmuster unentbehrlich ist.<br />

Sie steigerten also den Preis des Erdols in einem nie zuvor gekannten AusmaB mit den entsprechenden<br />

und vorhersehbaren Konsequenzen fur die Handelsbilanz det importierenden<br />

Lander.<br />

Die Vollbeschaftigung und de! Schutz des Arbeitsmarktes fuhrten zu Lohnsteigerungen,<br />

die uber die Erhohungen def Arbeitsproduktivitat hinausgingen, was die Unternehmen in<br />

Industriezweigen mit hoher Arbeitsintensitiit dazu trieb, ihre Produktion in andere Teile<br />

def WeIt zu verlagern, in denen niedrigere Lohne gezahlt wurden. 7<br />

Die F'reihandelspolitik def fortgeschrittenen Lander drohte, sich in dem Mafie gegen sie<br />

selbst.zu riehten, wie sich die transnationalen Unternehmen und Banken in ihfen Investitionsentscheidungen<br />

von ihren Ursprungslandern unabhangig machten.<br />

Die Pblitik einer wachsenden staatlichen Nachfrage licE es zu, daB »ineffiziente« und weniger<br />

p~oduktive Einzelkapitale nicht in ausreichencler Menge vernichtet wurden, umeine<br />

hohe purchschnittsprofitrate aufrechtzuerhalten.<br />

DIe Subventionen fur die Landwirtschaft, die unkontrollierbaren Kosten fur die offendichen<br />

Infrastrukturanlagen und die hohen und wachsenden Kosten fur das Netz def sozlalen<br />

Sitherheit bedeuteten ein immer starkeres Ansteigen def offentlichen Ausgaben, was<br />

bewirkte, daB sowohl die Steuern als auch die Haushaltsdefizite und die Verschuldung des<br />

Staat¢s anstiegen, mit allen Folgen und Implikationen, die das fur die Profitrate und fur<br />

das Pteisniveau hat.<br />

Aufierdem war die Gesetzgebung in vielen Bereichen wahrend der langen Prosperitatsperiode<br />

Unter der Annahme erfolgt, daB hohe Wachstumsraten und Vollbeschaftigung fur eine<br />

unbestimmte Zukunft wiirden aufrechterhalten werden konnen, was zur FoIge hatte,<br />

daB die Umverteilungseffekte mit dem Ruckgangdes Wachstums und der Steigerung def<br />

Arbeitslosigkeit unverhaltnismaBig wachsen muBten. Diese Situation stellt daher den Staat<br />

VO! Alternative, entweder mit den UmverteilungsmaBnahmen fortzufahren und das<br />

Wachstum zu gefahrden oder eine Politik des Wachstums durch das Angebor giinstiger Investitionensmoglichkeiten<br />

zu betreiben und dahlr die Umverteilung zu beschneiden. Dies<br />

ist die Entscheidung, Vo! der insbesondere die europaische Sozialdemokratie steht, die s1ch<br />

mehr als andere politische Stromungen mit der Wirtschaftspolitik des Keynesianismus<br />

identifiziert hat. 1m ersten Fall erscheint der Staat als unverantwortlich gegenuber def<br />

Bourgeoisie und den Mittelklassen, die deshalb mit ihren Investitionen dorthin gehen we!"<br />

den, wo die Zinsen die Steuern niedriger und die Profitaussichten giinstiger sind.<br />

Zur dr-itten Grofien Depression 31


1m zweiten Fail schafft er eine massive Unzufriedenheit unter den Empfangern von Sozialhilfe<br />

t;lnd Subventionen. Der Staat erscheint in beiden Fallen (und auch bel dem Versuch,<br />

einen'Mittelweg einzuschlagen) als Trager de! Verantwortung flir die Wirkungen, die die<br />

Krise auf das tagliche Leben def Leute hat. Abet nlcht nur das: Wahrend in den friiheren<br />

GroEen Depressionen breite Teile def Arbeiterklasse und def Schichten mit niedrigerem<br />

Einkommen das kapitalistische System seIbst als verantwortlich flir die Krise identifiziert<br />

hatten, machen sie heute flir dieselbe Krise den uneffizienten und zunehmend bUrokratischen<br />

Staat verantwortlich, def nach ihrer Ansicht nicht fahig ist, genUgend kapitalistisch<br />

:m sein, urn al, Sozialstaat gut funktionieren zu k5nnen. Das ist der Grund, warum es wenig<br />

wahrscheinlich erscheint, daE die kapitalistischen Krisen def dritten GroBen Depression<br />

in ein'e Krise des KapitaEsmus einmunden.<br />

Darnit da, geschahe, mUBte es auBer den kapitalistischen Krisen die reale und sichtbare<br />

Moglichkeit einer alternativen Produktionsweise geben, die den konkreten Bedurfnissen<br />

det Arbeiterklasse besse! entsprache. Das war der Fall in den beiden friiheren GroBen Depressionen,<br />

als die sozialistische Zukunft oder die Russisiche Revolution 1m Vergleich mit<br />

dem Elend, in dem die Arbeiter und Arbeitslosen lebten, groBe Erwartungen weckten. Die<br />

sogenannten sozialistischen Lander von heute bieten flir die Arbeiterklasse der zentralen<br />

Lander des kapitalistischen Weltsystems diese Art von Perspektive nlcht. Und das nicht<br />

nur, wei! sie mit allen Folgen, die das fur die Entwicklung def Produktivkrafie hat, (und<br />

mit quantitativ schlechteren Ergebnissen) dieselbe Art der Organisation des Produktionsprozesses<br />

ubernommen haben wie die kapitalistischen UnternehmerB, sondern auch, weil<br />

sie sich defart in den Weltmarkt und die internationale Arbeitsteilung eingefligt haben9,<br />

daE sie von der neuen GroEen Depression fast in demselben AusmaB beriihrt und -betroffen<br />

wurden wie die zentralen kapitalistischen Lander, teilweise sogar noch starker. Es ist bezeichnend,<br />

daB die Wirtschaftskrise genau in den beiden Landern (namlich Rumanien und<br />

Polen) dn groEeres Ausmafi erreicht hat, an deren AuEenhandel der Antdl des Handels<br />

mit den kapitalistischen Landern am groBten ist. Die Ereignisse in Polen seit 1980 haben<br />

den westeuropaischen Arbeitern auBerdem gezeigt, daB die Pattei, die dort den wirtschaftlichen<br />

und politischen ProzeB Un Namen def Arbeiterklasse leitet, keineswegs der treue Interpret<br />

def unmittelbaren und konkreten Bedurfnisse def graBen Masse der Arbeiter und<br />

der B(~v51kerung Un allgemeinen ist.<br />

Der sogenannte »real existierende Sozialismus« stellr also far die Arbeiter der Lander des<br />

kapitalistischen Zentrums keine wirkliche Alternative WI kapitalistischen Produktionsweise<br />

dar'. Und auch die Projekte der sogenannten »alternativen« Gruppen (def Okoiogen, der<br />

»Griinen« usw.) tun das nicht, weil die Produktionsweisen, die sie verfechten, eher komplementar<br />

zur kapitalistischen Produktionsweise sind. Solange nun abet keine reale und<br />

sichtbare Alternative :wm Kapitalismus existiert, ist es wahrscheinlich und geradezu sieher,<br />

daE die qulitativen Veranderungen, die von einer GraBen Depression zu erwarten sind und<br />

die Probleme, die mit ihr auftreten, Veranderungen sein werden, die sich innerhalb des<br />

kapitalistischen Schemas bewegen. Bevor wit jedoch in die Diskussion dieser sich schon ankiind.lgenden<br />

Veranderungen eintreten, ist es notig, einen Blick auf die Entwicklung des<br />

Kapitalismus in Lateinamerika in den letzten flinfzigJahren zu werfen.<br />

32 Urs Miiiler-Plantenberg


V. Die Industrialisierungsversuche in Lateinamerika<br />

Anfanglich entsprach die Industrialisierung dutch Substitution von Importen in verschiedenen<br />

lateinamerikanischen Landern nlcht einer uberlegten und geplanten Politik, sondern<br />

!lie ergab sich als Moglichkeit und Notwendigkeit angesichts der schwierigen Situation<br />

des Welthandels nach def Krise derJahre 1929 bis 1933. Der enorme Ruckgang def Exporte<br />

schwachte die gesellschaftliche Macht def Rohstoffexporteure und der sogenannten<br />

Kompradorenbourgeoisie so sehr, daB sie das Krafteverhaltnis zugunsten einer Industri­<br />

Bourgeoisie verschob, die wachsen konnte, weil sie den Schutz genoB, den ihr zuerst die<br />

zweite GroBe Depression selbst und dann der Zweite Weltkrieg boten. Aber im Verlauf relativ<br />

weniger Jahre entwickelte sich aus dieser Situation ein uberlegter und geplanter Protektionismus<br />

mit wachsender Intervention des Staates in die Wirtschaft, ein »kollektivistischer«<br />

Protektionismus, der seit def Grundung def Wirtschaftskommission der Vereinten<br />

Nationen fUr Lateinamerika (EeLA) mit def theoretischen Begrundung und Absegnung<br />

durch die entwicklungsorientierten Denker dieser hoch angesehenen internationalen Insti~<br />

tutlon rechnen konnte.<br />

Es ist hier weder moglich noch notig, den gesamten ProzeB def Industrialisierung durch<br />

Substitution von Importen zu analysieren. Was uns interessiert, ist die Tatsache, daB in<br />

diesem ProzeB im Zeitraum weniger Jahrzente aIle Tendenzen zusammengeflossen sind,<br />

die in den fortgeschrittenen Liindern wahrend eines ganzen Jahrhunderts allmahlich als<br />

praktische Antworten auf die Herausforderungen, die die GroBen Depresslonen konkret<br />

mit sich brachten, entstanden waren, und das unter den erschwerten Umstandefi politischer,<br />

wirtschaftlicher, finanzieller und technologischer Abhangigkeit und des Ruckstands<br />

def Produktivkrafte in groBen Teilen def Landwirtschaft. Innerhalb ganz weniger Jahrzehnte<br />

entwickelte sich auf diese Welse ein »organisierter Kapitalismus« mit allen oben beschriebenen<br />

Eigenschaften, aber mit einem Staat, der fast von Anfang an mehr Funktionen<br />

ubernahm als de! typische europaische Staat vot dem Ersten Weltkrieg. Um seine Rolle in<br />

diesem ProzeB zu erfiillen, muBte der Staat nieht nut die Industrie schutzen und Infrastrukturanlagen<br />

errichten, sondern auch die Industrialisierung aktiv fordern, groBe Investitionen<br />

selbst durchfUhren, groBe Unternehmen grunden, viele Leute beschaftigen, Sozialleistungen<br />

verteilen und eine keynesianische Konjunkturpolitik betreiben.<br />

Dieset IndustrialisierungsprozeB war solange wenig problematisch, wie es sich darum handelte,<br />

den Import von Massenkonsumgtitern zu substituieren, die mit relativ einfachen<br />

Technologien und relativ arbeitsintensiven Produktionsmethoden hergestellt wurden. In<br />

dem MaBe aber, in dem die Industrialisierung in den verschiedenen Landem in die Phase<br />

def Produktion von dauerhaften Konsumgtitern fUr einen beschrankten Binnenmarkt und<br />

mit hohen Kapitalkosten eintrat, begannen die Probleme.<br />

Dieses Industrialisierungsmuster fUhrte nun zu hohen Produktionskosten bei gleichzeitiger<br />

Schwierigkeit, optimale BetriebsgroBen zu erreichen. Seine Beibehaltung bedeutete hohe<br />

Haushaltsdefizite, dne wachsende Auslandsverschuldung und steigende Inflationstendenzen.<br />

Aber die Probleme beschrankten sich nicht auf den rein wirtschaftlichen Bereich. In<br />

dem MaBe, in dem die Wirtschaftspolitik zur Hauptsorge des Staates wurde, politisierte<br />

sich die Okonomie und okonomisierte sich die Politik. Die Gewerkschaften, die Berufsverbande,<br />

die Unternehmerverbande und die politischen Parteien gewannen an<br />

Starke und schlossen Bundnisse, um zur Verteidigung ihres Anteils bei def Verteilung des<br />

Wirtschaftsprodukts mehr EinfluB auf den Staat nehmen zu konnen. Es ergab sich so ein<br />

Zur dritten Grofien Depression 33


DemoktatisierungsprozeB mit starken nationalistischen und sozialistischen Tendenzen,<br />

wahrend sich gleichzeitig als Ergebnis def wirtschaftlichen Entwicklung die Verstadterung,<br />

begleitet von der Marginalisierung groBer Teile derBevolkerung, beschleunigte. In den<br />

sechzigerJahren und zu Beginn der siebziger sorgte diese Situation dafur, daB die Revolutionare<br />

der Welt in Lateinamerika die Buhne fur einen nahen Triumph des Sozialismus sahen.<br />

Man hnn sagen, daB die Analysen uber die Undurchfuhrbarkeit dieser protektionistischen<br />

Industrialisierungsstrategie, wie sie die linken Kritiker (mit ihrem Abhangigkeits-Ansatz)<br />

ansteUten, ziemlich genau mit denen der liberalen Okonomen ubereinstimmten. Nur gab<br />

es einen grundsatzlichen Unterschied: Fur die ersten bedeutete die Krise des Modells die<br />

endgi.i~tige Krise des Kapitalismus an der Peripherie des Weltsystems, eines Kapitalismus,<br />

der schon so geschwacht war, daB ihn die Massen mit ein wenig mehr Kampfentschlossenheit<br />

wilrden beseitigen konnen, wahrend die anderen die Krise des Modells als eine Krise<br />

des »sozialisierenden Etatismus«, wie Pinochet das heute ausdruckt, analysierten.<br />

Fur die Zwecke unseres Artikels interessieren uns hier abet vor aHem zwei Dinge: Erstens<br />

vereinigte die Strategie det Industrialisierung dutch Substitution von Importen in sich die<br />

Haupt,merkmale in bezug auf das Verhaltnis zwischen Staat ud kapitalistischer Wirtschaft,<br />

wie sie sich im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems entwickelt hatten. Und zweitens<br />

scheiterte und erschopfte sich dieser Versuch einer geplanten kapitalistischen Industrialisierung<br />

(Ausnahmen sind moglicherweise Brasilien und Mex1ko), noch bevor die ersten Auswirkungen<br />

der dritten Grafien Depression 1m Zentrum voll spurbar wurden. Auf diese<br />

Weise waren, als die Lander des Zentrums in die Periode def dritten GroBen Depression<br />

eintraten, die Losungen schon bekannt, die man in Lateinamerika gefunden hatte, urn die<br />

schein bar ausweglose Situation zu uberwinden, und konnten so als Muster dienen.<br />

VI. Die Losung nach chilenischem Muster<br />

Ironischerweise hat ein von Keynes selbst entworfener internationaler Organismus, namlich<br />

def Internationale Wahrungs-Fond, am starksten darauf hingearbeitet, zu verhindern,<br />

daB die Politik def Dberwindung von Konjunkturkrisen durch Steigerung def staatlichen<br />

Nachfrage uberall angewandt wurde. Die von Keynes vorgeschlagene, auf Stimulierung<br />

der Nachfrage zielende Politik verlangte namlich als Gegensmck ein aufienwirtschaftliches<br />

Gleichgewicht der verschiedenen nationalen Wirtschaften, und def lWF war die Organisation,<br />

die damit beauftragt war, dafur zu sorgen, dafi die Lander mit einem aufienwirtschaftlichen<br />

Ungleichgewicht schnell zum Gleichgewicht zuruckkehrten. In dem Mafie<br />

aber, i)1 dem das Ungleichgewicht in vielen unterentwickelten Landern, die sich zu industrialisieren<br />

suchten, chronisch wurde, verlangte def IWF von ihnen die Anwendung immer<br />

strengerer Programme: Senkung der offentlichen Ausgaben, Erlaubnis def freien Einfuhf<br />

von Kapital und Waren, Senkung def Lohnkosten usw. usw. Da die Analysen des IWF<br />

ausschlaggebend fur die Kredirfahigkeit dieser Lander sind, blieb Ihnen keine andere Moglichkeit<br />

als seinen Instruktionen zu folgen, urn so den ZufluB neue! Kredite zu sichern.<br />

Tatsachlich waren die Programme, die def IWF den ungleichgewichtigen unterentwickelten<br />

Wirtschaften auferlegt hat, niemals etwas anderes als eine Politik, die darauf gerichtet<br />

war, statt der Nachfrage das Angebot anzureizen, eine Politik also, deren sozlale Konsequenzen<br />

in einem graBen Teil det Welt wohl bekannt sind und die nut in den Landem des<br />

34 Urs Miiller-Plantenberg


Zentrums des kapitalistischenWeltsystems.als def letzte Schrei derWirtschaftswissenschaften,<br />

als die neue Alternative zum Keynesianismus verkauft werden kann.<br />

Als in vielen lateinamerikanischen Landern die Strategien def Industrialisierung durch<br />

Importsubstitution scheiterten, war die Dutchsetzung dieser angebotsorientierten<br />

Politik def einzige Weg, urn diese Lander innerhalb des kapitalistischen Systems zu<br />

halten. Und in mehreren Landern war das nicht anders moglich als dutch einen MiEtatputsch.<br />

Chile ist fur unsere Uberlegungen der interessanteste und wichtigste Fall. Und das nicht<br />

nur, weil die gesellsehaftiche und politische Entwicklung vor dem Putsch zu einem ernst"<br />

haften Versuch gefuhrt hatte, das kapitalistische Funktionieren def Wirtschaft dUfch etwas<br />

anderes zu ersetzen, sondern VOl aHem, weil das ultraliberale und monetaristsche Wittschaftsteam<br />

def Militarregierung es verstanden sieh nach dem Putsch von 1973 schnell<br />

innerhalb des Maehtblocks durchzusetzen, .und so seine Entscheidungsgewalt weit tiber die<br />

reine Wirtschaftspolitik hinaus ausdehnen konnte, urn sowohl die Wittschaft, als auch<br />

Staat und Gesellschaft aufierordentlich konsequent (und nach den eigenen Kriterien erc<br />

folgreich) neu zu gestalten.<br />

Das Hauptziel dieser ehilenischen Wirtschaftsexperten unter def Ftihrung von Sergio de<br />

Castro und Alvaro Bard6n und unter dem Schutz von Prasident Pinochet, besteht nicht<br />

darin, eine Wirtschaftspolitik dutch eine andere zu ersetzen, sondern, soweit das moglieh<br />

ist, jeder Art von staatlicher Wirtschaftspolitik ein Ende zu setzen. Wir konnten ihr Hauptzie!<br />

die »Desorganisation« des organisierten Kapitalismus nennen. Sie solI zur Schaffung einer<br />

»freien Gesellschaft« (gemafi dem Sprachgebrauch des »Wall StreetJournal«) fUhren, in<br />

def die unbeschrankte wirtschaftliche Freiheit jedes Einzelnen die Grundlage aller anderen<br />

Freiheiten ware.<br />

Man hat oft darauf bestanden, daB das chilenische Militar-Regime die Kombination eines<br />

extremen Manehester-Liberalismus in del Wirtschaft mit einem extremen Anti-Liberalismus<br />

in def Politik darstelle. Das ist abet nicht so. Das chilenische Militar-Regime folgt dem<br />

Ultra-Liberalismus in jeder Beziehung. Nach der Ideologie seiner politisehen Fuhrer besteht<br />

die Hauptaufgabe des Staates das Individuum gegen die gesellschaftlichen und<br />

politischen Organisationen zu »schiitzen«, die, statt ihm zu helfen, nur seine Freiheit und<br />

Personlichkeit zu unterdrucken suchen. Um dies en Schutz des Individuums zu gewahdeisten,<br />

mufi def Staat entschlossen sein, vo! keinem Druck organisierter gesellschaftlicher<br />

Krafte zuruckzuweichen. Das bedeutet, daB sich seine Autoritat in keinem FaIle auf ein System<br />

def Legitimation smtzen darf, das es den gesellschaftlichen und politischen Organisationen<br />

erlauben Macht und Einflufi zu gewinnen und so Druck auf den Staat ausuben<br />

zu konnen. AuBerdem muE def Staat gentigend gerustet, vorbereitet und entschlossen<br />

Versuch der Neubelebung von Organisationen zu<br />

die die »sozialisierenden«<br />

Tendenzen def Vergangenheit wieder zu starken versuchen. Die direkte Unterdruckung<br />

ist aber nicht def einzige Faktor, def bei def Schwachung der wirtschaftlichen<br />

und gesellschaftlichen Organisationen eine Rolle spiek Wenn def Staat sich dutch keinerlei<br />

Druck beeinflussen verlieren die Organisationen, die mit dem Zid geschaffen worden<br />

waren, auf den Staat Druck<br />

und die mit jedem Erfolg Macht gesammelt<br />

hatten, notwendigerweise wieder an Starke. Das Ergebnis ist eine Atomisierung de! Gesellem<br />

, wie er fur aIle im engen Sinne wirtschaftlichen Sozialbeziehungen<br />

kennzeiehnend die nicht auch in einen Ausdruck<br />

finden.<br />

Zur dritten Grofien Depression 35


Was man in Chile zu erreichen versucht,ist die Entokonornisierung desStaates und die<br />

Entstaatlichung der 6konornie, die Entpolitisierung der 6konomie und die Entokonomisierung<br />

der Politik. AIle sogenannten »Modernisierungen« in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft<br />

werden eindeutig und erklartermafien in diesem Sinne interpretiert.<br />

Strategie der Nicht-Intervention des Staates in die Wirtschaft bietet den Vorteil, als gesellschaftich<br />

neutral zu erscheinen. Natiirlich ist sie es nicht. Sie lafit offen Arbeitslosigkeit<br />

und Lohnsenkungen zu und diszipliniert so die Gewerkschaften. Sie gestattet Freihandel<br />

und hohe Zinssatze und zerstort auf diese Weise »uneffiziente« Kapitale. Sie senkt die<br />

auf hohe Einkommen, kiirzt drastisch die offentlichen Ausgaben und schafft so<br />

Grundlagen rur eine langfristig hohe Profitrate. Das hellit, sie begiinstigt die einen<br />

~nd benachteiligt die anderen. Sie begiinstigt die Reicheren, die Fahigeren, die Bewegli­<br />

~eren, die Schnelleren, die Leute, die ihre Risiken verteilen konnen, und diejenigen, die<br />

hesser zu spekulieren wissen. In wenigenJahren hat sie zu einer enormen Konzentration<br />

det 'Einkommen geruhrt und eine unglaubliche Zentralisation des Kapitals in den Handen<br />

einiger weniger Wirtschaftsgruppen hervorgebracht, die Interessen in allen Wirtschaftsbereichen<br />

miteinander verbindenY<br />

Diese ganze Politik stellt sich selbst mit dem triumphierenden Pathos einer kapitalistischen<br />

R.evolution dar, einer zweiten Biirgerlichen Revolution, die sich dieses Mal nicht gegen die<br />

feudalen Privilegien richtet, sondern gegen die Privilegien, die der kapitalistische Staat in<br />

den letzten hundertJahren unter die gesellschaftichen Gruppen verteilt hat. Es ist eine im<br />

breitesten Sinne des W ortes anti-sozialistische Revolution, wobei Anti-Sozialismus »Oppositiongegen.alle<br />

direkten Regierungseingriffe in den Markt, in wessen Interesse solche Eingriffe<br />

auch immer ausgeiibt werden mogen«, bedeutet, wie Friedrich August von Hayek,<br />

der gegenwartig bei den chilenischen Regierungs-6konomen beliebteste Ideologe, das formuliert.<br />

12<br />

. :Der wichtigste Erfolg, den die sogenannten »Chicago boys« von Chile gehabt haben, ist der<br />

vollige und unbegrenzte Riickhalt, den sie beim internationalen Finanzkapital genieBen,<br />

. das auf diese Weise den Versuch belohnt, die Profitrate mittels der systmatischen Desorganisation<br />

des organisierten Kapitalismus.zu steigern.<br />

VII. Die Desorganisation des organmerten Kapitalismus als mogliches Ergebnis der dritten<br />

Grofien Depression<br />

Bis zumJahre 1979 erschienen Chile und andere Lander, in denen eine ahnliche monetaristische<br />

Politik betrieben wurde, als exotische faIle, die mit der Situation in den Landern<br />

des Zentrums des kapitalistischen Weltsystems nichts zu tun hatten. In einem 1975 in<br />

GroBbritannien gehaltenen Vortrag hielt es Eric Hobsbawm beispielsweise noch rur absolut<br />

sicher, dafi sich in Zukunft keine Regierung eines Industrielandes den politischen Luxus er­<br />

Iauben konnte, eine Politik zu betreiben, die eine Riickkehr zu Massenarbeitslosigkeit in<br />

den AusmaBen der Zwischenkriegszeit bewirken wiirde.13 Heute gibt es in diesem Land<br />

GroBbritannien schon fast drei Millionen Arbeitslose als Ergebnis der Wirtschaftspolitik<br />

von Frau Thatcher.<br />

Der erste Schreck nach der sogenannten 6Iktise von 1973/74 wurde schnell iiberwunden.<br />

Das Recycling der Milliarden von Petro-Dollars funktionierte zufriedenstellend und sogar<br />

besser, als man gedacht hatte. Trotz der hohen Kosten rur das importierte 61 konnte die<br />

36 Urs Miiller-Plantenberg


Bundesrepublik Deutschland ihren HandelsuberschuB 1974 sogar enorm steigern. AIle.<br />

Welt sprach vom »Modell Deutschland«, das der WeIt zeigen wiirde, wie man einen privilegierten<br />

Platz in der Weltwirtschaft mit aktiver Beteiligung des Staates, der transnationalen<br />

Unternehmen und def Gewerkschaften und unter Anwendung einer modernen Wirtschaftspolitik<br />

keynesianischen Stils erfolgreich erobern konnte. 14 Nach den Regierungswechseln<br />

in GroBbritannien und den USA und nach def zweiten drastischen ErhOhung def<br />

Erdolpreise sieht es heute schon ganz anders aus. 1980 waren Deutschland undJapan die<br />

fortgeschrittenen kapitalistischen Lander mit den hOchsten Leistungsbilanzdefiziten. Die<br />

Analysen, die man uber den »Neo-Korporatismus«, eine Art »super-organisierten Kapitalismus«,<br />

angestellt hat, sind offenbar schon nicht mehr giiltig. Der Mode entspricht heute<br />

eine Politik, die darauf ausgeht, die Rolle des Staates zu vermindern, die offentlichen Ausgaben<br />

zu kiirzen, die Steuern zu senken, Subventionen zu streichen, Protektion abzuschaffen,<br />

kurz: eine Wirtschaftspolitik, die, wie ihre Vorkampfer sagen, das Angebot stimulieren<br />

muBte, das sich dann schon immer seine Nachfrage schaffen wird.<br />

Um diese Politik zu betreiben, ist es nun aber in einer burgerlichen Demokratie notwendig,<br />

die Mehrheit def Wahler zu gewinnen und jedem Druck gesellschaftlicher Organisationen,<br />

woher er auch kommen mag, zu widerstehen. Und hier haben Eric Hobsbawm und<br />

andere und wir alle gedacht, daB das niemals moglich sein wird. Aber Margaret Thatcher<br />

und Ronald Reagan zeigen, daB es moglich ist. Jedem, der ihnen zuhOren will, sagen sie:<br />

»Auf Druck reagieren wir nicht.«<br />

Schon mit diesen Worten schwachen sie die gesellschaftlichen Organisationen, die rur ihre<br />

Mitgli~der nichts erreichen konnen. Das Ziel, die Profitrate langfristig zu erhohen und die<br />

Effizienz und Konkurrenzfahigkeit der Unternehmen zu steigern, gilt mehr als der nachlassende<br />

Ruckhalt bei den Wahlern. AuBerdem bleiben noch drei oder vier Jahre bis zu<br />

den nachsten Wahlen. Wichtiger als das Vertrauen def Wahlerschaft ist das Vertrauen des<br />

transnationalen Finanzkapitals. Die neue ErhOhung des Erdolpreises hat die Menge def Petro-Dollars<br />

enorm gesteigert, fur die nun giinstige Profitmoglichkeiten angeboten werden<br />

mussen. 1m Unterschied zur Situation vor siebenJahren erweist sich das Recycling als sehr<br />

schwietig. Es fehIt an guten Schuldnern. Und die besten Schuldner werden die sein, die an<br />

def neuen kapitalistischen Revolution gegen den »sozialisierenden Etatismus« teilnehmen.<br />

Es ist nlcht sehr wahrscheinlich, daE die Vertreter dieser neuen kapitalistischen Revolution<br />

in demokratischen Wahlen wiedergewahlt wiirden. Abet wenn sie ihre Posten in den Regierungen<br />

verlassen, werden ihre Lander nicht mehr dieselben sein wie vorher. Und die anderen<br />

Lander auch nicht, denn an der Konkurrenz urn das Vertrauen des transnatidnalen<br />

Finanzkapitals mussen aile teilnehmen, ob sie wollen oder nicht. Die transnationalen Unternehmen<br />

und Banken (und auch die groBen Erdolexporteure) haben sich derartig von der Politik<br />

def zentralen Staaten unabhangig gemacht15 , daB schon keine Wirtschaftspolitik mehr<br />

moglich ist, die sich auf die Grundannahmen einer geschlossenen Wirtschaft stUtzt. Es mag<br />

sem, daB einige Regierungen angesichts def Wirkung def Krise und mit Rucksicht auf demokratische<br />

Wahlen noch versuchen werden, bestimmte Bereiche gegen die Stiirme des Weltmarktes<br />

zu schutzen. Das Wahrscheinlichste ist aber, dafi mittelfristig aIle zentralen Lander des<br />

kapitalistischen Weltsystems an der neuen kapitalistischen Revolution teilnehmen.<br />

Es scheint demnach, daE die qualitative Veranderung, die von def dritten GroEen Depression<br />

zu erwarten ist, in der Riickkehr zum liberalen Kapitalismus des vorigenJahrhunderts,<br />

in def Desorganisation des organisierten Kapitalismus nach hundert Jahren Gemeinsamkeit<br />

zu suchen ware.<br />

Zur dritten Grofien Depression 37


. " .<br />

intetessant uhd nicht einmal zu komplizien, uber die Wirkung nachzudenkfn, di~<br />

von Entwicklung auf die internationale Einkommensvetteilung haben kann. Es<br />

, wichtiger und dringender, zu untersuchen; welche Bedeutung innerhalb der neuen<br />

.·~jlpit:aUs:tisc:hen Revolution die Rustungspolitik und die so erklartermaBen antikommuni-<br />

! haben.<br />

hier vielleicht lohnend, zu den Quellen des wirtschaftli~hen Liberalismus zUrUckzu­<br />

, Adam Smith sagt uns, daB es nur zwei Bereiche gibt, in denen die Staatsausgaben<br />

yutloe:grenzt hoch sein kannen und durfen: die Reprasentation des Staatsoberhauptes und<br />

l.alldf!SvC!ttf:ldJ·lgung. Die Ausgaben fUr die Landesverteidigung wachsen nun mit dem<br />

Zivilisation, den das Land erreicht hat, wobei die Zivilisation das Ergebnis der<br />

VtlJrtschaJtthchc:n Freiheit ist, die mitmehr und besseren Waffen gegen die weniger zivili­<br />

Lander verteidigt werden mufi. Fur die Ideologen der neuen kapitalistischen Revosind<br />

nach dieser Denkfigur die verstaatlichenden Sozialdemokraten, die Sozialisten<br />

Kommunisten die weniger Zivilisierten, die von der Herrschaft des bedrohlichen<br />

"'LOun.,....." .." ..." befreit werden mussen, um eine hahere Stufe der Zivilisation zu erreichen.<br />

Smith glaubte an den Fortschritt und die Ausdehnung der Zivilisation und der witt­<br />

'schaftlichen Freiheit. Eine kapitalistische Revolution kann nicht leben, ohne an ihre Ausdehnllng<br />

uber die ganze Welt zu denken.<br />

pie erste GroBe Depression miindete in eine Konstellation, die den Ersten Weltkrieg her­<br />

Vorbl:acJtlte. Die zweite GroBe Depression fand ihr Ende im Zweiten Weltkrieg. Die dritte<br />

. GroBe Depression ...<br />

Hier endet das Manuskript.<br />

Ernest Mandel, Der Spatkapitalismus, Frankfurt am Main 1972; Ernest Mandel und Winfried<br />

Wolf, Ende der Krise oder Krise ohne Ende? Berlin 1977.<br />

Die Zeitschrift Review hat dieser Thematik ein ganzes Heft gewidmet: Review, Vol. II, Nr. 4,<br />

Binghamton 1979.<br />

3 Vgl. Eric). Hobsbawm, Die Bliitezeit des Kapitals, Miinchen 1977.<br />

4 An den Hilferdingschen Begriff des »organisierten Kapitalismus« kniipfen auch die Vertreter der<br />

neuen Wirtschafts- und Sozialgeschichte). Kocka, H.-D. Wehler u.a. - vgl. H.A. Winkler (Hg.):<br />

Organisierter Kapitalismus, Voraussetzungen und Anfange, Gottingen 1974 - an, urn die historischen<br />

Entwicklungen des industriellen Kapitalismus in den wichtigsten kapitalistischen Landern<br />

zwischen 1873 und 1929 zu beschreiben. DaB dii:se historischen Entwicklungen zum Organisierten<br />

Kapitalismus die von Marx beschriebenen Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise .<br />

- wie von Hilferding, Lenin und den Vertretern des Konzepts des Organisierten Kapitalismus unterstellt<br />

- nicht grundsatzlich modiHzieren, sondern historisches Produkt der internationalen<br />

Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in dieser Periode darstellen, hat W. Spohn:<br />

Weltmarktkonkurrenz und Industrialisierung Deutschlands 1870 - 1914, Berlin 1977 gezeigt.<br />

Ernest Mandel, a.a.O., S. 438<br />

Dieter Senghaas, Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Pladoyer fUr Dissoziation,<br />

Frankfurt am Main 1977. Zum Wechselverhaltnis von internationaler Einkommensverteilung und<br />

internationalem Arbeitsmarkt vgl. auch meinen Artikel Einkommensstruktur und Arbeitsmarkt<br />

international, in <strong>Prokla</strong>, Nr. 42, Berlin Marz 1981.<br />

Urs MiJller-Plantenberg


7 Vgl. Folker Frobei,]urgen Heinrichs und Otto Kreye, Die internationale Arbe1tsteilung, ACJ'llU!"'!-'<br />

1977. .<br />

8 V gl. Paul Singer, Was heute Sozi;tlismus ist, in: Lateinamerika, Analysen und Berichte 5,<br />

1981.<br />

9 V gl. Andre Gunder Frank, Long Live Transideological Enterprise!, in: Review, Vol. I, Nr. I,<br />

hamton 1977.<br />

10 Nicos Poulantzas, Poder politico y classes .sociales en e1 estado capitalista, Mexico 1969, S.<br />

11 Vgl. Fernando Dahse, El mapa de laextrema riqueza, Santiago 1979.<br />

12 Friedrich August von Hayek, Drei Vorlesungen uber Gerechtigkeit, Demokratie und "U'O~aJ"'lJ"~'i".<br />

Tubingen 1977. Anfang 1981 wurde von Hayek zum Ehrenprasidenten des neuen Ze:ntrultlS<br />

l>ffentliche Studien gewahlt, das vom Generalstab des chilenischen UltraliibeJralismllls glegriilld~~:.<br />

wurde, um die Methoden des wirtschaftlichen Denkens auf das Universum aller Wiss(:ns4:haftell<br />

auzudehnen.<br />

13 Eric J. Hobsbawm, Die Krise des Kapitalismus in historischer Perspektive,<br />

Frobe1/Heinrichs/Kreye (Hrsg.), Krisen in der kapitalistischen We1tokonomie, Reinbek<br />

S. 50.<br />

14 Vgl. beispie1sweise Urs Muller-Plantenberg, Die Bundesrepublik Deutschland und die<br />

Weltwirtschaftsordnung, in: Lateinamerika, Analysen und Berichte 2, Berlin 1978. . .<br />

15 Zur Bildung des Weltfinanzkapitals und zur Rolle, die dabei die internationalen Finanzzentreti<br />

spielen, vgl. Xabier Gorostiaga, Die internationalen Finanzzeniren in den unterentwickelten UJi·<br />

dern, in: Lateinamerika, Analysen und Berichte 4, Berlin 1980.<br />

Von Urs MiJller-Plantenberg erschien in der PROKIA:<br />

Einkommensstruktur und Arbeitsmarkt international, in: PROKIA Nr. 42<br />

Zur »EJfizienz« von Technologie in Entwicklungslilndern, in: PROKIA Nr. 42<br />

- Zum Schwerpunkt Kri,re-Austeritypolitik-Ne~/iberale Konterrevolution erschienen in der<br />

PROKLAu.a. folgende Beitrage:<br />

Schwerpunkt »Krise und Arbeitslosigkeit« in PROKLA 19120/21<br />

W. Laaser, Fiskalpolitik in der Krise 74/75; G. Stamatis, Staatsausgaben.und Kapitalreproduktion,<br />

beides in: PROKLA Nr. 28<br />

E. Altvater, Austerity-Tendenzen in Westeuropa, in PROKLA Nr. 32,<br />

Schwerpunkt: »Sozilliistische Alternativen in Westeuropa«, PROKLA Nr. 37<br />

Schwerpunkt: »Internationale (Unter-)Ordnungspolitik«, PROKLA Nr. 42<br />

Zur dritten Groj!en Depression


Das theoretische<br />

Magazin ftir<br />

die Linke<br />

Einzelheft: DM 7, -<br />

im Abo: DM 6,-<br />

Sonderhefte im September 1981 tiber:<br />

- POLEN - Der reale Sozialismus im Eimer?<br />

- FRIEDEN - Politik gegen AufrUstung<br />

weiter HAMBURG?<br />

munalpolitik<br />

- Wie weiter ?<br />

ca. jeweils<br />

Seiten; ca.<br />

Buchhandlung<br />

Gesamtverzeichnis<br />

, Postfach<br />

,<br />

5 -<br />

,<br />

III


Chantal Mouffe *<br />

Die Demokratie und die Neue Rechte * *<br />

»Das Blatt wendet sich« erklan Milton Friedman am SchluB seines neuen Buches »Free to<br />

choose«, dessen Hauptthesen auch in einer Fernsehserie vorgestellt wurden, die in GroBbri~<br />

tannien und den USA 10 Wochen liefund deren Ziel es offentsichtlich war, genau zu der<br />

Veranderung der offentlichen Meinung gegenuber dem Wohlfahrtsstaat beizutragen, die<br />

Friedman angekundigt hatte. Nach einigenJahrzehnten von Staatsinterventionen in allen<br />

Bereichen des sozialen Lebens und angesichts des Scheiterns westlicher Regierungen, ihre<br />

erklarten Ziele zu erreichen, beginnen die Leute - seiner Meinung nach -, die Gefahren einer<br />

,.uberregierten« Gesellschaft und die Bedrohnung der Freiheit des Menschen, die sich<br />

durch die Konzentration der Macht in den Handen der Burokratie geltend macht, zu erkennen.<br />

Diese weitverbreitete Reaktion gegen eine allzu stark intervenierende Regierung<br />

ist die Ursache fUr die Niederlage der Sozialdemokratischen Parteien und deren Politik in<br />

vielen Landern und tragt zur Schaffung eines neuen Standpunktes bei, der im klaren Gegensatz<br />

zu den vorherrschenden Gedanken des Fabian-Sozialismus und des New Deal-Liberalismus<br />

der letzten 50 Jahre steht.<br />

Wenige werden heute abstreiten, daB sich die entwickelten kapitalistischen Lander in der<br />

Krise befmden. Es existiert in der Tat ein uberraschendes Einverstandnis zwischen Marxisten,<br />

Konservativen und Liberalen uber die Existenz einer solchen Krise. Die Diagnosen<br />

mogen unterschiedlich sein, aber die Analysen, (mit Ausnahme der der orthodoxen Marxisten,<br />

die schon immer davon ausgingen, daB wit schlieBlich den Augenblick des endgUlti"<br />

gen Zusammenbruchs des Kapitalismus erreicht haben), wie die ,.Krise des Staates« (Poulantzas),<br />

die »Legitimationskrise« (Habermas), die »Kulturkrise« (Bell) und die »Krise der<br />

Demokratie« (Huntington), heben aIle trotz ihrer Unterschiede ein gemeinsames Merkmal<br />

hervor: Einen Mangel an Vermittlung zwischen den politischen und den okonomischen.<br />

Strukturen in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Dieser Mangel ist Resultat<br />

einer Dberforderung, der der Staat nicht gerecht werden kann, ohne inflationare Prozesse<br />

in Gang zu bringen und damit die Profitabilitat kapitalistischer Unternehmen aufs Spiel<br />

zu setzen. Der interventionistische Staat de! letzten Jahrzehnte ist deshalb heute mit d­<br />

nem Dilemma konfrontiert, das Claus Offe in folgender Weise darstellt: ,.Derkapitalistische<br />

Staat erlddet eine Dberbelastungan Forderungen und Erfordernissen, die er nicht<br />

befriedigen kann, ohne die kapitalistische Grundlage seiner Okonomie zu zerstoren, oder<br />

seine eigene institutioneIle Struktur und die damit sichergestellte Regulierung des Klassen~<br />

gegensatzes zu untergraben.«l<br />

• Chantal Mouffe lebt in London.<br />

Aus dem Englischen iibersetzt von Brigitte Berger.<br />

Demokratie und neue Rechte 41


Es ist def Konflikt zwischen den miteinandef verbundenen Imperativen def Akkumulation<br />

und der Legitimation, die James a'Conor als zwei grundlegende und oft widerspruchliche<br />

Funkdonen des kapitalistischen Staates bezeichnei, denen er nachkommen muE, und def<br />

den Ursprung def Unregierbarkeit westlicher Demokratien in der heutigen Zeit hildet.<br />

Dieser Konflikt, der noch dutch die Auswirkung def wirtschaftlichen Rezession verstarkt<br />

wird, zerstort die zerbrechliche Grundlage def herrschenden Ideologie einer liberalen Demokratie,<br />

durch die der Konsens nach dem Krieg gefestigt worden war.<br />

In »The Life and Times of Liberal Democracy« hat C.B. Macpherson den langwierigen Proze£<br />

analysiert, in dessen Verlauf seit dem fruhen 19. Jahrhundert Liberalismus und Demokratie<br />

mit dem Zid angestrebt wurden, die moralischen Prinzipien, die die Attraktivitat<br />

demokratischer Ideale ausmachten, mit den Realitaten einer burgerlichen Klassengesellschaft<br />

in Einklang zu bringen.<br />

Jene lange und komplizierte Transformation, deren Antrieb def Klassenkampf war (ein<br />

Aspekt, der von Macpherson nicht ausreichend herausgearbeitet wurde) durch die der liberale<br />

Staat demokratisiert und die Demokratie liberalisiert wird, findet im 20. Jahrhundeft<br />

mit dem »Gleichgewichtsmodell« ihren Hohepunkt, das imJahre 1941 erstmalig von<br />

Schumpeter in »Capitalism, Socialism and Democracy« formuliert und spater von Dahl<br />

und der Pluralistischen Schule weiterentwickelt wurde. Die viden Abhandlungen tiber den<br />

»pluralism-elitism« machen schnell deutlich, wie eine solche Theorie die Demokratie verarmen<br />

laik indem sie sie als eine blo£e Konkurrenz der EHten definiert3 . Aber ein solches<br />

Demokratiekonzept, das nicht die wirkliche Partizipation der Massen, sondern ihre Passivitat<br />

postuliert, war notwendig fur das Funktionieren des Kapitalismus. Und er funktionierte<br />

auch in den darauffolgenden Jahrzehnten auf det Grundlage des wirtschaftlichen Aufschwungs<br />

nach dem Krieg, wahrend def Staat entsprechend keynesianischer Richtlinien interveniene,<br />

urn die Vollbeschaftigung zu erhalten und das Wirtschaftswachstum zu sichern.<br />

Genau zu diesem Zeitpunkt wagte Daniel Bell imJahre 1960 die Ankundigung yom<br />

»Ende def Ideologie« und dem Beginn eines neuen Zeitalters, in dem der Pragmatismus<br />

auf dem Gebiet def sozialen Reformen vorherrschend und kein Platz mehr fur revolutionare<br />

Phrasen sein wird.<br />

Nichtsdestotrotz, das Buch war gerade veroffentlicht, rus die Btirgerrechtsbewegung in den<br />

USA und etwas spater die internationale Studentenbewegung diese voreiligen Voraussagen<br />

widerlegten. Seit damals hat die Entwicklung und die Verstarkung des neuen Antagonismus,<br />

def durch die wachsende Anzahl von Staatsinterventionen auf allen Ebenen def gesellschaftlichen<br />

Reproduktion in Verbindung mit def durch die Energiekrise bedingten Rezession<br />

hervorgerufen wurde, zu dieser Uberforderung des Staates gefuhrt, die die Krise<br />

der Demokratie ausgelost hat, wie sie von den Experten der Trilateralen Kommission diagnostiziert<br />

wurde. Ihrer Meinung nach verdeutlicht die gegenwartige Krise jene Gefahren,<br />

die imFunktionieren def Demokratie selbst liegen, in def politische Parteien dazu neigen,<br />

zu vie! zu versprechen, urn Stimmen zu gewinnen. Sie erklaren, daB die einzige Losung die<br />

Reduzierung der Erwartungen und der politischen Partizipation der Massen sei.<br />

In det Tat erleben wit heute eine Krise def liberalen Demokratie, die den von Grund auf<br />

widerspruchlichen Charakter einer Ideologie die versucht, zwei gegensatzliche<br />

Prinzipien auszusprechen. Alan Wolfe definiert den Liberalismus als eine Ideologie, die<br />

dazu bestimmt ist, die fIeie Marktwirtschaft mit allen Begleiterscheinungen entstehen zu<br />

lassen, zu schutzen und zu fordern, und die Demokratie als ein politisches Ideal, das das<br />

Prinzip sozialer Gleichheit und politischer Partizipation vereinbart. Daraus zieht er den<br />

42 Chantal Mouffe


uberzeugenden SchluB: »Die Schwierigkeit def liberalen Demokratie ist, dafi def Liberalismus<br />

die Logik def Demokratie und die Demokratie die Logik des Liberalismus bestreitet,<br />

aber keiner von beiden ohne den anderen existieren kann.«4 In Zeiten des Wachstums<br />

konnte ein soIcher Widerspruch mehr oder weniger gut bewaltigt werden, aber die Zeit ist<br />

gekommen, in der es notwendig geworden 1st, das Ideal des Liberalismus von den Gefahren<br />

der Demokratie zu trennen. In seinem Bericht fur die Trilaterale Kommission sprkht<br />

Huntington sehr offen uber diese Notwendigkeit und fuhrt aus, dafi es heute zum Schutz<br />

def Realisierung des amerikanischen Liberalismus notwendig ist, dafi die Liberalen sich<br />

dem Konservatisv1smus zuwenden. Es gehoft tatsachlich zum konservativen Gedankengut,<br />

daB der Liberalismus die Waffen find en wird, die er braucht, urn seinen lastigen Partner zu<br />

eliminieren oder zumindest zu neutralisieren, indem er die beiden Stiitzpfeiler, auf denen<br />

das Ideal def Demokratie aushOhlt: Die soziale Gldchheit und die politische Pattizipation.<br />

I. Von der liberalen Demokratie zum libera/en Konservatismus<br />

Was auf dem Spiel steht 1st die Neuorganisierung der herrschenden Theorie, deren Ziel es<br />

ist, die ideologischen Parameter def entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zu verandem,<br />

urn sie an die neue soziale und politische Strategie, die dUTch die Krise erforderlich<br />

wird, anzupassen, und urn ein neues Gemeinschaftsgefuhl bei den Massen zu erwecken,<br />

das sie besser auf die bevorstehenden harten Zeiten vorbereitet. Diese Neuorganisierung<br />

findet statt durch eine neue Definition def existierenden Elemente der vorherrschenden<br />

Diskurse und dutch die Gegenuberstellung fundamentaler Thesen des Liberalismus mit<br />

speziell ausgesuchten konservativen Thesen, woraus sich eine neue Zusammensetzung ergibt,<br />

die wir als »Liberalen Konservatismus« bezeichnen konnen. 1m Verlauf def Herausarbeitung<br />

und Weiterentwicklung dieser neuen Ideologie konnen wir in def Hauptsache drei<br />

ideologische Quellen unterscheiden: Die Neo-Liberalen, die Neokonservativen und die<br />

Neue Rechte. Diese Kategorisierung ist ziemlich ungenau und wird von den Betroffenen<br />

nicht immer<br />

sie ist aber sehr nutzlich zut Differenzierung von drei Bewegungen,<br />

deren Thesen und Orientierung in vielen Punkten spezifisch und manchmal sogar<br />

entgegengesetzt sind, die aber die Hauptthesen einer neuen Problematik darstellen.<br />

Die Neo/iberalen<br />

Die erste ist die einer neuen des LHJCl:"W.'HI'"<br />

seiner Verbindung mit Demokratie einige<br />

erhalten<br />

hat. Hier die neoliberalen Schule def sozialen Marktwirtschaft<br />

aus. Diese<br />

als Reaktion auf den Aufstieg von<br />

Kommunismus und Faschismus und ihre aus alIef Welt sich urn<br />

die Zeitschrift »Ordo« und die »Mont Pelerin Society«.5 Einer ihrer<br />

Mitglieder<br />

ist Friedrich dessen Arbeit besonders zur Neuauflage def def liberalen<br />

Seiner Auffassung nach ist def Liberalismus die<br />

auf eine bis auf das Minimum reduzierte Macht des Staates urn das<br />

hochstmogliche Zid zu erreichen: Die Freiheit. Dnter ode! »Freedom«<br />

Demokratie tmd neue Rechte 43


(er benutzt die Worter austauschbar) versteht Hayek »die Bedingungen der Menschen, untet<br />

denen die Gewalt einiger iiber andere soweit es in einer Gesellschaft moglich ist, beseitigt<br />

sind«6 - oder noch genauer, die Bedingung >>unter der ein Mensch nicht dem Zwang<br />

durch das willkiirliche Denken eines anderen oder mehrerer anderer unterworfen ist«7 Das<br />

istrur ihn die wirkliche Bedeutung des Begriffs Freiheit und er nennt es »individuelle Freiheit«,<br />

urn ihn von anderen Interpretationen dieses Begriffes zu unterscheiden. In der Tat<br />

laBt ernicht auBer Acht, daB diese Definition alles andere als die heutzutage vorherrschende<br />

Definition von Freiheit ist. Zwei andere Bedeutungen sind geHiufiger: Freiheit als: »die<br />

Moglkhkeit unsere Wiinsche zu erfiillen, oder die Wahl zwischen Alternativen, die uns<br />

offenstehen« (Freedom as power), demgemaB sind Armut, Mangel an Bildung und Arbeitslosigkeit<br />

Verhinderung von Freiheit, wei! sie dem Individuum die angeboteen Moglichkdten<br />

beschranken. Eine andere wichtige Bedeutung ist die Freiheit als »Teilnahme der<br />

Menschen an def Wahl ihref Regierung, bei de! Gesetzgebung und der Kontralle ihrer<br />

Yerwaltung« (political freedom). Hayek hingegen sagt, daB die politische Freiheit kein notwendiger<br />

Bestandteil der individuellen Freiheit sei, und von dieser unterschieden werden<br />

musse, und daB »Freedom as power« als sehr gefahrliche Definition abzulehnen sei, da sie<br />

zut Legitimation unbegrenzter Staatseingriffe und damit zur Zerstorung der Freiheit des<br />

Individuums ruhren konne. Genau das versucht de! Liberalismus zu vermeiden und es sei<br />

daher norwendig, die Freiheit des Individuums von der Beschrankung durch den Staat zu<br />

sthiitzen dutch die Abgrenzung der Sphare, die frei von Staatseingriffen ist. So gesehen<br />

bezieht sich die Freiheit namrlich in erster Linie auf die okonomische Freiheit, das hellit<br />

auf ein »freies Unternehmertum, das den Regeln des Marktes unterworfen ist und in dem<br />

Regierungseingriffe streng auf die Angelegenheiten begrenzt snd, die durch den Markt<br />

iiberhaupt nicht oder nur mit so graBen Kosten geregelt werden konnen, daB die Benutzung<br />

politischer Wege vorzuziehen ware«8. Ein solches Konzept, das die Grundlage der 50-<br />

zialen Marktwirtschaft bildet, beinhaltet die Vorstellung, daB die Regierung fast ihre<br />

gesamten W ohlfahrts- und Regulierungsfunktionen aufgeben sollte und sich auf die Sicherstellung<br />

der Geldstabilitat dutch die Kontrolle des Geldumlaufs und auf die Aufrechterhaltung<br />

def freien Konkutrenz, def Sicherheit des Eigentums und der Einhaltung von<br />

Vertragen beschranken soHte. In den Worten KeithJosephs: »Die Regierung kann dazu<br />

beitragen, den Kreislauf aufrechtzuerhalten, die Infrastruktur bereitzustellen, die Wahrung<br />

stabil zu halten, gesetziche Rahmenbedingungen SOWle die Durchsetzung von Recht<br />

und Ordnung, die Sicherheit, das Recht auf Eigentum und alle anderen dem okonomischen<br />

ProzeB zugrundeliegenden Reehte zu gewahrleisten«9. Nach Ansicht der Neoliberalen<br />

ist eine freie Markrwirtschaft notwendige (und wie sich herausstellt ausreichende) Bedingung<br />

urn die Freiheit des Individuums sicherzustellen. Ihr Argument ist die Unteilbarkeit<br />

def Freiheit, die es unmoglich macht, »Freiheit auf politischem und intellektuellem<br />

Gebiet ohne Freiheit auch auf dem Gebiet der Okonomie zu wollen und ohne die unfreie<br />

Kollektivordnung abzulehnen.«l0<br />

In »Capitalism and Freedom« hat Milton Friedman versucht aufzuzeigen, daB eine »Freie<br />

Tauschwirtschaft mit Privatunternehmen« rur eine enrwickelte Gesellschaft die einzige<br />

Form einer sozialen Organisation darstellt, die das Prinzip def Freiheit des einzelnen respektiert,<br />

weil sie das einzige okonomische System ist, worin die okonomischen Aktivitaten<br />

einer graBen Anzahl von Menschen ohne Zwang koordiniert werden konnten. Sein Argument<br />

besteht aus dem Nachweis, daB in einem Modell mit einfachem Warentausch zwischen<br />

direkten Produzenten, def Austausch nut clann stattfindet, wenn aile Beteiligten ei-<br />

<strong>44</strong> Chantal Mouffe


nen Nutzen daraus ziehen, und er deshalb ohne Zwang stattfindet. Von da auS "AI,""'~'"<br />

iiber zum komplexeren Modell des Konkurrenzkapitalismus und erkHirt: »wie in dem ein~<br />

fachen Modell ist auch in der komplexer Unternehmen und Geldwirtschaft die Zusammenarbeit<br />

v5llig individuell und freiwillig, vorausgesetzt, a) daB die Unternehme~ Privateigen- ' •. ,<br />

tum sind, so daB letztlch die vertragsschlieBenden Parteien Individuen sind, und b) d~,!<br />

die Individuen v5llig frei den Eintritt in einen bestimmten AustauschprozeB entscheiden


Wenn def Liberalismus einmal gefaBt ist als die Verteidigung des freien Unternehmertums<br />

und def individuellen Freiheit, ist def nachste Schritt die Neudefinierung def Demokratie,<br />

und zwat dergestalt, daB ihr potentieller Antagonismus mit der Existenz def kapitalistischen<br />

Gesellschaftsordnung geleugnet wird. D iese Veranderung findet tiber eine Kritik der<br />

lwei wichtigsten Lehrsatze des demokratischen Ideals, wie es heute formuliert wird, statt:<br />

Die soziale Gleichheit und die politische Partizipation. Hierbei spielen die Theoretiker einer<br />

Gruppe, die in den USA Neokonservative genannt werden, die wichtigste Rolle. Die<br />

geistige Herkunft dieser Gruppe unterscheidet sich stark von def def Neoliberalen. Sie<br />

setzt sich hauptsachlich aus Intellektuellen und Professoren renommierter U niversitaten zusammen,<br />

die von einer linksliberalen Position auf eine konservative Kritik an der amerikauischen<br />

Gesellschaft geschweukt sind.<br />

1m Allgemeinen stehen sie dem Sozialstaat nicht feindlich gegenuber, abet sie uben starke<br />

Kritik an dem Projekt »great society«, das in den 60er Jahren zu einer Uberbetonung des<br />

$ozialen gefiihrt hat und damit am Aufang def Uberforderung des Staates stand, die eine<br />

Autoritatskrise verursacht hat und damit die soziale Stabilitat bedroht. Die Neokonservativen<br />

gehen davon aus, daB es das demokratische System ist, das den groBten Beitrag zu def<br />

Uberforderung des Staates geleistet hat. Der Bericht def Trilateralen Kommission aus dem<br />

Jahre 1975 tiber die »Regierbarkeit von Demokratien«, def eine ganze Reihe von Thesen<br />

des neokonservativen Gedankenguts zum Ausdruck bringt, zieht folgende SchluBfolgerung:<br />

»Neben den eigentlichen politischen Frgen, mit denen demokratische Regierungen<br />

konfrontiert sind, haben sich eine Menge spezifischer Probleme ergeben, die ein fester Bestandteil<br />

des Funktionierens def Demokratie selbst zu sein scheinen«16. Anhaltende Forde"<br />

rungen nach wachsender gesellschaftlicher Gleichheit werden als einer def Hauptfaktoren<br />

der gegenwartigen Krise herausgesondert,. weil sie die amerikanischeGeseUschaft an den<br />

Rand des »egalitaren Abgrunds« gefiihrt haben. Was seit den 60ern passiert ist, ist eine Bedeumngsverschiebung<br />

von »Gleichheit« in zweifacher Sicht: 1. Das Abweichen von einer<br />

Gleichheit def Moglichkeiten zu einer Gleichheit des Resultats. 2. Das Abweichen von der<br />

Gleichheit zwischen einzelnen und der zwischen Gruppen. Dieser »New egalitarism« bedraht<br />

nach Daniell Bell das wahre Ideal def Gleichheit, dessen Ziel nlcht eine »equality of<br />

results«, sondem dne »just meritocracy« istl7 . Was Irving Kristal angeht, geht er davon aus,<br />

daB ein solches Konzept von Gleichheit


Entscheidungen zqnehmend der politischen Konttolle zu entziehen und sie alIein<br />

antwortung der Experten zu uberlassen. Eine'solche MaBnahme zielt darauf ab, gnmcl1e.-"<br />

gendere Entscheidungen rucht nur auf okonomischem, sondern auch auf sozialern und<br />

tischem Gebietzu depolitisieren. Das wird durch die Behauptung gerechtfertigt, daB<br />

gierung und Demokratie im Gegensatz zueinander stehen, und daB, wenn komplexe<br />

dusttiegesellschaften funktionieren solIen, sie einen wie Huntington es ausdruckt, ~.,.''''''''"<br />

ren Grad an MaBigung in der Demokratie« brauchen19 • Fur Brezinski ware eine solche<br />

sellschaft demokratisch in einem »libertaren, negativen Sinn; Demokratie nicht was<br />

Wahrnehmung einer Alternative bezuglich der Politik angeht, sondern im Sinne derE1'7 '.<br />

haltung bestimmter autonomer Bereiche fUr die AuBerungen der Individuen«.2o Wie Peter<br />

Steinfelds in einer exzellenten Studle uber die Neokonservativen betont: »Fur die Neokon.­<br />

servativen heillt Demokratie nicht viel mehr als die Republik fUr die Grundervater: Effie<br />

Regierung, dieihre Machtbefugnisse letztlich von der Zustimmung des Volkes ableitet, sic<br />

aber ausubt durch Reprasentation und damit in einem verfassungsmaBigen Rahmen. arbei- .<br />

tet, der die Freiheiten, die in del: Bill of Rights aufgefUhrt sind, bewahrt.~l<br />

An diesem Punkt nahern sich die Gedanken der Neokonservativen einer der zentralen Thesen<br />

der Neoliberalen an, die ein grundlegendes Milltrauen gegenuber Politikern und poli~<br />

tischen Institutionen hegen, denen sie die Fahigkeit absprechen, die Verwaltung offent1i~ ,<br />

cher Angelegenheiten mit der notigen Kompetenz und Unparteilichkeit zu verrichten. Sie<br />

halten an der Moglichkeit fest, die Funktionen der Regierung, die immer noch unter de- .<br />

mokratischer Konttolle sind, an nicht-politisChe Einrichtungen zu ubertragen. Solche Mafi~<br />

nahmen, in Verbindung mit denen, die darauf abzielen, das Feld der Regierungsintervel\~<br />

tionen zu begrenzen, und die regulierenden Marktmechanismen wieder zu installieren.,·<br />

sollen den Staat von der Oberforderung entlasten, unter der er leidet. Wenn er fUr eine ..<br />

Reihe sozialer Fragen keine Verantwortung mehr ttiige, wrde dies ebenfalls dazu beittagen,<br />

das gefahrliche Konzept aufier Kraft zusetzen, das mit dem Ausbau des Sozialstaats<br />

aufgekommen ist, und nach dem der Staat als die Hauptinstanz fUr die Verfolgung sozialen<br />

und wirtschaftlichen Fortschritts angesehen wird mit direkter Verantwortlichkeit, was<br />

die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit angeht. Sowohl die Neoliberalen als auch die<br />

Neokonservativen stehen dem Gedanken der disttibutiven Gerechtigkeit kritisch gegenuber.<br />

Erstere, weil er ein Konzept von Gleichheit beinhaltet, das Ihnen fraglich erscheint,<br />

letztere, weil er Eingriffe des Staates und eine Reihe von ZwangsmaBnahmen rechtfertigen<br />

wrde, die sie ablehnen.<br />

AuBerdem, sagt Hayek, ist ein solcher Gedanke vollig ~nrealisierbar, da es keine objektic<br />

yen Kriterien dafiir gibt, die moralischen Verdienste eines Individuums und die entspre~<br />

chende materielle Belohnung zu bestimmen. Demzufolge sind aIle Entscheidungen bezuglich<br />

einer angemessenen Belohnung von vornherein durch die Willkiir einer bestimmten<br />

Regierung gesetzt.22 Diese Opposition der Neokonservativen gegenuber der disttiburiven<br />

Gerechtigkeit erklart ihre scharfe Kritik an der Arbeit John Rawls, den sie als einen der<br />

Theoretiker des »new egalitarianism« ansehen. Nach Frankels Ansicht fmden wir in »A<br />

Theory of Justice« die grundlegenden Annahmen dieses Standpunktes, wenn Rawls behauptet,<br />

daB der Charakter eines Menschen »zu einem groBen Teil von seinem Familien-<br />

. gluck und seiner Umgebung abhangt, was rucht sein Verdienst ist.« Und er setzt seine Argumentation<br />

fort, daB ein solches Konzept abgelehnt werden muB, »eine Theorie dec Ge~<br />

rechtigkeit, die das Individuumals ein nicht aktiv Bettoffenes bei der ErfiilIung seines<br />

Schicksals unterstelIt, und der die Einschatzung des Lebens als einer Lotterie zugruhde-<br />

Demokratie und neue Rechte 47


liegt, starkt hOchstwahrscheinlich nicht das personliche Verantwortungsgefuhl def Menschen.«23<br />

Friedman erkiart, daB »faire Beteiligung fur alle« def moderne Wahlspruch ist,<br />

def an die Stelle von Karl Marx: »Jedem nach seinen Bedurfnissen, jedem nach seinen Fahigkeiten«<br />

getreten ist. 24<br />

Die neue Rechte<br />

De! gleiche Angriff auf die Gleichheit findet auf der anderen Seite des Atlantik statt, namlich<br />

in den Schriften einer Gruppe, die in Frankreich »La nouvelle Droite« genannt wird.<br />

Diese Bewegung organisiert sich um ein Zentrum zum Studium def europaischen Zivilisation<br />

(GRECE), zwei Zeitschriften »Elements« und »La Nouvelle Ecole« und einen Verlag<br />

»Les Editions Copernics«. Sie unterhalt enge Kontakte zum Club de l'Horloge, einer Gruppierung<br />

einfluBreicher franzosischer Staatsbediensteter und Technokraten und hat seit<br />

1977 mit def Herausgabe des »Le Figaro Magazine« unter Leitung von Louis Pauwel eine<br />

Anhangerschaft von einer halben Million Lesem gewonnen. Pauwel ist einer ihrer aktiven<br />

Befutworter, def den fuhrenden Theoretiker der Gruppe, Alain de Benoist mitbrachte.<br />

Die franzosische neue Rechte ist in ihrer Kritik def »Gleichheitsutopie« bei weitem radikalet<br />

als die Neokonservativen, einer Idee, die sie als lebensgefahrlich fur die westliche Zivilisation<br />

ansehen, weil sie samtliche Unterschiede in def Gesellschaft zerstort.<br />

Sie verkunden das Recht auf Andersartigkeit und lassen damit eine Hauptthese von 1968<br />

wieder aufleben, und sie setzten Unterschied = Ungleichheit = Freiheit, wahrend Gleichheit<br />

= Identischsein = Totalitarismus ist . .Alain de Benoist erklart: »Ich betrachte die Haltung<br />

def Rechten, die die Vielfalt der Welt und daher auch die dafaus notwendigerweise<br />

resultierenden relativen Ungleichheiten anerkennt, als gut und die wachsende Homogenisierung<br />

der W dt, die durch die Diskussion der Ideologie des Egalitarismus verteidigt und<br />

realisiert wird, fUr schlecht.«25 Die neue Rechte, die Gramscis Hegemoniekonzept (das von<br />

Benoist als grundlegender Beitrag angesehen wird) ihren Zielen hervorragend angepaEt<br />

hat, hat sich dazu entschlossen, um ihre inteUektuelie Vormachtstellung zu kampfen. Sie<br />

hat einen Kulturkrieg yom Zaun gebrochen, dessen Devise ist: »Gegen Totalitarismus, gegen<br />

Egalitarismus, gegen Rassismus. Fur eine neue Kultur«. Es scheint etwas uberraschend,<br />

daB eine rechtsgerichtete Bewegung sich explizit als antirassistisch vorstellt und es ist sehr<br />

interessant, die Urspriinge einer solchen Position zu analysieren. Unsere Kulturkrieger lehren,<br />

daB die Menschen ihre Unterschiede anerkennen und die Bedeutung def Vererbung,<br />

psychometrischer und soziobiologischer Auswirkungen akzeptieren sollen. (Sie gehen davon<br />

aus, daE die Biologie in Zukunft in def Politik genauso wichtig sein soUte wie bisher<br />

die Okonomie.)<br />

Es ist diese Betonung menschlicher Unterschiede, die es ihnen erlaubt, ihren Standpunkt<br />

so vorzutragen. Wenn abet diese Betonung def Unterschiede einmal in diesem anti-egalitaren<br />

Zusammenhang auftaucht, wie Jean Francois Kahn betonte: »Was die Meister des<br />

GRECE wirklich meinen, ist zum Beispiel, daE ein 6-jahriges Kind, das in einem Test als<br />

besonders begabt aufgefallen ist, auf keinen Fall zu der gleichen Klasse gehOren und die<br />

gleiche Erziehung genieBen sollte wie ein weniger begabtes Kind gleichen Alters. Das<br />

heiEt, die Elite muB 5ehr friih ausgele5en und streng von def Nicht-Elite getrennt werden;<br />

vererbte Kulturen soUten nicht vermischt werden, weil es sie pervertieren wrde. Alles in<br />

aHem soUten alle Besonderheiten sorgfaltig erhalten und auch gegen jede Tendenz zur 1n-<br />

48 Chantal Mouffe


tegration verteidigt werden. Genau das wird sehr effektiv in Sudafrika durchgefUhtt<br />

nennt sich Apartheid«.26<br />

Dieser Feldzug gegen die Gleichheit fUhrt die Ideologen der neuen Rechten zu einer Herausforderung<br />

der gesamten christlichen Tradition Europas. Fur sie liegt der Ursprung der<br />

egalitaren Utopie im Christentum, das von Alain de Benoist »Bolschewismus der Antike«<br />

genannt wird. Mit dem Nietzsche-Zitat: daB »das Christentum uns der Friichte derantiken<br />

Zivilisation beraubt hate, fahrt er in seiner Argumentation fort, daB der Kult der Schwache<br />

und Erniedrigung, den das Christentum verbreitete, den Zusammenbruch des romischen .<br />

Reiches verursacht habe und den Ursprung des Gleichheitsmythos darstelle, der sich spater<br />

als so destruktiv erwiesen habe.27 Robert de Herte stellt die Sache folgendermaBen dar:<br />

»Gemafi dem klassischen ProzeE der Enrwicklung und des Zerfalls von Zyklen, hat sich die<br />

These des Egalitarismus aus dem Stadium des Mythos (Gleichheit vor Gott) in das der Ideologie<br />

(Gleichheit vor den Menschen) und letztlich zu einem wissenschaftlichen Anspruch<br />

entwickelt (Nachweis der Existenz des Egalitarismus). Urn es deutlicher zu machen: Yom.<br />

Christentum zur Demokratie und spater zum Sozialismus und Marxismusc2 8 •<br />

Wie wir sehen ist es nicht nur das Ideal der Gleichheit, das hier in Frage gestellt wird, sQndern<br />

hier geht es urn einen direkten Angriff auf die Demokratie. Die franzosische Revolution<br />

wird als Meilenstein im ProzeE der Auflosung westicher Kulturen vorgestellt, und de<br />

Benoist behauptet, daB es darum ginge, gegen den Geist der Menschenrechtserklarung von<br />

1789 zu kampfen. Denn das Ideal der Demokratie mit der bestimmenden Rolle, die dem<br />

allgemeinen Wahlrecht zukommt, setzt alle Individuen gleich, ungeachtet der gravierenden<br />

Unterschiede zwischen ihnen. Das fUhrt zu einer Uniformierung und Vermassung der<br />

Burger, denen eine einheitliche Norm auferlegt wird, was den totalitaren Charakter der<br />

Demokratie ausmacht. Louis Pauwel erklart: Damit Unterschiede zwischen den Menschen<br />

respektiert werden, sollte eine Gesellschaft in folgender Weise organisiert sein: »Dem Gehirn<br />

sollte die Souveranitat entsprechen, den Mu~keln die Verteidigung, dem Mund die<br />

Produktion.


entscheidende Rolle bei der Machrubernahme def neuen Art von Konservatismus in Gro£britannien<br />

und den USA gespielt.<br />

II. Rechtsgerichtete Volksbewegung<br />

Im]ahre 1970 hat Irving Kristol in elnem Attikel,<br />

der in »The Public Interest« veroffenticht<br />

wurde, die Aufmerksamkeit auf die Tatsathe<br />

gelenkt, da/3 das liberal-konservative<br />

Ideal einer »freien Gesellschaft«sich vollig<br />

von dem einer »gerechten Gesellschaft« getrennt<br />

hat, und da/3 letztendlich jenes Ideal<br />

die Massen in einer modernen Gesellschaft<br />

nicht mehr ansprechen wiirdeY lO]ahre spater<br />

iSt der Sieg Margaret Thatchers in England<br />

und Ronald Reagans in den USA, den sie auf<br />

der Grundlage eines Programms errungen<br />

haben, das stark von den Theorien def sozialen<br />

Marktwirtschaft beeinflu£t ist, ein deutlicher<br />

Gegenbeweis fur diese Voraussage. Mussen<br />

wir daraus schlie£en, da£ die Massen von<br />

dem abstrakten Gedankengut def Neoliberalen<br />

zu den Tugenden der Marktwirtschaft bekehrt<br />

worden sind? Offensichtlich ist dieses<br />

Phanomen wesentlich komplexer und vetdient<br />

mehr Aufmerksamkeit.<br />

Zuefst einmal ist, worauf wit bereits hingewiesen haben, seit dem Ende der 60er Jahre das<br />

sozialdemoktatische Gemeinschaftsgefuhl, in dem die 'soziale Gerechtigkeit' eine groBe<br />

Rolle gespielt hat, mehr und mehr dutch die Betonungsverlagerung in def herrschenden<br />

Ideologie von der liberalen Demokratie zum liberalen Konservatismus ausgehOhlt worden;<br />

womit ein neues ideologisches Feld fur den Erfolg einer rechten Bewegung gegeben ist.<br />

Auf der anderen Seite standen die Krise des Sozialstaats und die sie begleitende Frustration<br />

def Biirger am Beginn des Ausbruchs anti-staatlicher Gefuhle und Reaktionen, die die<br />

Rechte im Sinne dner neoliberalen Kritik umsetzen konnte. Die Machtergreifung rechtsgerichteter<br />

Volksparteien ist also aHes andere als ein Zufall. Sie wurde seit Mitte der 60er]ahre<br />

sowohl in GroBbritannien als auch in den USA dutch die Entwicklung einer Reihe von<br />

rechtsgerichteten Pressure Groups und Organisationen vorbereitet, welche populare Gegenreaktionen<br />

auf die »nachsichtige Gesellschaft«, die »Gegenkulrur« und den »kollektivistischen<br />

Staat« organisierten.33 Die Auswirkungen zeigten sich ungefahr 1974 mit der<br />

Obemahme def Fuhrung def konservativen Partei dutch M. Thatcher und dem ersten offentlichen<br />

Riickschlag fur die Kampagnen der 60et Jahre mit den Ausschreitungen in Boston<br />

fur die Erhaltung def Rassentrennung in den Schulen. Seit damals ist def Einfiufi def<br />

neoliberalen Rechten standig gestiegen, vor aHem durch ihre Fahigkeit, eine Reihe von<br />

Gruppen, die sich wegen einzelner Fragen organisiert haben, in ein nationales Netzwerk<br />

einzubinden, was in beiden Landem seinen Hohepunkt im Wahlsieg fand.<br />

50 Chantal Mouffe


Einige Analysen des Thatcherismus haben gezeigt, wie dessert Aufstieg durchdie gellulile<br />

Unzufriedenheit der Burger mit der Burokrati~ und dem Verbandewesen d,.es So:dallsta.ats,;,<br />

in GroBbritannien erleichtert wurde. In seinem wegweisenden Aufsatz »The Great<br />

Right Show« schreibt Stuart Hall: »Der Staat wird von immer mehr arbeitenden Mensc.bell.<br />

in der Tat nicht aIs eine nutzliche Institution, sondern als eine Belastung empfunden.<br />

diese Empfindung ist nicht so abwegig, da bei seinen tatsachlichen Funktionen im Bezug .<br />

auf die Burger der Staat immer weniger als W ohlfahrtsinstitution und mehr und mehr als,<br />

Staat des 'MonopolkapitaIs' prasent ist.~4 Die Identifizierung von Sozialstaat und Sozial~<br />

demokratie. war offensichtlich ein machtiger Trumpf in den Handen


einzelner Fragen ihren Ausdruck fand: gegen die Gesetzesanderung ZUI Frauengleichberechtigung,<br />

gegen Abtreibung und gegen die Rechte def Homosexuellen. Die radikale<br />

Rechte war in der Lage, all jene profamiliaren Vorgange zu artikulieren (die einflu:Breichste<br />

Kraft ist die Evangelical Church von Rev. Jerry Falwell), und die Verteidigung traditioneller<br />

patriarchalischer Strukturen und des von Mannern beherrschten Systems der Heterosexualitat<br />

hat sich als starkes ideologisches Bindeglied bei der N eugruppierung der moralisthe<br />

Mehrheit bewahrt, wie def Wahlsieg Reagans beweist. 38 In GB gibt es ein ahnlich<br />

patriarchalisches Element (auch wenn es zur Zeit weniger beront wird) des Thatcherismus,<br />

das, wie Tricia Davis und Catherine Hall feststellen, »nicht einfach nur ein Angriff auf die<br />

Rechte de! Frauen, sondern vielmehr der Versuch ist, alte Ideologien wiederzubeleben und<br />

sie einzubringen in einen Konsens uber die Rolleder Frau und die Natur des Feminismus<br />

als eine der ideologischen Stiitzen fur die Umstrukturierung der Gesellschaft.«39<br />

lnder liberalen Demokratie haben sich Privateigentum, Familie und Demokratie historisch<br />

in einer bestimmten Weise herausgebildet. ZUI Zeit abet, wo die Tendenz spurbar wird,<br />

die Demokratie in den Hintergrund zu drangen, ist die wachsende Bedeutung, die def Familie<br />

beigemessen wird, nicht verwunderlich, und ich wage die Voraussage, da:B die Familie<br />

eine immer gro:Bere Rolle in def aufkommenden Ideologie des liberalen Konservatismus<br />

spielen wird.<br />

Verteidigung der Demokratie<br />

Die Entwicklungdes Monopolkapitalismus seit dem 2. Weltkrieg und die wachsenden Interventionen<br />

des Staates auf allen Ebenen des sozialen Lebens haben zu einer grundlegenden<br />

Veranderung def westlichen Gesellschaften und zu einem Bruch im traditionellen Politikkonzept<br />

gefiihrt. In allen Bereichen, in die def Staat eingreift: Gesundheit, W ohnen,<br />

Erziehung, Energieversorgung etc., sind aus gesellschaftlichen Widerspruchen politische<br />

Widerspruche geworden, und die neuen Gegensatze sind dort zum Vorschein gekommen,<br />

wo der Staat als Unterdrucker wahrgenommen wird. Gleichzeitig sind die bereits existierenden<br />

Widerspruche aufgrund def Gegensat:le zwischen den Geschlechtern und Rassen<br />

immer dringlicher geworden, und die gesamte Sphare def burgerlichen Gesellschaft, die<br />

traditionell als private angesehen wurde, ist als Austragungsort politischer Kampfe erkannt<br />

worden. Aber weder die alten Formen der Parteipolitik noch die neuere Form des Dreiparteienkorporatismus<br />

sind in def Lage, mit diesen »demokratischen Aufwallungen« fertig zu<br />

werden. Wit erleben deshalb die Freisetzung eines enormen Herausforderungspotentials def<br />

bestehenden Ordnung, das keine institutionellen Kanale findet, urn sich auszudrucken.<br />

Das bedeutet die Fortsetzung def neuen Bewegungen und Initiativen. Die meisten Widerspruche<br />

sind in sich nicht notwendig klassenspezifische und konnen in sehr unterschiedlicher<br />

Weise artikuliert werden, wie der kurzlich deutlich gewordene Erfolg des rechtsgerichteten<br />

Populismus bewiesen hat. Auf diesem Gebiet ist die Linke weit hinter def Rechten<br />

zuruck. Mir scheint, daB das Versagen der sozialistischen Krafte auf diesem Kampfplatz<br />

zwei Grunde hat:<br />

1. Der bei ihnen vorherrschende Okonomismus, def sie damn hindert, in ernsthaften Widerspruchen<br />

etwas anderes als den Klassengegensatz zu sehen und zu erkennen, da:B ideologische<br />

Streitfragen ein machtiger Faktor bei def Konstituierung und Vereinheitlichung<br />

sozialer und politischer Krafte sein konnen.<br />

52 Chantal Mouffe


2. Ihr weitverbreitetes ditigistisches Sozialismuskonzept und die Tatsache, daB sie bisher<br />

die Transformation der burgerlichen Politik, von der die Durchsetzung des Keynesianismus<br />

begleitet war, noch nicht richtig erfaBt haben. Sie machen weiter wie bisher und stellen<br />

die Eingriffe des Staates als Mittel gegen samtliche gesellschaftlichen -abel dar, ohne zu<br />

erkennen, daB die Bourgeoisie sie ihrer Flagge beraubt hat. Kein Wunder also, daB die Kri,<br />

se des Keynesianismus sie absolut unvorbereitet und ohne das Angebot einer wirklichen<br />

Alternative trifft, da ihre einzige Strategie def Linkskeynesianismus ist. Aus diesem Grunde<br />

konnten in vielen Landern die Rechten aus der Krise des W ohlfahrtsstaates ihr Kapital<br />

schlagen. Dieser Rechtsruck ist allerdings noch nicht endgiiltig, glucklicherweise: es gibt<br />

Anzeichen dafur, daB diese Entwicklung gebremst und umgekehrt werden kann.40 Aber<br />

wir brauchen eine radikale Neubestimmung dessen, was sozialistisches Ideal und sozialistische<br />

Strategie sein kann, wenn wir einen wirklich andauernden Sieg erzielen wollen, def cine<br />

linke Lasung def gegenwartigen Krise einschlieBt. Eine Lasung, die auf def fundamentalen<br />

Demokratisierung der Gesellschaft beruhen muBte.<br />

Was heute eindeutig auf der Tagesordnung steht, ist def Entwurf ciner Strategie, die alle<br />

»Bruchstiicke« der demokratischen Bewegung urn cine sozialistisches Projekt vereinigen<br />

kannte. Das geht abet nicht ohne eine grundlegende Anderung der herrschenden Sozialismuskonzeption.<br />

Denn solange sie nur gefaBt ist als »Vergesellschaftung der Produktionsmittel«,<br />

hat sie sehr wenig zur Befriedigung der Forderungen def »neuen Bewegungen« zu<br />

bieten. Der Kampf muB auf einem viel niedrigeren Niveau aufgenommen werden, als<br />

gemeinhin in der Linken angenommen, und die Ausarbeitung einer sozialistischen Alternative<br />

muB sich mit allen Widerspruchen der Gesellschaft, nicht nur mit denen auf wittschaftlichem<br />

Gebiet, auseinandersetzen. Das Ende def Gegensatze im Verhaltnis det<br />

Geschlechter und der Rassen zum Beispiel soUte beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft<br />

genauso wichtig genommen werden wie die Beendigung des Gegensatzes zwischen<br />

Kapital und Arbeit.<br />

Die Ausarbeitung und Verwirklichung einer solchen Strategie ist alles andere als einfach,<br />

und es ist nicht meine Absicht, die groBen Schwierigkeiten, die gelast werden mussen, zu<br />

verharmlosen. Ich machte dennoch einige Anregungen zur Diskussion stellen. Es wird<br />

manchmal behauptet, daB es fUr cine Vereinheitlichung der verschiedenen Teile def demokratischen<br />

Bewegung keine Basis gabe. Auf den ersten Blick sehen ihre Forderungen wirk­<br />

Iich so verschieden, sogar partikularistisch aus, daB es ohne die Feststellung einer bereits<br />

vorhandenen Einigkeit, die auf einem gemcinsamem Punkt beruht: dem der kapitalistischen<br />

Produktionsweise, sehr schwierig zu sein scheint, die Behauptung zu rechtfertigen,<br />

daB eine Einheit hergestellt werden kann und hergestellt werden soUte. Trotz aHem ist ein<br />

gemeinsames Element erkennbar, denn all jene Forderungen sind in def einen oder anderen<br />

Weise Ausdruck cines Kampfes urn Gleichhcit und Mitbestimmung, gegen Unterdruckung<br />

und AusschluB. Sie zeigen die Notwendigkeit einer Demokratisierung def Gesellschaft<br />

auf allen Ebenen, und eine derartige gemeinsame Zielsetzung kannte das Prinzip<br />

eines Bundnisses def verschiedenen Fragmente sein. Damit das abe! moglich werden kann,<br />

brauchen wit ein wesentlich brciter gefaBtes Demokratiekonzept als das, was gegenwartig<br />

zur Verfiigung steht.<br />

Unser gegenwartiges Demokratiekonzept ist zu begrenzt und hat im liberal-demokratischen<br />

Dialog vie! von seinem Ausdruck verloren.41 Urn es in ein Werkzeug umzuformen, das<br />

als Rahmen fUr einen neuen Sozialismus geeignet ist, ist es unbedingt erforderlich, es in einer<br />

Weise neu zu formulieren, die es uns erlaubt, nlcht nur fUr echte Mitbestimmung def<br />

Demokratie und neue Rechte 53


'.Mlel1Sche:n bei allen El1tscheidungel1, die die Organisatiol1 des sozialen, Lebel1s betreffen,<br />

5i[}11Iietlu. auch fUr eine witkliche Gleichheit unter den Menschen, ungeachtet ihres Ge­<br />

,'slchi1echlts, ihrer Klasse oder sexuellen Orientierung, einzutreten. Was die Offensive des li­<br />

::,'l)'t:lalt:u Konservatismus betrifft, der eine rechte Neudefinition der herrschenden ideologi­<br />

Parameter gibt, ist es notwendig, mit einer starken ideologischen und politischen Ofzu<br />

antworten, urn demokratische Werte zu erhalten und zu verbreiten. Weil die<br />

l'~


23 Charles Frankel, »The new egalitarianism and the old«, Commentary, September 197.3.<br />

24 Milton Friedman, Free to Choose, London 1980, p. 134<br />

25 Alain de Benoist, Les idees a I'endroit, Paris 1979, p. 81.<br />

26 Jean-Fransois Kahn, »Ne pas se laisser prendre au piege des mots«, Les Nouvelles litter aires, 27;<br />

September 1979.<br />

27 de Benoist, op. cit., p. 167 - 184.<br />

28 Robert de Herte, Collectif du G.R.E.C E., Dix ans de combat culture! pour une renaissance, Paris<br />

1977.<br />

29 Louis Pauwels, in: Maiastra, Renaissance de l'Occident, Paris 1979.<br />

30 Friedman, Capitalisme and Freedom, p. 12.<br />

31 Es ist interessant zu sehen, dafi beispielsweise viele Themen aus der Reagan-Kampagne, die heute<br />

doch akzeptiert werden, als emporend empfunden wurden, als sic Goldwater 1964 zuetst fOfmUlierte.<br />

32 Irving Cristol, »When virtue loses all her loveliness« - some reflection on capitalism and the<br />

society«, The Public Interest, No. 21, Fall 1970.<br />

33 Zur Analyse dieses Prozesses in GroBbritannien vgl. Stuart Hall u.a., Policing the crises, London,<br />

1978; in den Vereinigten Staaten; Bertram Gross, Friendly Facism, New York, 1980; and Alan<br />

Crawford, Thunder on the Right, New York, 1980<br />

34 Stuart Hall, Marxism Today, January 1979, p. 17 - 18.<br />

35 ibid., p. 18.<br />

36 besonders bei Daniel Bell, The Cultural Contradictions of Capitalism, New York, 1978, und Irving<br />

Kristo!, On the Democratic Idea in America, New York, 1972.<br />

37 Linda Gordon und Allan Hunter, »Sex, Family an the New Right«, Radical America, November<br />

1977.<br />

38 Eine sehrgute Analyse uber die Verflechtungen der Neuen Rechten in Amerika findet sich bei<br />

Alan Crawford, op. cit.<br />

39 Trida Davis und Catherine Hall, »TheForward Face ofFeminism«, Marxism Today, October 198Q,<br />

p. 15.<br />

40 Die Schwierigkeiten, auf die Mrs. Thatcher bei der Durchfiihrung ciner monetaristischen Politik<br />

stoBt und def anwachsende Widerstand def Massen gegen diese Politik fuhrt z.Zt. zu einer Radikalisietung<br />

def Labour Party, die die Voraussetzungen fur das Aufkommen eines vollig neuen<br />

Typs sozialistischer Politik in GroBbritannien schaffen konnte. Andererseits zeigt def Mitterand­<br />

Sieg in Frankreich moglicherweise ein alternatives Losungsmodell def Krise auf, das den konservariven<br />

Anspruch, den einzig moglichen Weg aus def Krise zu kennen, unterminieren und sich als<br />

machtige ideologische Waffe gegen den Aufstieg der neuen Rechten erweisen konnte.<br />

41 Man saUte Demokratie nicht auf cincn formalen Mechanismus kollektiver Entscheidungen reduzieren,<br />

wie es Barty Hindess in seinem ansonsten sehr wichtigen Artikel in Politics and Power I tut.<br />

Wie Bob Jessop in seiner Kritik an Hindess (Politics and Power II) muB man sich auch im Kampf<br />

urn die Nachfrage nach 'democratic subjects' engagieren. Abet dies macht ein neues Demokratiekonzept<br />

erforderlich, das dringend entwickelt werden rnuE.<br />

Demokratie und neue Rechte 55


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(Turkische Invasion), Assyrer und christliche<br />

Minderheiten im Nahen Osten, Tibet, Hill­<br />

Tribes in Bangladesh, Nagas und Mizos in<br />

Nord-Ost-Indien, Indochina-Fluchtlinge, Igorot<br />

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Osltimor (Hungertod durch Indonesien), Sudmolukker,<br />

Ainus in Japan, Schwarzaustralier<br />

(Aborigines gegen Uran), Minderheiten in Ostund<br />

Westeuropa, Sinti und Roma (Zigeuner),<br />

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der Gedenkkundgebung zum Zigeuner­<br />

Holocaust, Die Vernichtung der europaischen<br />

Zigeuner im DriUen Reich, Der<br />

Volkermord an den Armeniern vor Gericht,<br />

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sowie tiber das Verhalten def Parteien<br />

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Thomas Ferguson/Joel Rogers *<br />

Der Sieg Reagans<br />

Interessengruppen untl wre Koalitionen in tier Wahlkampagne von 1980"<br />

1. Einleitung<br />

Vnter den vielen Stationen seiner langen Reise zur amerikanischen Prasidentschaft war<br />

Reagans Besuch in Dallas, Texas Ende August 1980 sicherlich eine der bemerkenswertesten.<br />

Denn dort kamen innerhalb eines einzigen Tages wirklich aIle bizarren Themen der<br />

Wahlkampagne zusammen.<br />

Reagan kam in diese Wirtschaftsmetropole des Siidwestens, um die bereits starke Vnterstiitzung<br />

qurch die »wiedererweckten« christlichen Fundamentalisten abzusichern, die eine<br />

neue und wichtige Kraft bei den Wahlen im November darzustellen versprachen. Sein Be"<br />

such begann mit einem privaten Treffen mit mehr als zweihundert »religiosen und wii:tschaftlichen<br />

Personlichkeiten« im groBen Saal des Dallas Hyatt Regency. Eine Szene, die<br />

geradewegs aus Elmer Gantry oder Robert Altmans Nashville kommen konnte. Die Versammlung<br />

109 viele der bekanntesten und einfluBreichsten Mitglieder der amerikanischen,<br />

schwerreichen Vltrarechten an. Vnter den Anwesenden befand sich der Milliardar und l>lkonzernbesitzer<br />

Nelson Bunker Hunt, dessen Versuch, Weltsilberkonig zu werden, erst<br />

kiirzlich gescheitert ist und die Intervention eines speziell eingerichteten Bankensyndikats<br />

ausgelost hat. Weiterhin der Texas-Ranger-Besitzer und rechte Verleger »Mad« Eddy Chiles,<br />

Jesse Helms, der Senator aus North Carolina, Textilien und Tabak, den seine Gegner<br />

wegen seiner groBen Kampagnenkasse den »6-Millionen-Dollar Mann« nennen, und den<br />

Fort Worth-Industriellen T. Cullen Davis, ein .Wiedererweckter« nach seinem Freispruch<br />

im 3. Verfahren, in dem er angeklagt war, seine Frau ermordet zu haben.<br />

Es war ein Ereignis, das etliche wirre Themen des 80er Wahlkampfes vereinigte: die Vermischung<br />

protektionistischer Eliten und fiihrender Bankiers, das Wiederhervortreten des<br />

christlichen Fundamentalismus als entscheidende Kraft in der nationalen Politik, den Ver.<br />

fall organisierter Parteistrukturen und die ausgedehnte Mobilisierung von Gott und Geld<br />

bei der erfolgreichen Kandidatur einer Person, die einstmals nur am Rande des amerikani~<br />

schen politischen Lebens stand. Aber auch wenn Dallas samtliche Mysterien des Wahl·<br />

• Thomas Ferguson undJoel Rogers lehren politische Wissenschaften am Massachussetts Institute of<br />

Technology (MIT) bzw. an dem University College/Newark, a Division of Rutgers University.<br />

•• Der Artikel ist zuerst erschienen in: Th. Ferguson/). Rogers (eds.),The Hidden Election, New<br />

York 1981. Copyright © 1981 by Random House Inc. AUe Rechte vorbehalten; veroffentlicht mit Erlaubnis<br />

von Pantheon Books, a Division of Random House Inc.<br />

Mit freundlicher Genehmigung der Autoren legen wir hier eine gestraffte und gekiirzte Fassung vor;<br />

vor allem der Teil zur Wahlkampagne ist im Original wesentlich ausflihrlicher, und wit bitten weitergehend<br />

Interessierte, dort nachzulesen. Das Gleiche gilt flir den sehr umfangreichen Anmerkungsapparat,<br />

auf den wit zugunsten von mehr T extseiten verzichtet habert, da er im wesentlichen daziI dient,<br />

die sehr konkreten und personlichen Verhaltensweisen und Aufierungen der im Text genannten Per~<br />

sonen in den verschiedensten Zeitschriften und amerikanischen Artikeln zu belegen und daher flir<br />

den deutschen Leser nicht so relevant ist.<br />

Die Dbersetzung besorgte Brigitte Berger.<br />

Der Sieg Reagans 57


·•••. 1I,:lJI1pt'es von 1980 in einem einzigen Tag zusammenfaGt, unterstreicht es doch, wie schwie­<br />

Analyse der letzten Jahre amerikanischer Politik ist - und da Passierten kaum<br />

Bis 1984, also in nur einer einzigen Prasidentenamtszeit, sind die Sprache und<br />

"''''lUlJ,I.'':;'ll, die das offentliche Leben Amerikas seit mehr als einer Generation bestimmt<br />

plotzlich irrelevant. Da sie auf der politischen Formel des New Deal-Liberalismus<br />

bal,ier'en. sind sie nutzlos geworden zur Erklarung des poHtischen Zusammenbruchs genau<br />

Systems - eines Systems, dessen okonomische; soziale und politische Grundlagen<br />

,,...______ abbrockeln und wegen einer zweistelligen Stagflationsrate, protektionistischem<br />

,'LHULIL einerstockenden technologischen Entwicklung und einer chronisch negativen Zah­<br />

JUltlgsbil:anz nicht mehr zu retten sind.<br />

in jeder Periode sozialen Zerfalls, im Zeitraum zwischen dem Ende der alten und dem<br />

,1\];ltst1(':g der neuen Ordnung, sind eine Reihe ZerfaIlssymptome aufgetreten. In wohlhatlerldelten<br />

Kreisen: eine Fixierung auf die therapeutische Wirkung der Macht und der Vor­<br />

~ile der Konkurrenz, manische Grundstiicksspekulationen, Narzillmus der Masse und die<br />

'ldeologie der Selbsterneuerung. Unter den Armen und Schwachen, in allen Schichten der<br />

Gesellschaft: Erleuchtungen, Wahrsagerei, Glaube an den Satan, Astrologie, Katastrophenfilme<br />

und Retromanie. In der Presse: die Unfahigkeit, die Ursachen und die Bedeu­<br />

, .tung der gegenwartigen politischen Auseinandersetzungen zu erkHuen.<br />

Aber nicht aIle wurden durch diese Krise gelahmt. Parallel zu den kulturellen Experimenten<br />

in allen gesellschaftlichen Gruppen kommt es zu drastischen Umgruppierungen dec internen<br />

Beziehungen innerhalb der amerikanischen EHten. Angesichts des Zerfalls iiberholtet<br />

Biindnisse versuchen sie, festen Boden unter die Fiiikzu bekommen und schauen nach<br />

tlel1en Institutionen, Kandidaten und politischen Biindnispartnern aus, die ihnen dienlich<br />

sc;in konnten und dem Druck der 80er Jahre standhalten.<br />

'}liir diejenigen, die sich mit dem Studium der amerikanischen Politik befassen, ist diese<br />

;Mobilmachung der Eliten und ihre Umgruppierung mehr als von vorubergehendem Inter­<br />

'esse, denn sie beeinfluBt grundlegend die Form der Parteiauseinandersetzungen und der<br />

'. Konkurrenz, wie es bei den Prasidentschaftswahlen deutlich wird. Die existierenden<br />

Ma,chtstrukturen in Amerika miissen sich den demokratischen Regeln beugen, aber sie werden<br />

dabei kaum zerstort. Stattdessen fiillen sie den demokratischen ProzeB systematisch,<br />

geben ihm Form und Gehalt, schlieBen einige Moglichkeiten aus, wahrend sie anderen den<br />

Arischein der Notwendigkeit geben. Jede Prasidentschaftswahl muB deshalb als aus zwei<br />

verschiedenen Kampagnen bestehend gesehen werden. Eine, die in der Offentichkeit ablauft<br />

und sich in Vorwahlen, Parteitagen, Ansprachen und Diskussionen, schlieBlich dem<br />

Gang zu den Wahlurnen und dem Wahlergebnis ausdriickt. Die andere ist versteckter lind<br />

spiegelt den komplizierten ProzeB wider, durch den zentrale Interessengruppen wie OlgeselIschaften,<br />

internationale Banken, Waffenproduzenten, Gewerkschaften und sogar fremde<br />

Lander sich hinter bestimmte Kandidaten stellen, um so ihre eigenen Zieie zu verfolgen.<br />

Beide Kampagnen finden ihren Hohepunkt in den Wahlen, die eine Wahl ist offen,<br />

die andere verborgen.<br />

Die Aufgabe einer politischen Analyse muB es nun sein, die Verbindung zwischen den beiden<br />

zu fmden und damit den ProzeB zu erfassen, in dem die grundlegenden wirtschaftlichen<br />

Konflikte und Abhangigkeiten in eine Wahlbewegung umgesetzt werden. Manchmal<br />

ist diese Verbindung augenscheinlich, oft ist sie es nicht. Aber sie ist niemals unwichtig<br />

und im Fall der Wahlen 1980 deuten andere Faktoren darauf hin, daB ihre Bedeutung sehr<br />

groB ist.<br />

Thomas Ferguson/Joel Rogers


Viele Fragen warfder Wahlsieg Reagans auf, abet unter dem Gesichtspunkteiner politischen<br />

Analyse kann das niederschmetternde. Resultat der SOer Wahlen in eine Reihe einzelc<br />

ner Puzzles zerlegt werden. Eine wichtige Gruppe dieser Fragen betrifft den tatsachlichen<br />

Zusammenbruch der ParteifUhrung def Demokraten. Wie kann Jimmy Carter so schnell<br />

aus der Position des Retters in die des Lumpen kommen; warum hielt er, wie Grover Cleveland<br />

und Herbert Hoover, die selbstmorderische Enrfremdung von seiner eigenen Partei"<br />

basis aufrecht? Was soH die eigenartige Ambivalenz, die er gegeniiber erhOhten Militarausgabenund<br />

def Aufrustung an den legte? Manchmal, wie bei seinen ersten Reaktionen<br />

auf die Iran- und die Afghanistan-Krise, schien Carter nach mehr Militarisierung zu rufen.<br />

Bei anderen<br />

und deutlicher am Ende def Kampagne, hielt er sich zuruck.<br />

Was hat def seltsame Vedauf def Kandidatur Kennedys fur einen Sinn? Sein allmahlicher<br />

Aufbau, sein dramatischer Zusammenbruch und das plOtzliche Wiedererstarken bis fast<br />

zum Erfolg? Bine andere Reihe von Fragen drehen 5ich um die Kampagne def Republikaner.<br />

Hier ist das groBte Geheimnis wahrscheinlich die Kandidatur Connallys. Am Anfang<br />

seiner Kampagne, bei der eine enorme Unterstiitzung durch die Geschaftswelt sichtbar<br />

war, schien Connally auf seinem Weg, das Fiihrerprinzip als Leitlinie im Offentlichen Le:<br />

ben Amerikas einzufuhren, erfolgreich zu sein. Abet er verschwand bald von def Bildflache<br />

und hinterlieE lediglich eine<br />

in das Guinnessbuch def Rekorde als def teuerste<br />

Konventsabgeordnete de! Geschichte. Was waren die Ursptiinge def Kampagnen<br />

Bushs und Andersons? Und warum hatte Reagan seinen so spektakularen Aufstieg nach<br />

den Vorwahlen in New Hampshire? Wie wichtig war die Vbereinkunft, die Reagan mit<br />

Gerald Ford auf dem Parteitag de! Republikaner abgeschlossen hat, und wie hat er die harten<br />

Diskussionen in der Kampagne vor dem Parteitag auf eine Linie gebracht, womit er die<br />

Unterstiitzung dutch die amerikanischen Geschaftsleute schon vo! den Wahlen sichergestellt<br />

hat? SchlieBlich stellt sich die Frage, was fur eine Bedeutung (wenn iiberhaupt eine)<br />

wird die Prasidentschaft Reagans auf Dauer haben?<br />

Die historische Bedeutung def SOer Wahlen, ihre besondere Verbindung mit dem laufenden<br />

ProzeE def Neuorientierung der Elite, deutet daraufhin, daB keine dieser Fragen ohne<br />

ihre Beziehung zu den bedeutenderen Tendenzen, die das amerikanische System als<br />

zes<br />

beantwortet werden kann. Hier, wie in allen anderen entwickelten kapitalistischen<br />

Demokratien, wird die Hauptdynamik def Innenpolitik und des Parteienstreits<br />

durch zwei Faktoren bestimmt: den Stand des Krafteverhaltnisses zwischen Kapital und<br />

Arbeit im inneren des Landes und die Konkurrenz def industriellen Sektoren innerhalb def<br />

Weltwirtschaft. Aber die wirkliche<br />

des ersten Faktors ist im Fane Amerikas begrenzt<br />

durch die »AuBergewohnlichkeit« amerikanischer Politik, die durch eine schwache<br />

und ist. ist auch das<br />

Innenpolitik, und ein politischer Konflikt ist in def<br />

Regel am besten definiert als ein<br />

Konflikt zwischen verschiedenen Interessen-<br />

Eine dermaBen stark auf das Management konzentrierte Analyse kann natiirlich<br />

nicht sich in Anspruch samtliche Ereignisse def Innenpolitik zu errassen, aber<br />

sie kann cine Schliisselfunktion zum Verstandnis der Ursprunge def Kfafte und<br />

die sich im Offentlichen Bereich<br />

erhalten. In dies em Zustand schuf die Vie!-<br />

zahl der Konflikte ein<br />

Muster von Biindnissen zwischen Interessenverbanden<br />

und<br />

Koalitionen. Obwohl diese Muster sich permanent verandern und sehr labile<br />

Grenzen tendieren sie historisch eine haltbarere und einfluBreichere Ko'<br />

alition in ihrem Zentrum herauszubilden. Ganze politische Systeme konnen im auf<br />

Der Sieg Reagans 59


solche Zusammenschliisse bestimmt werden, die die grofiten Nutzbringer dieser Systeme<br />

'und die wichtigsten Faktoren ihret Stabilitat sind. Der Kern der amerikanischen Politik im<br />

,.goldenen Zeitalter« nach dem 2. Weltkrieg kann verstanden werden als auf.dem Biindnis<br />

teclinologisch hochentwick:elter Konzerne (von denen grofie Olgesellschaften am zahlreichstell<br />

und einflufireichsten vertreten waren) und internationalem Finanzkapital gegriindet,<br />

das zum ersterimal in den 30erJahren hervortrat. Was in diesem Sinne die gegenwartige<br />

Periode der amerikanischen Politik besonders kennzeichnet, ist das Auseinanderbrechen<br />

der Kernkoalition. Nichts ist erstaurilicher in der gegenwattigen Periode als die unwiderfufliche<br />

Desintegration der :.normalen Politik«. Diese Desintegration ist eintiefgreifender<br />

und arihaltender Prozefi. Er bestimmt die Wahl 1980 und ermoglicht das Auftauchen Ronald<br />

Reagans, wahrend er gleichzeitig die Stabilitat des Wahlbiindnisses infrage stellt. Was<br />

1980 passierte, war keine klassische Machtverlagerung - in deren Verlauf eine klar definierteGruppe<br />

auf Kosten einer anderen gewinnt - sondern eine Verlagerung bei genau den<br />

Interessen und Strukturen, die solche Koalitionen bilden. In diesem Sinne, meinen wir,<br />

mute die verborgene Wahl keinen Gewinner. Die zentrale politische Bewegung gingweder<br />

··von einem der Kandidaten, noch einer der Interessengruppen, sondern yom Auflosungsprozefi<br />

selbst aus.<br />

Bei der Analyse dieser Wahlen scheinen zwei Aspekte von besonderer Bedeutung zu sein.<br />

Der erste leitet sich ab aus der veranderten weltwirtschafdichen Lage. Ihre Analyse erfordert<br />

die Einbeziehung des schnelleren Tempos der internationalen Integration und der<br />

Konkurrenz, des relativen Abfalls amerianischer industrieller Leistungsfahigkeit, der Spannung<br />

zwischen den industrialisierten Landern und zwischen den entwickelten und sich entwickelnden<br />

Landern sowie die ausgedehnte Militarisierung von Gedanken und Handlungen,<br />

die all diese Veranderungen in der Form des internationalen Wirtschaftssystems hervorgebracht<br />

haben. Der 2. Aspekt leitet sich ab von dem auffalligen Verfall der Massenpolitik<br />

in Amerika. Seine Analyse erfordert die Einbeziehung einer Analyse der Veranderung<br />

der amerikanischen Parteienstrukturen, der Zuruck:bildung des Einflusses der Gewerkschaften,<br />

der Verringerung aufierparteilicher und aufiergewerkschaftlicher Formen der Mobilisierung<br />

und des Widerstandes sowie des Angriffs und der Vorherrschaft der Organisation<br />

des Kapitals, ,


verschlechtert. die Hegemonie Amerikas ist am Ende. Und obwohl die USA noch eine beachtliche<br />

Prasenz im Ausland vorzuweisen hat, geht dies immer mehr auf Kosten wichtiger<br />

Sektoren def nationalen Wirtschaft. Diese Kosten nahern sich jetzt einem kritischen Punkt<br />

und damit droht ein Zusammenbruch def liberalen Internationalen Wirtschaftsordnung<br />

der Nachkriegszeit.<br />

1. Aufstieg und Zerfall der liberalen Kernkoalition<br />

Die USA ging aus demJahr 1945 als die grofite Wirtschafts- und Militarmacht hervof. Dbwohl<br />

die vollige Zerstorung, die der Krieg ihren Hauptkonkurrenten zugefUgt hatte, sich<br />

teilweise zum VOfteil Amerikas auswirkte, war das wirkliche Geheimnis Amerikas phanomenaler<br />

Nachkriegsstarke der Aufstieg einer Reihe von Schlilsselindustrien zu internationale!<br />

Dberlegenheit: internationales Olgeschaft, Computer, Elektronik, Flugzeuge, Autos,<br />

Entwicklungen auf dem Agrarsektor, Investitions- und Handelskapital. Das Resultat war<br />

die schnelle Ausdehnung Amerikas multinationaler Industrie- und Finanzkapitale in einer<br />

Welt, die grofitenteils unfahig war, sich dem zu widersetzen, wahrend die einflufireichen<br />

Teile def amerikanischen Geschaftswelt einen klassischen »Imperialismus des Freihandels«<br />

ptaktizierten.<br />

Freihandel, die Integration ehemals restriktiver Blocke und die militarische Vorherrschaft<br />

auf def ganzen Welt wurde die unantastbare Dreiheit des Nachkriegssystems. Die uberwaltigende<br />

Wirtschaftsmacht garantierte den Gewinn aus einem liberal strukturierten internationalem<br />

System, das dutch den freien Gilter- und Kapitalflufi gekennzeichnet war. Ebenso<br />

erleichterten die amerikanische Dominanz in den internationalen Wahrungsinstitutionen<br />

und Abkommen (inklusive der Weltbank, des IMF und dem Wahrungssystem von<br />

Bretton Woods) das Wachsrum und den Handel.<br />

Die Leistungen dieses liberalen Systems waren beachtlich. Es steht aufier Frage, dafi die<br />

multinationale Expansion zu der bemerkenswerten amerikanischen Prosperitat in def Zeit<br />

zwischen 1945 und 1971 beigetragen hat, und dafi dadurch erfolgreich andere Gebiete - zuerst<br />

Europa und]apan, spater Teile der Dritten Welt - in den Prozefi der internationalen<br />

Wirtschaftsentwicklung einbezogen wurden. Diese Bewegungsfreiheit bilrgte fur Kapital<br />

und Waren, ermoglichte die Expansion und Aussiedelung von Produktionsstatten, senkte<br />

die Anfangsinvestitionen und beschleunigte den Technologietransfer. Au£erdem internationalisierte<br />

sie das Verwaltungssystem und die fur den burokratischen Kapitalismus charakteristische<br />

Form der Arbeitsorganisation. Der Kapitalflufi schuf komplexe internationale<br />

Abhangigkeiten; die inflationsbereinigte Hohe amerikanischer Direktinvestitionen<br />

verdoppelte sich in den 50er ]ahren und diese Verdoppelung wiederholte sich in den<br />

60ern. Sie vergro£terte die Handelsstrome, verbesserte die Kommunikation ilber nationale<br />

Grenzen hinweg, fUhrte zu def Enrwicklung einer Regionalplanung im Weltmafistab und<br />

verbesserte massiv den Kulturaustausch.<br />

Abet zusammen mit den »Errungenschaften« dieses liberalen Systems tauchten eine Reihe<br />

von Nachteilen auf. Einige von ihnen, vor aHem die Gefahren eines unausgeglichenen industriellen<br />

Wachstums und die Instabilitat der sich entwickelnden Gebiete, die von def<br />

Entwicklung der Industrielander abhangig sind, wurden viel diskutiert. Die Nachteile allerdings,<br />

die direkt fur die Erklarung der amerikanischen Politik wichtig wurden, haben<br />

wenig Aufmerksamkeit erregt.<br />

Um sie sichtbar zu machen, ist es erforderlich, scharfe Unterscheidungen zwischen den verschiedenen<br />

politischen Akteuren hinsichtlich ihrer Verbindungen mit bestimmten industriellen<br />

Sektoren (und oft einzelnen Firmen) zu treffen. Die Notwendigkeit einer solchen<br />

Der St"eg Reagans 61


Unterstheidung ist nirgellds augenscheinlicher als bei def Analyse de! scharfen Auseinandersetzungen<br />

innerhalb def amerikanischen Geschaftswe!t tiber den Beitrag Amerikas zur<br />

Weltwirtschaft. Gesellschaften, die vornehmlich im Ausland produzieren und an das Ausland<br />

verkaufen (im Gegensatz w denen, die auslandische Rohstoffe fUr die Produktion Un<br />

eigenen Land beschaffen mussen) sind Nutznie£er dieses liberalen Regimes und fordern<br />

weiterhin den freien Handel und direkte Auslandsinvestitionen, genauso wie die gro£en<br />

Handels- und Investitionsbanken, die sie finanzieren. 1m Gegensatz claw stehen Sektoren,<br />

die auf dem internationalen Markt erfolgreich sind, wie Schuhfabrikation, Stahl,<br />

nationale Olgesellschaften zunehmend auch Gummi, Autos und Teile der<br />

chemischen Industrie). Die meisten Kleinunternehmen und ortliche Banken versuchten<br />

mit wachsender Verzweiflung, sich dem def We1twirtschaft, durch Zolle, Kontigentierungen,<br />

Investitionsbeschrankungen und andere Restriktionen des freten Guter- und<br />

Kapitalflusses zu entziehen.<br />

Oiesen untergehenden und auf den Binnenmarkt konzentrierten Unternehmen bietet das<br />

liberale nichts als die permanente und wachsende Herausforderung dutch die exvaJLIUJ.ClC;iHj'CH<br />

lndustriezentren Un Ausland. Diese Herausforderung findet ihren deutlich­<br />

Niederschlag im Ringen um Marktanteile auf dem Weltmarkt und in def Akkumulationnationaler<br />

und macht 5ich in der progressiven Verschlechterung<br />

der Handelsposition der USA in den Nachkriegsjahren geltend. Angaben der Vereinten<br />

Nationen aus demJahre 1949 zum Beispiel zeigen eine positive Handelsbilanz def USA fUr<br />

alle wichtigen Bereiche (Standard International Trade Classification),aber diese durchweg<br />

positive Handelsbilanz veranderte sich bald unter dem Druck def wiederaufgebauten Winschaften<br />

Westeuwpas undJapans (letztendlich auch def aufkommenden Wirtschaften def<br />

Dritten Welt). Das machte sich zuallererst bei den alteren und wenig technisierten Industriezweigen<br />

wie der Schuh- und Textilindustrie bemerkbar, die schon Mitte und Ende def<br />

50er Jahre negative Bilanzen aufwiesen. Der Druck aus dem Ausland ging allmahlich auf<br />

hochtechnisierte Industriezweige tiber, wie Eisen- und Stahlproduktion, die 1960 ein kritisches<br />

Verhaltnis von Export und Import aufwiesen, und ein paar Jahre eine nur noch<br />

negative Bilanz. Ebenso die Kraftfahrzeugproduktion, die 1965 in die wten Zahlen geriet.<br />

Bis 1970 machte sich die amerikanische Handelsschwache in stark negativen Bilanzen im<br />

Bereich def Grundstoff- und Zulieferbetriebe geltend. 1971 kam es zum ersten v6lligen<br />

Handelsdefizit in def neueren Geschichte Amerikas.<br />

Zusatzlich zu dem Importdruck litt die nationale Industrie auBerdem an den riesigen Kapila!::,tli'lsslon,<br />

die als Direktinvestitionen ins Ausland gingen und deren Hohe sich bis 1970<br />

auf 75,5 Milliarden Dollar belief. mit def def Industrie in<br />

. hm es zu eine! stufenweisen amerikanischer Bankgeschafte, die 5ich<br />

in den Die amerikanischer Banken<br />

seits des wuchsen von 3',5 Milliarden 1960 auf 52,6 Milliarden bis Ende desJahrzehnts<br />

an, und die def internationalen Bankenwelt wie die Bane of America,<br />

und Company und die Citibanc zogen einen<br />

Anteil<br />

v,.,,,,"UHjJ"'YH"O aus Auslandsaktivitaten. Der Inlandsindustrie wurden so die "'.0'1-'1""'-<br />

VV'.'-"lU«WCH, die sie am meisten um ihre HlI.!U;>UJlC,,"'Hc'!;'CH zu erneuern<br />

n .. ~'H".U'LIClILj"Ul;O;".i5,~>V~jH durch vle:lve:rsr,re(:hend,ere<br />

Massen. Obwohl def Abfiel<br />

bis Ende 1960 die<br />

nicht in Immobilien ;f>"''-);" .... u "'''.jJH,''J<br />

62<br />

Thomas Ferguson/Joel Rogers


in den USA auf 2,6 %, also von einer dutchschnittlichen Hohe Un Boom Anfang def.60er<br />

Jahre von 9,6 % aufungefahr die Halfte des 1949 - 1966erDurchschnitts von 5 %. De!<br />

Abschwung in wichtigen Sektoren spiegelte sich wieder in einer relativen Abnahme des<br />

US-Anteils an der Weltproduktion, die wahrend der goldenen Jahre standig sank, von<br />

60 % def Weltproduktion in den 40er Jahren und 40 % def Weltgiiter- und Dienstlei·<br />

srungen bis Ende 1970 auf die Halfte dieses Anteils. Die wachsende Zahl de! Importe und<br />

der steigende Kpitalabflu£ wurden durch das Wahrungssystem von Bretton Woods, das<br />

nach dem 2. Weltkrieg installiert wurde, sowohl gefordert als auch verkompliziert. In Bretton<br />

Woods legte man spezielle Austauschverhaltnisse zwischen den nationalen Wahrungen<br />

fest und bestimmte den US-Dollar zum allgemeinen Vermittler des internationalen Austauschs,<br />

indem man seine Konvertibilitat in Gold flxierte. Er war der Punkt de! Stabilitat,<br />

urn den das liberale Systemsich drehte. Die Rolle des Dollars als Reservewahrung des internationalen<br />

Systems, def selbst abhangig ist von def internationalen Uberlegenheit de!<br />

amerikanischen Industrie, erleichterte in gro£em Ma£e die Ausweitung derselben und ih.<br />

rer Auslandsinvestitionen, indem er die Kosten des chronischen Leisrungsbilanzdefizits def<br />

USA dieser Periode verringerte. Fremde Regierungen waren bereit, die Dollariiberschusse<br />

als Wahrungsreserve aufzukaufen, die in der ganzen Welt vorhanden waren, und schutzten<br />

damit den Dollar vot einem internationalen Druck der Entwertung. Die festen Wechselkurse<br />

wurden von den USA so weir wie moglich ausgenutzt, urn zusatzliche internationale<br />

Krafte durch den Kauf von Fabriken und Waffen aufzubringen, indem sie einfach<br />

mehr Geld druckten und damit das praktizierten, was franzosische Kritiker als »das ma£lose<br />

Privileg« de! fiihfenden Wirtschaftsmacht bezeichneten. Abet wahrend es amerikanische<br />

Direktinvestitionen Un Ausland forderte, funktionierte das System von Bretton Woods gegen<br />

die Interessen def inlandischen Produzenten. Aufgrund def Rolle des Dollars als Reservewahrung<br />

hatte seine Abwertung gegenuber anderen Wahrungen so enorme Kosten nach<br />

sich gezogen, da£ eine Abwerrung als politisches Mittel von vornherein ausgeschlossen war.<br />

Aber mit dem Anwachsen der Importe fiihrte diese Inflexibilitat dazu, da£ die Preise arne.<br />

rikanischer Waren verglichen mit den Preisen auslandischer Konkurrenten uberdurchschnittlich<br />

hoch blieben, wobei die anderen Lander ihren Kurs oft wohluberlegterweise<br />

niedrig hielten. Das behinderte die amerikanischen Exporte, die auf dem internationalen<br />

Markt teuer waren, forderte aber die Importe und vermehrte die Auslandsinvestitionen<br />

amerikanischer Firmen, die mit einem Dollar bezahlt werden konnten, der gegenuber den<br />

anderen Wahrungen stark war. Inlandische Produzenten muBten auf jeden Fall Verluste<br />

hinnehmen.<br />

Zu keinem Zeitpunkt der Nachkriegsara war die aufkommende Freihandelsordnung ohne<br />

machtige und gutorganisierte Opposition. Abet zu Beginn der fiinfzigerJahre beschrankten<br />

sich die Proteste angesichts des uberwaltigenden Aufschw-ungs Amerikas in der Weltwirtschaft<br />

auf wenige, spezifische Bereiche def Industrie - def Textilindustrie, unabhiingigen<br />

(d.h. nationalen) Olgesellschaften, einige Agrarsektoren und Teile def chemischen<br />

Industrie. Abet als sich def Rest def Welt wieder erholt hatte, vermehrten sich die Kosten<br />

def inlandischen Produzenten. Mehr und mehr Sektoren mu£ten sich harter Konkurrenz<br />

stellen und innerhalbder amerikanischen Geschaftswelt tat sich dne tiefe Kluft auf. Vertreter<br />

des Freihandels aus hochtechnologisierten, international konkurrenzfahigen Firmen<br />

und Vertreter des Protekrionismus aus auf den Inlandsmarkt konzentrierten und absteigenden<br />

Industriezweigen standen sich verfeindet gegenuber. Die Republikanische Partei<br />

def Eisenhower-Jahre, in def Vertreter des Protektionismus in friedlicher (trotz Spannun-<br />

Der Sieg Reagans 63


·gen) Koexistenz mit Multinationalisten wie Nelson Rockefeller lebten, begannsich zu spalten.<br />

Das Resultat dieser Kampfe innerhalb der Partei zeichnete sich auf ihrem Parteitag im<br />

Jahre 1960 abo Nelson Rockefeller - er verkorperte den multinationalen Gedanken - verlor<br />

.. die Nominierung zum Prasidenten an Richard Nixon, der damals nicht die erste Wahl der<br />

Multinationalisten war und es auch nie werden sollte, obwohl einige ihn bei seinem Griff<br />

nach der Macht unterstiitzt hatten. Barry Goldwater's Sieg auf dem Parteitag 1964 war ein<br />

Zeichen der Konsolidierung der Macht des protektionistischen Fliigels, der von so prominenten<br />

Goldwater-Anhangern wie George Humphrey, Roger Milliken (Deering Milliken),<br />

dem groBen Textilunternehmer, nationalen Olproduzenten wieJohn Pew und Henry Salvatori<br />

und einer Reihe kleiner und mittlerer Unternehmen reprasentiert wurde. Die Forderung<br />

nach Importrestriktionen wurde in die Plattform der Republikaner aufgenommen,<br />

wahrend die Parteispitze die Rockefellers, das »ostlich-liberale Establishment«, die Auslandshilfen<br />

und die Vereinigten Nationen angriff.<br />

Nachdem sie ihre einfluBreiche Stellung innerhalb der republikanischen Partei verloren<br />

hatten, fanden die Vertreter des internationalen Freihandels eine neue Heimat unter den<br />

Demokraten der sechziger Jahre. John F. Kennedy loste fruhe Versprechungen ein, indem<br />

. er multinationale Geschaftsleute wie Robert Mc Namara und Douglas Dillon fur Kabinettsposten<br />

nominierte. Er arbeitete mit dem »Committee for Economic Development« an einer<br />

Gesetzesvorlage zur Steuersenkung und bestatigte seine iiberzeugte Freihandelsposition<br />

mit dem »Gesetz zur Ausweirung des Handels« aus dem Jahre 1962 und der darauf<br />

folgenden Kennedy-Runde mit massiven Zollsenkungen (im Durchschnitt 35 %). Lyndon<br />

Johnson trat, was den entscheidenden Punkt des Freihandels anging, in Kennedys FuBstapfen<br />

und ignorierte die zunehmend protektionistischen Forderungen seines Arbeiterwahlkreises.<br />

Obwohl Vietnam und die fehlgeschlagene McGovern-Bewegung die amerikanische Politik<br />

kurzzeitig verkomplizierten, war schon Mitte der sechziger Jahre die gegenwartige Form<br />

. amerikanischer Parteipolitik gefestigt. Der Prasidentschaftswahlkampf der Republikaner<br />

war dutch brudermorderische Kampfe zwischen den Konservativen und einer kleiner werdenden<br />

Anzahlliberaler »Rockefeller«-Republikaner gekennzeichent. Die multinationale<br />

Elite festigte ihren Zugriff auf die Demokratische Partei, wahrend der EinfluB der organisierten<br />

Arbeiterschaft entschieden zurUckging. In der Zwischenzeit schnellten die Kosten<br />

fur den Freihandelsimperialismus in die Hohe.<br />

Mitte der sechzigerJahre wurde die Weltwirtschaft Dreh- und Angelpunkt der Innenpolitik.<br />

Die massive militarische Intervention in Vietnam zehrte die nationale Wirtschaft auf.<br />

Die noch unversteuerten Einkommen der Verbande erreichten ihren Hochststand imJahre<br />

1965 und erlitten dann einen starken Abfall. Die Inflation hatte ihren unwiderruflichen<br />

Auftritt auf der nationalen Biihne, da die Dollars in der ganzen Welt stark zunahmen.<br />

LyndonJohnson, der bestatigte Kandidat des demokratischen Multinationalismus, der Gewehre<br />

und Butter, soziale Wohlfahrt und imperialistische Ambitionen versprochen hatte,<br />

wurde wahrend der Wahrungskrise 1967 - 68 gezwungen, seine Teilnahme an der Wiederwahl<br />

aufzugeben. Am Ende der sechzigerJahre und zu Beginn des neuenJahrzehnts zeigten<br />

sich die ersten wichtigen Herausforderungen des Dollars auf dem internationalen<br />

Geldmarkt, das entscheidende Handelsdefizit imJahre 1971 verschatfte die Rivalitat zwischen<br />

den USA und anderen Wirtschaftsmachten und damit die Unstimmigkeiten im IMF,<br />

es schob die Niederlage in Vietnam hinaus, verstarkte die Gegensatze im Land selbst und<br />

verhartete die Diskussionen in der Nato iiber die militarische Zukunft der USA in Europa.<br />

64 Thomas Ferguson/Joel Rogers


Besonders bemerkbar machten sich die wachsenden Spannungen unter den grofien Industriemachten:<br />

den USA, Westeuropa undJapan. Die Unstimmigkeiten zwischen den nationalen<br />

EHten liefen parallel dazu und spiegelten den Konflikt zwischen diesen »trilateralen«<br />

Staaten wider - ihfe Unfahigkeit, sich auf feste Bedingungen in Wahrungsfragen, militarischen<br />

Strategien, dem Anteil an def Finanzierung der Fiihrungsanspruche innerhalb<br />

des sich wandelnden internationalen Wirtschaftsgefuges, zu einigen. Westeuropa undJapan<br />

spiel ten eine immer grofiere Rolle in def Weltwirtschaft und wollten ihr exportorientiertes<br />

Wachstum immer weniger der Aufrechterhaltung einer internationalen Ordnung<br />

unterordnen, von der sie meinten, dafi sie def USA systematisch Vorteile auf Kosten def<br />

anderen Machte verschaffte. Obwohl Westdeutschland schliefilich doch noch zu einer zehnprozentigen<br />

Aufwertung def DM gezwungen wurde, stellten sich Westdeutschland undJapan<br />

gegen das Drangen def Amerikaner nach starkeren Aufwertungen, die die Exportkosten<br />

in die USA und damit den Druck der inlandischen Produzenten gesteigert hatten. In<br />

ibrem Streben nach neuem internationalem Einflufi und den dazu erforderlichen Devisen<br />

brachten es beide Lander zu erheblichen Handelsiiberschiissen, die die Herrschaft Amerikas<br />

im Exportgeschaft direkt bedrohten. 1952 belief sich def amerikanische Exportanteil<br />

unter den IMF-Mitgliedern auf 20,8 %, wahrendJapans Anteil bei 1,7 % lag. Zwanzig<br />

Jahre spater sank der amerikanische Anteil auf 13,2 %, wahrend sich Japans' Anteil von<br />

7,6 % fast vervierfacht hatte. Als 1971 die amerikanische Handelsbilanz schliefilich negativ<br />

wurde, verfugtenJapan und Westdeutschland uber einen ansehnlichen Handelsiiberschufi<br />

von 12 Milliarden Dollar.<br />

Prasident Richard Nixon reagierte 1971 auf das Defizit mit seiner umstrittenen New Economic<br />

Policy (NEP). 1m August dieses Jahres wertete Nixon den Dollar einseitig ab und<br />

hob seine Konvertibilitat in Gold auf. Er schiitte den Handelskrieg, indem er auf praktisch<br />

alle Importe eine zehnprozentige Abgabe verhangte. Er richtete offene Forderungen anJapan,<br />

Siidkorea, Hongkong und Taiwan, ihre Textilflut auf den amerikanischen Markt zu<br />

verlangsamen, und setzteJapan und Westeuropa unter Druck, ihre wachsenden Handelsbarrieren<br />

zu lockern, um damit Amerika einen grofieren Zugang zu ihren nationalen Markten<br />

zu verschaffen.<br />

Fur die inlandischen Hersteller war def »Nixonschock« der New Economic Policy (NEP) eine<br />

willkommene Erleichterung und vorausschauende Politik. Aber fur die Multinationalisten,<br />

die weiterhin von dem liberalen System profitiert hatten, war es die Einleitung des<br />

Riickschritts. Prominente Vertreter des Freihandels wie C. Fred Bergsten, Philip Trezise<br />

und J. Robert Schaetzel verliefien die Regierung und iibernahmen Amter bei der liberalen<br />

Brookings Institution und dem Council on Foreign Relations (CFR). Nixon wurde von def<br />

gesamten einschlagigen Presse scharf kritisiert. In def Zeitschrift »Foreign Affairs« des CFR<br />

machte Bergsten einige Monate nach Einfuhrung der neuen Politik die Bedeutung der Reaktion<br />

des multinationalen Fliigels klar:<br />

»Im Sommer 1971 revolutionierten Prasident Nixon und Minister Connally die Aufienwirtschaftspolitik<br />

def USA. Damit forderten sie einen protektionistischen Trend, def Fragen<br />

uber die Zukunft der amerikanischen Wirtschaft aufwirft, die zumindest ebenso grundlesind<br />

wie die, die dutch die iibereilte Annahme def Lohn-Preis-Kontrollen aufgeworwurden.<br />

Damit sie aufierdem einen ruinosen Trend gefordert, def Fragen uber<br />

die Zukunft def amerikanischen AuBenpolitik aufwirft .<br />

... Sowohl die amerikanische Wirtschaftspolitik ais auch die amerikanische AuBenpolitik<br />

der nahen Zukunft stehen auf dem Spiel.<br />

Der Sieg Reagans 65


(Nixon) verIetzte den Geist international herrschenden Rechts sowohl was Wahmngsfragen<br />

als auch Handelsfragen betrifft .... die neue Wirtschaftspolitik ging zu weir. Sie setzt 50-<br />

wohl quantitativ als auch qualitativ unmogliche Ziele .... Sie ist flir die amerikanische<br />

Wirtschaft falsch .... Sie stellt eine Katastrophe flir die amerikanischen Weltinteressen dar.«<br />

Auf den Fersen Nixons neuer Wirtschaftspolitik und des Zusammenbmchs fester Wechselkurse<br />

(in vetschiedenen Etappen) folgten die von der OPEC gesetzten Olpreissteigemngen.<br />

Sie verdienen weitaus mehr Aufmerksamkeit, als wit ihnen hier widmen konnen, und leiten<br />

ein wichtiges Kapitel in def Geschichte def Dritten Welt ein, weil sie in kurzer Zeit einige<br />

Lander reich machen und andere ins Elend srurzen. Auf!erdem wurden durch sie die<br />

Beziehungen unter den Industriestaaten neu definiert. Arabische Investoren spielen heute<br />

eine groBere Rolle auf den internationalen Finanzmarkten, und wie andere »Neureiche«<br />

vot ihnen gewannen sie in vielen Landern zunehmend an Einflull. Nicht weniger bedeutend<br />

war die Rivalitat unter den flihrenden Landern def industrialisierten Welt, die sich<br />

stark verscharfte - die Rivalitat urn giinstige Positionen auf dem 8ich rapide entwickelnden<br />

arabischen Matkt, urn langfristig gesicherte Energiequellen und urn Exporruberschilsse angesichts<br />

der hohen Olpreise.<br />

Es war daher selbst vor def weltweiten Rezession von 1973 - 1974 nicht liberraschend, da£!<br />

sich bei dieser Verstarkung des Drucks jene Teile des Kapitals entwickelter Lander zur<br />

Selbstverteidigung organisierten, die sichvon einer offenen Weltwirtschaft Vorteile versprachen.<br />

Mit dem Ausbau eines Netzes ilbernationaler Stifrungen, politischer Organisationen, Forschungsinstiruten<br />

und administrativer Korperschaften, de! sich bei Beginn des Kalten<br />

Krieges langsam durchsetzte, ergriffen einfluBreiche internationale Geschaftsleute die Initiative.<br />

Eine Reihe existierender Organisationen wie die Organisation flir okonomische Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung in Europa (OECD), der Internationale Wahmngsfond<br />

(IMF) und def (U.S.) Council on Foreign Relations, organisierten sich auf vielen Ebenen<br />

neu, nahmen neue Mitarbeiter auf und weiteten ihre Aktivitaten aus. Gleichzeitig kamen<br />

eine Reihe neuer Organisationen auf, unter Ihnen ist die 1972/73 von David Rockefeller<br />

(Chase Manhattan Bank) organisierte Trilaterale Kommission (die schnell ein breites Spektrum<br />

multinationaler Banken, industrieller Verbande, Stifrungen und Medienvertrerungen<br />

nach sich zog) die bekannteste.<br />

Obwohl zwischen den verschiedenen Organisationen betrachtliche Unterschiede bestehen<br />

(der IMF hat ein gewichtetes Abstimmungssystem, das den USA wesentlich mehr EinfluB<br />

verleiht als in def OECD) und die Dbereinstimmung def Mitglieder nur in def Ablehnung<br />

des Protektionismus besteht, Hagen sie dazu bei, den multinationalen Eliten ein Netz von<br />

gemeinsamem Personal und gemeinsam genutzten Ressourcen bereit zu stellen. Zusammen<br />

bilden sie eine neue und machtige Kraft gegen die zersetzenden Krafte def Weltwirtschaft.<br />

Abet der EinfluB multinationaler Organisationen bei der Behandlung von Weltkonflikten<br />

sollte nicht ilberschatzt werden. Zusatzlich zum Widerstand im Inland, den ihr liberales<br />

Wittschaftsprogramm auslost, leiden solche Organisationen genau unter den widersprnchlichen<br />

Impulsen def Weltwirtschaft, die zu bekampfen sie sich zusammengeschlossen haben.<br />

Nirgends wird dies deutlicher als in den divergierenden Reaktionen der Multinationalen<br />

auf die Formulierung diplomatischer Beziehungen zwischen Ost und West und auf die<br />

Bedeutung def Streitkrafte in der AuBenpolitik, die sich im Falle Amerikas von dner Feier<br />

amerikanisch-sowjetischer Entspannung in den fruhen siebzigerJahren zu einem sich in a1-<br />

66 Thomas Ferguson/Joel Rogers


len Lagern ausbreitenden Militarismus des amerikanischen Kapitals entwickelte. Sowohl<br />

wegen der enormen Konsequenzen auf das Alltagsleben als auch wegen der deutlichen<br />

Auswirkungen auf den Ausgang des Wahlkampfes 1980 verdient dieser letzte, desintegrative<br />

Druck auf die Weltwirtschaft, die militarische Rivalitat, besondere Beachtung.<br />

Der Ursprung def Entspannung kann direkt auf den weltweiten wirtschftlichen Druck def<br />

sechziger Jahre zuruckgefuhrt werden. Mit dem relativen Abstieg der USA als wichtigstes<br />

Profitzentrum beschleunigten amerikanische Banken und die Industrie ihre Suche nach Investitionsmoglichkeiten<br />

1m Ausland. Einer der vielversprechendsten Kandidaten auf diesem<br />

Gebiet war die Sowjetunion. Die Grofie und die politische Stabilitat der SU schienen<br />

einen langfristigen Markt fur das US-Kapital, seine Technologie und Konsumgtiter sieherzustellen,<br />

wahrend eine Normalisierung der Beziehungen eine Begrenzung def enormen<br />

Kosten fur dn strategisches Waffensystem zu sdn schien und damit den wachsend~n<br />

Druck auf den amerikanischen Dollar mild ern sollten. Wichtige amerikanische Zeitungen<br />

wie die »New York Times« und die »Washington Post«, fuhrende Intellektuelle und das<br />

Fernsehen portratierten die SU als dne vernunftige und verantwortliche Nation, die nach<br />

Pepsi-Cola durstet, nach Weizen hungert, aufgeschlossen dem Fortschritt def Computertechnologie<br />

gegenubersteht und vor aHem bei den grofiten amerikanischen Banken kreditwiirdig<br />

ist. Pepsi-Colas uberschaumender Enthusiasmus fur dieses Projekt wurde von Chase.<br />

Manhattan, Caterpillar Tractor und einer Reihe anderer Multinationaler und Handelsbanken<br />

geteilt. Richard Nixon, Henry Kissinger und David Rockefeller sehauten alle nach Moskau.<br />

Erinnerungen an Ungarn, Ost-Berlin und die (damals noch sehr junge) brutale sowjetische<br />

Invasion def Tschechoslowakei verb lichen. Das Zeitalter def Entspannung begann.<br />

Dennoch war def Enthusiasmus im Inland gegenuber dnet solchen Angleichung nicht allgemein<br />

verbreitet. Die plotzliche Kehrtwendung de! AuBenpolitik, die die Entspannung<br />

symbolisierte, stand in volligem Gegensatz zu dnet Reihe amerikanischer Interessen: Kapitalanlagen<br />

dutch Wettrusten, Schutz vor dem Druck auf dem Weltmarkt und


Wirtschaftswachstum dieser Lander war Ende der sechziger und Anfang der siel>ziger<br />

beachtlich. WahreJid der amerikanische Anteil der Welrproduktion, zum Beispiel<br />

zwisdlen 1963 und 1977 von 40 % auf 36 % fiel, stieg der Anteil dieser Lander in der glei- .<br />

Zeit um fast das Doppelte von 5 % auf knapp 10 %. Das Hauptwachstumfand nach<br />

statt und fUhrte zu einer fantastischen Expansion der nationalen Wirtschaften mit<br />

ausgedehntem Kapitalbedarf.<br />

Fur die schwergepruften amerikanischen Industriellen und die internationalen Banken war<br />

die Sache klar. Vor allem nach den drastischen OlpreiserhOhungen durch die OPEC im<br />

Jahre 1973 nahmen Bankanleihen an die Dritte Welt zu. Petrodollars der OPEC wurden<br />

dutch amerikanische Handelsbanken als Staatsschuld an die Dritte WeIt zuruckgeschickt<br />

(recycled). Privatkredite .an weniger entwickelte Nicht-OPEC-Lander verdreifachten sich<br />

yon 34 Milliarden Dollar auf schatzungsweise 120 Milliarden Dollar imJahre 1979.<br />

Zusammen mit den sich allmahlich normalisierenden Beziehungen zu China (das mit der<br />

Sowjetunion um die Stellung als wichtiger sozialistischer Markt der Zukunft konkurriert<br />

und auf dem die Europaer nicht den Vorteil haben, den sie beim Handel mit der SU aus­<br />

.. spielten, anderte diese Verlagerung des Investitionsschwerpunktes die auBenpolitische Diskussion<br />

im Land vollig. Die Existenz alternativer Investitions- und Kreditmarkte senkte die<br />

Kosten des Abbruchs amerikanisch-sowjetischer Beziehungen. Die ~achsende okonomische<br />

Betl\tigung in Sudeuropa und der Dritten Welt (zusammen mit dem Druck nach poli- .<br />

tischer Autonomie in einigen Landern und den standigen Gefahren einer ubereilten Entwicklung)<br />

fUhrten gleichzeitig zu Forderungen nach einer Liberalisierung der AuBenpolitik<br />

und erhOhter Kapazitat fUr militarische Interventionen im Ausland. Gleichzeitig verschlimmerte<br />

die anhaItende Stagflation in den fUhrenden Industrielandern die Konkurrenz<br />

in der internationalen Wirtschaft unter den wichtigsten Staaten und verdeutlichte damit<br />

die Bedeutung militarischer Macht in den internationalen Beziehungen. Das betraf vor<br />

allem so kritische Gebiete wie den Nahen Osten. In der Tat laBt jeder Eingriff der amerikanischen<br />

Wirtschaft in den Weltmarkt die Forderung nach besserer militarischer Vorbereitung<br />

lauter werden und fUhrt damit zu einer Neuorganisierung der Eliten.<br />

II. 2. Der Wiederaufschwung der Riistungslobby<br />

Innerhalb des amerikanischen Multinationalistenlagers und unter den Waffenherstellern<br />

und BefUtwortern erhOhter Militarausgaben kam es zu wichtigen Veranderungen. Seit vielenJahren<br />

hatte eine Reihe von Organisationen wie der »American Security Council« und<br />

das »National Strategy Information Center« (NSIC) Antikommunismus, Rustungsausgaben<br />

und militarische Bereitschaft auf fast religiose Art gefordert. Ihre gleichbleibende Botschaft<br />

war von verschiedenen Teilen der amerikanischen GeschaftsweIt in verschiedenen<br />

Punkten rechtzeitig untersrutzt worden. Der NSIC wurde zum Beispiel Anfang der sechzigerJahre<br />

auf dem Hohepunkt des Kalten Krieges mit Untersrutzung der American Bar Association<br />

und einer Menge wichtiger amerikanischer Geschaftsleute gegrundet (einschlieBlich<br />

des ehemaligen Generals Lutius Clay! Continental Can, Sandford Cousins! AT&T,<br />

Frank Folsom! RCA, Jack Howard! Scripps-Howard Newspaper, Don Mitchell! General<br />

Telephone & Electronics und Frank Stanton! CBS). Unter Leitung von William]. Casey<br />

startete die Gruppe bald eine massive Propagandakampagne mit Seminaren, Konferenzen<br />

und Vortragen (einschlieBlich eines Vortrages vor dem »American Society of Corporate<br />

68 Thomas Ferguson/Joel Rogers


Secretaries« mit dem provokanten Titel »Neue Dimensionen im Wettbewerb: Clausewitz;<br />

Pavlov und Dschingis Khan«).<br />

Aber wie andere militaristisch orientierte Gruppierungen veranderten sich die Starke und<br />

die Aktivitaten des NSIC mit den veranderten Forderungen de! sie untersrutzenden Gesellschaften.<br />

Das geht deutlich aus den »Nettobeitragen, Spenden, Zuschiissen und der<br />

Kategorie fur ahnliche Betrage« auf den Formblattern des IRS-Berichtes hervor. Auf dem<br />

Hohepunkt def Entspannung imJahre 1971 gab zum Beispiel def NSIC ungefahr 620000<br />

Dollars in dieser Spalte an. Abe! als Mitte def sechziger Jahre die Entspannung scheiterte<br />

und die Forderung nach Militarisierung Mitte def siebziger Jahre lauter wurde, stieg der<br />

Haushalt des NSIC, im Gegensatz zu den gegen die Militarisierung gerichteten gemeinniitzigen<br />

Vereinen, stark tiber die Inflationsrate hinaus an. 1976 und 1977 sammelte die<br />

Organisation zumBeispiel meh! als 1,1 Millionen Dollar an Beitragen und Spenden. Auf<br />

def Grundlage einer breiteren Untersrutzung begann def NSIC sich Mitte der siebziger<br />

Jahre zu konsolidieren und seinen politischen EinfluB auszudehnen. In einem Brief an den<br />

Professor det Yale Law School und Oberfalken Eugene Rostow kiindigte def Prasident des<br />

NSIC, Frank R. Barnett, seine Plane an:<br />

»ein Biiro in Washington zu eroffnen, urn<br />

a) mit Polizeistaffeln im Weillen Haus und im Pentagon (wo wir noch viele Freunde haben)<br />

den Kontakt zu halten.<br />

b) KongreBmitarbeiter zu »betreuen« und die Mitglieder auf dem laufenden zu halten,<br />

c) die Zusammenarbeit mit den Handelsverbanden, die Interesse an Verteidigung haben<br />

und in Washington Biiros unterhalten, zu fordern,<br />

d) mehr Informationen iiber Militar und auswartige Angelegenheiten durch Freunde in<br />

def Washingtoner Presse an die Offentlichkeit zu bringen.«<br />

Andere mit def Verteidigung befaBte Organisationen wie der American Security Council<br />

zeigten in dieser Zeit ahnliche Ansatze einer wachsenden Untersrutzung und grofierer Ambitionen.<br />

Bis Ende def siebziger Jahre gab es eine Menge Organisationen (die normalerweise<br />

aber nicht nur multinational orientiert waren), die fur hohere Militarausgaben eintraten<br />

und bedrohliche Einschatzungen def sowjetischen Verteidigungsstrategie forderten. Die<br />

bedeutendsten unter ihnen waren das "Center fur Strategic and International Studies« in<br />

Georgetown, def »US-Atlantic-Council«, das in Paris stationierte »Atlantic Institute«, das<br />

»International Instirute for Strategic Srudies« in London und die fur die amerikanische Innenpolitik<br />

vielleicht wichtigste Organisation, das »Committee on the present danger«<br />

(CPD). Es wurde direkt nach dem Wahlsieg Carters im November 1976 von einer Reihe<br />

prominenter Geschaftsleute und ehemaliger Militars gegrundet und erhielt eine riesige<br />

Staatsspende von David Packard (Hewlett:Packard). Aber wahrend aIle wichtigen Teile des<br />

Big-Business fur groBere Verteidigungsausgaben eintraten, erreichten sie weder eine Ubereinstimmung<br />

tiber die Hohe und die beste Verwendung dieser Einnahmen, noch hatte<br />

man eine einheitliche Einschatzung der wirklichen Beziehungen zwischen den USA und<br />

def Sowjetunion. Programme wie das des »Committee on Present Danger«, die jahrlichen<br />

Steigerungen des Verteidigungshaushaltes urn 6 % und meh! fur die kommendenJahre,<br />

groBere strategische Waffensysteme und das vollige Wiederaufleben des Kalten Krieges<br />

vorsahen, zogen Waffenproduzenten, das Pentagon und diejenigen Vertreter des Multinationalismus<br />

an, die sich besonders bedroht fuhlten (z.B. viele groBe Olgesellschaften) sowie<br />

inlandische Unternehmer, die tiber die Entwicklung des internationalen Wettbewerbs be-<br />

Der Sieg Reagans 69


sotgt waren. Aber obwohl sich damit eine macntige und schlagkraftige Lobby konstituierte,<br />

reprasentierte sie nur einen Tei! des amerikanischen Kapitals.<br />

Die Stimmung innerhalb def Geschaftswelt war hingegen durchaus zwiespaltig. Obwohl<br />

einige Handels- und Investitionshanken mit Einlagen in bestimmten Gebieten groBe Ge­<br />

Winne aus wachsenden Verteidigungsausgaben zogen, wurde ihr Enthusiasmus gegenuber<br />

der Aufrustung durch die Angst vor einer moglichen inflationaren Auswirkung der gesteigerten<br />

Militarausgaben gezugelt. Sie furchteten, &d~ hahere Verteidigungsausgaben zu eiher<br />

VergroBerung der Staatsschulden und damit, nach def iiblichen Wall-Street-Philosophie,<br />

zur Steigerung der Inflation fuhren wiirden. Die Investitionsbanken, deren Geschaft<br />

durch eine zweistellige Inflationsrate gefahrlich geschadigt werden konnte, taten sich besonders<br />

durch ihre Warmingen vor exzessiven Militarausgaben hervor (im Wahlkampf<br />

1980 forderten sogar einige Partner des stellvertretenden Vorsitzenden bei Goldmann<br />

Sachs, Henry Fowlers, Beschrankungen bei den Verteidigungsausgaben).<br />

Auch die Aufrustungs-Begeisterung der Handelsbanken fand ihre Grenzen in def Angst<br />

vor Inflation und dem Verlust der ausstehenden Anleihen an die Ostblocklander. Ob~ohl<br />

ihre Interessen im Nahen Osten sie stark in die entgegengesetzte Richrung drangen, hat<br />

die Position def amerikanischen internationalen Banken heute einige Ahnlichkeit mit def<br />

def Londoner Bankiers Mitte der dreilliger Jahre, deren Zogern bel def Aufrustung angesichts<br />

der militarischen Aufrustung der Nazis standig von den amerikanischen Falken argumentativ<br />

aufgegriffen wird. Neben einer Steigerung def Inflation beschleunigen steigende<br />

Verteidigungskosten auch die Dollarflucht und bedrohen dadurch die groBen Dollarreserven<br />

def wichtigen internationalen Banken. Obwohl er das Getreideembargo Jimmy Carters<br />

und andere Exportrestriktionen gegenuber def Sowjetunion befurwortete und die Militarisierung<br />

im Nahen Osten verteidigte, argumentierte David Rockefeller (Chase): »Es ware<br />

ein Fehler, in den Kalten Krieg zuruckzufallen.« Eine derartige Einschrankung war nicht<br />

auf die Finanzwelt beschrankt. Ungeachtet def Schwierigkeit bei der innenpolitischen<br />

Durchsetzung der Entspannung fanden die Multinationalisten die Logik einer Integration<br />

def UdSSR in die kapitalistische Wirtschaft so bestechend wie eh und je. (Nach dem Rucktritt<br />

des Aufienministers Cyrus Vance aus Protest gegen Carters Rettungsunternehmen im<br />

und der Neigung zum Militarismus des »National Security Coundl« war dieser im Aufsichtsrat<br />

der New York Times und von IBM, die er vier Jahre vorher verlassen hatte, sofort<br />

wieder willkommen.) U nd nailirlich waren die Farmer des Getreidegiirtels immer noch be-<br />

Getreide an die Russen zu verkaufen. Wie aile anderen zentralen Konflikte in der<br />

AuBenpolitik erofterte die Geschaftswelt Verteidigungsausgaben, die Zukunft amerikanisch-sowjetischer<br />

und die Form der militarischen Prasenz def USA im Ausland<br />

wahrend des gesamten 1980 und setzte damit die einer<br />

aH:gelnelm:n Diskussion uber Frieden.<br />

der<br />

"',,'nnht,'b und der Gewerkschaften<br />

Die def ausgelost durch die def We!tver'sdlle,chl:er1:e<br />

Position amerikanischen Industrie in def internatiofand<br />

zum groBten Teil ohne eine demokratische<br />

tion von unten statt. Dies ist teilweise zuruckzufuhren auf<br />

strukturelle Verander<br />

Arbeitsweise def amerikanischen und teilweise auf<br />

70 Thomas Ferguson/Joel Rogers


den kontinuierlichen Zetfall der organisierten Arbeiterschaft und der Biirge'rre,chts­<br />

Friedensbewegilngen und andeten Urspriingen und Themen deJlllo,krlltischier n'v ... 'll!"'~"~<br />

rung und des Massenprotestes in den siebzigerJahren. In det Gesamtheit<br />

Tendenzen den Zusammenbruch der amerikanischen Massenpolitik an.<br />

Wie Walter Dean Burnham in einem Aufsatz beschreibt" miissen der Schauplatz und<br />

Strukturen def Biirgerbeteiligung bei den,amerikanischen Wahlen streng von denen<br />

anderen entwickelten, formal-demokratischen Industriestaaten unterschieden werden.<br />

gegenwanige amerikanische Parteiensystem zeichnet sich durch eine erstaunlich n1(:dr:lge<br />

Mitbestimmung und organisatorisch schwache politische Parteien einer »nicht-l'C teologlschen«<br />

Spielart aus. Die Wahlbeteiligung in Amerika ist nicht nur niedrig im Vergleichzu<br />

ahnlich entwickelten Industriesystemen, sondern auch ziemlich klassenspezifisch und<br />

macht groBe Unterschiede im Einkommen und Reichtum deutlich. 'Relativ wenige Amedkaner<br />

gehen zur Wahl, und die Armen zahlen weniger als die Reichen. Diejenigen, die am<br />

meisten Demokratie brauchen, haben sie am wenigsten.<br />

Obwohl die schwindende Wahlbeteiligung und die ausgedorrten Parteistrukturen die beiden<br />

am meisten erorterten Momente des Zetfalls der Massenpolitik in Amerika darstellen,<br />

sind sie lange nicht ihre zentralen Merkmale. Hinter diesen formaldemokratischen IndikaT<br />

toren steht ein wesentlich mehr fundamentaler ProzeB: der Vetfall unabhangiger (d.h.<br />

nicht profitbeherrschter, -kontrollierter oder -orientierter) sozialer Organisationen im Allgemeinen.<br />

Das wichtigste, wenn auch nicht das einzige Beispiel der Auflosung des Pluralis,­<br />

mus ist der Zetfall der organisierten Arbeiterschaft als politischer Kraft in Amerika. Da die<br />

Starke der organisierten Arbeiterschaft der Priifstein jedweder unabhangiger Massetibewec,<br />

gung ist, verlangt der spektakulare Niedergang der Gewerkschaften besondere Beachtung.<br />

Es gibt jede Menge statistischer Beweise fUr die schwierige Situation der Arbeiter in det<br />

genwart. Am Ende des 2. Weltkrieges waren ungefahr 30 % der gesamten ...... ' ... ., ....... ".0 ....... "".<br />

Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Heute sind es weniger als 20 %. Die sinkende Anzahl<br />

der Gewerkschaftsmitglieder wird begleitet von einer Verlagerung in d~n meisten Ge~<br />

werkschaftenvon organisierenden zu biirokratischen Strukturen; diese Verlagerung spie~<br />

gelt sich in etwa im Verhaltnis von Reprasentation (einschlieBlich des Anspruchs aer.<br />

Gewerkschaft, die Arbeiter zu vertreten) und den Fallen ungesetzlichen Vorgehens gegen<br />

die Arbeiter wider (einschlieBlich der offensichtlichen Verletzung des Gesetzes zUlll'<br />

Schutz gemeinsamer Aktivitaten), die vor den National Labor Relations Board (NLRB)<br />

kommen. 1945 waren 75 % der vor den NLRB geladenen faIle Reprasentationsfalle, bis<br />

1978 ist diese Zahl auf ganze 25 % gefallen. AuBerdem sind die Kampagnen, die die Gewerkschaften<br />

organisieren, zunehmend etfolgloser. Noch Mitte der sechzigerJahre gewari.­<br />

nen die Gewerkschaften ungefahr 60 % ihrer »RC«-Wahlen (in denen sie versuchen, .als<br />

Verhandlungspartner anerkannt zu werden), abet schon Ende der siebziger Jahre gewan.,<br />

nen sie nur noch knapp iiber 40 %. Mit dem Schwinden des Etfolgs der Organisation geht<br />

eine allgemeine Schwachung der Gewerkschaft beziiglich ihrer Mitgliederzahl einher. Etit~<br />

machtigungsumfragen (= deauthorization polls - eine Anfechtung der Sicherheitsklausel<br />

der Gewerkschaft) und Absetzungswahlen (= decertification elections - Anfechtungdes<br />

Reprasentantenstatus der Gewerkschaft bei Tarifverhandlungen) werden immer haufiger.<br />

1950 gab es ungefahr 100 »decertification elections«, von denen 9500 Arbeiter betrofftn<br />

waren, 1978 waren es mehr als 800, und fast 40000 Arbeiter waren betroffen. Obwohl die!<br />

»decertification procedures« oft in dem morderischen Rechtsspechungsvetfahren ablaufen,<br />

Der Sieg Reagans


von denen die amerikanische Arbeiterbewegung geplagt ist, gehen diese in de! Regel gegen<br />

die Gewerkschaften aus, 1978 in mehr als 75 % def Hille.<br />

Diese Verringerung der Verhandlungsautoritat und def organisatorischen Starke der Gewerkschaften<br />

ist schlagend genug, aber sie setzt sich in eine absolute Abnahme der Mitgliederzahlen<br />

in vielen Gewerkschaften urn, die sich auf die Grundstoffindustrie und den<br />

Transportsektor konzentrieren. Die Auswirkung auf einzelne Gewerkschaften war oft erstaunlich.<br />

In der Zeit zwischen 1969 und 1979 zum Beispiel verlor die »Association for Machinists<br />

and Aerospace Workers« mehr als 150000 Arbeiter (fast ein Viertel ihrer gesamten<br />

Mitgliederzahl), die »Amalgamated Clothing and Textil Workers« verloren 149000 Arbeiter<br />

(ein Drittel ihrer Mitglieder). Wahrend soIehe absoluten Verluste durch Fortschritt in<br />

def Organisierung def Beschaftigten bei def Regierung und im Dienstleistungssektor wettgemacht<br />

wurden, belief sich auch bei den groiSzugigen Schatzungen des »Bureau of Labor<br />

Statistics«, das Organisationen wie die »National Educational Association« und die »American<br />

Nurse Association« miteinbezieht, die absolute Zunahme der Mitglieder in der Zeit<br />

zwischen 1968 und 78 auf nur zwei Millionen - im Verhaltnis zu einem Wachstum def gesamten<br />

Arbeiterschaft urn 20 Millionen.<br />

AuiSerdem litten die Gewerkschaften in den siebziger Jahren unter dem Aufkommen aggressiv-antigewerkschaftlicher<br />

Unternehmerorganisationen. Urn nur ein Beispiel herauszugreifen:<br />

Der »Business Roundtable«, der sich urspriinglich als eine Reaktion auf die wachsenden<br />

Forderungen und Lohnerfolge der Baugewerkschaften Ende def sechzigerJahre gegriindet<br />

hatte, hat fast mit def linken Hand diese einst uneinnehmbare Bastion gewerkschaftlicher<br />

Macht genommen. Viele, ehemals ausschlieBlich gewerkschaftlich organisierte<br />

Betriebe sind es jetzt nicht mehr oder laufen als Gewerkschafts- und Nicht-Gewerkschafts­<br />

Betriebe, »double-breasted operations« Regelung. Die »Associated Builders and Contrators«<br />

(def groBte nichtgewerkschaftliche Bauverband) schatzen, daB die nichtgewerkschaftlichen<br />

Betriebe 60 % der Bauunternehmen des neuen Jahres ausmachen, verglichen mit<br />

ungefahr 30 % des Marktes, uber den sie Anfang der siebzigerJahre, als sich def »Roundtable«<br />

griindete, verfii.gten. An anderen Stellen leiteten der »Roundtable« in Verbindung<br />

mit der »National Association of Manufactorers' Counsil for a Union Free Environment«<br />

(Unternehmerverein zur Abschaffung def Gewerkschaft), das schon lange existierende<br />

»National Right for Work Committee« und seine »National Right to Work legal Defense<br />

Fondation«, die »National Federation of Independent Business«, die neu aufgemachte<br />

amerikanische Handelskammer und eine Reihe angeschlossener Handelsverbande, standig<br />

gerichtliche MaBnahmen ein und bildeten Lobbys gegen die Gewerkschaften.<br />

Nicht weniger urigiinstig fur die Gewerkschaften war def Wandel def Offentlichen Einstellung.<br />

Eine Vielzahl von Meinungsumfragen zeigten, daB die Arbeitervertretung weit hinter<br />

den Unternehmerverbanden liegt, sowohl was das Vertrauen der Offentlichkeit angeht<br />

als auch was ihren reprasentativen Charakter betrifft. Eine Mehrheit der Befragten war auiSerdem<br />

der Ansicht, daiS die Funktionare def groiSeren Gewerkschaften tiber zu viel EinfluiS<br />

verfii.gen. Bei einem kurzlich yom amefikanischen Senat veroffentlichten Bericht von<br />

Lewis Harris wurden die Befragten gebeten, ihI »Vertrauen« in die Fuhrung einer Reihe<br />

wichtiger amerikanischer Institutionen anzugeben. Das Resultat war ein allgemeine! Vertrauensverlust<br />

gegenuber den Institutionen, aber es wurde auch deutlich, daB das Vertrauen<br />

in die Gewerkschaftsfuhrungen merklich geringer ist, als das Vertrauen in wichtige Militarverbande,<br />

den Congress und die amerikanische Executive.<br />

Noch heikler als all MaBnahmen zur Schwachung def Gewerkschaften ist die voran-<br />

72 Thomas Ferguson/Joel Rogers


schreitende Verschlechterung ihrer Position innerhalb der Demokratischen Partei. Obwohl.<br />

der EinfluB der Gewerkschaften in Roosevelts »New-Deal«-Koalition wahrscheinlich<br />

ger war, als die meisten zeitgenossischen Beobachter zugaben, da sie mit einer<br />

Anzahl von Investitions- und Handelsbanken, den Vertretern der verschiedensten<br />

technologisierten Industrien und vielen Leuten im Olgeschaft zu tun hatten, um ~".JIL".ULsprechend<br />

einzubringen, spielten sie doch ab 1935 in demokratischen Kreisen<br />

entscheidende Rolle. Sie beteiligten sich an der Schaffung eines groBen Teils der Sozialgesetzgebung<br />

dieser Zeit und hatten einen beachdichen EinfluB auf die Fiihrungsspitze. det<br />

Demokratischen Partei. 1947 waren sie zum Beispiel in der Lage, Harry Trumans Veto ge~<br />

gen die »Taft-Hartley«-Vorlage zu erzwingen. .<br />

Aber bis Ende der fUnfzigerJahre begann sich die Position der Gewerkschaften in den Rei~<br />

hen der Demokraten zu verschlechtern. EinJahr vor der entscheidenden Prasidentschaftswahl<br />

von 1960 verabschiedete ein demokratischer KongreB als Folge des durch die Re£es~·<br />

sion ausgelosten Erdrutsches von 1958 den stark anti-gewerkschafdichen »LandrumGriffin<br />

Act«. 1965 beschloB ein KongreB, der mit den meisten Demokraten seit der zweiten Amtszeit<br />

Roosevelts besetzt war, das Gesetz 14b (»Recht auf Arbeit~:) zu andern, das in der<br />

»Taft-Hartley«-Bestimmung vorgesehen war; andere Demokratische Kongresse dieser Zeit<br />

brachten es trotz routinemaBiger Wahlversprechungen an die Arbeiter fertig, diese Streitfragen<br />

zu umgehen. Damit war die Arbeiterschaft nicht mehr in der Lage, die Abwande~<br />

rung von Betrieben aus dem Nordosten und Mittelwesten in die Siidstaaten zu verhindern,<br />

in denen das »Recht-auf-Arbeit«-Gesetz giiltig war. Sie war auch nicht mehr dazu inder<br />

Lage, eine immer starker multinational orientierte Abfolge demokratischer Regierungen zu<br />

Importbeschrankungen zu veranlassen, um den Verlust von Arbeitsplatzen in niederge"<br />

henden Bereichen der Industrie wie Textil-, Stahl- und Schuhindustrie, die unter der wie.­<br />

dererstarkten Weltwirtschaft litten, aufzuhalten. Die sechziger Jahre h,indurch fiel der<br />

Anteil der gewerkschafdich organisierten Arbeiter weiterhin stark ab, und die Gewerkschaftsmitglieder,<br />

wenn nicht gar Funktionare, schauten sich vermehrt nacll neutralen<br />

Kandidaten um, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Trotz eines wachsenden<br />

Budgets fUr politische Aktivitaten in dieser Zeit hatte die AFL-CIO die starksten<br />

Schwierigkeiten, das Wahlverhalten ihrer Mitglieder mit den Prioritaten der nationalen<br />

Fiihrung zu vereinbaren.<br />

Ende der siebzigerJahre wurde der Abstieg der Arbeitervertreter innerhalb der demokratischen<br />

Partei noch einmal illustriert, als die Riickkehr einer demokratischen Regierung im<br />

Jahre 1977 die GewerkschaftsfUhrung noch einmal dazu veranlaBte, ihre Position iiber den<br />

Weg der Gesetzgebung zu verbessern. Die AFL-CIO schlug eine Reihe von Anderungen<br />

der existierenden Arbeitsgesetze vor, deren StoBrichtung es war: die Reprasentationswahlen<br />

zu beschleunigen, die Strafen fUr die rapide steigenden, von den Unternehmern angewandten<br />

»ungesetzlichen« Vorgehensweisen zu erhohen, den Zugang der Gewerkschaften<br />

zu der »captive audience« der Anti-Gewerkschafts-Taktik der Unternehmer zu erreichen,<br />

dem NLRB zusatzliche Befugnisse in Fallen von »Verhandlungsverweigerung« zu gewahren,<br />

den NLRB zu vergroBern und den RechtsprechungsprozeB zu modernisieren.<br />

Diese Vorlage zur Reformierung der Arbeitsgesetze war fUr die Gewerkschaften deshalb<br />

wichtig, weil sich innerhal~ des NLRB langsam eine Krise zusammenbraute, die direkte<br />

Auswirkungen auf die Organisationsfahigkeithatte. Da sie zu komplex ist, um sie hier vol·<br />

lig zu erortern, sollen nur einige Aspekte dieser Krise betrachtet werden. Trotz der gestiegenen<br />

Kapazitat in der Behandlung ihrer standig zunehmenden Anzahl von Fallen (von<br />

Der Sieg Reagans 73


;~3000 Fallen 1955 auf 50000 FaIle 1978) ist der 1'[LRB zum Beispiel unfahig, rechtzeitig<br />

"Reprlisentationswahlen abzuhalten, um festzustellen, ob eine existierende Gewerkschaft<br />

a'Js'verhandelnder Reprlisentant rur eine bestimmte Einheit von Arbeitern ratig werden<br />

qarf. Die standig wachsende Lange der Zeitspanne zwischen der Beantragung einer Wahl<br />

. ihret tatsachlichen Durchfiihrung wahrend der sechziger und siebziger Jahre hatte<br />

'veJ:het~reJlde Folgen rur die Fahigkeit der Gewerkschaften, die Schwungkraft ihre! Kam-<br />

. pagnen aufrechtzuerhalten. 1962 waren bereits 60 % der Reprasentationswahlen im auf<br />

·den Monat der Beantragung folgenden Kalendermonat abgeschlossen. Bis 1977 war diese<br />

Zahl auf 40 % gefallen, und eine wachsende Anzahl von Wahlen nahm einige Monate in<br />

i\.rispruch. Verzogerungen nach den Wahlen durch die Bestatigung der Resultate sind<br />

~benfalls hliufiger geworden, eine Veranderung, die groBtenteils auf die neue Form der<br />

'ineisten Reprasentationswahlen von der .Konsenswahl« (in der die Parteien ihre Rechte,<br />

~khan das "National Board Office« zur BeschlieBung wahlbezogener Fragen zu wenden,<br />

'abtreten) hin zu .festgesetzten« Wahlen (bei denen solche Aufrufungsrechte nicht aufgegeben<br />

werden), zuriickzuruhren ist.<br />

In der Zeit zwischen 1962 bis 1977 entfiel auf die Konsenswahlen nur ein schwindender<br />

Anteil aller NLRB-Wahlen, er fiel von 46,1 % auf 8,6 %, wahrend die »festgesetzten«<br />

Wahlen von knapp unter 27 % auf knapp iiber 73 % stiegen. Die steigende Anzahl von<br />

'tfestgesetzten« Wahlen ruhrt zu groBeren Verzogerungen nach der Wahl bei, der Feststellung<br />

der Wahiergebnisse und der Initiierung .der Lohnverhandlungen. Diese Verzogerungen<br />

haben negative Auswirkungen auf die Untersriitzung der Gewerkschaft und ihre<br />

Glaubwiirdigkeit in der Verhandiungseinheit. Da sich die Verzogerungen durch den AnrufungsprozeB<br />

und die weitverbreitete Verhandiungsunwilligkeit der Arbeitgeber vermehtten,<br />

wird die Verhandlungsfahigkeit der Gewerkschaft, gemessen an ihrer Fahigkeit,<br />

Streiks zu organisieren, immer schwacher. KiirzIich veroffentlichte Zahlen zeigen, daB<br />

selbst nach Beendigung einer Wahl rur die Gewerkschaft dne 20 % -W ahrscheinlichkeit<br />

besteht, niemais einen Tarifvertrag abzuschlieBen, wahrend die steigende Anzahl von Entmachtigungswahien<br />

auBerdem noch eine Wahrscheinlichkeit von 13 % in sich birgt, daB<br />

bereits abgeschiossene Vertrage nur von begrenzter Laufzeit sind.<br />

Verzogerungen bei der Durchfiihrung der Reprasentationswahien werden noch weiter verscharft<br />

durch die Unfahigkeit des NIRB, die immer popolarere Unternehmensstrategie<br />

massiver, unrechtmliBiger Einschrankungsversuche gegen Gewerkschaftskampagnen und<br />

bereits etablierte Gewerkschaften zu beantworten. Denn die Gewerkschaftsvorstande haben<br />

weder die Moglichkeit, Strafen einzuleiien, noch konnen sie selbst einschreiten.<br />

(D.h.: um die Befolgung zu erzwingen, muB der Vorstand das Gericht anrufen.) Es ist in<br />

der Regel billiger rur die Unternehmer, daB-Gesetz weiterhin mit dem Ziel zu brechen, die<br />

gewerkschaftliche Organisierung zu zerstoren oder zu verhindern. Der allgemeine Tatbestand<br />

der standigen Verletzung des Arbeitsrechts durch die TextilfumaJ.P. Stevens ist nur<br />

eines der anschaulichsten Beispiele rur die inzwischen allgemein durchgesetzte Unternehmertaktik.<br />

SchlieBlich ist auch die Benutzung gewerkschaftsfeindlicher Consulting-Firmen<br />

zu Reklamezwecken, bei der Organisierung von Kampagnen und bei der Aussonderung<br />

gewerkschaftsfreundlicher Arbeiter ein aufstrebender und wichtiger Industriezweig zur Regelung<br />

der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit geworden. Die neuen Firmen Setzen<br />

so viel Vertrauen in ihre Fahigkeit, die Gewerkschaftskampagnen zu beenden, daB viele<br />

. von ihnen auf Basis von Erfolgshonorar arbeiten. Sie werden nur bezahlt, wenn die Gewerkschaft<br />

ihre Aktivitaten einstellt oder hinausgeworfen wurde. Auch hier ist es den Gej<br />

74 Thomas Ferguson/Joe/Rogers


werkschaften nicht gelungen, Erleichterungen zu schaffen, sei es durch Aktivitaten des<br />

Vorstandes oder durch die Melde- und Aufdeckungspflicht des »Landrum-Griffin Act«.<br />

Trotz ausgedehnter Mobilisierung def AFL-CIO und def von Jimmy Carter angekundigten<br />

Untersrutzung editt die Arbeitsgesetzreformvodage eine vernichtende Niederlage durch<br />

ein einmalig breites Bundnis grofier und kleiner, gewerkschaftsfeindlicher Kapitalgruppen.<br />

Das war eine Katastrophe fur die Organisation def Arbeiter, dieser Verlust verstarkte erneut<br />

die Unfahigkeit def Gewerkschaft, Konzessionen zu erlangen oder Untersrutzung<br />

aus den vermeintlich freundlich gesonnenen Reihen de! Demokratischen Partei zu erhalten.<br />

Ein neuer Aspekt des Verfalls der Gewerkschaftsbewegung war die zunehmende Abwanderung<br />

vieler ihrer fuhrenden Krafte in eine Vielzahl von Elite- und verteidigungsorientierer<br />

Organisationen. Fur sie die SteHung eines verantwortungsbewuBten, arbeitenden<br />

Staats burgers eng zusammen mit dem »offentlichen Ehren« und demzufolge eine!<br />

Karriere aufierhalb def Gewerkschaft. De! »Council on Foreign Relations« findet willige<br />

Kandidaten, urn den Reprasentationsanteil von 1 % Gewerkschaftlern bei seinen Mitgliedern<br />

abzudecken. Das Gleiche gilt fur die Trilaterale Kommission. Zu den Trilateralisten<br />

unter den ehemaligen Gewerkschaftsfuhrern gehort Leonard Woodcock von »United Auto<br />

Workers«, derJimmy Carter zu einer kritischen und fast einzigartigen Gewerkschaftsuntersrutzung<br />

in seiner Kampagne ZUI Nominierung zum Prasidenten 1976 verhalf. Er wurde<br />

nach seinem Rucktritt aus dem UA W zum Leiter des »US Liaison Office« und spater zum<br />

Botschafter in Peking ernannt. Weiterhin LW. Abel, der die »United Steel Workers of<br />

America« durch eine Periode starken Protestes aus allen Reihen steuerte, die ihren Hohepunkt<br />

im Sieg seines Nachfolgers Lloyd McBride nach eine! machtigen Herausforderung<br />

des Kritikers Ed Sadlowski fand. Ebenso Glenn Watts, Prasident def »Communication<br />

Workers of America«, def George Meany offentlich wegen dessen Kritik an Jimmy Carter<br />

nach der Niederlage des Reformgesetzes angriff. Ebenso Sol »Chick« Chaiken def »International<br />

Ladies' Garment Workers Union«, ein weiterer Untersrutzer Carters (dessen Befur~<br />

wottung def Wiederwahl Carters Anfang def achtziger Jahre gegen erheblichen Widerstand<br />

in def eigenen Gewerkschaft durchgesetzt wurde) und def derzeitige Prasident des<br />

AFt-CIO Lane Kirkland. Kirkland und Woodcock haben sich auch mit dem »Coundl on<br />

Relations« eingelassen, genau wie Jerry Wulf, dessen »American Federation of State,<br />

County and Minicipal Employees« es offentlichtlich das ent-<br />

'l',


des »Atlantic Council«, def »Carnegie Endowment for International Peace« und def »Rockefeller<br />

Foundation«. (Kirklands Assistent als Finanzleiter des AFL-CIO, Thomas Donahue,<br />

ist Treuhander def »Carnegie Cooperation of New York« und ehemaliger Mitarbeiter beim<br />

Radio Freies Europa.) Ebenfalls bemerkenswert ist die Vertrauensseligkeit de! Gewerkschaften<br />

gegenuber politischen Institutionen def vorherrschend demokratisch-multinationalen<br />

EHten. So verlieB sich die »Progressiv Alliance« und die von def UA W untersrutzte<br />

»Federation ofUnions«, die als Reaktion auf den »Klassenkampf« def Carter-Jahre gegrnndet<br />

wurde, auf das »Social Science Research Council« und die »Brookings Institution« bei<br />

der Formulierung ihres eigenen Programms.<br />

Dieser steile AbfaH in def Fiihigkeit def Arbeiterschaft, die Richtung def nationalen Politik<br />

zu bestimmen, hatte wichtige Auswirkungen auf das Klima des offentlichen Lebens in<br />

Amerika.<br />

Vielleicht als Reaktion auf die turbulente Massenpolitik am Ende def sechzigerJahre, abet<br />

eher noch hervorgerufen durch das Bedurfnis, auf der Hohe def sich verandernden Weltwirtschaft<br />

und def sich daraus ergebenden sozialen Umschichtungen zu sein, brachten eine<br />

Reihe von Stiftungen enorme Geldmittel zur Forderung einer Politik auf, die das erfullte,<br />

was sie nun als die Bedurfnisse def >}Brave New World« der siebziger und achtzigerJahre<br />

ansahen; unter ihnen die »Olin Foundation« und die pharmazeutische, streng verteidigungsorientierte<br />

»Smith Richardson Foundation«, Forschungsinstitute wie das >,American<br />

Enterprise Institute«, die »National Conservative Research and Education Foundation« und<br />

die »Heritage Foundation«, gemeinnutzige Stiftungen wie die »Pacllc Legal Foundation«,<br />

die »Mountain States Legal Foundation«, die »Washington Legal Foundation« und die »National<br />

Right to Work Legel Foundation«, sowie Verleger und Verlage einschlie£lich der<br />

»Green Hill Publications«, des »Conservative Digest« und des »New Right Report«. Ihr poli.<br />

tisches Programm war unterschiedlich und ihr organisatorischer Zusammenhalt soUte nieht<br />

uberschatzt werden, abet zusarnmen starteten diese vielen Gruppen eine politische Offensive,<br />

in deren Zentrum Forderungen standen nach KUfzung von Sozialleistungen, ein Angriff<br />

auf die Anti-Trust Gesetze und andere wirtschaftliche Bestimrnungen, ein Angriff auf<br />

den Umweltschutz und andere soziale Bestimmungen, dne regressive Uberarbeitung def<br />

Besteuerungsgesetze, die Forderung des religiosen Familienlebens auf Kosten der Frauen,<br />

die Sakularisierung der Kultur, eine Beendigung def Solidaritatsaktionen fur Schwarze und<br />

andere Minderheiten und das Zurnckdrangen def bundesstaatlichen und nationalen Gesetzgebung<br />

zum Schutz def Gewerkschaften.<br />

Wahrend das neue Netz von finanziell untersrutzten Zeitschriften, finanzierten Forschungsinstituten<br />

und bezuschuBten Publikationen den Beobachter angenehm mit def<br />

Aussicht erregte, daB irgendwie »Ideen wieder was zahlen«, begannen Teile der Geschaftswelt<br />

(obwohl nicht aIle) nach einer neuen Sauberung def Universitaten zu rufen. (Nach<br />

unserer Zahlung die vierte in der amerikanischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhundefts.)<br />

Sie waren deshalb in einer hervorragenden Position, diese Sauberungen durchzusetzen,<br />

da, wie David Dixon und David Noble in ihrem Aufsatz hervorheben, die unter<br />

Druck stehenden Universitaten sich immer mehr an Geschaftsleute gewandt hatten, um<br />

ihre Verluste durch sinkende Einschreibungszahlen, Inflation und sinkende Regierungsuntersrntzung<br />

wettzumachen.<br />

Das Zurnckdrangen def Studenten-, Jugend- und anderer von def Universitat ausgehender<br />

Massenbewegungen war gekoppelt mit einer konkreten Demontage und Zersplitterung<br />

von Burgerrechts- und Basisorganisationen, die Ende der sechziger und zu Beginn der sieb-<br />

76 Thomas Ferguson/joel Rogers


ziger Jahre aufgekommen waren. Wie Ira Katznelson in seinem Aufsatz ausfiihrt, waren<br />

die sozialen Einrichtungen der grofieren Stadte die ersten Opfer der Steuerkrise auf dem<br />

Land. Da sie bei der Artikulierung ihrer politischen Forderungen besonders abhangig von<br />

den Strukturen und def Untersmtzung des Staates sind, wachst ihre Verletzlichkeit mit def<br />

Vermindetung ihres »Status als Anspruchsberechtigte«.<br />

Bel alledem stand die Arbeiterschaft im Abseits. Sie konnte es sich nlcht leisten, sich mit<br />

den Ergfrssen def konservativen »Pofitical Action Committees« (PACs) zu messen und erwies<br />

sich zum grolhen Teil als unfahig oder auch unwillig, die grofSen Postwurfkampagnen<br />

nachzumachen, aus denen def »Neue Rechte«-Publizist Richard Viguerie fast eine Kunst<br />

gemacht hat.<br />

Es ist nicht erstaunlich, daB das Zusammentreffen tiefgreifender Veranderungen in der<br />

W dtwirtschaft und stark geschwachter Strukturen de! demokratischen Mitbestimmung bei<br />

dner Menge normaler Amerikaner ein Gefiihl dec Desorganisation und Bedrohung hervorgerufen<br />

hat. Mit dem tatsachlichen Verschwinden einer organisierten Alternative zum »Business<br />

as usual« lid~en sie sich auf eine immer verzweifeltere Suche nach individuellen,<br />

nichtpolitischen Wegen zur Wahrnehmung ihrer personlichen Erfahrung ein. Neben def<br />

in die Hohe schnellenden Amahl von Handwaffenkaufen und Einschreibungen in Karate­<br />

Clubs bestehen die spurbaren Nebenwirkungen ihrer viden Odysseen in einem weitverbreiteten<br />

Wiederaufleben def Religiositat und der subtileren Wertschatzung def Tugenden<br />

def »burgerlichen Privatsphare«.<br />

Aber wahrend die Rolle der Halfte der wahlenden Bevolkerung, wie so oft in def neueren<br />

amerikanischen Politik, darauf beschrankt war, Angaben in Meinungsumfragen rur die<br />

standige Neustrukturierung und Anpassung des Images der Kandidaten zu liefern, wuchs<br />

def Einflufi eines unendlich kleineren Teils def Bevolkerung entsprechend an. Vnter der<br />

Oberflache des Wahlkampfes 1980 hat sich def Kampf def Eliten, in dem sich die verborgene<br />

Wahl abspielt, weiterhin verscharft.<br />

III. Die Wahlkampagne - Der Aufstieg Reagam<br />

1m Gegensatz zu den Vorwahlen def Demokraten, bei denen der plOtzliche AbstiegJimmy<br />

Carters und spater seiner fiihrenden Rivalen erklart werden mussen, ist es bei den Vorwahlen<br />

def Republikaner def kontinuierliche Aufstieg Ronald Reagans als eigentlicher Frontkampfer,<br />

def das grofSte Ratse! darstellt. Als Erbe des grofSten Teils def Koalition, die 1964<br />

unter Barry Goldwater loyal in die Katastrophe marschierte, stand Reagan noch 1974 fast<br />

vollig auBerhalb des offentlichen Lebens. Wie die 5ehr negative Berichterstattung zu Beginn<br />

des Wahlkampfes 1980 vermuten liefS, war Reagans vorherrschendes Image das eines<br />

seichten, ultrakonservativen Ex-Schauspielers, der auf freve!hafte Art der extremen Rech"<br />

ten verpflichtet war.<br />

Aber im Verlauf des Wahlkampfes stiefS Reagan allmahlich in das Zenuum def amerikanischen<br />

Politik vor. Auf Dauer gewann er die Vntersrutzung vieler Einze!personen, denen<br />

sein ursprunglicher Kern von Anhangern sehr kritisch gegenuberstand. Das waren vor ailem<br />

David Rockefeller und Henry Kissinger, traditionelle »Schwarze Schafe« def extremen<br />

Rechten. W orauf zu Beginn dieses Aufsatzes bereits hingewiesen wurde: dne angemessene<br />

Erklarung dieser wunderlichen Entwicklung mufS sowohl den Zusammenbruch def Ufsprunglich<br />

so erfolgreich scheinenden Kampagne John Connallys, als auch den Aufstieg<br />

Del' Sieg Reagans 77


und anschlieBenden Zusammenbruch def Bush-Kampagne und def unabhangigen Kandidatur<br />

Andersons erklaren.<br />

Es ist am einfachsten, mit Reagan selbst anzufangen.<br />

Wie wir bereits gesehen haben,<br />

besteht det Kern der Goldwater-Bewegung<br />

aus arbeitsinrensiv produzierenden, stark<br />

protektionistisch eingestellten Unternehmen,<br />

die sowohl Gewerkschaften als auch die Konkurrenz<br />

mit clem Ausland ablehnen, sowie<br />

nationalen Olgesellschaften (von dem~n sich<br />

viele schon seit langer Zeit fur ZoUe auf<br />

def multinationalen Olgesell­<br />

~Ujl"'H.CH stark und Rohstoffproduzenteri<br />

(die eine Menge Grunde hatten,<br />

sich von Goldwaters starkem Nationalismus<br />

angezogen zu SchlieBlich aus einer<br />

beachtlichen Anzahl kleiner und mittlerer<br />

Unternehmen, fur die eine offene Weltwirtschaft<br />

entweder wenig ode! gat nichts bedeutete<br />

auBer def Bedrohung ihrer okonomischen<br />

Uberlebensfahigkeit.<br />

Die 'wachsende FIut auslandischer, vor aHem japanischer Importe Ende def sechziger und<br />

zu Beginn def siebzigerJahre lieBen naturlich die Reihen dieser Gruppen anwachsen. Genauso<br />

wirkten die vermehrten Forderungen nach Aufrustung und die Ablehnung def Entspannung,<br />

obwohl - wie bereits bemerkt wurde - ein GroBteil diesbezuglicher Forderungen<br />

aus den Reihen def Multinationalen kam, die den Protektionismus suikt ablehnten.<br />

Vemeter all dieser Gruppen (vor aHem Befiirworter erhOhter Verteidigungsausgaben, die<br />

unter anderem von James Schlesinger<br />

spielten eine entscheidende<br />

Rolle bei erfolglosem Versuch, Gerald Ford in den Vorwahlen von 1976 auszustechen.<br />

Abet wenig in dieser und den darauf folgenden Kontroversen iiber den<br />

Panamakanal und die Reform des an denen beteiligt war, waren<br />

datauf abgestimmt,<br />

die in det Demokratischen Partei<br />

und clem sogenannten »Eastern Liberal Establishment« def GOP den Ton angaben, beliebter<br />

zu machen. Nur die tauter werden den<br />

nach einem Ausbau def Verteidigungdeuteten<br />

eine UHJISLLU.,,,C;U<br />

ZU Beginn des<br />

1976 sehr ahnlich<br />

oder, noch<br />

des<br />

fes stand eine von wohlhabenden Geschaftsleuten aus dem Westen, von denen<br />

viele Reagan schon seit mehr als zehn<br />

Holmes det UH_AU,a.U~;'-<br />

Records, Continental Airlines<br />

,,"""UI..UU,,-tCHWar, def einer zerriltteten Na-<br />

Inc; tlelseh,el11Gke:ttenb1eSll:zer Charles J 0-<br />

Coors, erzkonservativer Vorsitzender von Coors em vieler<br />

78 Thomas Ferguson/Joel Rogers


konservativer politisthen Institutionen def Neuen Rechten; def Senator von Nevada, Paul<br />

Laxalt, kurzlich noch dn enger politischer Verbundeter des Milliardars Howard Hughes<br />

(und von 1978 obwohl Senatsmitglied, Prasident des »ofmby House Hotel and Casino« in<br />

Carson City, Nevada); William French Smith, Reagans personlicher Rechtsbeistand (und<br />

Direktor von Pullman, Pacific lightning, Pacific Mutial Life, Crocker National Bank und<br />

Pacific Telephone and Telegraph); Alfred Bloomingdale, ehemaliger Vorstandsvorsitzen,<br />

def des Diners Club und derzeit (zusammen mit Mrs. William French Smith) Direktor von<br />

Beneficial Standard und sehr aktiver Bodenspekulant SOWle dne Handvoll anderer Leute.<br />

In diesen Kreisen standen nur wenige in Verbindung mit dem gehobenen Btirgertum def<br />

amerikanischen Geschaftswelt, wie Justin Dart (der Vorsitzende def Dart Industries, Mitglied<br />

des »Business Roundtable« und Leiter def sogenannten »Dart-Gruppe«, die rechte<br />

Kandidaten in Kalifornien und Earle Jorgenson (Direktor von Northrup,<br />

Kerr-McGee Oil und clem American Iron and Steel Institute sowie Treuhander von Cal<br />

Tech), in dessen'Jorgenson Steel Wilson und French Smith Direktorenposteri<br />

haben.<br />

Dieser sich im allgemeinen sehr nahstehenden Gruppe schlossen sich dne Handvoll anderer<br />

Geschaftsleute an, unter Ihnen def Superstar William Simon. Ehemals arbeitete er als<br />

Nixons Finanzminister, wo er sich den Ruf eines aggressiven Ideologen zulegte. Die wachsende<br />

Sympathie, die Simon von einer immer gi:ofier werdenden Anzahl von Vorstanden<br />

wichtiger Gesellschaften Mitte und Ende def siebzigerJahre entgegengebracht wurde, symbolisierte<br />

die tiefgreifenden Veranderungen in def Struktur der amerikanischen Industrie.<br />

Bis 1979 arbeitete er, neben seinem Direktorenposten bei Dart Industries, in den Vorstanden<br />

def Citibank, XEROX und INA. AuBerdem war er aktiv als Prasident def Olin Foundation,<br />

einer der aggressivsten Stiftungen, die das Wiederauftreten der Verbandeideologie<br />

in Amerika finanziert. (Einige Monate nach der Ankundigung der Nominierung Reagans<br />

ubernahm Simon einen neuenJob. Er wurde Investitionsberater bei Suliman S. Olayan, einem<br />

fuhrenden saudischen Gesdiaftsmann, def, wie The New York Times einen Tag vor<br />

def Wahl berichtete, zum Direktor von Mobil Oil gewahlt wurde.)<br />

Eine Verstarkung dieser ziemlich schwachen Lobby stellten eine Reihe von Beratern alter<br />

und neuer Vertreter def Neuen Rechten dar, wie zum Beispiel Martin Anderson, Wirtschaftswissenschaftler<br />

(und Direktor def Federal Home Loan Bank of San Francisco), def<br />

bel der Hoover Institution mitarbeitet (die ihr Netz aus Arbeitskreisen auf regionalerBasis<br />

und traditionellen Anhangern def Rechten leicht ausgeweitet harte) und mit einigen Leuten<br />

Beziehungen unterhalt, die mit def Heritage Foundation in Verbindung stehen. Def<br />

wichtigste unter den auBenpolitischen Beratern Reagans war Richard Allen. Allen hatte zuvor<br />

in der Nixon-Regierung mitgearbeitet, die er schliefilich nach harten Auseinanderset~<br />

zungen mit Henry Kissinger verlieB. Danach wurde er Unternehmensberater und Prasident<br />

def Potomac International Corporation. Er war dn starker Nationalist, mit engen Verbindungen<br />

zu Gruppen, die Israel untersttizen und Mitglied des »Committee on the Present<br />

Danger«.<br />

Neben def Untersttitzung durch feehte politische und Forschungsgruppen profitierte Reagan<br />

von seinen langjahrigen Verbindungen zu den<br />

politisch konservativen Aktionsgruppen<br />

und den vorwiegend im regiomJen Bereich arbeitenden Republikanischen<br />

Staatsbediensteten. Bd den Republikanischen Vorwahlen, an denen ungefahr 25 % def<br />

Bevolkerung teilnahmen, die sich zu den Republikanern bekennen, stellte dieses starke<br />

Netz von Untersttitzern auf lokaler Ebene einen wirklichen Vorteil rur Reagan dar.<br />

Der Sieg Reagans 79


.1m Gegensatz dazu liefen die aktivsten Connally-Berurworter auf die Seite Reagans uber<br />

und brachten ihm schlieElich die Unterstfttzung wichtiger Geschaftsleute ein. Bei den Vorwahlen<br />

in Pennsylvania zum Beispiel half der Vorsitzende def U.S.-Steel, eine der entschieden<br />

protektionistischen Gesellschaften in Amerika, David M. Rodrick, zusammen mit<br />

dner Reihe andere! Stahlindustrieller Geld rur Reagan gegen Bush aufzubringen. Viele<br />

Berurworter verstarkter Rustungsproduktion, die ursprunglich von Connallys starker Forderung<br />

nach erhohten Verteidigungsausgaben angezogen wurden, liefen ebenfalls zu Reagan<br />

tiber. Jesse Helms zogerte nicht mehr lange und machte ebenfalls Wahlkampf rur Reagan.<br />

Bevor def Wahlkampf sich vollig polarisieren konnte, lieE sich die Reagan'sche Mannschaft<br />

auf eine Reihe dramatischer MaBnahmen ein. Fast unbemerkt von den Medien leitete Reagan<br />

eine erstaunliche Verlagerung seiner Politik und ihref Hauptelemente ein. Fur einige<br />

Wochen nach seiner Niederlage bet den Vorwahlen in Iowa war Reagans Wahlkampfmannschaft<br />

in Aufruhr. Aber als er die Vorwahlen in New Hampshire gewann, schien sein<br />

Wahlkampf wieder die Schwungkraft gewonnen zu haben, die von den popularen politischen<br />

Kommentatoren so geschatzt wird.<br />

Wahrend Reagans ursprunglicher Kern rechtsgerichteter Unterstfttzer dies mit Befremden<br />

beobachtete, kam es zwischen ibm und den Internationalisten zu einer Reihe zaghafter<br />

Annaherungen und diskreter Signale. Im Fruhjahr schloss en sich George Shultz (Prasident<br />

und Direktor von Bechtel, Direktor von Morgan Guaranty und Sears, Treuhander der Alfred<br />

P. Sloan Foundation, und was am wichtigsten ist, er wurde kuzrlich zum Direktor einet<br />

def rur die Rechten wichtigsten Organisationen, dem Council on Foreign Relations, ernannt<br />

und schloE sich dem Trilateralisten Caspar Weinberger (Bechtels allgemeinem<br />

Rechtsbeistand) an und berurwortete Reagan.<br />

Reagan reagierte fast sofort. Er integrierte schnell Shultz und Weinberger in den Wahlkampf<br />

und kundigte am 17. April die Aufstellung eines speziellen politischen Rates unter<br />

Vorsitz von William Simon an, in den Shultz, Weinberger, Casey und einige andere prominente<br />

Personen aus den Teilen der Geschaftswelt, die bisher noch keine engeren Verbindungen<br />

zu dieser Kampagne unterhielten, mitarbeiteten. Beteiligt war Alan Greenspan,<br />

Charles Walker (der ursprunglich Connally unterstii tzt hatte, def aber auBerdem noch Vorsitzender<br />

des American Council on Capital Formation, Schatzmeister des Committee on<br />

the Present Danger und einfluBreicher Rechtsanwalt und Lobbyist verschiedener groBer<br />

Gesellschaften war), William P. Rogers, (ehemaliger AuBenminister Nixons, im Anschlu£<br />

daran ein Vertreter des iranischen Schah, Rechtspartner von William]. Casey und zur Zeit<br />

dn Direktor von Sohio, das im Besitz des Giganten British Petroleum, Merrill Lynch und<br />

der Gannett Zeitungskette ist, def »Theoretiker der Freien Markrwirtschaft« Murray Weidenbaum,<br />

def neokonservative »Godfather« Irving Kristol, (def neben seiner Rolle als Intellektueller<br />

vom »American Enterprise Institute« Direktor mehrerer gro.Berer Gesellschaften<br />

war, einschlieElich bei Warne! Lambert), und Donald Rumsfeld ( ein Rand -T reuhander<br />

und Direktor von Bendix, dem »Atlantic Council« und anderen Organisationen). Dazu<br />

kam def New Yorker KongreBabgeordnete und Held def Neuen RechtenJack Kemp und<br />

einer, dessen Auftreten einen wirklich durchschlagenden Effekt erzielte: John McKetta. Er<br />

wurde im Wahlkampf rur Reagan bescheiden als Professor rur Chemische Ingenieurwesen<br />

def Universitat Texas geruhrt, war abet eine wichtige Person des graBen = internationalen<br />

Olgeschafts - def Direktor von viden texanischen Olkonzernen einschlieBlich zweier Tachtergesellschaften<br />

von Gulf; McKetta war au.Berd


»Knittert nie«: 1953 macht Ronald ReaganWerbung fOr Hemden Marke Van Heusen. Er ist<br />

Schauspieler und hat gerade die Hauptrolle in dem Western »Law and Order«. Reagans<br />

alte Werbe- und Filmplakatesind heute begehrte SammlerstUcke (stern)<br />

Der Sieg Reagan!


Lllger Reagans sieher, daB Reagan auf keinen Fall ein neuer Goldwater werden wrde, was<br />

auch immer bei den Wahlen herauskame. Mit dem Anwachsen von Spekulationen und der<br />

Ankundigung vom Business Week, daB der »Kampf urn Herz und Geist Ronald Reagaris<br />

begonnen hatte«, begann der Wahlkampf klare Anzeichen internet Auseinandersetzungen<br />

,zu zeigen. Wenige Tage nach def Aufstellung des »Policy Committee« verkundete Reagan<br />

dne Liste von Ratgebern, in der Kissinger bewuBt nicht aufgefUhrt war und die eine starke<br />

Neigung in Richtung def extremen Rechten hatte. Sie enthielt Leute wieJoseph Churba (Pra·<br />

sident des »Institut for International Security«), General Louis Walt (ehemaliger Befehlsha·<br />

ber des Marine Corps) und Admiral Thomas Moorer A.D., def Hauptreprasentant der Ru·<br />

stungsindustrie, der als Berate! def Admiral Nimitz Stiftung und des »Georgetown Center<br />

for Strategic and International Studies« arbeitete, sowie als Direktor von Fairchild, Texaco,<br />

Alabama Drydock and Shipbuilding, United Services Life Insurance und Prasident des »As·<br />

sociation of Naval Aviation).<br />

Reagan begann einige seiner vorher kontroversen okonomischen Positionen miteinander in<br />

Einklang zu bringen. Er wandte sich mehr und mehr von den »radikalen« Ratgebern einer<br />

angebotsorientierten Wirtschaftstheorie ab und schrankte nach dem Rat von Greenspan,<br />

Shultz und Simon seine BefUrwortung umfassenderer Steuerkurzungen ohne gleichzeitige<br />

MaBnahmen zut Begrenzung der Regierungsausgaben ein. Nach friiheren Zugestandnis·<br />

sen, bei denen er ahnliche Vorschlage des KongreBabgeordneten Jack Kemp an Senator<br />

William Roth (ein anderes Mitglied der Trilateralen Kommission) zugrundelegte, akzep·<br />

tiette Reagan auch eine Betonung def AusgabenkUrzung, urn mit den Steuerkurzungen<br />

fertig zu werden.<br />

'<br />

Mitte Juni war die Transformation der Reagan.Koalition schon weit gediehen. Obwohl es<br />

gelegentlich Ruckschlage gab, waren bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur das Big Business<br />

sondern auch wichtige Vertreter des multinationalen Lagers gewonnen. Am 17. Juni ver·<br />

kundete Reagan die Einsetzung eines vierzig Mitglieder starken Unternehmerrats, zu dem<br />

R.H. Baldwin von Morgan Stanley, ·William Agee/Bendix; John Whitehead/Goldman<br />

Sachs; J. Robert Fluor/Fluor Corporation; Richard Schubert/Bethlehem Steel; Alfred<br />

Brittian/Bankers Trust; Theodore Brophy/ General Telephone and Electronics; Fletcher<br />

Byrom/Koppers (ein von Mellon kontrollierter Konzern) und die Prasidenten, Vorsitzenden<br />

und geschaftsfUhrenden Direktoren vieler anderer groBer Gesellschaften, einschlieB·<br />

lich Monsanto, Procter & Gamble, Deere, Goodyear, Pfizer, Merrill Lynch, Metropolitan<br />

Life und Weyerhauser gehOrten.<br />

Am 3. Juli wendete Reagan wieder einmal den vertrauten Kunstgriff dnes gemischten<br />

Kampfverbandes zur Organisierung seiner neuen Untersriitzer an. Als Berater fur Innen·<br />

poUtik und Wirtschaft rangierten eine Menge Sozialwissenschaftler wie Edward Banfield,<br />

Herman Kahn, Milton Friedman, Irving Kristol und George Stigler. Auch viele wichtige<br />

Personen aus Unternehmerkreisen und Militar wie der Vice·Prasident def Crocker Bank,<br />

Laurence Silberman, Bryce Harlow von Proctor & Gamble, Edwin Harper von Emerson<br />

Electric und Clarence Palmby von Continental Oil, tauchten auf.<br />

Bine letzte Runde von Verhandlungen zwischen Reagan und seinen friiheren Geschaftsfreunden<br />

unter den Multinationalen wurde wahrend des Republikanischen Konvents abgehalten.<br />

Kissinger, Ford und Gefolgschaft drangten auf groBere Zugestandnisse als Preis fur<br />

die Zustimmung Fords zumJob Nr. 2; dazu gehOrte die Uberanrwortung alltaglicher Vet·<br />

pflichtungen an den ehemaligen Prasidenten zur Leitung des »National Security Council«,<br />

SOWle des "Council of Economic Advicers« und des »Office of Management and Budget«.<br />

82 Thomas Ferguson/Joel Rogers


Einige Ratgeber Reagans lehnten diese Bedingungen ais Beitrag zur Zersetzung def<br />

fassung ab; sie wurden abet trotzdem emsrhaft von Reagan, Casey, Meece und<br />

Spitzenberatem diskutiert. Dies ist vielleicht in de! neueren Geschichte Amerikasder<br />

deutlichste Hinweis darauf, was den auf die Wahlen konzentrierten Berechnungen der<br />

amerikanischen Politik eindeutig fehlt. Die Verhandlungen scheiterten schliefilich. Fast<br />

augenblicklich wischte Reagan Proteste von Jesse Helms, Howard Phillips, Paul Weyrich,<br />

Paul Laxalt und anderen fUhrenden Personlichkeiten der Rechten yom Tisch und akzeptiette<br />

den Rat von Edwin Meece und Gerry Ford, George Bush zum zweiten Mann dieses<br />

Untemehmens zu machen. 1m Verlauf def Wahlen behielt Reagan seine dramatische Nei"<br />

gung zum multinationalen Flugel der Partei bei und integrierte viele ehemalige Carterund<br />

Anderson-Anhanger in seine Kampagne. Reagan setzte die Ausweitung seiner Bezie~<br />

hungen zut Geschaftswelt indem er wiederholt, die »gemischte Spezialeinheit« zur<br />

Institutionalisierung seiner Untersrutzung benutzte.<br />

Reagan lavierte vorsichtig urn einige heikle Fragen herum. Obwohl er einen Plan zum<br />

Schutz der Stahlindustrie herausgab, den Carter ubertreffen muBte, wenn er nlcht den<br />

(heren Verlust Pennsylvenias hinnehmen wollte, legte Reagan sich nlcht auf die .LJ\"O\.LUdU-.<br />

kung japanischer Importe fest und uberzeugte den Okonomen det Citibank, Leif Olson<br />

(wie wit meinen zu voreilig) davon, daB er den Freihandel aufrecht erhalten wtirde. AuBerdem<br />

kundigte er eine Untersrutzung New Yorks an und andene sein msprungliches Witt,<br />

schaftsprogramm.<br />

In den letzten Tagen der Kampagne, in denen die meisten Meinungsumfragen ein 8ehr<br />

knappes Wahlergebnis voraussagten, sprachen sich Kissinger, Elliot Richardson und andere<br />

lnternationalisten entschieden fUr Reagan aus. Wahrend die John Birch Society ihren Mitgliedern<br />

nahelegte, »die Prasidentschaft zu vergessen«, verfiigte Reagan tiber das auBenpolitische<br />

Netz Kissinger und Rockefellers und verfolgte damit Carters Schritte zur Befreiung<br />

def Geiseln im Iran.<br />

AuBer Warner Communications, Natomas, Seagram, Du Pont und Phillip Morris waren<br />

die wichtigsten Leute samtlicher groBer amerikanischer Konzerne rechtzeitig zm Wahl fUr<br />

Reagan aufgetreten, obwohl am Ende Vorfalle wie George Bushs Reise narh Taiwan Zwei~<br />

fel schurten. Bei den Investitionsbanken allerdings, deren Geschaft nach wie vor durch<br />

ne zweistellige Inflationsrate bedroht war, und die (wenn sie nicht gerade speziell entgegengesetzte<br />

Interessen wie solche im Nahen Osten hatten) Angst vor Reagans geplantem<br />

Ausbau des Militarapparats hatten, blieb Carters Position<br />

Unter den Finanz­<br />

"''''J:'LLaUOL\.-U, die ihn untersmtzten, befanden sich Felix Rohatyn und George Ball (die,<br />

die meisten fuhrenden amerikanischen die def Kandidatur<br />

Andersons kurz Vo! Ende des Wahlkampfes aufgegeben hatten)]ohn<br />

Manager<br />

und Partner der Salomon<br />

Marion/Paine Webber; Paul<br />

Stearns; Richard Jenrette/Donaldsen Lufkin<br />

Harry Jacobs/Bache<br />

sey Stuart & Shields und Walter D. ScottI Investors Diversified Services (einer wichtigen Fi"<br />

Der Sieg Reagans 83


IV. Schlufibemerkung<br />

Obwohl eine oder zwei der letzten Meinungsumfragen dne entscheidende Verlagerung zu<br />

Gunsten Ronald Reagans andeuteten, uberraschte - die Uberlegenheit seines Sieges die<br />

meisten Beobachter. Noch erstaunlicher fur viele war def Triumph def Republikaner im<br />

Senat, wo die GOP genug Sitze von liberalen Demokraten erhielt, urn das erste Mal seit<br />

def Eisenhower-Ara dessen Kontrolle sicherzustellen. Am Morgen nach def Wahl beeilten<br />

sich viele J ournalisten, Intellektuelle und sogar einige Politiker, ein neues Zeitalter amerikanischer<br />

Politik auszurufen.<br />

Wenn sie nicht im Zusammenhang def neuesten Entwicklung des amerikanischen politischen<br />

Systemsanalysiert worden sind, bringen solche <strong>Prokla</strong>mationen Millverstandnisse<br />

hervor und sind sowohl verfruht als auch ungenau.<br />

Ronald Reagans Sieg wird sicherlich wichtige Konsequenzen haben. Die inlandische Winschaft<br />

und aIle, auBer den wohlhabenden Amerikanern, werden sieher in den nachsten<br />

Jahren verstarktem Druck ausgesetzt sein. Verscharfte Klassenunterschiede, Unruhe in den<br />

Stadten und eine allgemeine Verhartung des amerikanisehen Lebens werden mit Sicherheit<br />

eintfeten. Noch erschreckender ist, daB Reagans Sieg die Beschleunigung des Rustungsausbaus,<br />

def bereits unter Carter begonnen wurde, impliziert und daB damit die Wahrscheinlichkeit<br />

militarischer ZusammenstoBe in den Unruhegebieten def ganzen Welt erhOht<br />

wird. AuBerdem, und darauf deutet Reagans schnelle Aufgabe der Menschenrechtskampagne<br />

Jimmy Carters bereits hin, wird die Entliberalisierung der amerikanischen Au£enpolitik<br />

vor aHem in den Entwicklungslandern sofortige und verheerende Konsequenzen fur<br />

die Opfer jener autoritaren Regime haben, die skrupellos genug sind, sich mit der »Freien<br />

W elt« zu verbiinden.<br />

Wir bezweifeln allerdings, daB Reagans Sieg einen Beitrag zu einer »kritischen Neuordnung«<br />

liefert - einer dauerhaften Umformung def wichtigsten politischen Elemente, Koa­<br />

Iitionen und den tragenden Gruppen der Pafteien, die periodisch die Fahigkeit def organistenen<br />

amerikanischen Politik erneuerten, politische Konflikte zu artikulieren, beitragt.<br />

Wir meinen, daB das, was den Sieg Reagans am ehesten reprasentiert, keine »kritische<br />

Neuordnung« ist, sondern ein fast ebenso schicksalhafter Zerfall, eine kontinuierliche Desintegration<br />

jener politischen Koalitionen und okonomischen Strukturen, die der am erikanischen<br />

Parteipolitik def vergangenen Generation Stabilitat und Bestimmung gegeben haben.<br />

Vielleicht fand die durchschlagendste Entwicklung des Wahlkampfes vo! den Parteitagen<br />

statt, in dem kritischen Zeitraum zwischen den Bemuhungen in Camp David und dem<br />

dramatischen nachtlichen Besuch der Investitionsbankiers bei den KongreBabgeordneten.<br />

[Dieser Zeitraum ist - wie die Autoren an andere! Stelle ausfUhren - einerseits durch den<br />

Versuch Carters gekennzeichnet, dutch eine Kabinettsumbildung - in Camp David 1979-<br />

seine Politik angesichts okonomischer Instabilitaten und der Energiekrise zu reformulieren.<br />

Andererseits gerat die Budget-Politik Carters aufgrund der u.a. durch sie finanzierten Inflation<br />

zunehmend unter den Druck des Finanzkapitals; dieser Druck kulminierte in dem<br />

Besuch von vier fUhrenden Bankern bei KongreBabgeordneten def Demokratischen Partei<br />

Anfang Marz 1980: Wenige Tage spater verkundet Carter drastische Budgetkurzungen,<br />

wahrend seine AuBenpolitik - seine Reaktionen auf Afghanistan und Iran - die Stimmung<br />

fur die Aufrustung des Landes und damit mehr Staatsausgaben auf dem Riistungssektor<br />

anheizen: Carters Dilemma zwischen Aufrustung und Budgetkurzung, die zugleich seine<br />

84 Thomas Ferguson/Joel Rogers


Massenbasis in def Partei zerfallen lie1~, war perfekt. - Anmerkung der Red]<br />

Genau zu diesem Zeitpunkt spitzte sich def Druck auf die demokratische Partei zu. Angesichts<br />

eines schwierigen Kampfes urn die Wiederwahl meinte ein amtierender demokratischer<br />

Prasident, daB er die gleichzeitigen und einander ausschlieBenden Forderungen de!<br />

Parteispitze und der sozialen Massenbasis nicht mehr befriedigen konne.<br />

Egal wie Carter versuchte, die Mischung von Gewehren und Butter oder die Anspruche<br />

staatlicher Austeritat und sozialer W ohlfahrt so vorteilhaft wie moglich zu gestalten, so waren<br />

doch entscheidende Teile beider Elemente von vornherein einander fremd. In dieser<br />

Situation tat er das Beste, was er tun konnte. Wahrend er Forderungen nach staatlicher Bescheidenheit<br />

und erhohten Militarausgaben (so widerspruchlich sie waren), beipflichtete,<br />

versuchte er doch wenn auch nicht die »GroBe Gesellschaft«, so doch einen Tei! def Erbschaft<br />

des New Deal zu bewahren. Aber wie die niedrigen Energiepreise und die amerikanische<br />

Vorherrschaft auf dem Weltmarkt den New Deal so lange in Gang gehalten hatten,<br />

so war sein sozialer Raum schlieBlich doch verschwunden. Auch Carter wiirde bald vetschwinden<br />

und Reagans Sieg soUte definitiv kundtun, daB das New Deal-System der Macht<br />

nicht Hinger die Form def amerikansichen Politik bestimmte. Eine Welt ist untergegangen,<br />

was wird ihren Platz einnehmen? Aus verstandlichen Grunden ist es schwierig, das zu sagen.<br />

Ein zukunftiger demokratischer Prasidentschaftsanwarter wird noch widerspruchlicheren<br />

Forderungen als Carter gegenuber stehen. Da sich die Konkurrenz auf clem Weltmarkt<br />

verschiirft, werden auch die Forderungen nach Militarausgaben lauter werden. Da aber in<br />

einer Wirtschaft mit Stagflation steigende Militarausgaben eine notwendige Folge sind, die<br />

wiederum unvermeidlich auf Kosten def Sozialausgaben gehen, wird die Befriedigung militarischer<br />

Bedurfnisse ernsthafte Belastungen an anderen Stellen des Systems hervorrufen.<br />

Die Vermutung ist nicht abwegig, daB bis 1984 viele Stadte im Nordosten an Szenen aus<br />

»Clockwork Orange« erinnern werden - ode StraBenzuge mit verfallenen Gebauden, unterbrochen<br />

von Oasen befestigter Erhebungen oder gutbewachter Sandsteindorfer, aus denen<br />

eine schwindende Mittel- und Oberschicht angstlich auf das sich drauBen entwickelnde<br />

Chaos blickt. Die regionalen Konflikte zwischen dem Nordosten und dem aufstrebenden<br />

Sunbelt werden sich sichedich verschiirfen. Die Kapitalflucht wird anwachsen. Die Spannung<br />

zwischen Kapital, Arbeit und den Armen wird sicherlich steigen.<br />

Urn wieder wahlbar zu werden, glauben wir, daB die Demokratische Partei sich auf lange<br />

Sicht in Richtung einer Art Sozialdemokratie nach amerikanischer Machart entWickeln<br />

muB, die sich dutch die Integration def organisierten Arbeitersehaft und def im allgemeinen<br />

desorganisierten arbeitenden Bevolkerung in ein modifiziertes System burokratischer<br />

Struktur umwandeln muB, mit einer Kontrolle def inlandischen Produktion, mit Investitions-<br />

und Lohn-Preiskontrollen sowie direkten Staatsinterventionen in einem »Reindustrialisierungsprogramm«,<br />

wie es Rohatyn, Kennedy und Carter selbst wahrend des Wahlkampfes<br />

vorgebracht haben. Ob eine derartige Enrwicklung de! Partei die Herausforderung oder<br />

das Verlassen auf dne standig sinkende Wahlbeteiligung darstellt, sowie die Unstetigkeit<br />

seines sogar grofieren Antdls der amerikanischen Wahlerschaft und die allmahliche Verschlechterung<br />

unabhiingiger Mechanismen der Kontrolle des Volkes, ist vielleicht noch<br />

fraglich. Hier waren die Verflechtung und die ortlieh auftretenden burokratischen Deformationen<br />

def organisierten Arbeiterbewegung von gro£er Bedeutung. Abe! was fUr Kontrollen<br />

auf nationaler Ebene auch immer ausgearbeitet werden, ihre Effektivitat wird begrenzt<br />

durch den immer starkeren internationalen Charakter industrieller Produktion.<br />

Ronald Reagans eigene Koalition, und das ist sieher, wird auch nlcht halten. Eine wachsen-<br />

Der Sieg Reagans 85


von GesellsChaften wird unter den Druck der integderten Weltwittschaft kommen<br />

damit werden sich die Spannungen zwischen den nachziehenden Multinationalisten<br />

dem rechten Flugel der Republikaner versChiirfen. Vorhersehbare Kurzungen innen­<br />

, Ausgaben werden Rustungsausgaben in der GroBenordnung, wie sie von Gruppen<br />

wie dem »Committee on the Present Danger« vorgeschlagen werden, nieht kompensiekonnen.<br />

Das Ratsel, wie Militarausgaben erhOht und die Inflation gleiehzeitig be­<br />

·· .... illlipn wird, bleibt ungelost, undallein die Gegenwart eines Republikaners im Weillen<br />

ist sieher nieht ausreiehend, um die m Konflikt stehenden Forderungen von Reagans<br />

.Geschaftsgrundlage in Einklang zu bringev.. Seine Regierung witd sich sicher m anhalten­<br />

,den DebatteJ;l uber die riehtige Haltung der Vereinigten Staaten gegenuber der Sowjet-<br />

1lnion und die auBenpolitische Linie im allgemeinen aufreiben - seien es neu auszuhandelnde<br />

Formen von Waffenbegrenzungsabkommen, sei es, daB das AuBenministerium<br />

clem National Security Council oder dem Pentagon bezuglich der Geschwindigkeit, des<br />

AusmaBes und der Art neuer Waffenanschaffung und anderer Militarausgaben nachgeben<br />

'sollte. Der Nahe Osten stellt eine weitere Konfliktquelle dar. Saudi-Arabien und a.ndere<br />

.• Staaten am P~rsischen Golf'vertiefen schnell ihre Verbindungen zu Westeuropa undJapan<br />

damit steigt der Druck m Richtungauf eme einschneidende Veranderung der ameri-<br />

,A'Wl


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.-<br />

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......,.<br />

Studien zu Politik· Okonomie . Kultur der USA<br />

Heft 3/1981: AMERICAN<br />

enthalt Beitrage zu den Themen:<br />

Hollywood und der Tod der Familie Frauenbewegung in den USA·<br />

Schwarze und Gewalt . Okologie und Indianer . Dokumentarliteratur .<br />

The Grateful Dead . Fernsehen und emanzipatorische Massenkultur<br />

Heft 2/1980 enthalt u.s.:<br />

Kampf um die gewerkschaftliche Qrganisierung der Textilarbeiter .<br />

Wilder Streik bei Fleetwood' US-Okonomie 1945-1975 Armut in<br />

Amerika . Hollywood entdeckt die Arbeiterbewegung Ein Jahr in<br />

Milwaukee' Von der rebellischen Jugendkultur zur Disco-Szene<br />

176 Seiten, 12,-<br />

Heft 1 enthi:ilt u.s.:<br />

Flucht aus den Stadten Schwarze Lohnarbeiter in den USA<br />

US-Kapital auf dem Weltmarkt Blackout und Plunderungen in New<br />

York Basisgewerkschaftliche Aktivitaten im bffentlichen Dienst<br />

US- Katastrophenfilme<br />

1 DM 10,-<br />

Dollars & Traume erscheint zweimal jahrlich, im Fruhjahr und im Herbst,<br />

mit einem Umfang von ca. 150 Seiten.<br />

Preis des Einzelheftes: DM 12,-/ im Abonnement: DM 1,- (ink!. Porto)<br />

nnll""'r~<br />

&


Alexander Schubert *<br />

Die militaristischen Androhungen<br />

des Neokomervatismus von .n",,,,,,,,,,,,,,,<br />

Bei jeder neuen Prasidentenwahl scheint es, als wrden in den USA offentlich die tiefen<br />

gesellschaftlichen Meinungsunterschiede tiber die Bedeutung'def eigenen moralischen und<br />

ideologischen Vorstellungen ausgetragen, tiber die Rolle def USA in def W dt, den Sinn ihrerpolitischen<br />

Allianzen und - vor aHem - Uber die Natur und Dimension de! sie wirklich<br />

oder nur imaginar bedrohenden Krafte. Wahrend des Wahlkampfes war def Diskurs Ronald<br />

Reagans eindeutig dutch traditionell konservative und neokonservative Positionen gekennzeichnet.<br />

Kurz vor seiner Wahl scheint sich die »literarische Rechte« (Calleo 1981,<br />

S. 800) - d.h. die Neokonservativen - im Reagan-Lager durchgesetzt zu haben, was wohl<br />

die Abwesenheit so bedeutender republikanischer Personlichkeiten im Kabinett Reagan erklart<br />

wie William Simon und Henry Kissinger. FUr die nordamerikanischen Neokonservativen<br />

bedeutete die Wahlniederlage Carters das Ende einer Periode des Niedergangs der<br />

»amerikanischen Macht«. Sie beschuldigten Carter folgender Sunden:<br />

- Er habe den SchwachungsprozeB der US-Wirtschaft fortgesetzt, indem er die Privatinidative<br />

weiter eingeschrankt und die okonomischen Interessen def USA im Ausland vernachlassigt<br />

ha tte;<br />

- Er habe die nordamerikanische Nation vor den Gefahren des Kommunismus nicht im<br />

erforderlichen Umfang gewarnt, sie ideologisch entwaffnet und die Ausbreitung eines<br />

Schwachegefuhls gegenUber anderen Machten erlaubt;<br />

- Er habe einseitig die Erhaltung und Entfaltung der nordamerikanischen Militarmacht<br />

gehemmt;<br />

- Er habe dem »Nord-Sud«-Konflikt eine hOhere Prioritat gegenUber dem »Ost-West«­<br />

Konflikt beigemessen und ihn in den Mittelpunkt seiner AuBenpolitik gestellt;<br />

- Er habe die nordamerikanische Politik in de! Dritten Welt den »Kraften des W andels«<br />

angepaBt.<br />

Carter habe, so schrieb def Herausgeber der neokonservativen Zeitschrift "'-'VHUH.'-U<br />

Norman Podhoretz, »vom amerikanischen Volke verlangt, daB es die Impotenz der USA<br />

eingestehe und es sich def Unvermeidlichkeit seiner Dekadenz unterwerfe« (Podhoretz<br />

1981, S. 24/25). Mit Reagan soUte dagegen ein Mann an die Macht kommen, def nicht nur<br />

gewillt war, diese »Dekadenz«<br />

sondern damber hinaus auch die »amerikanische<br />

Macht« wiederherzustellen. Das neokonservative<br />

schien ihm gut genug,<br />

um dieses Ziel zu verwirklichen.<br />

* Alexander Schubert ist Forschungs-Assistent am Fachbereich 15 def Freien Universitat Berlin und<br />

Mitarbeiter des Forschungsprojektes 'Krisentendenzen des internationalen Kreditsystems' .<br />

88 Alexander Schubert


1. Neoliberalismlls lind Neokonservatismlls im Wirtschaftsprogramm Reagans<br />

Die Ideologie des Reaganismus ist eine Mischung aus doktrinaren Prinzipien des Neoliberalismus,<br />

Neokonservatismus, Militarismus und Imperialismus. Die Vorstellung einenbesseren<br />

Zukunft«, die durch eine globale Vorherrschaft der »amerikanischen Werte« gekennzeichnet<br />

und nur durch den Sieg iiber machtige Feinde zu erreichen sei, druckt den uralten<br />

imperialistischen Glauben des »Manifest Destiny« des vorigenJahrhunderts aus. Aberim<br />

Unterschied zur ursprunglicPen Version des »Manifest Destiny« - derzufolge es Gottes Wil"<br />

Ie war, daB die USA die Welt mit ihren angeblich freiheitlichen Werten evangelisieren sol1-<br />

te - besteht die »Zukunft« von heute teilweise in der Riickkehr in die Vergangenheit,<br />

ne Situation, in der ahnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg die nordamerikanische Hegemonie<br />

weder in Frage gestellt noch ernsthaft bedroht wnrde. Heute gilt es also nicht nut,'<br />

die Macht zu schaffen, urn den »amerikanischen W erten« universelle Geltung zu verschaf-·<br />

fen. Die Aufgabe des Reaganismus besteht nach seinem Selbstverstandnis auch darin, die'<br />

Erosion dieser Werte innerhalb der nordamerikanischen Gesellschaft zu bremsen.<br />

Als Gesellschaftskonzept druckt der Reaganismus eine Kritik des kapitalistischen Konsens<br />

aus, der in den letztenJahrzehnten in den entwickelten kapitalistischen Landern vorhan,,: '<br />

den war. Dieser Konsens fuBte nach Meinung J .K. Galbraith auf folgendem Glauben:<br />

daB der Staat eine globale Wirtschaftslenkung zur Bekampfung der Inflation, der Unterbeschaftigung<br />

und zur Glattung der Konjunkturkrisen durchzufiihren hatte; ,<br />

daB der Staat die Dienste zur Verfiigung zu stellen habe, die normaletweise von der ,Pri·<br />

vatinitiative entweder vernachlassigt oder Uberhaupt nicht geleistet werden, wie z.R<br />

der soziale Wohnungsbau, die Gesundheit, offentliche Verkehrsmittel, usw.; "<br />

daB es notwendig sei, die Schwachen und BedUrftigen der Gesellschaft durch offentli~'<br />

che Instanzen zu unterstUtzen. (Galbraith 1981, S. 26) ,<br />

Der neokonservative - reagansche - Angriff auf diesen Konsens vollzieht sich auf dec'<br />

Grundlage der neoliberalen Doktrin von Friedman, von Hayek u.a. (vgl. den Aufsatz von<br />

Elmar Altvater in diesem Heft). Folgerichtig geht das neoliberale Wirtschafts- und das »neQnationalistische«<br />

auBenpolitische Programm, das zur Wiederherstellung der »amerikanischen<br />

Macht« fiihren solI, von folgenden Postulaten aus. FUr den nationalen Bereich gilt:<br />

daB die Inflation den W ohlstand und den privaten Reichtum der Menschen eingeschrankt<br />

und das Vertrauen der US-BUrger in ihre Zukunft unterminiert habe;<br />

daB die USA ihre industrielle Vorherrschaft und internationale Konkurrenzfahigkeit<br />

verloren haben;<br />

daB die Regierung sich in dn bUrokratisches, unfahiges, teures und lastiges Monster<br />

verwandelt habe, das sich Uberall in den Privatbereich der Personen hineinmische;<br />

daB die vorhandene Demokratie in den USA nur MittelmaBigkeit und Stagnation her- '<br />

vorrufe, weil sie die freie Entfaltung der Personen hemme und sie absurden Reglementierungen<br />

unterwerfe (so z.B. der gesetzlichen Rassenintegration).<br />

1m auBenpolitischen Bereich gelten die folgenden Pramissen: Es sei nicht langer hinzunehmen,<br />

daB die Alliierten, die die USA aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges retteten, heute<br />

die nordamerikanische Macht herausfordern;<br />

daB die fruheren Feinde, die von den USA besiegt wurden, heute dieses Land an Produktivitat<br />

und Handelsstarke Ubertreffen;<br />

Reagans militllrische Androhungen


daB die :.amerikanische Ma(:ht« durch die wachsenden Ambitionender UdSSR unte!­<br />

graben werde;<br />

daB die USA das Opfer einer permanenten Erpressung seitens der OPEC-Lander gewor­<br />

,den sind;<br />

daB die USA einer chaotischen und feindlich gesinnten Dritten Welt gegenuber stehen,<br />

die mehr an einer Konfrontation als an einer Kooperation interessiert ist.<br />

Angesichts einer solchen Situation soIlen selbst die Grundsaulen der Demokratie und der<br />

»amerikanischen Macht« neu uberdacht ubd reformuliert werden. Die Neustrukturierung<br />

'derDemokratie solI sich auf der Grundlage der ,.Entpolitisierung« derRegierung und des<br />

·'Staates, der »Rationalisierung« der Wirtschaft und der Beseitigung aIler Hemmnisse fUr die<br />

:freie Entfaltung der :.Privatinitiative« voIlziehen. Diese neokonservativen VorsteIlungen<br />

'unterscheiden sich wesentlich von den Rezepten des Trilateralismus. Obwohl dieser den<br />

Glauben an die »Dnregierbarkeit der Demokratie« popularisiert und folglich auch die<br />

Einschrankung derMassenbeteiligung ann den politischen Entscheidungen des Staates getordert<br />

hat - was durch Einschrankung der wachsenden Erwartungen und Forderungen er­<br />

Jeicht werden soIlte -, wurde von ihm gleichzeitig die Ausweitung der staatlichen Regelung<br />

der Wirtschaft befUrwortet. Nach Huntington und anderen erfordert die gegenwartigeKrise<br />

eine starkere Beteiligung des Staates innerhalb der kapitalistischen Akkumulation,<br />

auch wenn sie gleichzeitig auf die Dringlichkeit hinweisen, die sozialen Leistungen des<br />

'Staates einzuschranken (Wolfe 1980, S: 298 ff.; Frieden 1980, S. 61 ff.). Damit stirnmten<br />

die Vorstellungen Brzezinskis uber die Norwendigkeit von neuen internationalen Institu­<br />

,tionen uberein, die das alte - zusammengebrochene - System von Bretton Woods ersetzen<br />

und die Eliten der tohstoffreichen Lander der Dritten Welt harmonisch in das ,.trilaterale<br />

System« integrieren konnten (vgl. Brzezinski 1970; Cooper 1977). Die neokonservative Of-<br />

• fensive halt dagegen nichts von solchen neuen Institutionen. Sie richtet sich auf ein anderes<br />

Ziel, namlich auf eine drastische Einschrankung der staatlichen Beteiligung am Verteilungsprozefi<br />

des gesellschaftlichen Reichtums. Milton Friedman behauptet in manischen<br />

Wiederholungen, dafi der Staat den Reichtum nicht verteilt, sondern »usurpiert«, dafi er<br />

seine Schaffung nicht fordere, sondern hindere. Der Grund hierfiir sei der Zwang zur Massenlegitimation<br />

demokratischer Regierungen, die den politischen Vertretern unwissender<br />

Massen die Moglichkeit gebe, ja selbst die Pflicht auferlege, immer mehr Mittel von den<br />

produktiven (d.h. privaten) Bereich in die unproduktiven (also offentlichen) Bereiche umzuleiten,<br />

die dann dort verschwendet werden. So erscheint die »Entpolitisierung« des Staates<br />

- d.h. seine »Rationalisierung« irn Sine der »freien Marktwirtschaft« - als wesentliche<br />

Voraussetzung zur Steigerup.g der wirtschaftlichen Effizienz und der internationalen Konkurrenzfahigkeit.<br />

1m reaganschen Wirtschaftsprogramm hat diese Ideologie in der Form der »supply-sideeconomics«<br />

Eirigang gefunden. Dieser Theoriezufolge lafit sich parallel zur Bekampfung<br />

dec Inflation (durch Anwendung der monetaristischen Rezepte) das Wirtschaftswachstum<br />

fordern. Mit monetaristischen Mafinahmen solI der Preisauftrieb gehemmt, mit Steuersenkungen<br />

die Wirtschaftsaktivitat gefordert werden. Die angestrebten Ziele bestehen deshalb<br />

darin, irnJahre 1982 die Inflation auf 8,3 %, 1983 auf 7 % und 1984 auf nur 6 % zu<br />

senken. In den darauf folgenden Jahren werden germgere Inflationsraten vorausgesagt.<br />

Das reale Wirtschaftswachstum wOrde sich wie folgt entwickeln: 4,2 % (1982), 5 % (1983)<br />

und 4,5 % (1984).<br />

"Urn diese Ziele zu erreichen, sieht der von Reagan' unterbreitete Haushaltsentwurf - der<br />

90 Alexander Schubert


noch Un Parlament modifiziett werden kann,angesichts der bisherigen Diskussionen<br />

sicherlich nur unwesentlich - fur das Jahr 1981/82 eine globale Senkung der StaatsllUSi~"<br />

ben in Hohe von ungefahr 50 Mrd. Dollar vor, bei einem Gesamtvolumen von 654<br />

Dollar. Wegen der gleichzeitigen Senkung der Direktsteuern in Hohe von etwa 1<br />

(30 % in drei Jahren) wird 1982 das Haushaltsdefizit dennoch auf54 Mrd. Dollar<br />

schatzt. Angeblich solI diesesDefizit in den folgendenJahren weiter zuruckgehen,<br />

1984 sogar vollig abgebaut und durch einen DberschuB abgelost worden zu sein. DieUri~~,<br />

ternehmen und Bezieher haherer Eirikommen sollen 6,4 Mrd. (1981), <strong>44</strong>,2 Mrd. (1982)'<br />

und 162,4 Mrd. (1986) weniger an Steuern zahIen, was der Theorie der »supply-side-eco~<br />

nomics« zufolge angeblich die Ersparnisse und die Investitionen Un gleichen Umfang ~erhO·<br />

hen wird. Die Senkung des Staatshaushalts solI durch partielle oder globale Kiirzungen~d,ef ~<br />

Zuschiisse fUr eine groBe Anzahl von Sozialprogrammen erreicht werden, z.B. Nahrungs;<br />

mittelzuschiisse, Arbeitslosenunterstii tzung, U mschulungssubventionen, Studienbeiliil:~<br />

fen, Krankenversorgung, usw. AuBerdem sollen eine Reihe von Industriesubventionen abo<br />

gebaut werden, z.B. im Bereich der synthetischen Brennstoffe, Eisenbahnen usw., wah;'<br />

rend die Selbstfinanzierung einer Reihe von staatlichen Dienstleistungsbetrieben ( ~<br />

hahere Gebiihren) zur Regel gemacht wird. Die Militarausgaben sollen stattdessen auf<br />

astronomische Hohen klettern, und zwar von 159 Milliarden Dollar (1981) auf 250 Mrd;<br />

(1984) und 336 Mrd. Dollar Un Haushaltsjahr 1986. Diese Steigerung iibertrifft bei weitem,\<br />

die Erhahungder »Verteidigungs«-Ausgaben, die zur Zerstorung Vietnams notwendig'<br />

war. Deshalb konstatiert »The Economist«: »Auch um die Inflation bereinigt ist die geplan':,<br />

te Aufstockung (der Militarausgaben, d.A.) wesentlich groBer als wahrend des Vietnam­<br />

Kriegs in den 60er Jahren. In der Erinnerung vieler Amerikaner waren das ungltlcKllC11e~<br />

S. 55). Nach Auffassung des Vorsitzenden der Wirtschaftsberater Reagans, Murray Wei~,<br />

denbaum, laBt heute jedoch eine derart massive Ausweitung def Militarausgaben keine In': ~<br />

flationsbefUrchtungen zu. Einerseits werde trotz dieser Erhahung der Anteil der<br />

ausgaben am Sozialprodukt 1986 immer noch niedriger liegen als 1967 (6,7 statt 8,9%).':<br />

Zweitens stiinden angesichts einer industriellen Auslastu'ng von nur 80 % noch offene Ka~<br />

pazitaten und wegen der hohen Arbeitslosigkeit (7 % ) noch geniigend Arbeitskraftreserven<br />

zur Verfiigung. SchIieBlich werde der Ausgleich des Staatshaushalts, die Kiirzung der<br />

nicht-militarischen Ausgaben und die strikte Kontrolle der Geldzirkulation die Rahmenbedingungen<br />

fUr eine nicht inflationare Aufstockung der US-Militarausgaben schaff~n<br />

(Economist, 16.5.81).<br />

Diese optimistischen Einschatzungen Weidenbaums werden in den USA allerdings nicht<br />

nur von Radikalen in Frage gestellt. So befUrchtet W. Leontief, daB die massiven Milita.t:­<br />

ausgaben und das damit verbundene Haushaltsdefizit sowie die Kiirzung der Direktsteuern<br />

einen zusatzIichen inflationaren Druck auslosen werden. AuBerdem ist anzunehmen,<br />

daB gerade die Preise der neuen Militarausrustungen iiberdurchschnittlich steigen, was<br />

heute schon der.Fall ist. »Die Kosten der 47 wichtigsten Waffensysteme, die vom Pentagon<br />

gekauft werden, stiegen allein 1980 um mehr als 20 %« (Economist, S. 57). bas Haushaltsdefizit<br />

wrde sich entsprechend erweitern. Eindringlich warnt auch Lester Thurow vor den<br />

Folgen der geplanten Erweiterung der Militarausgaben. »Die Voraussagen Reagans gehen<br />

von einem jahrlichen Wachstum der Produktivitat um 3 % von 1982 an aus, aber wir haben<br />

15 Jahre lang die Produktivitatsverschlechterung erlebt. Es ist also unmoglich, daB die<br />

erhoffte Entwicklung eintritt.« (Newsweek, 8.6.81, S. 22) Deshalb meint Thurow, daB<br />

Reagans militiirische Androhungen 91


Reagans :.Kanonen-und-Butter«-Politik (die Senkung der Steuern ist die "Butter') zu ei­<br />

. nem Haushaltsdeftzit von mindestens 86 Mrd. Dollar imJahre fiihren und den inflationaren<br />

Aufttieb verstarken werde, so daB die Militarausgaben einen standig wachsenden Teil<br />

des Sozialprodukts absorbieren wiirden. Tritt eine solche Entwicklung ein, dann wird es<br />

nur eine Alternative geben: Entweder die Militarausgaben werden wieder gekUrzt, oder -<br />

.und dies ist angesichts der Reagan-Politik wahrscheinlicher - die Verbundeten der USA werden<br />

gezwungen, diese Aufriistungspolitik zu ftnanzieren .<br />

. Nun hat aber David Calleo in einem ausfiihrlichen Beitrag in :.Foreign Affairs« den engen<br />

Zusammenhang zwischen einer wachsenden Einschrankung der internationalen Hand­<br />

' •• lungsfahigkeit der USA und der Wirtschaftspolitik von US-Regierungen aufgezeigt, die die<br />

veranderten okonomischen Weltrealitaten ignorierten und der internationalen Gemeinschaft<br />

die Kosten ihrer Weltmachtbestrebungen durch Inflation aufburdeten. Zwar geht<br />

auch Calleo davon aus, daB den Rustungsanstrengungen der UdSSR begegnet werden musse<br />

und daB dies hOhere Rustungsanstrengungen im Westen etforderlich mache. Trotzdem<br />

weist er auf die Notwendigkeit hin, der geschwachten geopolitischen Position der USA<br />

• durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik Rechnung zu tragen, indem die Weltmacht­<br />

. stellung der USA auf lias okonomisch verniinjtige Maft redu;dert wird (Calleo 1980,<br />

S. 808 ff.). Die entsprechende Transformation der NATO habe zu einer Erweiterung der<br />

okonomischen Rolle der Westeuropaer, zu einer selbswdigen Verfiigung uber Atomwaffen<br />

und zu einer selbstandigeren Formulierung der westeuropaischen Verteidigungspolitik<br />

Zu fiihren. Denn :.das vergangene Jahrzehnt muBte eigentlich klar gemacht haben, daB das<br />

GlCichgewicht unserer Wirtschaft nicht ohne ein realistischeres Machtgleichgewicht im<br />

Ausland.wiederhergestellt werden kann (S. 812). '<br />

Das politische und wirtschaftliche Programm Reagans zeigt aber eindeutig, daB in den<br />

USA ein :.realistisches Machtgleichgewicht« innerhalb des westlichen Bundnisses keineswegs<br />

angestrebt wirdund schon gar rucht ein realistisches Weltgleichgewicht. Die Erhal- '<br />

tung der Hegemonieposition der USA solI also nicht in Abstimmung mit den .befreundeten«<br />

Regierungen durchgefiihrt werden, sondern vielmehr auf deren Kosten - und zwar<br />

entweder durch entsprechend ausgeiibten Druck oder dadurch, daB der Weltwirtschaft Bedingungen<br />

aufgezwungen werden, die sich positiv auf die kapitalistischen Akkumulation<br />

in d,en USA auswirken. Unter diesen Umstanden konnen diese positiven Auswirkungen allerdings<br />

nur kurzfristiger Natur sein, es sei denn, der Rest der kapitalistischen Welt ordnet<br />

sich tatsachlich dieser verantwortungslosen Politik der USA lautlos unter, was wohl kaum<br />

anzunehmen ist.<br />

Wenn trotz·dieser dusteren Perspektive das Wirtschaftsprogramm Reagans im KongreB<br />

Unterstiitzung fand, obwohl im Reprasentantenhaus die Demokraten eine Mehrheit haben,<br />

so liegt das wahrscheinlich an seiner, das neonationalistische .Erwachen« der US-Bevolkerung<br />

bestatigenden Zielrichtung. Denn gerade dieses Programm .oder etwas sehr<br />

ahnliches wurde von den Wahlern sehr stark gefordert« (Rohatyn 1981, S. 14). Auch unter<br />

den Demokraten scheint die Meinung vorzuherrschen, daB man zwar rucht den Erfolg,<br />

aber auch nicht den MiBerfolg des Wirtschaftsprogramms voraussagen kann .• Seine Aussichten<br />

hangen zum groBen Tei! von der Psychologie ab, und vielleicht - nur vielleicht -<br />

laBt sich eine solche Psychologie herstellen, und zwar dank der heute vorherrschenden Meinung<br />

im Lande« (ebd.). Reagan solI also eine .faire Chance« bekommen, unter anderem<br />

wohl auch deshalb, wei! das AusmaB der US-Krise - vorerst - kein mehrheitsfahiges Alternativprogramm<br />

zulaBt.<br />

92 Alexander Schubert


Es ware deshalb auch gatiz falsch zu glauben,.eill Mil!erfolg der reaganschen Wirtsch~politik<br />

wiirde automatisch auch den Zusammenbruch des Reaganismus als politisches Programm<br />

zur Folge haben. Podhoretz hat sieher recht, wenn er feststellt, dafi »solange def<br />

Eindruck: einer Vorwartsbewegung zur Wiederherstellung der amerikanischen Macht existiert,<br />

und zwar in einem umfassenden Sinn, wird auch die Neue Mehrheit (des reaganschen<br />

Konservatismus, A.S.) fortbestehen, auch wenn in den nachsten zwei oder dreiJahren<br />

dieWirtschaftspolitik Reagans weniger als ganz erfolgreieh ist« (Podhoretz 1981,<br />

S .. 26). Auf!erdem kann die Regierung Reagans innerhalb der USA die offentliche· Meinung<br />

so zu beeinflussen suchen, dafi der Eindruck: entsteht, die Verbundeten wiirden rucht<br />

»mitmachen« und ihren gerechten Anteil am Wiedererstarken der US-Wirtschaft und der<br />

US-Macht nicht tragen wollen. Unter dem Motto »was fUr Amerika gut ist, das ist auch fUt<br />

die Freunde Amerikas gut«, lief schon in den vergangenen Monaten die Propaganda in diese<br />

Richtung. Die standige Aufforderung, die Militarausgaben im Bereich der NATO zu<br />

erhOhen, ist ein Komplement zum Versuch, die offentliche Meinung im Inland fUr das<br />

Aufliistungsprogramm zu gewinnen. Au6erdem konnen die USA praktisch von den Landern<br />

der Dritten Welt fordern, dafi sie einen gr06en Tell der Kosten der neoliberalen Politik<br />

ubernehmen, indem sie konsequent die mannigfaltigen Forderungen dieser Lander in<br />

Hinblick auf eine Neuordnung der Weltwirtschaft boykottieren. Die Lander der OPEC<br />

sind schon seitJahren zur Hauptzielscheibe eines solchen Boykotts geworden - obwohl sie<br />

im Vergleieh zu vielen anderen Landern noch am langeren Hebel sitzen. Schliefilich mu6 es<br />

der Reagan-Regierung auch noch gelingen, die Vorherrschaft des Dollars innerhalb des internationalen<br />

Finanzsystems aufrecht zu erhalten, jede die US-Banken im internationalen<br />

Kreditsystem benachteiligende internationale Abmachung zu verhindern, die wichtigsten<br />

Handelspartner der USA zu »freiwilligen« Exportbeschrankungen (wie im Fall der japani-.<br />

schen Autoexporte) zu veranlassen, eine vollstandige Stagnation des Nord-Sud-Dialogs zu<br />

bewirken, die LOsung der internationalen Energieprobleme den US-Interessen unterzuordnen<br />

und tatsach1ich eine swkere Beteiligung der NATO-Bundnispartner am gesamten<br />

Aufliistungsprogramm der USA durchzusetzen.<br />

Aber schon die einfache Auflistung der wichtigsten internationalen Wirtschaftsprobleme,<br />

fUr deren LOsung die Regierung Reagan bisher kein koharentes Programm vorgeschlagen<br />

hat (dies zeigen auch die negativen Ergebnisse des .Wirtschaftsgipfels« in Ottawa), zeigt,<br />

dafi die Erfolgsbedingungen des Wirtschaftsprogramms der US-Regierung weit uber die<br />

nationale Sphare hinausgehen und von der Wiederherstellung einer globalen US-Hegemorue<br />

in der Welt abhangen. Denn nur so konnen die internationalen »Rahmenbedingungen«<br />

fUr die zukUnftige Akkumulation des US-Kapitals geschaffen werden. Auf internationaler<br />

Ebene mussen Bedingungen existieren, die nicht nur die Starkung der »amerikanischen<br />

Macht« fmanzieren, sondern diese Stiirkung auch als erforderlich erscheinen lassen.<br />

Wirtschafts- und au6enpolitisches Programm stehen daher in einem unmittelbaren Zusammenhang.<br />

Neokonservatismus und »Neonationalismus« erweisen sich somit als verschiedene<br />

Gesichter einer einzigen, weltweiten militaristischen Bedrohung.<br />

Reagans militiirische Androhungen 93


l1ord.rm.eri.f


Weniger extrem scheint eine andere Variantedes Neonationalismus zu sdn. Robert<br />

Tucker, aul3enpolitischer Berater Reagans wahrend des Wahlkampfs, schlagt z.B. eine differenzierte<br />

Politik vor, auch wenn er mit Podhoretz in def Einschatzung des Niedergangs<br />

der »amerikanischen Macht« ubereinstimmt. Nach Meinung Tuckers befinden sich heute<br />

die USA vor einer schwerwiegenden Entscheidung hinsichtlich def Definition ihrer »Sicherheitsinteressen«<br />

(Tucker 1980, S. 267). Einerseits wfirde seiner Auffassung zufolge unter<br />

den gegebenen Bedingungen eine Ruckkehr zur »expansiven Version der Eindammung«<br />

die groBe Gefahr eines ZusammenstoBes zwischen def UdSSR und den USA heraufbeschworen.<br />

Eine soIche Politik »wfirde in der Tat die Botschaft nach Moskau bringen, daB<br />

die Uhf um mindestens 15 Jahre zuruckgedieht werden soIl, daB der gegen Ende der 60er<br />

Jahre anerkannte Gleichheitsstatus mit der UdSSR heute nur noch einen symbolischen<br />

Sinn habe und daB die USA nieht meh! berdt seien, die UdSSR als globale Macht anzuerkennen«.<br />

Es sei aber andererseits unvermeidlich, den »sowjetischen Expansionismus« zu bekiimpfen,<br />

wozu die entsprechende Politik formuliert werden musse. Hierzu schHigt Tucker<br />

die Politik def »gemafiigten Eindammung« vor.<br />

Wie soH nun eine so1che »gemaBigte Eindammung« aussehen? Zuerst musse man davon<br />

ausgehen, meint Tucker, daB sich das Militargleichgewicht zugunsten der Sowjetunion vetandert<br />

habe und daher die westliche Macht in vitalen Lebenszonen - z.B. am arabisch-persischen<br />

Golf - geschwacht sei. Folglich sei es norwendig, eine Unterscheidung zwischen<br />

Gebieten von »primarem« und Gebieten von nUl »sekundarem«Lebensinteresse zu treffen.<br />

Unter den ersten wfirden sich Westeuropa und die Lander des arabisch-persischen Golfes<br />

befinden; unter den zweiten die Lander Mittelamerikas und anderer Regionen derWelt.<br />

Um die »Sicherheit« in den Gebieten von »primaren« Lebensinteressen zu gewahrleisten,<br />

ist es nach Tucker unerlafilich, heute ein Aufrustungsprogramm zu realisieren. »In den<br />

zwei am meisten kritischen Problemzonen de! USA sind die notigen Mittel ... militarischer<br />

Natur« (ebd., S. 250). Denn, wahrend in Europa die Ziele der amerikanischen Macht darin<br />

besmnden, eine bewaffnete sowjetische Aggression abzuschrecken oder zuruckzuschlagen,<br />

bestehe das Ziel am arabisch-persischen Golf darin, den Zugang zu den Erdolquellen zu<br />

sichern. Zwischen beiden Zonen bestehe zwar def Unterschied, daB in Europa der Feind<br />

bekannt, wohingegen er in der Golfregion nlcht so klar ausfindig zu machen sei. In dieser<br />

Region befande sich abet der Schltissel fUr die Sicherheit der gesamten westlichen WeIt.<br />

Gelange es der Sowjetunion, die arabischen und iranischen Olquellen zu besetzen, dann<br />

wfirde die europaische Wirtschaft schlagartig zum Stillstand kommen. »Der Verlust des<br />

Zugangs zum Golf seitens des Westes wfirde ungefahr einem todlichen Schlag gegen die<br />

globale amerikanische Interessenstruktur bedeuten, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet<br />

wurde« (S. 249). Und: »De! Golf ist ein unerlaBlicher Schltissel wr Verteidigung<br />

der globalen Position Amerikas, so wie er auch def unverzichtbare Schlussel fUr die Sowjetunion<br />

ohne den sie niemals ernsthaft eine globale Vorherrschaft anstreben kann.«<br />

(S. 256)<br />

Nun konne abet die »Sicherheit« in de! Golfregion auch durch Ereignisse gefahtdet werden,<br />

an denen die UdSSR nur gering beteiligt sei. AuBerdem bestehe in dieser Region seit<br />

der iranischen Revolution ein»Machtvakuum«, das wie ein Magnet auf die zwei Supermachte<br />

wirke. Deshalb sei es notwendig, sowohl ein »politisches« als auch ein »strategisches«<br />

Dilemma zu losen. Das erste bestehe darin, den Willen zu haben und tatsachlich<br />

zum Ausdruck zu bringen, jederzeit die »Sicherheit« def Olquellen zu garantieren und<br />

durch eine direkte konventionelle Militarprasenz auszudrucken - wozu sich u.a. die von 15-<br />

Reagans militiirische Androhungen 95


ael zu raumenden Basen auf Sinai anboten (Tucker 1981, S. 89). Das betreffe die Land-,<br />

See- und Luftstreitkrafte. Das zu losende »strategische Dilemma« bestehe dagegen darin,<br />

durch nukleare Waffensysteme jeden sowjetischen Einmischungsversuch in der Region abzuschrecken<br />

oder in dner »Grenzsituation« aktiv zuruckzuschlagen. Wenn also das vorhandene<br />

Machtvakuum nicht durch konventionelle Waffensysteme - die in der Region standig<br />

stationiert werden soUen - gefullt werden kanne, und die UdSSR den Versuch unternehmensollte,<br />

das Vakuum durch eigene Prasenz zu fullen, dann bliebe auch nach Meinung<br />

der »gemaBigten« Eindammungsideologen keine andere Alternative als def Atomkrieg.<br />

Wenn dennoch die V orschlage einer »gemaBigten Eindammung« realistischer als die der<br />

!>globalen Eindammung« zu sein scheinen, so das daran, daB die erste Alternative die<br />

inriere Ordnung def Staaten nicht notwendig zum MaEstab der Bedrohung fur die USA<br />

macht. Det Neonationalismus von Podhoretz begreift als Feind jede Regierung, die fur<br />

»kommunistisch« gehalten und als solche definiert wird. Die »gemaEigten« Neonationalisten<br />

akzeptieren dagegen die Legitimitat def globalen Weltmachtbestrebungen der<br />

UdSSR, weshalb sie nicht notwendig jede Regierung zum Feind der USA erklaren, die zu<br />

Weltmacht diplomatische oder enge politische Beziehungen unterhalt. AuEerdem<br />

raumen diese Neonationalisten ein, daB es ein breites Feld gegenseitiger Kooperation zwischen<br />

den Supermachten gabe. Sie weisen also auf die Moglichkeit hin, daB sich die USA<br />

»mit def Perspektive einer Welt anfreunden mussen, in der ein groEer - und vielleicht<br />

wachsender - Teil der nicht zu den industriellen Demokratien gehorenden Lander sich<br />

det Ausubung eines amerikanischen Einflusses widersetzen« (Tucker 1981, S. 265). Gerade<br />

deshalb sei es notig, nicht in jeder sozialen Bewegung in der Dritten Welt eine Bedrohung<br />

fur die US-Sicherheitsinteressen zu sehen.<br />

Gleichwohllst die vorgeschlagene Polii:ik der »gemaEigten Eindammung« nicht weniger interventionistisch<br />

und militaristisch als jede andere, die die sogenannten »Lebensinteressen«<br />

der USA zum letzten MaBstab fur die Entscheidung fur oder wider Krieg macht. Wenn<br />

namlich, urn ein aktuelles Beispiel zu nehmen, die Intervention in Mittelamerika und im<br />

karibischen Raum davon abhangt, ob die dortigen Interessen als »primare« ode! »sekundafe«<br />

Lebensinteressen definiert werden, dann ist die Interventionsdrohung immer latent<br />

vorhanden. Es reicht aus, daE der gesellschaftliche Protest in diesem Raum einen bestimmten<br />

Rebellionsgrad ubersteigt, damit die Klassifizierung und die Bedrohung konkretisiert<br />

wird. »Die Definition unserer Lebensinteressen ist keineswegs selbstevident«, schreibt<br />

Hoffmann. »Nicht jede Position in def Welt kann verteidigt werden, und nlcht aUe sind<br />

gegenuber allen Arten von potentiellen Bedrohungen verteidigungswert. Die Neue Orthodoxie<br />

erklart z.B. nlcht, ob man nur def Expansion der sowjetischen kubanischerr<br />

ode! vietnamesischen) Militarmacht widerstehen soH. Oder sollen wir Regime bedie<br />

zur UdSSR eine ahnliche Beziehung wie Kuba? Oder sollen wir die<br />

~lJ.1L!llU.H~ aile! Regime bekampfen, die von Moskau ode! Kuba untersmtzt werden?<br />

Tucker nimmt eine mittlere Position aber es ist eine Position: Wie kann<br />

man vorher wissen?« (Hoffmann 1981, S. 26 f.)<br />

Das Problem des US-Neonationalismus besteht abet nicht nur darin, daB man nie im voraus<br />

wissen kann, was Reagan, Weinberger, Haig und andere unter »primaren« und »sekundaren«<br />

Lebensinteressen verstehen und mit welchen<br />

sie die angeblichen<br />

Bedrohungen erst schaffen, urn die Intervention zu<br />

Daruber hinaus droht<br />

die bipolare Interpretation des gegenwartigen W eltgeschehens, die u berall den »W esten«<br />

auf den »Osten« stoEen sieht, allen internationalen Konflikten eine eminent militarische<br />

96 Alexander Schubert


Bedeutung zu verleihen.<br />

Dies gilt umso mehr, wenn wit die von Stanley Hoffmann erwahnten »Komplexitats-« und<br />

»Moglichkeitskrise« det USA berucksichtigen. Nicht nur def interne Druck auf den Staat<br />

und auf die gesamte US-Gesellschaft ist angesichts des hOheren Organisationsgrads det verschiedenen<br />

Bevolkerungsschichten und des Fehlschlags def Sozialreformen det 60er und<br />

70erJahre groBer geworden. AuBerdem haben in def ganzen Welt Veranderungen stattgefunden,<br />

die die SteHung def USA wesentlich geschwacht haben. Eine der bedeutendsten<br />

dieser Veranderungen ist das Emporkommen vieler Lander def Dritten Welt und ihr kraftiges<br />

Auftreten auf def Btihne def internationalen Politik. Selbst def Neonationalismus in<br />

den USA scheint zu postulieren, daB, ohne Europa zu vemachlassigen, gerade in def Dritten<br />

Welt das Schicksal def »amerikanischen Macht« entschieden wird. Abet die Lander det<br />

Dritten Welt sind weder hinsichtlich ihref inneren Ordnung homogen, noch stimmen not~<br />

wendig ihte internationalen Bestrebungen Uberein. Zwischen einigen von Ihnen gibt es<br />

sogar tiefe Widerspruche, die nicht nur dasErbe des Kolonialismus sind, sondern auch tiefergehende<br />

historische oder religiose Ursachen haben kannen. Der beklagenswerte Krieg<br />

zwischen Iran und Irak bestatigt diese Auffassung. Trotzdem gibt es gemeinsame Bestrebungen<br />

und Forderungen dieser Lander gegentiber def industrialisierten Welt, wie es auch<br />

gemeinsame Forderungen def Bevalkerung dieser Lander gegenuber den inneren Strukruren<br />

ihrer jeweiligen Gesellschaft gibt. In einer soIehen komplexen Welt werden die Maglichkeiten<br />

einer friedlichen Lasung def internationalen Konflikte eingeschrankt, es. sei<br />

denn, das BewuBtsein setzt sich durch, daB neue internationale Abmachungen und Institutionen<br />

geschaffen werden mUssen, urn weltweite kriegerische Auseinandersetzungen zu<br />

verhindern. Der nordamerikanische Neonationalismus weist jedoch eine soIehe SchluBfolgerung<br />

weit von sich. So wie auch im Inneren des Landes die Probleme nicht mehr konsensudl,<br />

sondern dutch die rucksichtslose Entfaltung def Krafte def »freien Marktwirtschaft«<br />

gesteuert werden (Wolin 1980, S. 11 ff.), so sollen die internationalen Probleme vornehmlich<br />

dutch die militarische Prasenz def »amerikanischen Macht« entschieden werden. Statt<br />

die Aktionsregister def internationalen Politik urn zusatzliche politische, diplomatische<br />

und ideologische Mechanismen und Instanzen zu bereich ern, solien sie auf die Interventionslogik<br />

einer allmachtigen Militarmacht Amerikas reduziert werden. Es gibt kaum einen<br />

ausdrucksvolleren Beweis als die Haltung der Neonationalisten def USA gegenuber dem<br />

»Nord-Sud-Dialog«. Nach Auffassung Podhoretz' haben die USA in allen ihren Konflikten<br />

mit dem 'Suden' immer vor der Maglichkeit einer Konfrontation mit def militarischen<br />

Macht des 'Ostens' gestanden«. Denn »trotz seines proklamierten Neutralismus steht ein<br />

guter Teil des' Stidens' auf der Seite des' Ostens' und ist gegen den 'Westen'«. Das sei in<br />

der Konferenz det Nichtpaktgebundenen Lander (Havanna 1979) bestatigt worden. Au­<br />

Berdem bestehe das eigentliche Ziel aUef Aktivitaten def UdSSR in der Dritten Welt darin,<br />

»die Kontrolle des 'Ostens' tiber den am persis


;


Das Grundubel cler nordamerikanischen AuBenpolitik in def Dritten Welt unter Carter, so<br />

schrieb Kirkpatrick, sei die Unfahigkeit zu erkennen, daB trotz allef Kritik gegenuber »autokratischen«<br />

oder »autoritaren« Regierungen ihre Beseitigung nicht nur keine bessere<br />

Situation schaffe, sondern - im Gegenteil- def entsprechenden Bevolkerung noch vie! gro­<br />

Bere Opfer abverlange. Zwar wiirden »Autokraten« nlcht immer - vielleicht auch sehr<br />

ten - die gleichen Ziele anstreben, die in den USA von def Bevolkerung angestrebt wet·<br />

den, u.a. die liberale Demokratie. Man musse jedoch anerkennen, daB autoritare Regime<br />

meistens eine - wenn auch gemaBigte - Opposition zulassen, ihre Gegner nur gelegentlich<br />

physisch bedrohen, eine gewisse Meinungsfreiheit erlauben und diese nur in extremen Gefahrensituationen<br />

aufheben wrden, somit also def eigenen Bevolkerung den Ablauf des<br />

gewohnten Lebensrhythmus garantieren, d.h. ihre Bewegung innerhalb def traditionellen<br />

personlichen, familiaren und sozialen (dorflichen) Bindungen gewahrleisten.<br />

sei innerhab solcher Autokratien immer die Moglichkeit lum sozialen Wandel<br />

clenn anders als in totalitaren Regimen wUrcle schon die Zulassung einer gemaBigten Opposition<br />

die<br />

ford ern und in einem gewissen Umfang auch durchsetzen<br />

konnen.<br />

Anders sei die Situation in »totalitaren« die durch Beseitigung der »Autokraten«<br />

errichtet werden. Statt sich ahnlich wie »autoritare« Regime die langfristige Errichtungder<br />

Demokratie zum Ziele zu setzen, wurden »totalitare« Regime eine vollstandige, permanente<br />

und unveranderbare Kontrolle des Staates Uber die gesamte Gesellschaft anstreben. Familiare<br />

Beziehungen wrden ignoriert, def »gewohnte Rhythmus zwischen Arbeit und<br />

Freizeit« gestoft, das ,>Anbeten traditioneller Gotter und die Einhaltung traditioneller Tae<br />

bus« nicht respektiert, sondern im Gegenteil verfolgt. Und statt es so zu belassen wie z.B.<br />

in lndien, wo die 'Kinder der Unberuhrbaren' »die Fahigkeiten und Attiruden« schon von<br />

Geburt aus erlernen, urn ,>die armselige Rolle zu spielen, die ihnen das Schicksal zugeord"<br />

net hat«, wurden totalitare Regime diese narurliche Umgebung def eigenen Bev51kerung<br />

zerstoren und damit unendliches Leid hervorrufen (Kirkpatrick 1979, S. <strong>44</strong>). Es sind daher<br />

vom Standpunkt des elementaren Humanismus die autoritaren Regime in den tandern der<br />

Dritten Welt den »totalitaren« Regierungen vorzuziehen. Aber auch unter dem Gesichtselementarer<br />

US-Sicherheitsinteressen ware dafUr zu pladieren, daB die US-Regiee<br />

rung autoritare Regime srutzt wenn notig, dutch eigene Militarinterventionen am<br />

Leben halt.<br />

Diese Schlufifolgerung ergibt sich aus def spezifischen neokonservativen Betrachtungsweise<br />

def Dritten Welt. Dort herrschen - wit folgen immer noch dem von Kirkpatrick<br />

- die schon beschriebenen »autoritaren« Regime. Darin k5nne sich keine Gesellschaftsgrup-<br />

U1'..IAm;lCl.l, daB sie die Macht anzustreben in der set. Das sei gerade<br />

der<br />

Gesellschaft.<br />

Anders wenn eme Oppositionsgruppen von Hilfe bekommt, wie im FaIle<br />

der »sozialistisch-revolutionaren<br />

die von def UdSSR oder von Kuba untersrutzt<br />

wrden. Solche konnten dann in def Tat zu dner Gefahr fUr die etablierten<br />

,>Autokraten« nicht wegen deren sondern nur<br />

wegen ihrer militarischen Schwache. Setze def von Kuba und! oder def UdSSR untersrutzte<br />

de! Aufstandischen gegen das autokratische erst einmal falle<br />

dieses fast von selber zusammen.<br />

Krafte wiirden sich dann auf die Seite<br />

Aufstandischen schlagen, ihnen sozusagen als<br />

dienen (urn ihre »totalitaren«<br />

zu Teile def Militar- und Polizeikrafte WIden<br />

Reagans militarische 99


handlungsunfahig, die losen Bindungen zu den USA - der einzigen Macht, die den Zusammenbruch<br />

verhindern konnte - wiirden abbrechen und schlieBlich jene Kriifte die<br />

Macht iibernehmen, die die »totalitare« (kommunistische) Herrschaft entweder direkt ode!<br />

auf Umwegen errichten.<br />

Die ideologische Schluf3folgerung dner solchen »Analyse« lautet dann 5ehr einfach, die<br />

USA miiBten allen mit ihnen befreundeten autokratischen »gemiiBigt repressiven« Regierungen<br />

im Fane eines Biirgerkriegs oder dner bewaffneten inneren Bedrohung militarisch<br />

unter die Arme greifen, denn sonst wiirde als einziger Gewinner die »sowjetisch-kubanisch«<br />

inspirierte Subversion erfolgreich sein. Neben den »autoritaren« Regierungen des<br />

Diktators Somoza und des iranischen Schah ist auch die Regierung Napoleon Duartes in EI<br />

Salvador dn Beispiel einer solchen »befreundeten« autoritaren Regierung. Auch hier lieBe<br />

sich - angeblich - die Theorie def Neokonservativen belegen. El Salvador, so Kirkpatrick,<br />

gehOre zusammen mit Guatemala, Marokko, Zaire und anderen Landern in die Kategorie<br />

jener Lander, in denen die strategische Position def USA angesichts einer »von den Sowjets<br />

unterstiitzten Subversion« (ebd., S. 34) bedroht sei. Auch hier gelte es, ein »moralisch und<br />

strategisch akzeptables und politisch realistisches Programm« zu formulieren, andernfalls<br />

werde bis hin zu Mexico und Korea die strategische Lucke def USA nicht mehr zu fullen<br />

sem.<br />

Nun lassen sich abet gerade in El Salvador die typischen Merkmale def »autoritaren« Regierungen<br />

erkennen, die schlieBlich die Bev6lkerung dazu zwingen, zur Beendigung des<br />

Leids, der Not, des Elends und def Unterdruckung zu den Waffen als letztem Mittel zu<br />

greifen. »El Salvador«, so schreiben William LeoGrande und Carla Anne Robbins in Fo-<br />

100 Alexander Schubert


eign Affairs - dem wohl hum kommunistisehe Sympathien nachgesagt werden konnen -,<br />

»besitzt die starrste Klassenstruktur und die schlimmste Einkommensungleichheit in ganz<br />

Lateinamerika. Langer als einJahrhundert ist dort das politische und wirtschaftliche Leben<br />

der Nation von einer Heinen Elite von GroBgrundbesitzern beherrscht worden, die unter<br />

dem Namen 'las eatoree familias' (Los Catorce) bekannt ist, aueh wenn ihre gegenwartige<br />

Zahl die 14 weit Ubersteigt. Die familiaren Klans, aus den en sich die Oligarehie zusammensetzt,<br />

bestehen aus einigen wenigen tausend Personen, im Vergleich zu einet Gesamtbevolkerung<br />

von annahernd 5 Millionen. Bis vor kurzem besaBen abet diese Klans 60 %<br />

def landwirtschaftlich nutzbaren Flache, das gesamte Bankensystem und die Mehrheit det<br />

Industrie. AuBerdem erhielten sie etwa 50 % des Nationaleinkommens« (LeoGrande/Robbins<br />

1980, S. 1085). Den gleichen Autoren zufolge besteht seitJahrzehnten das wichtigste<br />

Zid def Oligarchie von El Salvador darin, »zu verhindern, daB def latente Konflikt<br />

ausbricht und sich in einen Klassenkonflikt verwandelt«. MaBgebliches Instrument Zilt<br />

Verwirklichung dieses 2ieles sind seit jeher die Streitkrafte gewesen, die seit 1931 das Land<br />

regieren und systematisch jede Beteiligung def brdten Bevolkerungsschichten an den politischen<br />

Entscheidungen des Landes ausschlieBen. Dies ist Ihnen auch mit nut kurzen Ausnahmen<br />

gelungen, in denen junge, reformistische Offiziere regieren konnten. Die angekUndigten<br />

Reformen sind dann abet imme! wieder entweder ruckgangig gemacht ode!<br />

Uberhaupt nicht in die Praxis umgesetzt worden.<br />

Dennoch bestand dne det ersten auBenpolitischen Entscheidungen de! Regierung Reagans<br />

darin, in EI Salvador ein »deutliches Zeichen« zu setzen, daB sie nun nicht mehr wie ihre<br />

Vorgangerin gewillt war, den weiteren Vormarsch des »sowjetischen Expansionismus« zu<br />

dulden. Wahrend US-AuBenminister Haig die schon versprochenen Kredite def USA fur<br />

die »totalitare« Regierung von Nicaragua endgUltig strieh, begannen »Militarberater« der<br />

USA in El Salvador einzutreffen, um die einheimischen Militars in die Bedienung der nun<br />

massiv gelieferten Militarausrustungen einzuweisen. Um die europaischen VerbUndeten .<br />

von def drohenden »kommunistischen« Gefahr zu uberzeugen, wurde die Eagleburger~<br />

Mission nach Europa geschickt, die mit - wie spater sogar selbst von US-Regierungsmitgliedern<br />

zugegeben wurde (vgl. »Le Monde«, 11.6.81, S. 6) - gefalschten und obskuren<br />

»Dokumenten« die sowjetisch-kubanisch-nicaraguanische »Intervention« in El Salvador beweisen<br />

soHte. Die Gesprachsbereitschaft der salvadoreanischen Opposition wurde einfach<br />

ignoriert, und die US-Regierung zeigte sich sogar uber die Vermittlungsbemuhungen der<br />

Sozialistischen Internationalen »zutiefst verargert«.<br />

Worin besteht nun das eigentliche »2eichen«, das die Reagan-Regierung ihrer (vorerst<br />

nur auf »Militarberater« und massive Militarausrustung »beschrankten«) Untersrutzung fur<br />

das »autoritare« Regime von Napoleon Duarte gegeben hat? Zum einen darin, die Entschlossenheit<br />

zu bekraftigen, jeden gesellschaftlichen Wandel in einem Land der Dritten<br />

Welt aufzuhalten, wenn dort angebliche Lebensinteressen der USA bedroht werden. Zum<br />

anderen darin, die grundsatzlich bipolare Einstellung def USA in allen Weltfragen konkret<br />

zum Ausdruck zu bringen, damit auch die Sowjetunion und ihre »Satelliten« verstehen,<br />

daB nun in den USA mit def Wiederherstellung der »amerikanischen Macht« ernst gemacht<br />

wird.<br />

Bei def Unterscheidung zwischen »autoritaren« und »totalitaren« Regimen haben wi! es also<br />

nicht nut mit einem »Ekzentrismus« und einer »fast verruckten Aufzahlung def politischen<br />

Realitaten Lateinamerikas« (Farer 1981, S. 10) und von anderen Regionen der Welt zu tun.<br />

Diese Unterscheidung gehort vielmehr in den Mittelpunkt def strategischen Vorstellun.gen<br />

Reagans miiit!tnsche Androhungen 101


det gegenwartigen US-Regierung. Darinverwischen vollstandig die Grenzen zwischen den<br />

inlandischen Bestimmungsfaktoren def sozialen Konflikte innerhalb einer Nation<br />

und ihren konkreten Ausdrucksformen einerseits und den ideologischen und konkreten<br />

Dimensionen def internationalen Konflikte andererseits. Die Nichtpaktgebundenheit verliert<br />

also in den neuerlichen strategischen def USA Bedeutung. Das ist<br />

durchaus ein wesentlicher Unterschied zu der Politik def Carter-Regierung und xu den<br />

VorsteUungen des Trilateralismus, auch wenn nachweislich die US-Militarintervention in El<br />

Salvador, die enorme Militarprasenz im Indischen Ozean, die und offene) Intervention<br />

in Afrika und die UntetstUtzung fur die Militardiktaturen in Sudamerika auch<br />

schon unter Carter massiv weitergefuhrt wurden (xu El Salvador vgl. Jokisch 1981,<br />

S. 185 Denn im Gegensatz zu den (sparlichen und konfusen) positiven Ansatzen unter<br />

Carter, die gegenwartige Weltkrise u.a. dutch internationale<br />

und Abkommen<br />

zu 15sen (Hoffmann 1981 (a), S. 3 ff.), setzt def reagansche Neonationalismus<br />

auf Militarstarke, Militarkonfrontation und Militarlosungen.<br />

verschiedenen Bausteine des innen- und aufienpolitischen zur<br />

Wiederherstellung def »amerikanischen Macht« passen sich also reibungslos ineinander -<br />

zumindest def Ideologie nacho Das nukleare Potential def UdSSR solI dutch dn nukleares<br />

Ubergewicht der USA, die konventionelle<br />

der UdSSR durch klare Hinweise<br />

darauf, daB »lebenswichtige Zonen« in der Dritte Welt notfalls durch einen Atomkrieg vefteidigt<br />

werden sollen (z.B. im arabisch-persischen Golf), neutralisiert werden; und jeder<br />

Fortschritt des »sowjetischen Expansionismus« in der Dritten Welt soH dadurch gebremst<br />

werden, daB »gemaBigt repressive« Diktaturen a la Pinochet, Somoza, Duarte u.a. unterstUtZ!<br />

und zwar militarisch, versteht siehl<br />

Es bleibt also nichts anderes ubrig, als die Frage, ob in Zukunft die US-Regierung versuchen<br />

wird, die politischen und diplomatischen Moglichkeiten zur internationalen Konfliktregelung<br />

den militarischen Aktionsmoglichkeiten<br />

mit ,>ja« zu beantworten.<br />

Eine gam andere Frage ist allerdings, ob ihr das gelingen wild.<br />

Literatur<br />

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102 Alexander Schubert


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Rohatyn, Felix: A Matter of Psychology, in: New York Review of Books, Vol. XXVIII, No.6,<br />

Tucker, Robert: The Purpose of American Power, in: Foreign Affairs, Vol. 59, No.2, 1980<br />

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Wolin, Sheldon: Reagan Country, in: New York Review of Books, Vol. XXVII, No. 20, 1980<br />

Reagans milt'tiirische Androhungen 103


,.<br />

lei!lIf1g fur sllzialislisclie f'olilik in!ler SPO<br />

Die kapilalislische Krise<br />

und ihre sozialislische Uberwindung<br />

eetti<br />

II<br />

Programmatlsdle Position en marxl,.tlsdler Sozlaldemokraten<br />

Krlsenanalyse<br />

Kiassenstruktur del' BRD<br />

Staatstheorle<br />

Bundnlspolltlk I Neuer Sozlaler Block<br />

Del' Dr'ltta Wag zum Sozlallsmus<br />

Alternative Wlol'llllu·ohflO1ItCl


Thomas HUftienne *:<br />

Peripherer Kapitalismus und autozentrierte Entwicklung<br />

- Zur Kritik des Erklarungsansatzes von Dieter Senghaas<br />

Die Erkenntnis, daB hohes wirtschaftliches Wachstum und soziale Modernisierung in def<br />

Mehrheit def kapitalistischen Entwicklungslander Massenarmut und Unterbeschaftigung<br />

nicht beseitigt haben, ist in der gegenwartigen entwicklungspolitischen Diskussion fast<br />

schon zum Allgemeinplatz geworden. Durch die offizielle Entwicklungspolitik wurde das<br />

Scheitern def einseitig auf Wachstum und Modernisierung orientierten Entwicklungsstrategien<br />

de! 60ef Jahre abe! erst seit der Nairobi-Rede von Weltbank-Chef McNamara im<br />

Jahr def Olkrise 1973 eingestanden. Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Klima des<br />

kalten Krieges und unter dem Schock def chinesischen Revolution als kapitalistische Wachstumsforderungspolitik<br />

zur Vermeidung sozialistischer Revolutionen entstandene nordamerikanische<br />

Entwicklungskonzeption, die auch das entwicklungspolitische Denken in der<br />

Bundesrepublik beherrschte, geriet in ihre zweite Krise. Die erste schwere Erschtitterung<br />

hatte de! westliche Fortschrittsoptimismus Ende der 50er Jahre erlebt als in vielen jungen<br />

Nationalstaaten Afrikas und Asiens def Entwicklungsnationalismus ausgepragtere Formen<br />

annahm und die kubanische Revolution die Zukunft des Kapitalismus in Lateinamerika in<br />

Frage zu stellen schien. Der Aufschwung der von Kuba unterstiitzten Guerillabewegungen<br />

und der damit drohende Terraingewinn sozialistischer Entwicklungsideen in viden lateinamerikanischen<br />

Landem fUhrte zu der spaten Einsicht, daB beschleunigtes Wirtschaftswachstum<br />

und westliche Demokratie nur noch dutch praventive Strukturreformen vor aHem<br />

im Agrarsektor gegen den Aufschwung entwicklungsnationalistischer und sozialistischer<br />

Entwicklungskonzeptionen verteidigt werden konnte. Die »Allianz fur den Fortschritt«<br />

John F. Kennedys, die zunehmende Betonung der sozialkulturellen Dimensionendes<br />

nachholenden Entwicklungsprozesses durch die seit 1960 anschwellenden Arbeiten tiber<br />

»Modernisierung« (der jetzt den davor tiblichen Begriff det »Verwestlichung« ersetzte),<br />

aber auch die umfassende Funktionalisierung der Sozialwissenschaften fur die »counter-insurgency«-Programme<br />

in den Krisengebieten def 3. Welt kennzeichneten die 60erJahre.<br />

Die veranderte US-amerikanische Politik war durchaus »erfolgreich«: def Aufschwung entwicklungsnationalistischer<br />

und sozialistischer Bewegungen wurde durch die historische<br />

Niederlage der lateinamerikanischen Guerillabewegungen und eine neue W die autoritarer<br />

Militarregime in der 3. W dt mit def Ausnahme Vietnams und der Befreiungsbewegungen<br />

in den portuguiesischen Kolonien Afrikas gebremst. Die groBen Erwartungen, die Modernisiemngstheoretiker<br />

und nordamerikanische Strategen mit dem neuen Typus »modernisierender<br />

Militarregime« verbanden, verflogen allerdings bald: die sozialen Entwicklungsprobleme<br />

wurden durch ungehemmte kapitalistische Wachstumspolitik und staatliche Repression<br />

gegen Gewerkschaften und Bauernbewegungen eher noch verscharft. Die Auswirkungen<br />

von Olkrise und wdtwirtschaftlicher Rezession und die gestarkte Prasenz der Entwicklungslander<br />

in der UNO nach 1974 stellten das »Erst Wachstum -<br />

, Thomas Hurtienne ist wissenschaftlicher Assistent am Lateinamerik-Institut def Freien Universitat<br />

Berlin.<br />

Zur Kritz'k von Dieter Senghaas 105


dann Vetteilung« zunehmend in Frage. Die Unangemessenheit def vorherrschenden Entwicklungstrategien<br />

wurde nun sogar von def Weltbank konstatiert. Die Suche nach neuen<br />

Konzepten zur Bekampfung def absoluten Armut und Unterbeschaftigung setzte ein.<br />

Wichtig fUr die Verarbeitung der Krise def offiziellen Entwicklungspolitik und Entwicklungstheorie<br />

wurde die verspatete Rezeption von Erklarungsansatzen, die Sozialwissenschafder<br />

aus Lateinamerika und Nordafrika seit Mitte def 60erJahre unter dem EinfluB def<br />

kubanischen und algerischen, aber auch der chinesischen und vietnamesischen Revolution<br />

in Auseinandersetzung mit den nordamerikanischen Modernisierungs- und Freihandels­<br />

Tn,"",,..,, entwickelt hatten. Die Abhangigkeitstheorie aus Lateinamerika (Dependenztheorie)<br />

und die Theorie des Kapitalismus des in Frankreich und Westafrika arbeitenden<br />

Xgypters Sami! Amin wurden mit grofier Schnelligkeit als Rettungsanker in politischer<br />

und theoretischer Not vom linksliberalen FlUgel der internationalen<br />

rp'71h1prr und bildeten die Grundlage dnes neuen Verstandnisses<br />

def Ursachen von Unterentwicklung und moglicher Strategien zu ihref Dberwindung. j Die<br />

51ch schnell verbreitende Redeweise von def »Entwicklung def Unterentwicklung« (A.G.<br />

Frank), des »Wachtums ohne Entwicklung« und def Notwendigkeit »autozentrierter Entwicklungsstrategien«<br />

(S. Amin) war ein Indikator fUr den Terraingewinn des neuen Paradigmas<br />

def Theorie des peripheren Kapitalismus und def autozentrierten Entwicklungsstrategie<br />

gegenUber dem imme! noch dominanten offiziellen Konzept cler<br />

durch Handel«. Die Schnelligkeit clef Rezeption fordene allerdings auch ihren Preis: Vereinfachte<br />

globale Erklarungsmodelle verdrangten zunachst die MUhsal konkreter historischer<br />

Analysen.<br />

Dieter Senghaas, der als Friedensforscher einen wesentlichen Anteil an def Diskussion um<br />

RUstung und Militarismus seit Ende def 60erJahre hatte, iibernahm die wichtige Rolle, die<br />

Abhangigkeitstheorie und die Theorie des peripheren Kapitalismus im westdeutschen<br />

Sprachraum einem breiten Publikum zuganglich zu machen. In dem 1972 bei Suhrkamp<br />

erschienenen ersten Reader »Imperialismus und strukturelle Gewalt« stand noch die Them;ttisierung<br />

»def asymetrischen Struktur der internationalen Gesellschaft« mit ihren »Abhangigkeitsstrukturen«<br />

und »Abhangigkeitsketten« in allgemeiner Form im Mittelpunkt.<br />

1m zweiten Reader<br />

Kapitalismus« (1974) erfolgte dann eine Prasentation wichtiger<br />

(wenn auch selektiv ausgewahlter ) Ansatze def Abhangigkeitsdiskussion. In seinem<br />

Buch »W eltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Pladoyer fUr Dissoziation« (1977)<br />

erfolgte die zusammenfassende Darstellung des neuen Erklarungsansatzes vot aHem in<br />

Hinblick auf seine entwicklungspolitischen<br />

(Abkoppelung und autozentrierte<br />

Entwicklung als entwicklungspolitische<br />

1m vorlaufig letzten Reader<br />

»Kapitalistische Weltokonomie« (1979) wurde die neue »Theorie def Akkumulation 1m<br />

Weltmafistab« in Ausschnitten prasentiert. 1978 erschienen eine Reihe von Monographien<br />

fiber die nachholende sozialistische Entwicklung in China, Nordkorea und Albanien. 2 Eine<br />

Studie fiber Kuba foIgt 1981. 3<br />

Die Gelegenheit zu einer Zwischenbilanz def Arbeiten von Dieter Senghaas und seiner<br />

Schule bietet sich an. Vor aHem fUr jemanden wie den Autor dieses Artikels, der bereits<br />

1974 eine herbe Kritik der Unzulanglichkeiten de! Abhangigkeitstheorie vorgelegt hat. 4<br />

Welche Erkenntnisfortschritte kohnten mit dem neuen Paradigma eIzielt werden? Wo lieseine<br />

Erkenntnisschranken?<br />

Um es vorwegzunehmen, positiv bleibt zu bilanzieren: die klare Thematisierung asymetrischer<br />

Ungleichheit in den internationalen<br />

die systematische Kritik des Frei-<br />

106 Thomas Hurtienne


handelsoptimismus def offiziellen Entwicklungspolitik, die Sensibilisierung rur die »dialektische<br />

Einheit von Unterentwicklung und Entwicklung«, die Herausarbeitung und<br />

schrittweise Differenzierung eines alternativen Entwicklungspolitik-Konzeptes.<br />

Der folgende Beitrag wird s1ch weniger mit diesen unbestreitbaren Vorziigen beschaftigen,<br />

sondern eher den Finger auf die noch offenen Wunden dieses neuen Paradigmas legen. 1m<br />

ersten Teil werden einige Ungereimtheiten dieses Erklarungsansatzes thematisiert: der nur<br />

vordergriindige Bruch mit den Modernisierungstheorien, die Hochstilisierung von heuristi·<br />

schen Merkmalskatalogen zu entwickelten die Reduktion komplexer Welt- und<br />

Nationalgeschichte auf die idealtypische Kontrastierung eines autozentrierten und eines<br />

Entwicklungsprofils. 1m zweiten und dritten Teil erfolgt der Nachweis<br />

I;:;Hl}'~li> •• H


Illeruerer Llihdergruppen der 3. Welt voraussetzen, die in einem weiteren Artikel erfolgen<br />

soil. Das gleiche gilt flir die vergleichende Diskussion der nichtkapitalistischen Entwicklungswege<br />

sozialistischer Entwicklungslander, die in einem anderen Artikel in Auseinandersetzung<br />

mit den 1m Umkreis von Senghaas entstandenen Monographien uber China,<br />

.. Nordkorea, Albanien und Kuba erfolgt.5 Vor allem diese Monographien und die noch nicht<br />

veroffendichten Arbeiten von Senghaas und Menzel uber kleine westeuropaische Exportokonomien,<br />

die sich trotz hoher Weltmarktabhangigkeit und unvollstandiger Industriestrukturen<br />

autozentriert entwickelt haben, beinhalten eine weitgehende Modifikation des<br />

urspriinglichen Erklarungsansatzes und machen eine differenziertere Diskussion uber unterschiedliche<br />

Formen autozentrierter Entwicklung auch zwischen Vertretern unterschiedlicher<br />

Wissenschaftskonzeptionen eher moglich. 6 Der folgende Beitrag geht allerdings uber<br />

. die von Senghaas vollzogene Differenzierung seines Erklarungsansatzes insofern hinaus, da<br />

. er dessen Erklarungskraft auf grundlegendere Weise in Zweifel zieht.<br />

1. Bemerkungen zur Theone des peripheren Kapitalismus<br />

Auf die Herausbildung des neuen Paradigmas »Peripherer Kapitalismus« in Hinblick auf<br />

den historischen Hintergrund, die innerwissenschaftliche Kontroversen und die politischen<br />

Motive kann ich in diesem Aufsatz nicht eingehen.7 Dargestellt und kritisiert wird daher<br />

1m folgenden nur das fertige Produkt in seiner Formulierung von D. Senghaas.8<br />

Was besagt die Theorie des peripheren Kapitalismus? Grob zusammengefaBt folgendes:<br />

Massenarmut und Unterbeschaftigung in den Llindern der 3. Welt sind nicht das Resultat<br />

stagnierender traditioneller Gesellschaften, die irue Ruckstandigkeit aufgrund vielfacher<br />

.Teufelskreise« nicht durchbrechen konnen, sondern Konsequenz ihrer abhangigen Eingliederung<br />

in die internationale Arbeitsteilung durch Kolonialismus und Imperialismus.<br />

Mehr durch offene oder verdeckte Gewalt gezwungen als freiwillig wurden die Entwicklungslander<br />

dadurch zu einseitig spezialisierten Produzenten von unverarbeiteten Rohstoffen<br />

und Agrarprodukten flir die Zentren der Kapitalakkumulation in Westeuropa. Die dadurch<br />

bedingte strukturelle Abhangigkeit von den Zentren (Metropolen) reproduzierte<br />

sich trotz aller Formwandlungen der Abhangigkeit in einer dauerhaften Deformation der<br />

internen Sozial- und Wirtschaftsstrukturen; die als .defekte und verkrUppelte Peripherie­<br />

()konomien« nur noch die .Dialektik von dynamischem Wirtschaftswachstum und Massenelend«<br />

zulassen.<br />

»Alle Peripherie-6konomien sind seit jehe; ausgesprochene Wachstumsokonomien, nur dafi das<br />

.Wachstum sich auf wenige, meist e:xportorientierte Sektoren konzentriert und auch die binnenorientietten<br />

Wachstumsprozesse sektoral und soziologisch begrenzt sind .... Bruchsruckhaftigkeit und<br />

manglende Koharenz im 6konomischen iibersetzen sich in eine Zergliederung der Gesellschaftsstruktur<br />

von Peripherien, die in der Theorie des peripheren Kapitalismus als strukturelle Heterogenitat bezeichnet<br />

wird.« (Senghaas 1977, S. 41)<br />

Die Uberwindung dieser entwicklungsunfahigen »Tiefenstrukturen« ist nicht durch das<br />

von den Modernisierungstheorien propagierte Durchsickern der Modernisierung von den<br />

modernen Wachstumspolen aus zu erreichen, da Massenelend und ungleiche Einkommensverteilung<br />

konstitutiv flir die periphere Akkumulationsdynamik: bleiben. Diesem peripheren<br />

Akkumulationsmodell eines »Wachstums ohne soziale Entwicklung«, in dem alles<br />

108 Thomas Hurtienne


nur noch schlimmer werden kann, stellt Senghaas das autozentrierte Entwicklungsmodell<br />

der entwickelten Industriegesellschaften mit ihren »lehens- und entwicklungsfahigen<br />

Strukruren« gegenuber, um dann daraus die absolute Notwendigkeit einer autozentrierten<br />

Entwicklungsstrategie zur Dberwindung de! Strukturdefekte des peripheren Kapitalismus<br />

abzuleiten: Nur die zeitweise Abkoppelung vom Weltmarkt (»Dissoziation«), interne<br />

Strukrurreformen (vor aHem im Agrarsektor) und die Etablierung eines in die Binnenwirtschaft<br />

integrierten moglichst kompletten Produktionsmittelsektors ermoglichen eine dynamische<br />

Entwicklung des Binnenmarktes, in den die Masse der Bevolkerung wegen def<br />

zunehmenden wechselseitigen Verflechtung von Industrie und Landwirtschaft produktiv eingegliedert<br />

werden kann. 1m Gegensatz zum 19. Jhdt. erfordert eine soIche autozenrrierte<br />

Entwicklung unter den gegenwartigen weltwirtschaftlichen Bedingungen mit ihrem »wachsenden<br />

internationalen Kompetenzgefalle« und der zunehmenden »Politisierung def Entwicklungsproblematik«<br />

einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg, def mit Elementen<br />

sozialistischer Planung die hauptsachlichen Strukturdefekte der Peripherie-Okonomien<br />

aufhebt und eine Strategie prioritarer Grundbedurfnisbefriedigung einleitet.<br />

Del Vorzug dieser einfachen Argumentationskette lag in der ersten Phase def Kritik an den<br />

herrschenden Entwicklungstheorien offensichtlich darin, auf einer allgemeinsten Ebene<br />

die wichtigsten Ursachen und Strukturdefekte unterentwickelter Gesellschaften sowie eine<br />

allgemeine Strategie zu ihref Dberwindung zu benennen und damit gleichzeitig die iUusionaren<br />

Modernisierungstheorien zu kritisieren. Insofern hat dieser Ansatz auch politisierend<br />

und erkenntnisfordernd im ProzeR def Ablosung von veralteten Erklarungsmustern<br />

gewirkt.<br />

Das Problem def Theorie des peripheren Kapitalismus ist nun allerdings, daB es ihr schwerfallt,<br />

tiber heuristische Merkmalsbeschreibungen, vereinfachende Typologien (Peripherie -<br />

Merropolen) und grobe konfigurative Kausalbeziehungen hinauszukommen. Es handelt<br />

sich bei dieser »Theorie« daher weniger urn eine empirisch gehaltvolle erklarende Theorie,<br />

sondern eher urn erste heuristische, d.h. die Erkenntnis fordernde Modelle mit stark deduktivem<br />

Charakter. Die ntitzliche Funktion dieser Modelle im ErkenntnisprozeR kann angesichts<br />

des allgemein desolaten Zustands def Theorie def Unterentwicklung zunachst tiberhaupt<br />

nicht bestritten werden.<br />

Die Redeweise von »der Theorie« erweckt aber einerseits bei dem mehr btirgerlichen Teil<br />

des wissenschaftlichen und politischen Publikums uneinlosbare Ansprnche auf theoretische<br />

Kobarenz und empirische Fundierung und fordert andererseits bei den Verfechtern<br />

dieser Theorie (vor aHem im linken Lager) schwerwiegende Erkenntnisblockierungen. Damit<br />

ist weniger die empirisch-induktive Arbeitsweise von D. Senghaas und seiner Forschungsgruppe<br />

selbst gemeint, die sicherlich auf beeindmckende Weise demonstriert haben,<br />

was »Lernflexibilitat« bedeuten kann.<br />

Die als entwickelte Theorie prasentierten Vereinfachungen def 1. Phase, die spater - oft<br />

unter der Hand - korrigiert und differenziert wurden, haben abet auf die allgemeine politisch-wissenschaftliche<br />

Diskussion vo! aHem im »linken Spektrum« entdifferenzierend und<br />

enthistorisierend gewirkt. Dem groben Klotz def burgerlichen Modernisierungtheorie und<br />

offiziellen Entwicklungspolitik konnte unbesorgt der grobe Keil oft zum Klischee herabgesunkener<br />

globaler Erklamngsmuster und unhistorischer Politikvorstellungen eingerammt<br />

werden. Ich glaube, daB die Popularitat von Versatzsrncken aus def Dependenztheorie<br />

und def Theorie des peripheren Kapitalismus (die ich im weiteren als identische Theorien<br />

behandeln weIde) gerade in def Einfachheit ihres eindimensionalen Weltbildes liegt.<br />

Zur Kritik von Dieter SenghaaJ 109


komplizierte Widersprii,he miissen analysiert werden, einfache, das Denken endabenkfiguren<br />

und Rezepte ( die Mulus sind an allemSchuld, der Sozialismus konnte<br />

l'rc)bl1em.e Iosen, wenn er sie nicht lost, ist er burokratisiert, etc.) reichen zur Wirklichik.t:ltSll>eVl7iHtlgtlmg<br />

aus. ;<br />

hier nur angedeuteten Probleme eines allerdings nur auf kleindntellektuellenkreise<br />

·b,esclorank.:ten neuen »AlltagsbewuBtseins« von Peripheriegesellschaften ohne BewuBtsein<br />

deren wirklichem Alltag griindet sich nicht nur auf einer »Phanomenologie der<br />

Armut«, zu der relativ privilegierte und sozial abgehobene Intellektuelle zu allen Zeiten<br />

. haben, sondern auch auf einem vermeindich radikalen Btuch mit dem burgerli-<br />

Denken der Modernisierungstheorien. .<br />

Kritik linken AlltagsbewuBtseins erfordert daher zunachst eine Priifung der Frage, wie<br />

. mit dem auch von Senghaas unterstellten radikalen Bruch mit den<br />

;~todlerjllS1IenlUl~tJle()nc:n", die sich eurozentrisch die nachholende Entwicklung nur nach<br />

Vorbild westlich-kapitalistischer Industriegesellschaften vorstellen konnen, bestellt<br />

der Lekriire der Schriften von Senghaas fallt zunachst auf, daB die Kritik an den ModermsietlLlnl~theOI"ien<br />

(mit der Ausnahme des Freihandelspostulates) nirgends grundsatzlich<br />

entwickelt worden ist. Sie wird vielmehr durch den Verweis auf die Theorie des peripheren<br />

. Kapitalismus vor allem Amins vorausgesetzt. 1O Bei genauer Lektiire flillt die groBe Anzahl<br />

. derriihmlichen Ausnahmen yom Verdikt auf: Bendix, Gerschenkron, K.W. Deutsch, Eisenstadt,<br />

mit Einschrankungen sogar Huntington. Selbst Rostow und Hoselitz werden haung.positiv<br />

zitiert. ll Sucht man im Text Hinweise auf die generelle Untersuchungsmethode,<br />

Wird man auf Arbeiten von K.W. Deutsch als einem der Protagonisten der Moderrusiefungstheorie<br />

verwiesen. 12 Splitestens jetzt wird dem aufmerksamen Leser klar, daB der vertneintliche<br />

Bruch mit den nordamerikanischen Modernisierungstheorien gar nicht so radikal<br />

gewesen sein kann. Warum auch? wiirde sicherlich Senghaas antworten: Wenn man<br />

.. nllt der Methodik, den Grundbegriffen und zentralen theoretischen Aussagen der ent­<br />

. Modernisierungstheorien wissenschaftlich gut arbeiten und sinnvolle Ergebnisse<br />

kann, warum solI man sich dann nicht mrer bedienen?<br />

Der Autor dieses Artikels teilt sogar die Einsicht, daB das begriffliche InstrUmentarium der<br />

.• Modernisierungstheorien durchaus filr eine differenzierte Beschreibung bestimmter kom­<br />

Phanomene von Entwicklungs- und Unterentwicklungsprozessen nutzlich sein<br />

So laBt sich z.B. mit Hilfe sozialkybernetischer Begriffe und Hypothesen aus dem<br />

K.W. Deutschs die zentrale Bedeutung sozialkultureller Selbststeue­<br />

LUll1P.l"lJ'l!5~.C1L von Gesellschaften, Klassen und Individuen filr die »Innovations- und<br />

Tr:iUls!orma,uons1(apiazi.tat« relativ gut begriinden.13 (Allerdings lieBe sich das auch im Rahmen<br />

der marxistischen Theorie entwickeln und begriinden, was zugegebenermaBen bisher<br />

eher versaumt wurde bzw. erst in allerersten Ansatzen steckt.) Ebenso laBt sich aus den differenzierten<br />

Analysen der Funktionsweise politischer Systeme unter unterschiedlichen Umweltbedingungen<br />

(Almond-Schule) vieles lernen - und lateinamerikanische kritische Sozialwissenschaftler<br />

wie O'Donnell haben dies zur Genuge vorexerziert. 14<br />

.Problematisch bleibt m.E. nur, daB im Rahmen einer Theorie des peripheren Kapitalismus,<br />

die explizit die Modernisierungstheorien als unangemessen negiert, implizit mit deren<br />

Methoden, Begriffen und zentralen Aussagen gearbeitet wird, ohne daB dieser Widerspruch<br />

produktiv aufgelost, d.h. darstellbar und diskutierbar wird. So ist es sicherlich kein<br />

Zufall, daB der folgende Merkmalskatalog autozentrierter Entwicklung in Terminologie<br />

Thomas Hurtienne


und Stellenwert def einzelnen Faktoren fast identisch ist mit den Postulaten def Theorien<br />

der politischen und sozialen Modernisierung (Deutsch, Almond, Huntington, etc.)Y<br />

»1. die erfolgreiche Herausbildung einer Identitat von Individuen und Kollektiven - und damit politischer<br />

Kultur insgesamt<br />

2. die wachsende Fahigkeit wr Selbstkontrolle und Selbststeuerung von Politik, Gesellschaft, Okonomie<br />

und Kultur (d.h. die Herausbildung von Autonomie)<br />

3. differenzierte Produktivkraftentfaltung in allen wesentlichcn Bereichen<br />

4. def Austausch mit sozialen Einheiten def Grenzen, zunachst streng selektiv, spateraufgefachert«<br />

(Senghaas 1977, S. 290)<br />

Se1bst def Altmeister def strukturell-fu.nktionalen Gesellschafts- und Evolutionstheorie<br />

Talcott Parsons wurde diese<br />

nicht anders formulieren (hOchstens die zentrale<br />

Bedeutung sozialkultureller Werte starker betonen und zur unabhangigen Variable<br />

~~~h.~~' 16 Es ware sicherlich auch reizvoll, zentrale des Senghaasschen Erklarungsansatzes<br />

wie »strukturelle »Tiefenstruktur«,<br />

»konfigurative Kausalitat« auf den systemtheoretischen Hintergrund Modernisierungstheorien<br />

(dynamisches Systemgleichgewicht mit hoher Differenzierung und Integration def<br />

Systemelemente dutch sozialkulturelle Eigensteuerung) zu beziehen. 17 Sie werden dadurch<br />

noch nicht falsch und unbrauchbar, aber ihr systemtheoretischer Hintergrund und seine<br />

Vereinbarkeit mit Versatzsmcken marxistischer Theorie (Produktionsweise, Gesellschaftsformation,<br />

etc.) ware eher diskutierbar. Es konnte sich dabei z.B. herausstellen, daB diese<br />

systemtheoretisch fundierten Konzepte def Senghaaschen Theorie die Analyse von Widerspruchen<br />

(z.B. Binnenmarktentwicklung tratz Reallohnstagnation durch Praletarisierung<br />

und staatlich vermittelten Konsum, zunehmende Koharenz trotz ungleichmafiiger Entwicklung)<br />

zumindest behindern k6nnen. Oder daB die Rede von »uberdeterminierten Tiefenstrukturen«,<br />

»die variable Strukturen ohne Preisgabe def eigenen Identitat<br />

produzieren«, in def Tendenz zu strukturalistischen widerspruchsfreien Typologisierungen<br />

komplexer Erkenntnisgegenstande (Peripherie -Metropole) fUhrt. 18 Oder daB die von<br />

Senghaas empfohlene Methodik def »konfigurativen Kausalitat«, wonach z.B. - K.W.<br />

Deutsch folgend - »die erfolgreiehe Integration einer nationalen Gesellschaft und Okonomie<br />

eher das Ergebnis des flieBbandahnlichen Zusammenwirkens einer Reihe von verursachenden<br />

Faktoren deren Aufeinanderfolge probabilistisch von Fall zu Fall hOchst variabel<br />

ist« (Senghaas 1979, S. 306), zu sehr in die Nahe def gangigen Multifaktor-Analyse<br />

ohne eindeutige Priori tat in Hinblick auf die letztlich bestimmenden Faktoren gerat.<br />

Aber ich will mich nieht »lernpathologisch« zeigen Lieblingsvorwurf von Senghaas an<br />

die »an Sinnlosigkeit grenzende Zirkelhaftigkeit marxologischer Auseinandersetzungen«)19<br />

und lieber den Erkenntnisgewinn des fur die Theorie des peripheren Kapitalismus zentralen<br />

Konzeptes der »strukturellen Heterogenitat« untersuchen.<br />

»5trukturelle Heterogenitat« ist in def Dependenztheorie und def Theorie des peripheren<br />

kapitalismus die Schlusselkategorie fur die internen externer struktureller Abhangigkeit<br />

von den Zentren. Ihr Inhalt foIgt gemaB der typologischen notwendig<br />

aus den Merkmalen struktureller Homogenitiit, die heute kapitalistische und sozialist1sche<br />

Metropolen sowie sozialistische Entwicklungslander mit erfolgreicher autozentrierter Entwicklung<br />

(China, Nordkorea, Albanien, Kuba, Bulgarien,<br />

Yugoslawien) aufweisen:<br />

20<br />

Zur Kntik von Dieter Senghaas 111


Hohe sozio-okonomische Kohiirenz: die differenzierte Herausbildung und wechse!seitige Verflechrung<br />

aller wesentlichen okonomischen Sektoren (Landwirtschaft, Massenkonsumgiiter- und<br />

Produktionsmittelindustrie) mit einem hohen Grad an intra- und intersektorialer Vermaschung<br />

2 Homogenisierung der Produktivitiitsniveaus def einzelnen Sektoren mit der Folge dnet Angleichung<br />

de! Faktorkosten von Boden, Kapital und Arbeit innerhalb und zwischen Branchen sowie<br />

zwischen Regionen.<br />

3 Erweiterte BinnenmarkterschliejSung durch die systematische Zunnahme det Reallohne, Sozialleisrungen<br />

und det nationalen Integration (Abbau des Gefalles Wachstumspole - Hinterland)<br />

4 Kapitalakkumulation unter eigener Kontrolle durch Fiihigkeit ZUt Produktion von Produktionsmitteln<br />

und Technologie<br />

5 Hohe Transformations- und Anpassungskraft, die zu einer hohen Fahigkeit de! Absorption und<br />

Verarheitung von Krisen fuhrt.<br />

Die strukturelle Heterogenitat der peripher kapitalistischen Lander ergibt sich als Negativbild<br />

dieses Merkmalskataloges: Mangelhafte Koharenz, Heterogenitat der Produktivitatsniveaus,<br />

keine Angleichung def Faktorkosten, extrem ungleiche Einkommensverteilung, Dominanz<br />

def Luxusgu.terkonsumtion, »soziologische Binnenmarktenge«, von multinationalen<br />

Konzernen kontrollierte Kapitalakkumulation, geringe Transformationskapazitat, etc.<br />

Die auf diese Weise gewonnene Kontrastierung eines metropolitanen und eines peripheren<br />

Entwicklungsprofils mag zwar fUr die erste Phase vereinfachender Abstraktionen und Typologiebildungen<br />

seinen heuristischen Weft haben. In der entscheidenden zweiten Phase<br />

de! gedanklichen Reproduktion def widerspruchlichen konkreten Totalitat verschiedener<br />

Entwicklungs- und Industrielander und ihrer Beziehungen zueinander erweist sie sich m.E.<br />

als Hemmnis, wenn nicht sogar als Erkenntnisblockierung. Das systemtheoretisch orienderte<br />

Denken in po/aren Dichotomien, das gerade an def Modernisierungstheorie mit ihrem<br />

Dualismus Tradition - Moderne so vehement kritisiert wurde, reproduziert sich auch im<br />

Rahmen def Theorie des peripheren Kapitalismus. Die Unfahigkeit def Modernisierungstheorien,<br />

gesellschaftliche Widerspruche grundlegend zu analysieren und nicht nur in ihten<br />

auBerlichen Erscheinungsformen hangen zu bleiben, reproduziert sich auch in ihrer<br />

scheinbar radikalen Alternative. Das Resultat ist def Austausch alter vereinfachendef Typologien<br />

(Traditionalitat - Modernitat) durch neue (Peripherie - Zentrum, strukrurelle Heterogenitat<br />

- strukturelle Homogenitat) mit ebenso beschranktem ErkenntnisgewinnY Darfiber<br />

kann auch nicht die nachtragliche Betonung unterschiedlicher Entwicklungswege<br />

autozentrischer Entwicklung hinwegtauschen. DaB dem so ist, solI im folgenden ansatzweise<br />

verdeutlicht werden.<br />

Die zentrale Behauptung von<br />

mit ihm der Dependenztheorie) ist nun die,<br />

da£ strukturelle Heterogenitat in im 19. Jhdt. einsetzenden kapitalistischen Industrialisierungsprozessen<br />

ein schnell verschwindendes Merkmal war, heute aber bei nachholendef<br />

kapitalistischer Entwicklung zu einem dauerhaften Strukturmerkmal des peripheren<br />

Kapitalismus geworden ist. 22 Selbst wenn die unmittelbare empirische Evidenz der meisten<br />

Lander def 3. Welt sicherlich heute angesichts von Massenarmut, Unterbeschaftigung, sektotal<br />

und regional begrenzten Wachstumspolen ohne Dynamisierung des Hinterlandes fUr<br />

die Stichhaltigkeit dieser These zu sprechen scheint, ergibt sich diese bereits aus seiner Petipherie-Metropolen-Dichotomie,<br />

die Widerspruche nur zwischen den beiden Typologien<br />

zulaBt. Zwei Testfragen bleiben daher zu stenen:<br />

1) Welche Rolle haben die mit »Struktureller umschriebenen Merkmale in<br />

der kapitalistischen des 19. Jhdt. Gab es vielleicht sogar einen<br />

112 Thomas Hurtienne


elativ dauerhaften »funktionalen Zusammenhang« zwischen strukturellet Heterogenitat<br />

und kapitalistischer Industrialisierung, und wie lange bestand er?<br />

2) L:illt sich wirklich ein unumstoBlicher gesetzmaBiger Zusammenhang zwischen dauerhafter<br />

struktureller Heterogenitat und nachholender kapitalistischer Entwicklung in de! 3.<br />

Welt heute feststellen? Oder gibt es auch hier nach Liindergruppen und Akkumulationsbedingungen<br />

variierende, widerspriichliche und komplexe langfristige Entwicklungstendenzen<br />

in Richtung auf wachsende strukturelle Homogenisierung der Produktionsverhaltnisse<br />

und Produktivkraftniveaus? Sind die dabei entstehenden sozialen Kosten wirklich in jedem<br />

Fall so hoch, daB die davon betroffenen sozialen Klassenund politischen Krafte als<br />

einzigen Ausweg eine nachholende Entwicklung unter sozialistischem Vorzeichen auf die<br />

Tagesordnung setzen konnen und mUssen?<br />

Der ansatzweisen Beantwortung dieser zwei Testfragen dienen die folgenden zwei Abo<br />

schnitte, die nur deshalb z.T. so weit historisch ausgreifen, urn die gestellten Probleme<br />

besser in den Griff zu bekommen.<br />

2. Kapitalistische Industrialisierung und strukturelle Heterogenitiit im 19. Jhdt.<br />

Jeder ProzeE einer nachholenden Industrialisierung in Westeuropa, USA undJapan stand<br />

seit def industriellen Revolution in England - wie Senghaas und Menzel zu Recht feststellen<br />

- unter dem Druck der »erdriickenden und immer weiter fortschreitenden englischen<br />

Uberlegenheit« in »technologischer, wirtschaftlicher, militarischer und politischer<br />

Hinsicht.«23 Die Griinde fUr dieses »Kompetenzgefalle« zwischen England und dem Rest<br />

Europas konnen hier nicht ausfUhrlich diskutiert werden. Sie sind abet beileibe nicht so<br />

unklar wie Senghaas/Menzel im AnschluB an Rostow und Kindleberger es m.E. unterstel­<br />

Jen. 24 Voluminose Arbeiten marxistisch orientierter britischer Historiker (Dobb, Hill,<br />

Hobsbawn, Anderson?5 haben die Thesen von Marx Uber die enotme Bedeutung det inneten<br />

Festigkeit und Gliederung vorkapitalistischer Produktionsweisen fUr deren Auflosungspotential<br />

durch das Wirken des Fernhandelskapitals und die stadtische Warenproduktion<br />

(dezentrale Struhm des Feudalismus mit seinem Stadt-Land-Gegensatz und def Existenz<br />

des beschrankten Privateigentums im Gegensatz zur bUrokratisch-zentralisierten Struktur<br />

asiatischer Gesellschaften mit fehlendem oder untergeordnetem Privateigentum und der<br />

lokalen Einheit von Manufaktur und Agrikultur)26 ebenso bestatigt und venieft wie die<br />

Marxsche Analyse des klassischen Charakters def urspriinglichen Akkumulation in England,<br />

in der der Nachdruck auf die Entwicklung des Lohnarbeitsverhaltnisses gelegt<br />

wurde. 27 Die industrielle Revolution erscheint auf dem Hintergrund dieser und anderer<br />

Arbeiten nicht meh! nur als ein von historischen Zufallsfaktoren abhangiger ProzeE - wie<br />

es Senghaas implizit unterstellt _28, sondern wird m.E. relativ leicht erklarbar druch einen<br />

Komplex besonderer innere! und auflece! Bedingungen, die im folgenden nut in resUmierter<br />

Form dargestellt werden.29<br />

1m Unterschied zum kontinentalen Europa war die englische Gesellschaft seir der Mitte des<br />

17. Jhdts. bereits eine vom unbeschrankten bUrgerlichen Privateigentum beherrschte moderne<br />

Konkurrenzgesellschaft mit einem »parlamentarischen Absolutismus« (Kofler), def<br />

seir def Glorreichen Revolution 1688 die }>grundherrlichen und kapitalistischen Plusmacher<br />

ZUI Herrschaft« (Marx) brachte. Die Reformen des Tudorabsolutismus und def Verkauf der<br />

Kirchengiiter in def Reformation an den niedrigen Landadel und stadtische Geldkapitalbe-<br />

Zur Kritz'k von Dieter Senghaas 113


~tzerhatten den Weg.geebnet fUr den Aufstieg dner neuen Grundeigentiimerklasse, »der<br />

Gentryc, die zum Gespott des kontinentalen Adels ihren Status mehr durch »businessc und<br />

produktive Investitionen in die Landwirtschaft als durch Luxuskonsum,. staatliche Privile­<br />

. und Pfriinden erwerben und erhOhen konnte. Zusammen mit den radikalen Klein­<br />

·""'''4.•• ft (yeoman) und den nicht durch die Krone privilegienen Manufakturisten und<br />

Handlern des Hinterlandes und Londons wurden sie zur treibenden Kraft der puritanischen<br />

Revolution gegen die letzten Reste des feudal-absolutistischen Regimes und bereite­<br />

.... ten in der Phase der parlamentarischen Republik und des Protektorats Cromwells endgi.iltig<br />

die Bahn fUr die volle Durchsetzung unbeschrankter bUrgerlicher Rechts- und Eigentumsverhaltnisse:<br />

Eine biirgerliche Konkurrenzgesellschaft, die die unbeschrankte Nut~<br />

zung des Privateigentums zur persOnlichen Bereicherung durch den Marktmechanismus<br />

zum obersten Prinzip erklane und mit zunehmender gesellschaftlicher Wohlfahn identifiziene,<br />

war entstanden. 30 Der von feudalen und staatlichen Fesseln ungehemmte »Besitzindividualismus«<br />

(Macpherson), der seinen theoretisch-ideologischen Ausdruck in den neuen<br />

biirgerlichen Staats- und Gesellschaftstheorien von Hobbes, Locke und Harrington fand3 !,<br />

:fiihrte schon bald auf Kosten der unteren Gentry und der Kleinbauern zu.einer neuen gewaltigen<br />

Konzentration des Bodens in den Handen einer kleinen Oligarchie grundbesitzender<br />

Adliger, die bereits 1690 ca. 70 % des Bodens auf sich konzentrienenY<br />

Diese Whig-Oligarchie des 18. Jhdts. fungierte aber trotz vieler gesellschaftlicher Privilegien<br />

(Clubs, Privatschulen, Fuchsjagd, Oberhaus), die ihr ein feudales AuBeres gaben, als<br />

moderne Grundeigenrumerklasse: Ihre Landereien wurden weitgehend durch kapitalisti­<br />

. sche Pachter mit Lohnarbeitern bewirtschaftet. Resultat dieses im Vergleich zum Kontinent<br />

(mit Ausnahme Hollands) einmaligen Agrarkapitalismus war die bereits im 17. Jhdt.<br />

beginnende und im 18. Jhdt. ihren Hohepunkt erreichende »Agrarrqolution«: Der Vber­<br />

'gang zur modernen Fruchrwechselwirtschaft ohne Brache in eingezaunten Landereien (encl()sure),<br />

die EinfUhrung neuer Produkte (Kanoffeln, Mais, Zuckerriiben, Klee) , eine<br />

erhebliche Steigerung des Einsatzes von pferden (tiefere Furchen, schnellere Landbearbeitung)<br />

und damit auch bessere Diingung, die allgemeine Verwendung von eisernen Pfliigen<br />

.und besserem Saatgut. Die landwirtschaftliche Arbeitsproduktivitat stieg von 1700 bis<br />

1800 urn 100 %, die ha-Ertrage wurden nur noch von Holland iiberfliigelt. 33<br />

Komplementar zum Agrarkapitalismus enrwickelte sich ein breites landliches Hausgewerbe<br />

(in der neueren Diskussion als Proto-Industrialisierung bezeichnet)34, das von handelskapi­<br />

. talistischen Verlegern organisiert sowohl fUr den langsam expandierenden l3innenmarki<br />

wie fUr die rasch zunehmenden auBeren Markte zuerst in Siideuropa (17. Jhdt.) und dann<br />

vor allem in den neuenSiedlungskolonien (18. Jhdt.) produzierte.<br />

Die Kommerzialisierung der Landwirtschaft, die Proto-Industrialisierung der landlichen<br />

Nebengewerbe, das iiberproportionale Wachstum der groBen Stadte (London war mit einer<br />

dreivienel Million Bewohnern zweimal so groB wie Paris) und die Beherrschung der<br />

'We1tmeere und des Welthandels schufen die objektiven Bedingungen damr, daB ab 1780<br />

der Vbergang von der landlichen Hausindustrie mit billiger Farnilienarbeit und den Manufakturen<br />

mit arbeitsteiliger Handwerksarbeit zur groBen Industrie mit Maschinen- und<br />

Lohnarbeit erfolgen konnte. Kein anderes europaisches Land verfUgte iiber ahnlich giinstige<br />

Bedingungen fUr die Durchsetzung des groBindustriellen Fabriksystems wie England.<br />

Der neue fUhrende Sektor des kapitalistischen Wirtschaftswachstums, die Baumwollindustrie35<br />

, entstand von Anfang an als Weltmarktindustrie, deren Rohstoff aus den Sklaven- .<br />

plantagen der Neuen Welt importiert und deren Fertigprodukt (Baumwollstoffe und -gar-<br />

Thomas Hurnenne


50-75 % exportiert wurde.Entgegen hartnackiger Vorurteile hestand def Beitrag<br />

der mechanisierten Textilindustrie his 1850 weniger in def BinnenmarkterschlieBung dutch<br />

Fiirderung def Massenkaufkraft und sekundare Verflechtungseffekte: Trotz 6 -7 % jahrlichen<br />

Wachsrums entfiel auf die Baumwollindustrie nur 7-8 % def Bruuoinlandsproduktion<br />

mit geringen internen Verflechtungseffekten und minimalen Endnachffagekoppe-<br />

77 % def Textilarbeiter waren 1838 Frauen und Kinder, die wegen ihrer<br />

griiEeren U!;,,>tHIJ.>"U in die industrieHe bevorzugt und die bei d-<br />

nem bis zu Arbeitstag und einer 8-Tage-Woehe zu (Frauen<br />

1/3, Kinder 1/6 des wurden« Die Nettoproduktion<br />

1820/1840 urn 40 %, die auf tiber 60 %, die Lohnsumme abet urn<br />

als 5 %.<br />

Da J..>HI5~"HU zunachst die mechanisierte Baumwollindustrie dem Rest der Welt<br />

konnten die<br />

Textilunternehmer zunachst bis ZUI At)satz!~m;e<br />

1847/48 ihre Produktivitatszuwachse in -'-'''',! Eisenbahnbau 1845/49 ca. 7 % des Volkseinkom-<br />

Wachstum der industriellen<br />

die<br />

sich verdoppelte bei insgesamt konstanten (und nU! bei Facharbeitern<br />

leicht steigenden) Reallohnen. Der Anteil def in def Landwirtschaft Beschiiftigten<br />

sank von 28 % 1851 auf 10 % 1911, die Industrie war seit 1850 def griiBte<br />

tor, def erreichte im bereits 50 %,<br />

Ohoe welter ins Detail zu<br />

an Spohn40 - zusammenfassend gesagt<br />

daB die dutch tine relativ 9rganische<br />

dezentra-<br />

Ie mit einem direkte<br />

iikonomische Interventionen des Staates und dne<br />

stischen und vorindustriellen Produktionsverhaltnisse !5"jf>.UUl£,\.U,'UJl'-<br />

Die Industriestruktur war allerdings ebenso eine Sonderent-<br />

VVU,AUHH! wie die nach 1840 sich herausbildende »klassische«<br />

internationale<br />

"'1!!';l~,HU als Handler und Finanzier der Weltwirtschaft<br />

.:ne'Qllm~:SK':)lOnlen und den ruckstandi-<br />

Zur Kritik von Dieter ,J~"!


Zusammen mit der fruhzeitigen Homogenisierung der Produktionsverhaltnisse und def<br />

Sozialstruktur, die ab 1850 nur noch graduelle Veranderungen aufwies, erklart dieses besondere<br />

englische Entwicklungsproftl die hartnackige Dominanz von Paradigm en kapitalistischer<br />

Entwicklung, die okonomisch im Gleichgewichtsmodell effizienter Allokation von<br />

national und international vorgegebenen Ressourcen (Neoklassik, Freihandelsmodell) und<br />

sozio!ogiscb 1m Evolutionsmodell sozialer Differenzierung durch individuelle Leistung<br />

(Spencer, Sozialdarwinisten) seinen Ausdruck fanden. 41 Ebenso wie die Modernitat def Sozialstruktur<br />

(1867 schatzte Baxter den Anteil der Klasse def manuellen Arbeiter an der Gesamtbevolkerung<br />

auf 77 % )42 die von]. S. Mills als Theoretiker und D israeli als Praktiker<br />

unternommenen Versuche erkiart, dem liberalbiirgerlichen Staat ohne Bedrohung der Eigentumsordnung<br />

eine demokratische Basis durch die schrittweise Integration der besser gestellten<br />

(und in Crafts Union besse! organisierten) qualifizierten Teile der Arbeiterklasse in<br />

das parlamentarische System zu verschaffen.<br />

Eine ahnlich glei(:hgewichtige Industrialisierung und fruhzeitige Modernisierung der Sozialstruktur<br />

liefi sich im 19. Jhdt. nur noch in den USA, allerdings aus anderen srrukturellen<br />

Grunden, feststellen: Fehlende Feudalsrruktur, Dominanz prosperierender kIeiner<br />

Warenproduzenten 1m Agrarsektof, wegen def »frontier« 1m Wilden und Neuen Westen<br />

hohes Lohnniveau in der sich organisch mit ausgepragter regionaler Arbeitsteilung entwickelnden<br />

Industrie. wegen der homogeneren Nachfragestrukturen fruhe Verallgemeinerung<br />

von industriellen Massenkonsumgiiterindustrien mit Serienproduktion, kontinentale<br />

Binnenmarkterschliefiung, nur geringer Anteil am Welthande1.43 Der okonomische und<br />

politische Liberalismus Englands erreichte in den USA sogar noch extremere Formen def<br />

ideologischen Hegemonie.<strong>44</strong><br />

Die sozial-okonomische Entwicklung von England und den USA scheint daher zunachst<br />

die These von def im kapitalistischen EntwicklungsprozeB relativ schnell verschwindenden<br />

Bedeutung von Merkmalen struktureller Heterogenitat zu bestatigen. Hohe sozial-okonomische<br />

Koharenz, Homogenisierung des Produktivitatsniveaus, erweiterte Binnenmarktschliefiung,<br />

hohe Transformationsfahigkeit - all das scheint am Ende des 19. Jahrhunderts<br />

in England und den USA weitgehend erreicht. 1m Grunde genommen gilt das bei genauefef<br />

Analyse nur fur die USA, wahrend fur England erhebliche Einschrankungen zu machen<br />

sind: Neben def Fragwiirdigkeit einet hohen Transformationsfahigkeit def in def ersten Industrialisierungswelle<br />

verfestigten Wirtschafts- und Gesellschaftssrrukturen45 , die nach<br />

1900 den endgiiltigen Abstieg Englands von seiner industriellen Hegemonie besiegelten,<br />

ist dabei vot aHem an die Struktur der Binnenmarktschliefiung und den Umfang def okonomischen<br />

und sozialen Grundleistung fur die Mehrheit der Bevolkerung zu denken.<br />

Nach Senghaas soIl »die Entwicklung des metropolitanen Kapitalismus (insbesondere im<br />

Fall Englands)« sakular betrachtet - neb en »Produktivitatssteigerungen des landwirtschaftlichen<br />

Sektors« und def industriellen Produktion von Produktionsgiitern« vot aHem »durch<br />

die Entwicklung eines industriellen Konsumgiitersektors fur die Produktion von Massenkonsumgiitern«<br />

getragen worden sein:<br />

»Anfanglich hatte die Produktion von Massenkonsumglitern (der Bekleidungs-, Nahrungs- und<br />

Wohnbedarfsindustrie) den groBten Anteil an def industriellen Fertigung. In allen Industrialisierungsprozessen<br />

vom metropolitanen Typ pendelte sich nach wenigen Jahrzehnten ein immer wieder zy­<br />

Idisch gestortes Gleichgewicht zwischen de! Produktions- und def Konsumgliterindustrie dn. Allgemeine<br />

Produktivitatssteigerungen, einschlie:BIich in def Landwirtschaft, sowie die Verknappung und<br />

gewerkschaftliche Organisation von Arbeitskraft ermoglichten Reallohnsteigerungen, die ihrerseits<br />

mit einer erweiterten BinnenmarkterschlieBung ruckgekoppelt waren.« (Senghaas 1977, S. 34)<br />

116 Thomas Hurtienne


Die in diesem Zitat zusammengefa£te Argumentationskette: Produktivitatssteigerungen<br />

-gewerkschaftliche Organisierung - Reallohnsteigerungen - Erweiterung des Binnenmarktes<br />

-Vbergewicht der industriellen Massenkonsumgtiterindustrie - homogenes<br />

metropolitanes Nachfrage- und Entwicklungsprofil bildet den Kern def Senghaasschen Auffas§ung<br />

uber die Struktur der BinnenmarkterschlieBung zumindest in den ersten Industrialisierungslandern<br />

England, Frankreich, Belgien, PreuBenl Deutschland , USA, Osterreich<br />

(Typ 1, von Menzel auch als »Textilweg« der vorrangigen Massenkonsumgtiterindustrialisierung<br />

bezeichnet).46<br />

Senghaas steht mit dieser Auffassung nicht allein da: Prebisch, Emmanuel, Amin, Frank,<br />

Rostow, W.G. Hoffmann, die Mehrheit der Autoren der Dependenztheorien (aber auch<br />

der Modernisierungstheorienl) und sicherlich die Mehrheit def bundesrepublikanischen<br />

Entwicklungssoziologen wiirden der Senghaasschen Argumentationskette voll zustimmen.<br />

Was soIl also daran falsch sein?<br />

Nach langer Beschaftigung mit der westeuropaischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte bin<br />

ieh zu dem SchluB gekommen, daB diese Argumentationskette auf einer allgemeinsten<br />

Ebene sicherlich nicht vollkommen falsch ist, die widerspmchliche Dynamik kapitalistiseher<br />

Binnenmarkterweiterung in ihren wesentlichen Momenten durch sie aber nicht<br />

begreifbar wird. Und urn es noch zuzuspitzen: Das durch sie vermittelte Gesamtbild der dynamischen<br />

Verkettung von Produktionsmittel- und Massenkonsumgtiterindustrien reprasentien<br />

m.E. ehef die von Senghaas/Menzel in Hinblick auf die Freihandelspostulate der<br />

offiziellen Entwicklungspolitik formulierte Problematik, »daB in ihnen Spatphasen (in der<br />

Regel) kapitalistischer Entwicklung idealtypisch uberhOht und die Ergebnisse solcher stilisierten<br />

Analyse dann auf die Fruhphase dieser Entwicklung und auf die heutigen Entwicklungslander<br />

kurzschlussig projiziert wurden« (Senghaas 1979, S. 287)<br />

1m Folgenden werde ich versuchen, diese kuhne Behauptung durch einige empirische Indikatoren<br />

selbst rur das englische Entwicklungsprofil nachzuweisen.<br />

Vbe! die Reallohnentwicklung im England des 19. Jahrhunderts gibt es eine umfangreiche<br />

Kontroverse zwischen englischen Wirtschaftshistorikern (die ubrigens in vielem der heutigen<br />

Diskussion in Brasilien ahnelt!): War die kapitalistische Industrialisierung mit einer<br />

Verbesserung oder Verschlechterung des Lebensstandards der Arbeiter verbunden?47 Als<br />

Resultat dieser Kontroverse laBt sich m.E. festhalten, daB vor aHem wahrend de! Phase des<br />

Durchbruchs der industriellen Revolution 1780 - 1830 ein Sinken def Reallohne festzuhalten<br />

ist. Danach kam es in den Durchschnittswerten zu marginalen Verbesserungen, die allerdings<br />

die zunehmende Heterogenitat der Lohnniveaus zwischen qualifizierten und<br />

nichtqualifizierten Arbeitern Uberdeckte. Da aber auch Reallohnentwicklungen wenig<br />

uber die Entwicklung des realen Lebensstandards unmittelbar aussagen (Hobsbawn), scheinen<br />

mir die von Hobsbawn, Dean, Foster, Odds und anderen zusammengetragenen Sozial·<br />

indikatoren trotz aUer statistischen Ungenauigkeiten aussagekraftiger zu sein:<br />

a) Nach ciner Phase des Sinkens stieg ab 1820 die Kindersterblichkeitwieder an und schwankte zwischen<br />

1840 und 1900 urn den Wert 150 pro 1000 Geburten, urn dann bis 1914 auf 105 zu sinken<br />

(Zum Vergleich Brasilien: 1964/73: Anstieg auf 93, dann AbfaH auf 70 1977).48<br />

b) Die allgemeine Sterberate stieg nach einem Abfall von 35,8 (1730) auf 21 pro 1000 (1811/20) auf<br />

23,4 (1831/40), urn dann bis 1870 auf demselben Niveau zu bleiben, und danach kontinuierlich<br />

auf 15,4 (1901/10) zu sinken. Die Sterberate in Industriestadten wie Liverpool und Manchester errdchte<br />

allerdings 1841/50 33 - 40. (Zum Vergleich Brasilien: 1960/78 Sinken von 11 auf 9)49<br />

c) Eine Computer-Hochrechnung det verschiedenen Einzeluntersuchungen fiber Familienbudgets<br />

Zur Kritik 1)on Dieter Senghaas 117


.. zWischen 1887 und 1901 von Oddy bestacigt im wesentlichen die Resultate der ersten einigerma­<br />

Ben zuverliissigen Armutsanalysen von Booth IDr london und Rowntree IDr York: ca. 40 % der<br />

Arbeiterfamilien (d.h. 30 % der Bevolkerung) lebten an oder linter der absoluten Armutsgrenze<br />

(unter 2000 Kalorien und 54 g Protein). Nur die kleine Gruppe der gelernten und bezahlten »Arbeiteraristokratie«<br />

(ca. 15 % der Arbeiter) konsumierte durchschnittlich 2 500 Kalorien und 72 g<br />

Proteine. Zum Vergleich: Familien, die in Sao Paulo 1971 bis zu 1 Mindestlohn bezogen (ca.<br />

20 % der stadcischen Lohnarbeiter) konsumierten im Durchschnitt 2468 Kalorien und 65 g<br />

Proteine. 50 .<br />

Nach den relaciv groben Schat2ungen Uber die Einkommensverteilung von Baxter entfielen 1867<br />

ca. 50 % dt;s Volkseinkommens auf die oberen 10 %, nach Bowley/Kuznets 188048 % auf die<br />

oberen 5 % (191343 %). (Zum Vergleich Brasilien: Auf die oberen 5 % entfielen 1970 37 %,<br />

197639 % des Volkseinkommens.) Die Schatzungen von Kuznets Uber den Anteil der Vermogenseinkommen<br />

am Volkseinkommen ergaben 1860/69 und 1905/14 43 - 46 %, der Anteil»anderer<br />

Ausgaben« (gesamte Konsumausgabe ohne Nahrungsmittel, Kleider und Wohnung) 1880/1899<br />

~. 41 % .51 Auf diese empirisch belegbare Tatsache, daB zumindest in den ersten 100 Jahren englischer<br />

Industrialisierung def Anteil des Surplusproduktes am gesellschaftlichen Produkt wuchs und<br />

keineswegs primiir IDr Investitionen verwandt wurde, sondern zu einem groBen Teil die wachsende<br />

Luxuskonsumtion der Kapital- und Grundeigenrumer alimentierte, hat bereits Marx im Kapital<br />

ausIDhrlich hingewiesen.52<br />

1861 war der Umfang der ulienenden Klasse« der Hausangestellten mit 1,2 Mill. Personen doppelt<br />

so groB wie die Zahl der in der groBten Industriebranche, der Textilindustrie, Beschaftigten.<br />

Ihr Anteil an der Gesamtbeschaftigung blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bei 16 % und<br />

sank bis 1911 auf immer noch 12 % .53 Nimmt man die ungenauen Schiitzungen Uber die Zahl<br />

der in marginalisierten Handwerks- und Kleinbetrieben Beschaftigten, die der »Paupers«, der fliegenden<br />

Handler und MUlltonnenverwerter und dieder zyklisch Arbeitslosen ohne soziale Sicherheit<br />

(bis zu 50 % in einzelnen Branchen und Stadten) hinzu, ergibt sich bis 1900 (trotz hoher<br />

Auswanderungen) ein Grad der Marginalisierung, der den heutigen Verhiiltnissen in halbindustrialisierten<br />

Liindern der 3. Welt durchaus in erwa quantitativ und qualitativ entsprechen dUrfte.<br />

Zum Vergleich: In Brasilien betrug der Anteil der Hausangestellten an der Erwerbsbevolkerung<br />

19706,3 %, der Anteil der im unproduktiven Bereich den Dienstleisrungenssektors nur marginal<br />

Beschaftigten '10 - 15 %.54<br />

sich hinter diesen nuchternen Sozialindikatoren, deren Exaktheit sicherlich nicht<br />

'ubeJ:sctlat~t werden darf, verbirgt (und sich auch aus vielen beschreibenden Darstellungen<br />

L.elltgc:nClsse,n ergibt)55, sind Strukturen kapitalistischen Wachstums mit extremer Under<br />

Einkommensverteilung und einer hohen absoluten Armut, die m.E. jedem<br />

mit halbindustrialisierten Entwicklungslandern wie Brasilien standhalt. Idylli­<br />

V:eltgle~lch<br />

Vorstellungen uber die sozialen Kosten kapitalistischer autozentrierter Entwicklung<br />

Pionierland der Industrialisierung konnen damit relativiert werden. Der fUr die Theorie<br />

peripheren Kapitalismus entscheidende Widerspruch zwischen dem hohen Luxuskonsum<br />

einer kleinen Oberschicht und dem nur »vegetativ« mit dem Wachstum der Bevolkeund<br />

def Beschaftigten bei stagnierenden Reallohnen ansteigenden Massenkonsum ermit<br />

nicht nur als Problem heutiger peripher-kapitalistischer Entwicklung, sondern<br />

Problem kapitalistischen Wachstums in seinen ersten Phasen uberhaupt (mit nur weni-<br />

Ausnahmen wie ,die USA, Danemark, Neuseeland). Wenn sich heute in der 3. Welt<br />

LUXUllkonSl1m in Luxusautos, Wohnpaliisten, Europareisen, Motorjachten und Hausangemanrrestiert,<br />

so entsprachen dem die Pferdekutsche, erste Autos, Seebadeaufenthalte<br />

in internationalen Luxushotels, Motorjachten und Hausangestellte urn 1900. Volkswirtschaftlich<br />

lag der einzige Unterschied wahrscheinlich darin, daB urn 1900 ein grofierer Teil<br />

Thomas Hurtienne


desLuxuskonsums als persOnlicheOienstleistung »produziett« wurde, wahrend heme kapi,<br />

talistisch produzierte Waren und Dienstleistungen uberwiegen und daher eher die Indu~<br />

striesttuktur und die Investitionsrate beeinflussen.<br />

Um die Konsequenzen der ungleichen Einkommensverteilung fur die Spaltung des Kon·<br />

sumgiitermarktes in Luxus- und Lohngiiter eher abschatzen zu konnen, versucheich Ij}·<br />

clem folgenden klassenmiillig gegliederten Einkommens- und Nachfrageprofil fur England<br />

um 1900 ein stilisiertes Grobprofil auf def Basis def verfiigbaren Daten und Schatzungen<br />

zu geben:S6<br />

Die oberen 5 % de! Bevolkerung (grundbesitzender Hochadel und Finanzbourgeoisie, groBe Industrielle,<br />

hohere Freiberufler) finanzierten aus ihrem 50 %igen Anteil am Volkseinkommen nicht nur<br />

Investitionen fUr lukrative Exportgeschafte und Eisenbahnbauten, sondern vor aHem klassizistische<br />

Landhauser, eine Schar von Dienern, Reisen in die Luxushotels def Schweiz und def Toskana, Renais,<br />

sancemobel, Parise! Mode, spater auch Motorjachten und Luxusautomobile (Rolls Royce).<br />

Die darauffolgenden 10 % (traditionelle Mittelklasse def »freien Berufe«, der mittleren Gewerbetrei;<br />

benden und Handler, neue Mittelklasse def besser bezahlten Angestellten) sicherten sich mit ihrem<br />

Anteil von ca. 10 % am Volkseinkommen einen »bequemen Lebensstandard« (gutes Essen und KIeidung,<br />

Reihenhaus in gepflegten Vororten mit einer Hausangestellten, mittelstandisches Vereinsleben)<br />

und investierten relativ vie! in ihfe Geschafte und die Ptivatausbildung ihrer Kinder (Hochburg<br />

des konservativen Idealismus).<br />

Die folgenden 10 % (untere Mittelklasse der kleinen Gewerbetreibenden und Angestellten) unter'<br />

schieden sich mit einem Ameil von 5 % am Volkseinkommen kaum vom bescheidenen Lebensstandard<br />

def besser gestellten Arbeiter, versuchten aber urn jeden Preis sich von diesen sozial abzuheben<br />

durch Geburtenbeschrankung (»frustrierte Klasse«) und die Imitation mittelsHindischer Lebensformen.<br />

(Hochburg det irnperialistischen und patriotischen Propaganda).<br />

Auf die restlichen 75 % det Bevolkerung (rnanuelle Lohnarbeiterklasse) entfielen ca. 35 % des Volkseinkommens,<br />

wobei allerdings die oberen 15 % det Arbeiterklasse, die gelernten Arbeiter (craftsmen)<br />

sich dutch ihre Knappheit auf dem Arbeitsmarkt die »standard rate« fUr ihr Fach dutch gewerkschaftliche<br />

Aktion erkarnpfen konnten und als »Atbeiteraristokratie« mindestens doppelt so viel<br />

verdienten wie die ungelernten Durchschnittsarbeiter (labourer), die von der .district rate for labour.<br />

abhingen und von denen ca. 40 % an oder unterhalb def Armursgrenze lebte. 60 % def Haushaltsausgaben<br />

def Arbeiterfarnilien enrfielen auf Nahrungsmittel (Brot, Kartoffeln, erwas Fleisch, Tee und<br />

Zucker), 25 % auf Miere, Brennstoff und Licht, 10 % auf Kleidung (gebrauchte Kleidungssrucke,<br />

Textilstoffe zur Eigenproduktion). Vor 1880 beschrankte sich der Verbrauch an Industriewaren auf<br />

Textilstoffe und ,garne, Hausrat aus Eisen, Bier und Margarine, erst danach enrwickelten sich die ersten<br />

»Co-ops«, die hausindustriell gefertigte Stiefel, Schuhe und BilIigkleidung speziell fUr Arbeiterfamilien<br />

zu verkaufen begannen. Grundlage dafUr war die rasche Verbreirung der Nahmaschine, die<br />

als bedeutsarnste Neuerung in def Produktion von Konsumgiitern und als das erste zivile Gerat nach<br />

den Handfeuerwaffen in industrieller Serienfertigung mit austauschbaren Teilen produziert<br />

Die Nahmaschine diente dabei weniger det Erleichterung der hauslichen Eigenproduktion (dafUr war<br />

sie zu teuer!), als vielmehr det schnellen Ausweirung billiger Frauen-Heimarbeit fUr Zwischenmeister<br />

(»Schwitzsystem«) und die neuen Konfektionsmanufakruren, urn das hausliche Einkommen aufzubessern.<br />

S7<br />

Die kurze Darstellung des klassenmiilligen Einkommens- und Nachfrageprofils in England<br />

um 1900 sollte auf moglichst anschauliche Weise<br />

da£ von einer dynamischen<br />

BU:ln


stye Industriegtiterexporte (1880: 80 % der englischen Textilproduktion), den Eisenbahnbau<br />

und die damit verbundene interindustrielle Nachfrage (Eisen und Stahl, Dampfmaschinen),<br />

den Luxuskonsum der Oberklassen und die Ausweitung der »hausindustriellen«<br />

Produktion von lebensnotwendigen Konsumgtitern nicht denkbar gewesen.<br />

Dabei blieb im Rahmen def Dominanz der absoluten Mehtwertproduktion und der extensiven<br />

Kapitalakkumulation bis lum 1. Weltkrieg def Lebensunterhalt def Lohnarbeiterfamilien<br />

weitgehend auf den lebensnotwendigen Bedarf an Nahrungsmitteln, Kleidung und<br />

Wohnung (mit Bier, Musikhallen und Fu£ball als einzigen Freizeitvergnugen) beschrankt.<br />

Die gro£industrielle Produktionsweise dominierte keineswegs die eigentlichen Konsumgtiterindustrien<br />

(Bekleidungs-, Nahrungsmittel-, Wohnbedarfsindustrie), sondern erfa£te<br />

zunachst nUT die leicht zu mechanisierenden Vorprodukte (Textilgarn, Textilstoffe, Eisen,<br />

Zement). Die in diesen de! Endproduktion vorgelagerten Vor- und Zwischenproduktindustrien<br />

erzielten Produktivitatssteigerungen haben uber sinkende Vorproduktionspreise die<br />

weitgehend vorindustriell bleibende Endproduktion (Heimarbeit im kapitalistischen Verlagssystem,<br />

hausliche Eigenproduktion) sicherlich betrachtlich verbilligt und damit Uber<br />

sinkende Konsumgtiterpreise die Produktion relativen Mehrwerts ermoglicht. Die engen<br />

Grenzen def primar auf der Ausdehnung def Beschaftigtenzahl basierenden absoluten<br />

Mehrwertproduktion und die Dominanz def reinen Subsistenzsicherung def Lohnarbeiter­<br />

Hasse wurden aber dadurch nut erweitert, aber nicht gesprengt.<br />

Die groilindustrielle Revolutionierung der Konsumgtiterproduktion begann erst Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts im gro£en Stil in den USA mit der EinfUhrung der wissenschaftlichen<br />

BetriebsfUhrung Taylors (Zergliederung des Arbeitsprozesses in einfache Tatigkeiten, die<br />

unter strenger Kontrolle des technischen Buros durch angelernte Atbiete! im Akkordlohnsystem<br />

erfolgte, bei Verdrangung def Kontrolle def alten Facharbeiter tiber den Produktionsproze£)<br />

und def halbautomatischen Fliefibandmontage Henry Fords (Werksmcke<br />

werden zu den neuen Detailarbeitern dutch ein kontinuierlich laufendes Band transportiert,<br />

das den Arbeitsrhythmus bestimmt und die Serienproduktion mit austauschbaren<br />

Teilen ermoglicht).58 Erst jetzt konnte sich eine enge Verkettung zwischen serienma£iger<br />

Massenkonsumgtiterproduktion und mechanisiertem Maschinenbau entwickeln, die die<br />

Produktivitat der gesellschaftlichen Arbeit in den Konsumgtiterindustrien sprunghaft erhOhte.<br />

Die in den USA auf Grund besonders gtinstiger Bedingungen (kontinentaler<br />

Binnenmarkt mit hohem Reallohnniveau) entwickelten neuen Technologien und die lntensitat<br />

der Arbeit steigernden Organisationsformen der Industrieproduktion wurden in Westeuropa<br />

erst in den zwanziger Jahren punktuell ubernommen und verscharften zunachst<br />

eher dutch die massenhafte Einspaning an Arbeitskraft bel unveranderten Reallohnen<br />

(1)Rationalisierungskonjunktur


die hausliche Gebrauchswertproduktion, Technisierung des Haushalts).60 Die relative Verstetigung<br />

der Massennachfrage dutch keynesianische Vollbeschaftigungspolitik, die Auflosung<br />

vorindustrieller Produktions- und Konsumtionsformen, die kapitalistische Modernisierung<br />

der Landwirtschaft und des Dienstleistungssektors fuhrten zu jener dynamischen<br />

Verkettung von hochproduktiver Landwirtschaft, Massenkonsum- und Produktionsgiiterindustrien,<br />

die das Senghaassche »metropolitane Entwicklungsprofil« mit seinen hohen<br />

okonomischen und sozialen Grundleistungen fur die Mehrheit def Bevolkerung uberhaupt<br />

erst moglich machte.<br />

Als Resultat def bisherigen Darstellung kann m.E. festgehalten werden, daB bereits die<br />

englische Industrialisierung trotz ihres bereits fruhzeitig erreichten hohen Grades def<br />

Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhaltnisse und def relativen Modernitat def<br />

Sozialstruktur (Kleinbauern und Handwerker besaBen kein gesellschaftliches und politisches<br />

Gewicht mehr) zumindest bis zum 1. We1tkrieg (also ca. 130 Jahre nach Beginn der<br />

industriellen Revolution) dutch einige zentrale Merkmale bzw. Resultat »struktureller Heterogenitat«<br />

gekennzeichnet war: extreme Ungleichheit def Einkommensverteilung, hoher<br />

Anteil des Luxuskonsums, geringe Bedeutung der industriellen Massenkonsumgiiterproduktion,<br />

hohe absolute Armut und soziale Marginalisierung (traditionelle »Arbeiterkultur«!).<br />

Inwieweit unterscheidet sich nun die nachholende kapitalistische Entwicklung in PreufienlDeutschlandvon<br />

diesem »klassischen« Entwicklungsprofil?61 1m Hinblick auf die oben<br />

genannten Merkmale struktureller Heterogenitat ergeben sich z.T erhebliche Abweichungen,<br />

die allerdings weitgehend mit dem insgesamt hoheren Entwicklungsniveau, abet der<br />

geringeren Wachstumsdynamik Englands zusammenhangen: Die Ungleichheit def Binkommensverteilung<br />

war nach den vorliegenden von Kuznets zusammengestellten groben<br />

Schatzungen von Procopovitch und Mueller fur Preufien und Sachsen deutlich niedtiger,<br />

wenn man den Anteil def oberen 5 % als Indikator vetwendet, oder fast gleich hoch (Anteil<br />

der unteren 60 % als Indikator) wie in England: Sachsen 1896: Anteil der oberen 5 %<br />

am Volkseinkommen 36 %, der oberen 20 % 57 %, def unteren 60 % 26,5 %; Preufien<br />

1896: obere 5 % 27 %, obere 20 % 45 %.62 Der Anteil def Vermogenseinkommen am<br />

Volkseinkommen war allerdings im Deutschen Reich 1895 fast gleich hoch wie in England<br />

(47 %), was sich aus dem hoheren Anteil def Selbstandigen in Deutschland erklart. 63 Die<br />

durchschnitdichen jahrlichen Wachstumsraten der Reallohne 1860/1913 lagen in Deutschland<br />

und Frankreich mit 1,8 % deutlich tiber den Raten Englands (1 %).64 Das durch.<br />

schnittliche Lohnniveau in Deutschland betrug im Vergleich zum englischen 1860 50 %<br />

und stieg dann 1905 auf 65 %, 1913 auf 80 % .65 Die Bruttoinvestitionsrate stieg von<br />

18,9 % 1871/90 auf 23 % und lag damit fast dreimal so hoch wie in England (8,4 %<br />

1900/14).66<br />

Hinter dieser insgesamt dynamischeren Entwicklung im Deutschen Reich verbarg sich aIlerdings<br />

eine ungleichgewichtige Wachstumsstruktur und ein scharfes Produktivitats-, Konzentrations-<br />

und Lohngefalle zwischen den weltmarktorientierten, auf hochstem Niveau<br />

akkumulierenden Sektoren (Montanindustrie, Chemie und Elektrotechnik) und den traditionellen<br />

Produktionszweigen (Landwirtschaft, Textil, Bekleidung), in denen vorkapitalistische<br />

und vorindustrielle Produktionsweisen noch bis zum Ende des 19.<br />

votherrschten.<br />

Die Wachstumsrate def Produktion und der Produktivitat SOWle das Lohnniveau<br />

waren in den modernen Sektoren mehr als doppelt so hoch wie in den traditionellen<br />

Sektoren. 67 Wahrend im modernen Sektor der Anteil def in modernen Industriebetrieben<br />

Zur Kritz'k von Dieter Senghaas 121


Beschaftigten tiber 70 % ausmachte, herrschten in den traditionellen Sektoren noch<br />

Handwerk, Heimarbeit, Manufaktur und landliche Kleinbetriebe vor. Der Anteil de! ttaditionellen<br />

Mittelklassen war daher mit 34 % aIler Beschaftigten 1907 wesentlich hoher als<br />

in England.68 .<br />

Die »duale Akkumulationsstruktur« (Kemp, Spohn) im Deutschen Reich ist narurlich vo!<br />

dem Hintergrund def besonderen Bedingungen nachholender Entwicklung zu sehen. Die<br />

Auflosung feudaler Produktionsverhaltnisse erfolgte zumindest 1m Osten Deutschlands<br />

erst Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem »Modernisierungsdruck« de! englischen Handels-<br />

und de! franzosischen Militarkonkurrenz durch kapitalistische Anpassung: Die rechtlichen<br />

und institutionellen Beschrankungen def kapitalistischen Produktionsweise wurden<br />

beseitigt (btirgerliches Recht, Konstitution des nationalen Wirtschaftsraumes dutch Zollverein<br />

und Reichsgrundung), das Btirgertum aber nach seiner Niederlage 1848 und im Verfassungsstreit<br />

in eine konfliktive Klassenallianz unter def politischen Vorherrschaft des<br />

alten Grundadels, der die oberen Range def staatlichen Btirokratie und des Militars monopolisierte,<br />

gezwungen.69<br />

Der Durchbruch zur kapitalistischen Industrialisierung erfolgte wegen def Freihandelspolitik<br />

def preufiischen Agrarier nicht in def Textilproduktion, sondern erst tiber den Eisenbahnbau<br />

in Verbindung mit der srurmischen Entwicklung def Montanindustrie ab 1850.1°<br />

Innerhalb der folgenden 50 Jahre tiberfltigelte die deutsche Schwer-, Elektro- und Chemieindustrie<br />

den englischen Rivalen in Produktionsbedingungen, Produktivitat und in def<br />

Weltmarktkonkurrenz. Wahrend England auf sein groBes Empire ausweichen konnte, etoberte<br />

Deutschland die kontinental-europaischen Markte. Hintergrund dieses erstaunlichen<br />

Erfolges war die schnelle Anwendung inoderner Produktionsverfahren in GroBbetrieben,<br />

der hohere Grad an Konzentration und Zentralisation des Kapitals und die Investionsfinanzierung<br />

dutch die GroBbanken (»Finanzkapital«).<br />

1m Vergleich zu England wurde wahrscheinlich ein weitaus hoherer Tei! des von den<br />

Grund- und Kapitaleigenrumern angeeigneten Mehrprodukts vor aHem in der Schwerindustrie<br />

und in def Infrastruktur investie'rt: Die deutsche Investitionsrate war 1913 fast dreimal<br />

so hoch wie die englische. Dadurch bedingt stiegen industrielle Beschaftigung und Reallohne<br />

in den industriellen Agglomerationszentren vor aHem ab 1895 schneller als in England,<br />

so daB der Lebensstandard def Lohnarbeiter (1907 ca. 50 % def Bevolkerung) und def<br />

Staatsbediensteten (ca. 8 %) tiber den dtirftigen »Kartoffelstandard« (Abel) def 50erJahre<br />

stieg und den Massenabsatz von industriell gefertigten Schuhen und in Heimarbeit und<br />

Werksfatten gefertigten Konfektionen stimulierte. 71 Andererseits wuchs die dem unmittelbaren<br />

Bedarf dienende Konsumgtiterproduktion wesentlich langsamer als die moderne<br />

Schwerindustrie mit ihrem hohen Grad an Kartellbildung und Zentralisation des Kapitals.<br />

Die seit 1~00 zunehmenden Absatzprobleme def Stahlindustrie wurden im Rahmen der<br />

zunehmend aggressiveren Weltmachtpolitik Wilhelms n. durch den rasanten staatlichen<br />

Flottenbau, den Rtistungswettlauf mit England und die Waren- und Kapitaloffensive in<br />

den si.i.dost- und osteuropaischen Raum »gelost«.72<br />

staatliche Untersrutzung der Schwerindustrie erfolgte im Rahmen de! konservativen<br />

!-'v'm....''"H....'' Herrschaftsformen des wilhelminischen Reiches urn den Preis einer Subventionierung<br />

de! Landwirtschaft (Agrarzolle), in de! 1880 noch 50 % der Beschafcigten tatig<br />

waren. Der Strukturwandel der Landwirtschaft mit ihrem hohen Anteil an Klein- und Mittelbauern<br />

mit geringen und ciner kleinen Junkerschicht mit gro£en Bodenflachen wurde<br />

wesentlich verlangsamt: Bis 1900 herrschte noch die extensive<br />

def landwirt-<br />

122 Thomas Hurtienne


schaftlichen Produktion vor, erst danach die BodeiJ.- und durch<br />

und Einsatz von chemischen Diingemitteln.73 Das gesdlschaftliche<br />

Gewicht vorindustrieller Klassen (Bauern, Handwerker, Gutsbesitzer) erwies skh in def<br />

~'V!H;LC;!l noch als dn betrachtliches Hemmnis fur die der Sozialstrukur<br />

jJU.UU.>'-lllCH Herrschaftsformen<br />

lli


3. Kapitalistische Industrialisierung und strukturelle Heterogenitilt im peripheren<br />

Kapitalismus des 20. Jahrhunderts<br />

Dieskizzenhafte Darstdlung der Entwicklungswege und Entwicklungsprofile von zwei kapitalistischen<br />

Industridandern hat bereits erhebliche Indizien fur die These erbracht, daB<br />

dne kapitalistische Industrialisierung in der Regel tiber lange Zeitraume hinweg mit ungleicher<br />

Einkommensverteilung und Massenarmut konstitutiv verbunden war. Die kapitalistische<br />

Form der BinnenmarkterschlieBung hatte die breite Massennachfrage zwar zur<br />

Grundlage, bezog abet ihre Dynamik eher aus der produktiven (Infrastrukturaufbau, interindustrielle<br />

Nachfrage) und der unproduktiven Konsumtion (Rtistungsgiiter, Luxuskonsum<br />

der Oberklassen und der aus dem Mehrwert bezahlten neuen Mittelklassen). Erst ab<br />

einem bestimmten Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen und def Surplusproduktion<br />

wurde auch der, durch ehef vorindustrielle Muster gepragte, Konsum def<br />

Arbeitermassen in den kapitalistischen ReproduktionsprozeB integriert und dutch die Emwicklung<br />

der industriellen Massenkonsumgiiterproduktion zur breiten Basis weiterer Kapitalakkumulation<br />

gemacht. 79 Die von Senghaas und anderen Autoten def Theorie des peripheren<br />

Kapitalismus diagnostizierten Strukturmerkmale des metropolitanen Kapitalismus<br />

sind daher erst das spate Produkt von tiber 100 Jahren kapitalistischer Industrialisierung<br />

mit konstitutiver struktureller Heterogenitat, deren Merkmale allerdings je nach den historischen<br />

Ausgangsbedingungen und def spezifischen Form des Entwicklungsweges in AusmaE<br />

und Form von Land zu Land divergierten.<br />

Die Probleme, vor denen die Lander def 3. Welt nach dem 2. Weltkrieg bzw. nach ihrer<br />

Dekolonisierung standen, schienen zunachst durchaus mit den allgemeinen Problemen der<br />

Anfangsphasen nachholender kapitalistischer Entwicklung vergleichbar zu sein. Die fur<br />

diese Lander behaupteten allgemeinen Strukturmerkmale des peripheren Kapitalismus<br />

schienen in weiten Bereichen den typischen Merkmalen des langen Uberganges zur kapitalistischen<br />

Industriegesellschaft in den heute entwickelten Industrielandern zu entsprechen<br />

und wurden daher zunachst auch eher als allgemeine Strukturmerkmale der Transformationsperiode<br />

von Agrar- in Industriegesellschaften nicht nur von den Vertretern der nordamerikanischen<br />

Modernisierungstheorien, sondern auch von der Mehrheit der fortschrittlichen<br />

Intelligenz in den betroffenen Landern begriffen. Erst die begrenzten Entwicklungserfolge<br />

def SOe! und 60er Jahre machten deutlich, daB diese allgemeine Transformationsprobleme<br />

dutch die unterschiedlich lange Geschichte der Kolonialisierung und die spezi­<br />

Eschen Formen der kapitalistischen Penetration (abhangige Rohstoffenklaven, von Multinationalen<br />

Konzernen kontrollierte Konsumgiiterindustrien in Wachstumspolen) mit neuen<br />

peripheriespezifischen Problemen nachholender Entwicklung verbunden waren. Die<br />

Theorie des peripheren Kapitalismus und die Dependenztheorie hat daher seit def Mitte<br />

def 60erJahre zu Recht diese peripheriespezifischen Probleme abhangiger Kapitalakkumulation<br />

zum Ausgangspunkt ihrer politisch interessierten theoretischen Reflexion gemacht<br />

und zu einem besseren Verstandnis der Probleme der Unterentwicklung bdgetragen. Das<br />

Problem dieser wichtigen Erklarungsansatze besteht aber darin, daB sie vorschnell den historischen<br />

Ausgangspunkt de! besonderen Bedingungen def Durchsetzung def kapitalistischen<br />

Produktionsweise in Peripherie-Gesellschaften in den ahistorischen Endpunkt dnes<br />

theoretisch geschlossenen Systems peripherkapitalistischer Entwicklung mit eigenem Gesetzescharakter<br />

(dauerhafte strukturelle Heterogenitat) transformiert hat. Was als heuristischer<br />

Ausgangspunkt historischer Analysen wichtig und richtig war und ist, verwandelt sich<br />

124 Thomas Hurtienne


so in eine die Erkenntnis hemmende strukturalistische globale ErkHirungsschablone; die<br />

gezwungenerma£en die hochst unterschiedlichen Entwicklungsprozesse in der 3. Welt auf<br />

allgemeinste gemeinsame Merkmale reduziert. Denn nut auf der oberflachlichsten Ebene<br />

kann man von der Peripherie und dem peripheren Kapitalismus sprechen. Daftir ist die<br />

enorme Differenzierung der historischen Ausgangsbedingungen (weltmarktabhangige<br />

Produktion seit dem 16. Jh. in Lateinamerika und Kolonialisierung Afrikas und Asiens mit<br />

unterschiedlichen vorkapitalistischen Produktionsweisen und hochst unterschiedlichen Penetrationsgraden<br />

kapitalistischer Produktionsweise im 19. Jh.), der sozialokonomischen<br />

Entwicklungsprozesse (Urbanisierung, Form und AusmaB det Agrarentwicklung, Zeitpunkt<br />

und Form def nationalen Unabhangigkeit, Veranderung der Klassenstruktur) und<br />

Entwicklungswege (binnenmarktorientierte yersus exportorientierte Entwicklung) SOWle<br />

des heutigen Entwicklungsniveaus (Brasilien versus Mauretanien) zu groB.<br />

Ohne Anspruch auf Allgemeingu.ltigkeit rur die verschiedenen Landergruppen def 3.<br />

Welt, will ich im folgenden nur kurz auf die geringe Erklarungskraft der expliziten und<br />

impliziten Annahmen der Theorie des peripheren Kapitalismus rur die binnenmarktorientierten<br />

Flachenstaaten def 3. Welt, die man heute auch als halbindustrialisierte Lander bezeichnen<br />

konnte, eingehen. 80 Ich werde mich dabei auf Brasilien als paradigmatischem<br />

Land rur diese Liindergruppe beziehen, nicht nur, weil ich seitJahren uber dieses Land arbeite,<br />

sondern auch deshalb, weil Senghaas gerade am Beispiel dieses Extremfalles »relativ<br />

differenzierter Produktivkraftentfaltung an de! Spitze de! 3. Welt« die Dauerhaftigkeit typischer<br />

Merkmale von Peripherie-Okonomien und die strukturelle Unmoglichkeit autozentrierter<br />

kapitalistischer Entwicklung meint schlussig nachweisen zu konnen. 81<br />

Unstrittig ist dabei zunachst, daB die brasilianische Gesellschaft und Wirtschaft ills Produkt<br />

eines 1m 16. Jahrhundert einsetzenden Penetrationsprozesses dutch sich ablosende<br />

Metropolen (Portugal, Holland, England) von Anfang an dutch einen extrem hohen Grad<br />

def Integration in die von den Metropolen beherrschte internationale Arbeitsteilung gekennzeichnet<br />

war. Die brasilianische Gesellschaft entstand als abhangige Kolonialgesellschaft,<br />

deren regionale EXpoftokonomien sich im Verlauf von klassischen Exportzyklen<br />

(erst Zucker, dann Gold und nach def Unabhangigkeit im 19. Jahrhundert Kaffee, Kakao<br />

und Gummi) als relativ eigenstandige Regionen mit jeweils spezifischen Sozial- und Klassenstrukturen<br />

in einem langen historischen ProzeB herausbildeten. 82<br />

Die brasilianische Gesellschaft steHte daher zunachst nicht mehr als eine Konfoderation regionaler<br />

Gesellschaften dar, deren Zusammenhang durch die konfliktive Allianz def regionalen<br />

Agraroligarchien auf def Ebene des politisch schwachen Bundesstaates eher politisch<br />

als okonomisch vermitte1t war.<br />

Wahrend die AgraroHgarchien des Nordostens, des Sudens und des Zentrums den noch<br />

weitgehend vorkapitalistischen Charakter der Produktionsverhaltnisse auch nach der Abschaffung<br />

def Skaverei 1886 konservieren konnten, kam es seit 1880 in der Sao Paulo-Region<br />

zu de! raschen Durchsetzung eines auf freier Lohnarbeit italienischer Einwanderer beruhenden<br />

Agrarkapitalismus, der diese Region bald zum groBten Kaffeeproduzenten der<br />

Welt werden lieB. Trotzdem entwickelte sich keine reine Monokultur-Exportwirtschaft,<br />

sondern ganz im Gegenteil - ahnlich wie in anderen weillen Siedlungskolonien - eine autozentrierte<br />

regionale Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur. 83<br />

Die hohe Wachstumsdynamik def Kaffeewirtschaft induzierte nicht nut den forcierten<br />

Aufbau dner relativ differenzierten regionalen Infrastruktur (Eisenbahn, StraBen, »elektrische<br />

Energie«) durch die einheimische Kaffeebourgeoisie, sondern ebenso die dynamische<br />

Zur Kritik von Dieter Senghaas 125


l'tWl!':klut1lg einer diversifiziertefi und verflocbtenen binnenmarktorientierten Landwittin<br />

der kleine Warenproduzenten mit - im nationalen Vergleich - hoher Produktiviaile<br />

regional benotigten Agrarprodukte auf den fur den Kaffeeanbau nicht mehr<br />

llilllnellden Boden produzierten. Dadurch wurde die Versorgung der neuen Lohnarbeiter­<br />

.·~Qln,tljlgente und der stadtischen Mittelklassen mit relativ billigen Nahrungsmitteln (Boh­<br />

Mais, Kartoffeln, Fleisch) sichergestellt, wahrend die Lebensmittelimporte Sao<br />

nur Produkte des gehobenen Oberschichtenkonsums (Kase, Butter, Weine, Oliven~<br />

Frankreich) umfaBten. Zwischen 1901! 1906 und 1925/30 wuchs nicht nur die Nahrung:smittc:lp,rocluk:ticln<br />

Sao Paulos im Durchschnitt mehr als dreimal so. schnell wie die<br />

sondern ebenso' schnell expandierte auch die regionale Produktion<br />

iag:(ariscliler Rohstoffe fur die Industrie (Baumwolle, Jute, Zucker, pflanzliche Ole etc.), was<br />

rapiden Verdrangung der Importe aus anderen brasilianischen Regionen fUhrte. 84<br />

der Grundlage dieser dynamischen breitgefacherten Agrarentwicklung entstanden in<br />

gleichen Zeitraum stadtische Konsumgiiter-, aber auch Produktionsgiiterindustrien,<br />

wegen des Fehlens eines einheimischen Handwerks von vornherein mit modernster<br />

. (Elektromotor) als relativ 'groBe Fabriken (Textil, Papier, Zement, Eisen,<br />

.S,·bii'th'l11 Bra,uerei) oder relativ moderne Kleinbetriebe (Mobel, Nahrungsmittel, Schuhe)<br />

;,',Ientsta,llldc:n und bereits 1913 zur weitgehenden Selbstversorgung der Region mit den wich­<br />

Konsumgiitern fUhrten. 85 Die Kaffeebourgeoisie behinderte diese Entwicklung kei­<br />

'n;esWegs, sie war vielmehr fiber die Errichtung erster regionaler Banken und vor allem in<br />

den Phasen niedriger Kaffeepreise z.T. direkt an der Finanzierung dieser ersten regionalen<br />

Industrialisierungsphase beteiligt. Wichtig fur das Verstandnis dieser dynamischen kapita­<br />

'Iistischen Entwicklung in der Hauptexportregion Brasiliens ist natiirlich die simple Tatsa-<br />

I daB die Sao Paulo-Region weitgehend eine Einwanderungsregion war: fast aIle Vnternehmer,<br />

Handwerker, Handler und 90 % det Industriearbeiter waren Einwanderer (zu<br />

80 % Italiener), die Sao Paulo mit ihrem importierten know how schnell zu einem'Klein­<br />

Norditalien machten. Ebenso wie in Italien die norditalienische kapitalistische Entwick-<br />

Zeit durch die agtarische Rfickstandigkeit des Sfidens verzogert wurde, blieb<br />

die Dynamik det agrar- und industriekapitalistischen Entwicklung Sao Paulos auf eine<br />

L"IS,vU,,"J'" Entwicklung beschrankt. Die fehlende infrastrukturelle Verbindung zwischen<br />

den regionalen Okonomien, die erst nach 1950 beseitigt wurde, war sicherlich ein Grund<br />

fur diese Entwicklung. Entscheidender abet war die Konservierung vorkapitalistischer oder<br />

zumindest archaischer Produktionsverhaltnisse durch die traditionellen Grundeigentiimer-<br />

\ 'klassen des Nordostens, des Zentrums und des Sfidens (Latifundium/Minifundium-Komdie<br />

auf die Verdrangung ihrer regionalen Exportprodukte yom dynamisch wachsen­<br />

Sao Paulo-Markt nicht oder nur partiell durch kapitalistische Modernisierung reagier­<br />

, ten.Wenn die Kaffeebourgeoisie Sao Paulos vor 1930 wirklich - wie Senghaas und einige<br />

brasilianische Autoren meinen - fiber die absolute Hegemonie im Staatsapparat und in der<br />

braSilianischen Gesellschaft verfUgt hatte, ware die Dynamik der Kapitalakkumulation si-<br />

, cherlich nicht regional beschr~nkt geblieben. Angesichts der Festigkeit der regionalen Sozialstrukturen,<br />

der fehlenden interregionalen Infrastruktur und der bedeutenden politischen<br />

und militarischen Macht der traditionellen Agraroligarchien (die hohen Militars kaaus<br />

dem Sfiden und aus Minas Gerais), muBte sith die Kaffeebourgeoisie Sao Paulos<br />

auf das konfliktive Bfindnis mit diesen Klassen auf bundesstaatlicher Ebene einlassen, urn<br />

ihren wirtschaftspolitischen Interessen auch in der nationalen AuBenwirtschaftspolitik Geltung<br />

zu verschaffen. Das fur die gesamtbrasilianische Entwicklung verheerende Res]Jltat<br />

Thomas Hurtienne


dieses Klassenkompromisses, war diefelativ dauerhafte Blockierung. def ursprunglichen<br />

Akkumulation aufierhalb def Sao Paulo-Region und vor aHem im Hinterland def Region.alokonomien.<br />

Die Hauptursache der regionalen Unterentwicklung war daher m.E. fiicht -<br />

wie Senghaas und Frank meinen - def zu hohe, sondern eher der zu niedtige Grad def »internen<br />

Kolonisation« durch die dominante Sao Paulo-Industtie, die im krassen Gegensarz<br />

zu den Thesen def Theorie des peripheren Kapitalismus zu keiner Zeit vor 1950 in wirklich<br />

relevantem Umfang auf die Krucken nichtkapitalistischer Produktionsweisen (billige Nahrungsmitte1,<br />

Arbeitskrafte und Werttransfer aus dem traditionellen Sektor) zur Beschleunigung<br />

ihref Kapitalakkumulation angewiesen war.86 Erst der Aufbau einer interregiona,<br />

len Infrastruktur ab 1952 schuf die Grundlage fur die Herausbildung eines nationalen Binnenmarktes<br />

fur die expandierende Industrie Sao Paulos, was im bevolkerungsreichen Nordosten<br />

zum Ruin def unproduktiven Manufaktuten, zur Modernisierung der Zuckerplantagenwirtschaft<br />

(Ausweitung des Lohnarbeitsverhaltnisses ab 1955) und zur massenhaften<br />

Abwanderung freigesetzter Arbeitskraft in den Sudosten fuhrte.<br />

Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts schrittweise voranschreitende regionale Industrialisierung<br />

wurde durch die tiefe Krise der Kaffeeexportwirtschaft seit def Weltwirtschaftskrise<br />

1929/32 enorm beschleunigt. Die Industrieproduktion wuchs 1933/39 urn 11,3 % jahrlich,<br />

verlangsamte sich abet in den Kriegsjahren 1939/45 auf 5,4 %, da Kapitalgilter nut<br />

noch begrenzt importierbar waren und die interne Produktionsmittelproduktion technologisch<br />

ruckstandig bliebY Die Versuche des populistischen Vargas-Regimes, dutch den<br />

Aufbau einer eigenen modernen integrierten Stahlindusirie dafur eine bess ere Grundlage<br />

zu schaffen, verzogerte sich auf Grund des Desinteresses nordamerikanischer Stahlkonzer~<br />

ne und des erst nach langen Verhandlungen mit den USA erreichten Abkommens uber die<br />

Lieferung def Maschinen und des know hows fur das staatliche Projekt Volta Redonda, das<br />

als erstes vollintegriertes Stahlwerk Lateinamerikas erst 1946 seine Produktion begann. 88<br />

Das die Entwicklung einer staatlichen Schwerindustrie in den Mittelpunkt stellende nationakapitalistische<br />

Entwicklungsprojekt von Vargas wurde allerdings nur von fuhrenden nationalistischen<br />

Militars und Teilen der staatlichen Technokratie als staatskapitalistischer<br />

Entwicklungsweg a laJapan untersrutzt, von def Mehrheit def Agraroligarchien, det konsumorientierten<br />

stadtischen Mittelklassen und importabhangigen Industriellen Sao Paulos<br />

abet als autoritarer Staatskapitalismus a la Hitlerdeutschland vehement bekampft.89 Die<br />

Wiederherstellung des kapitalistischen Weltmarktes und der politischen Demokratien in<br />

Westeuropa nach 1945 ermunterte diese Koalition, Vargas 1945 zu stiirzen und Brasilien<br />

unter def Fahne def liberalen Demokratie und des frden Unternehmertums wieder in den<br />

neu belebten Weltmarkt zu reintegrieren. FUr die weitere Entwicklung entscheidend war,<br />

daB in dem auch weiter anhaltenden Kampf zwischen autoritar-staatlichen Nationalkapitalisten<br />

und liberal-kapitalistischen Kosmopoliten die ersteren in def zweiten Regierungszeit<br />

von Vargas 1950/54 zwar vorubergehend dominierten (Nationalisierung der Erdolindustrle,<br />

forcierter Ausbau der staatlichen Stahlindustrien), das danach unter Kubitschek formulierte<br />

Entwicklungsprogramm aber beide Tendenzen zu einer proindustriellen Klassen.<br />

allianz verband.90 Dutch massive staatliche Investitionen in die Infrastruktur und die<br />

Grundstoffindustrien soUte das kapitalistische Wachstum vot aHem durch den Aufbau einer<br />

eigenen Automobilindustrie mit ihren hohen potentiellen Verkettungseffekten nach<br />

nordamerikanischem Vorbild beschleunigt werden. Davon erhoffte man sich die schnelle<br />

Reproduktion der »nordamerikanischen Massenkonsumgesellschaft« mit Hilfe def Dbertragung<br />

def Produkt- und Prozefiinnovationen def hochindustrialisierten Zentren durch die<br />

Zur Kritik von Dieter Senghaas 127


Filialen de! multinationalen Konzerne. Tatsachlich wurde in kurzer Frist in Brasilien eine<br />

Industrie- und Infrastruktur aufgebaut, die dutch ihre Orientierung an den Konsum- und<br />

Produktionsmustern de! USA zu graBen Belastungen def sozialen und politischen Entwicklung<br />

fUhren muBte. Die Funktion def Militardiktatur ab 1964 war es, die Anpassung def<br />

Distributionsverhaltnisse an die neue Produktionsstruktur zu gewahrleisten: DeI Markt fUr<br />

hochwertige Konsumgftter wurde zunachst dutch eine Politik def Einkommenskonzentration<br />

erweitert, allerdings nicht - wie Senghaas meint - nur fUr die oberen 1 - 5 %, sondern<br />

fUr die oberen 20 % def Bevolkerung (d.h. 40 % def stadtischen Bevolkerung).91 Die in<br />

den Wirtschaftswunderjahren 1969/73 erreichte enorme Beschleunigung der Kapitalakkumulation<br />

Qeruhteallerdings nicht nur auf dem dynamischen Wachstum def dauerhaften<br />

Konsumgftterindustrien, sondern ab 1972 zunehmend auf dem dadurch induzierten<br />

Wachstum def Kapitalgftterindustrien. Auch nach dem Abflachen def Wachstumsraten ab<br />

1974 setzte sich zunachst das Wachstum der Kapitalgftterindustrien fort - und wurde sogar<br />

durch ein umfangreiches staatliches Programm zum Aufbau einer integrierten Schwerindustrie<br />

durch gigantische staatliche Investitionen in Schwerpunktbereichen enorm beschleunigt.<br />

Ais Resultat dieser besonderen Verlaufsform nachholender kapitalistischer Industrialisie··<br />

rung weist dieser auf das Dreieck Sao Paulo - Belo Horizonte - Rio konzentrierte groBte Industriekomplex<br />

def 3. Welt bereits heute eine durch die Input-Output-Matrix meBbare<br />

Dichte def intra- und intersektorialen Verflechtungen auf, die in keiner Weise den meisten<br />

entwickelten kapitalistischen Industrielandern nachsteht. 92 Dies wird auch von Senghaas<br />

konzediert, aber mit der Betonung auf »starker Koharenz im Wachstumspol« ohne "Umstrukturierung<br />

zugunsten eines zu entfaltenden dichten Binnenmarktes.«93 Nun kann aber<br />

trotz aUef Emporung uber die gerade in Brasilien besonders krasse Einkommensungleichheit<br />

m.E. nicht geleugnet werden, daB sich zumindest im oben genannten Agglomerationsdreieck<br />

sich sehr wohl ein dynamischer, dichter und breiter Binnenmarkt entfaltet<br />

hat:<br />

AIle einschlagigen Untersuchungen uber die Verbreitung dauerhafter Konsumgftter kommen<br />

zu dem, die Theoretiker des peripheren Kapitalismus sicherlich uberraschenden Ergebnis,<br />

daB sich diese Guter Hingst in stadtische Massenkonsumartikel verwandelt haben.<br />

Nach einer unverdachtigen reprasentativen Gewerkschaftsuntersuchung lag der Verbreitungsgrad<br />

von dauerhaften Konsumgfttern bel Arbeiterfamilien in Sao Paulo (bis auf das<br />

Auto) bereits 1970 bei Werten, die def Bundesrepublik 1962 entsprechen: Radio 87 %,<br />

TV 75 %, Nahmaschine 72 %, Kuhlschrank 60 %, Waschmaschine 17 %, Auto 15 % .94<br />

Nach 1970 haben sich diese Werte nach den vielfaltigen Haushaltsbudgetuntersuchungen<br />

der letzten Jahre sogar noch erheblich erhoht. Die Revolutionierung def Konsumstruktur<br />

der stadtischen Lohnabhangigen ist damit langst zu einer unbestreitbaren Tatsache geworden.<br />

Ob es einem gefallt oder nicht, die abhangige Kapitalakkumulation Brasiliens hat -<br />

wenn auch mit zeitlicher Verz6gerung - sehr wohl zu einem Reproduktionsniveau def stadtischen<br />

Lohnabhangigen geruhn, das im Ganzen gesehen wesentlich uber dem Reproduktionsniveau<br />

def Industriearbeiter Englands um 1900 liegen diirfte. Das diese statistische<br />

Tatsache von den Betroffenen berechtigterweise namrlich nlcht so gesehen wird, liegt auf<br />

def Hand: Der stadtische Arbeiter vergleicht sein reales Lebensniveau namrlich nicht mit<br />

den miserablen Lebensbedingungen des 19. Jahrhunderts, sondern mit den unter heutigen<br />

Produktionsbedingungen moglichen und dutch Werbung und Fernsehen propagierten<br />

Konsumnormen (»Mittelklasse-Lebenswelt« def brasilianischen Tele-Novelas). Und er ver-<br />

128 Thomas Hurtienne


gillt auch nicht, daB er an Nahrung, Kleidung und Gesundheit sparen muB, um die fur<br />

seine tagliche Reproduktion als notwendig erachteten Guter zu erwerben (Verkiirzung de!<br />

langen Anfahrtzeiten in 10 Millionen-Stadte wie Sao Paulo dutch das eigene Auto, Technisierung<br />

des Haushaltes, um Frauenarbeit zur Aufbesserung des Familieneinkommens maglich<br />

zu machen). Er vergillt auch nicht, daB sein intensiver 12-srundiger Arbeitstag am<br />

FlieBband hoch produktiv ist und einen raschen VerschleiB seiner Arbeitskraft bedeutet.<br />

De! Kampf um hahere Reallohne (ode! zumindest einen Inflationsausgleich) in den letzten<br />

Streikbewegungen gewinnt daher seine Dynamik.<br />

Fur die wissenschaftlich-politische Diskussion um die Moglichkeit oder Unmoglichkeit dY-A<br />

namische Kapitalakkumulation mit breiter BinnenmarkterschlieBung bleibt festzuhalten,<br />

daB unter den sicherlich extem giinstigen Bedingungen Brasiliens zentrale Annahmen der<br />

Theorie des peripheren Kapitalismus in ihrer Allgemeinheit nicht mehr zu halten ist.<br />

Aber beschrankt sich die oben skizzierte Entwicklung nicht nut auf die dynamischen<br />

Wachsrumspole im Dreieck Sao Paulo, Belo Horizonte und Rio? Ohne hier im einzelnen<br />

den an anderer Stelle von mif ausfuhrlich dokumentierten empirischen Nachweis zu fuhren,<br />

bin ich auf Grund umfangreicher Arbeiten zu dem Resultat gekommen, daB dem<br />

nlcht so ist:<br />

Die Dynamik def brasilianischen Kapitalakkumulation hat schon langst auf sekundare<br />

Wachstumspole im Nordosten und Siiden iibergegriffen und zeitigt auch seine, wenn auch<br />

erheblich verzogerten, »Durchsickereffekte« auf das agrarische Hinterland. Dies kann mit<br />

den Daten def Haushaltsuntersuchungen und Volkszahlungen konkret nachgewiesen werden.<br />

Die Expansion des Lohnarbeitsverhaltnisses beschrankt sich nicht meh! nur auf die<br />

stadtischen Zentren (die Sozialstruktur des Staates Sao Paulo entspricht mit fast 80 %<br />

Lohnabhangigen langst in etwa Italien), sondem durchdringt seit 1970 auch zunehmend -<br />

se!bst im besonders ruckstandigen Nordosten - das landliche Hinterland.95 Das durch diese<br />

verspatete kapitalistische Umgestaltung def Landwirtschaft narurlich die Probleme des<br />

Massenelends und der strukturellen Arbeitslosigkeit vor aHem im Nordosten zunachst ehef<br />

verscharft werden, haben die letzten Hungerkatastrophen in dieser Region gezeigt. Trotzdem<br />

muB festgestellt werden, daB die regionalen Unterschiede langst nicht mehr so dramatisch<br />

wie in den 50er und 60erJahren zunehmen (die unteren - im wesentlichen landlichen<br />

- Einkommensschichten konnten ihr Pro-Kopf-Einkommen sogar von einem allerdings<br />

niedrigeren Niveau schneller erhOhen als die stadtischen Arbeiter) und die absoluten Dif­<br />

Jerenzen sich kaum von PreuBen/Deutschland um 1900 ode! China 1970 unterscheiden.<br />

Auch die von Senghaas besonders betonte Vermaschung zwischen Landwirtschaft und Industrie<br />

ist in Brasilien weiter fortgeschritten als in viden anderen Entwicklungslandem:<br />

1970/76 wuchs die landwirtschaftliche Produktion fur den Export um 9 % und diejenige<br />

fur den Binnenmarkt immer noch um 3,3 %. Das Pro-Kopf-Wachstum der Nahrungsmitte!produktion<br />

liegt damit bei 0,6 % (ein immer noch viel zu geringer Wert, aber gleich<br />

hoch wie z.B. das chinesische agrarische Pro-Kopf-Produkt-Wachstum1952 I 1974).96 Und<br />

trotzdem: die extreme Ungleichheit def Lebens- und Beschaftigungschancen, der realen<br />

Bildungsmoglichkeiten und des effektiven Zuganges zum staatlichen Gesundheitssystem<br />

bleiben eip konstitutives Merkmal dynamischer Kapitalakkumulation unter den gegenwartigen<br />

Bedingungen des Weltmarktes und des politischen Systems in Brasilien. Aber simplifizierende<br />

Vorstellungen iiber die widerspruchliche Entwicklungsdynamik nachholender<br />

kapitalistischer Entwicklung in halbindustrialisierten Landem wie Brasilien miissen in def<br />

wissenschaftlich-politischen Diskussl0n endlich beiseite geraumt werden, nicht um die<br />

Zur Kritik von Dieter Senghaas 129


Entwicklungserfolge kapitalistischer Entwicklung zu feiern, sondern urn die wirklichen WidersprUche<br />

des realen Alltagslebens def brasilianischen Arbeiter und Bauern zum Ausgangspunkt<br />

wissenschaftlichet und politischer Arbeit machen zu konnen.97 Dabei wird<br />

natilrlich die Frage ill Mittelpunkt stehen mussen, ob es einem von multinationalen Konzernen<br />

in Schlusselsektoren beherrschten und an den Konsummustern der kapitalistiscl:;ten Industrielander<br />

orientierten abhangigen KapitalakkumulationsprozeB Uberhaupt gelingen<br />

kann, Uber den Ausbau def Produktionsmittelabteilung und die Modernisiemng des<br />

Agrarsektors die Gmndlage fur eine autozentrierte kapitalistische Entwicklung neuen Typs<br />

zu legen.<br />

Brasilien ist abet keineswegs mit def 3. Welt identisch, und sogar nur begrenzt reprasentativ<br />

fur die wenigen halbindustrialisierten Lander def 3. Welt: 1966/75 betrug der Anteil<br />

Brasiliens an def industriellen Produktionskapazitat in der 3. Welt 24 %, gefolgt von Mexiko<br />

10,7 %, Argentinien 9,4 %, Sud-Korea 8,2 %, Indien 5,9 %, TUrkei 5 %, Iran<br />

2,9 %, Indonesien 2,5 % (d.h. auf diese acht Lander zusammen enfielen 68,5 %! ).98 flit<br />

die Mehrheit def Entwicklungslander ist es also mehr als zweifelhaft, ob sie im Rahmen<br />

we1tmarktbestimmter kapitalistischer Entwicklungslogik auch nUf ein MindestmaB def notwendigen<br />

okonomischen und sozialen Grundleistungen fur die Mehrheit der Bevolkerung<br />

werden erbringen konnen, urn soziale und politische Katastrophen zu vermeiden.<br />

Aus der Perspektive dieser Lander gesehen besitzt die Theorie des peripheren Kapitalismus<br />

und det autozentrierten Entwicklung zunachst eine groBere Re1evanz fur die Diskussion<br />

urn die Moglichkeiten und Bedingungen eines eigenstandigen nichtkapitalistischen Entwicklungsweges.<br />

In meinem Verstandnis allerdings gilt diese AU$sage nUf als Ausgangspunkt<br />

def systematischen Beschreib'ung der mit den besonderen Bedingungen der Durchsetzung<br />

kapitalistischer Produktionsverhaltnisse verbundenen allgemeinen peripheriespezifischen<br />

Strukturprobleme, die je nach historischen Ausgangsbedingungen und erreichten<br />

Entwicklungsniveaus nach Landergruppen zu diffei:enzieren waren. Gerade an so1chen<br />

lwmparativen Analysen fehlt es abet weitgehend.<br />

Die von Senghaas inspirierten Fallstudien uber sozialistische Entwicklungslander dokumentieren<br />

allerdings auf pragnante Weise die enorme Bedeutung def unterschiedlichen historischen<br />

Ausgangsbedingungen fur die konkreten autozentrierten Entwicklungswege.<br />

Wie ich in einem anderen Beitrag durch dne vergleichende Analyse vefsucht habe aufzuileigen,<br />

ergibt sich aus diesen Fallstudien eine weitgehende Modifikation der in den ersten<br />

Arbeiten von Senghaas formulierten idealtypischen Bedingungen autozentrierter Entwicklung:<br />

die Abkoppelung von def internationalen Arbeitsteilung (auch innerhalb def sozialistischen<br />

Landergruppe) ist danach ebensowenig als Konigsweg eigenstandiger Entwicklung<br />

anzusehen wie def am sowjetischen Entwicklungsmodell der Stalinzeit orientierte Aufbau<br />

einer kompletten Produktionsmittelabteilung.99 Beide Bedingungen wurden aber noch<br />

1979 von Senghaas unter Berufung auf die Entwicklungserfahrungen des kleinen Nordkorea<br />

und die Listsche Theorie def produktiven Krafte als unerlaBliche Lernkosten autozentrierter<br />

Entwicklung darstellt. lOO Erst die von Fabian 1980 abgeschlossene Fallsrudie uber<br />

Kuba brachte offensichdich auch Senghaas zu def Einsicht, daB ein geschlossenes Modell<br />

gleichgewichtiger Akkumulation den konkreten Ausgangsbedingungen dner kleinen peripheren<br />

Exportokonomie mit entwickelten komparativen Vorteilen bei einem Exportprodukt<br />

durchaus unangemessen sein kann. Wie auch Senghaas richtig vermerkt, wiederholt<br />

der kubanische Entwicklungsweg einer exportgetriebenen Agroindustrialisierung mit konzentrischer<br />

internet Diversifizierung eher die historische Erfahrung kleiner westeuropai-<br />

130 Thomas Hurtienne


scher Expottokonomien und englischer Siedlungskolonien (Neuseeland, Australien): d­<br />

genstandige Entwicklung war auch bei hoher Exportabhangigkeit und zunachst unvollstandiger<br />

Industriestruktur durch eine Konzentration auf die dynamischen komparativen Vorteile<br />

agrarischer Exportsektoren moglich, die bei relativ egalitarer Einkommensvertdlung<br />

und nichtoligarischen Agrarstrukturen die Grundlage rur eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung<br />

legten. lOl Das Grundproblem nachholender eigenstandiger Entwicklung entfernt<br />

sich damit erheblich yom ursprunglichen typologischen Erklarungsansatz: nicht die Abkoppelung<br />

vom Weltmarkt und die Errichtung kompletter interner Wirtschaftskreislaufe,<br />

sondern die Sozialsttuktur 1m Agrarsektor und der Entwicklungsgrad des Bildungssystems<br />

ist entscheidend damr, wie »in kritischen Entwicklungsphasen entwicklungspolitische Entscheidungsprozesse<br />

in unterschiedliche spezifische Richtungen« kanalisiert werden. lo2 Damit<br />

lost sich auch ein in def Senghaasschen Argumentationsweise von Anfang an bestehendes<br />

Spannungsverhaltnis zunehmend auf: die rein okonomischen Argumentationsstrange<br />

treten zunehmend hinter def ehe! modemisierungstheoretischen Thematisierung sozialstruktureller<br />

und vot aHem sozialkultureller Voraussetzungen und Dimensionen nachholender<br />

Entwicklungsprozesse (nationale Identitat, kulturelle Autonomie, Selbststeuerungsfahigkeit,<br />

Lernkapazitat), die in viden okonomistisch verrurzten Analysen gerade auch<br />

marxistischer Autoren oft nut eine sekundare Rolle spielen, zuruck.<br />

Diese bei Senghaas und Menzel in ihren letzten Arbeiten vollzogene historische Relativie·<br />

rung def globalen Theorie def autozentrierten Entwicklung vetweist m.E. aber auch aufdie<br />

Notwendigkeit, in gleicher Weise auch die globale Theorie des peripheren Kapitalismus<br />

zur Disposition zu stellen. Eine Konsequenz, die von diesen Autoren noch nicht vollzogen<br />

wurde, obwohl die kapitalistischen Entwicklungsprozesse in den Landem def 3. Welt<br />

ebenso wie die autozentrierten Entwicklungsprozesse erheblich von ihrem ursprunglichen<br />

idealtypischen Modell abweichen. Die groBen Unterschiede in den historischen Ausgangsbedingungen,<br />

den erreichten Entwicklungsniveaus und den konkreten Entwicklungswegen<br />

in den verschiedenen Llindergruppen def 3. Welt zu verkennen, ruh!t und verruhrt aber<br />

nut - wie ich versucht habe darzustellen - allzuleicht zu einem von Widerspruchen entlastenden<br />

Wunschdenken in polaren Dichotomien, dutch deren grobes Raster groBe Teile<br />

der heutigen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Entwicklungslander hindurchfallen<br />

und daher in ihrer widerspruchlichen Entwicklungsdynamik nicht mehr begreifbar wer·<br />

den. Zukunftige entwicklungstheoretische Arbeiten durfen aber nicht von Wunschttaumen<br />

und bequemen Typologien leben, wollen sie nieht die konkreten Widerspruche komplexer<br />

Entwicklungsprozesse verfehlen. Das Zusammenbrechen globaler Erklarungsansatze,<br />

die die konkrete Geschichte ganzer Gesellschaften in das Korsett von zwei geschlossenen<br />

Systemen mit eigenem Gesetzescharakter ptessen und Widerspruche nm zwischen diesen<br />

beiden idealtypischen Systemen<br />

bedeutet rur die entwicklungspolitische<br />

Diskussion einen sicherlich frustrierenden, dam! aber umso<br />

ProzeB, der<br />

nicht hinausgeschoben werden soUte.<br />

Zur Kritik von Dieter .1''''''0''''" 131


Als Uberblick uber die Dependenztheorien vgl. Tilman Evers/P.von Wogau, »Dependencia«: lateinamerikanische<br />

Beilrage zur Theorie der Unterentwicklung, in: Das Argument79,Juli 1973, S.<br />

404 - 454; Thomas Hurtienne, Zur Ideofogiekritik der lateinamerikanischen Theorien der Unlerentwicklung<br />

und Abhangigkeit, in: PROKLA 14/15, 1974, S. 213 - 283. Zm Theorie des peripheren<br />

Kapitalismus vgL Samir Amin, Die ungleiche Entwicklung, Hamburg 1975.<br />

2 Ulrich Menzel, Theorie und Praxis des chinesischen Entwicklungsmodefls, Opladen 1978; Gerd<br />

Wonrroba/Ulrich Menzel, Stagnation und Unterentwicklung in Korea, Meisehheim 1978; RosemarieJuttka-Reisse,<br />

Agrarpolitik und Kimilsungismus in der Demokratischen Volksrepublik Korea,<br />

Meisenheim 1979; Wolfgang RuE, Der Entwicklungsweg Albaniens, Meisenheim 1979.<br />

3 Hors.t Fabian, Der kubanische Entwicklungsweg, Di5s., Dortmund 1980.<br />

4 Thomas Hmtienne, Zur Ideologiekritik ... s. Anm. (1).<br />

Vgl. meinen Artikel »Autozentrierte Entwicklung im 20. Jahrhundert: Sozialismus als entwicklungspolitische<br />

Alternative«, def Ende 1981 in: Friedensanalysen 15, erscheint.<br />

6 Zm Kritik an Senghaas vgl. Rainer Schweers I Mohammed Massarat, Weltwirtschaftsordnung und<br />

Dritte Welt, in: Berliner Hefte, Februar 1979, S. 38 - 46; Hans-Jurgen Harborth, Dissoziationmit<br />

welchem Ziel?, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Heft 7/8, 1977; S. 17 - 18.<br />

7 Vgl. Thomas Hurtienne, Staat und indus/Tie/Ie Kapitalakkumulation in halbindustrialisierten<br />

Liindern. Der Fall Brasilien., Diss., 1981, sowie meinen Artikel Zur Ideologiekritik ... (s. Anm.<br />

(1».<br />

8 Dieter Senghaas, Elemente einer Theorie des peripheren Kapitalismus, in: Senghaas (Hrsg.), Peripherer<br />

Kapitalismus, Frankfurt 1974; ders., Struktur:elle Abhangigkeit und Unterentwicklung. Einige<br />

einfiihrende Oberlegungen, in: Basam Tibi/Volkhard Brandes (Hrsg.), Handbuch 2: Unterentwickfung,<br />

Frankfurt 1975, S. 120 - 138; defs., Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik,<br />

Frankfurt 1977, Kap. 1 und 5; ders., Dissoziation und autozentrierte Entwicklung, in; defs.<br />

(Hrsg.), Kapitalistische WeitOkonomie, Frankfurt 1979, S. 376 - 412; Dieter Senghaas/Ulrich<br />

Menzel, Autozentrierte Entwicklung trotz internaliona/em Kompetenzgefalle, in: Senghaas<br />

(Hrsg.), Kapitalistische Weltokonomie, Frankfurt 1979, S. 280 - 316.<br />

9 Vgl. die reprasentative Zusammenstellung in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des soziafen<br />

Wandels, Kaln 1969. Als kritische Aufarbeitungen s. Peter Flora, Modernisierungsforschung,<br />

Opladen 1974; Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Gattingen 1975;<br />

Anthony D. Smith, The concept of social change, London 1973.<br />

10 Senghaas/Menzel, Autozentrierte Entwicklung ... s. Anm. (8), S. 280.<br />

11 ebenda, S. 308, FuBnote 3 und S. 298, 30l.<br />

12 Ais Beispiel fur den in fast allen Arbeiten erfolgenden Hinweis aufK.W. Deutsch vgl. ebenda, S.<br />

306.<br />

13 Vgl. Karl W. Deutsch, Politische Kybernetik, Freiburg 1969, Teil II! und Dieter Senghaas, Sozialkybernetik<br />

und Herrschaft, in; Claus Koch/D. Senghaas (Hrsg.), Texte zur Technokratiediskussian,<br />

Frankfurt 1970, S. 196 - 217. .<br />

14 Als immer noch lesenswerten Uberblick iiber die Almond-Schule vgl. Wolf-Dieter Narr, Theoriebegriffe<br />

und Systemtheorie, Stuttgart 1969, S. 131 ff. und neuerdingsJurgen Hartmann, Vergleichende<br />

politische Systemforschung, Koln 1980; von den zahlreichen Arbeiten von O'Donnells sei<br />

hier nur auf das relative fruhe Werk Guillermo O'Donnell, Modernizacion y autoritarismo, Buenos<br />

Aires 1972, verwiesen.<br />

15 Vgl. die reprasentativen Texte von Zapf (Hrsg.), s. Anm. (9), und die Diskussion der Konzepte<br />

»Identitat«, »Autonomie«, etc. bei Narr s. Anm. (14).<br />

16 Talcott .. Parsons, Das System moderner Gesellschaften, Munchen 1972.<br />

17 Fur cine ausfiihrliche Kritik vgl. meine Arbeit s. Anm.(7).<br />

132 Thomas Hurtienne


18 Dieter Senghaas, Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik; Frankfurt 1977, S. 69 und ),<br />

K.W. Deutsch/D. Senghaas: Aframeworkforfl theory of war and peace, in: Alb6rtLepawskyu.a.<br />

(Hrsg.), The search for world order, New York 1971, S. 23 -"46.<br />

19 Dieter Senghaas, Wittfogel redivivus, in: Leviathan, 1/80, S. l39, immerhin nur in der Fu6note<br />

14 !<br />

20 Eigene Zusammenstellungnach den in Anm. (8) angegebenen Texten derJahre 1977 (S. 33 ff).,<br />

21 Zur fruhen »internen« Kritik vgl. Reinhard Bendix, Modernisierung und soziale Ungleichheit, in:<br />

Wolfram Fischer (Hrsg.): Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der Friihen Industriali'<br />

sierung, Berlin 1968, S. 179 - 246.<br />

22 Am deutlichsten in der Einleitung des Senghaas Readers, :>Peripherer Kapitalismus«, Frankfurt<br />

1974, S.23. .<br />

23 Vgl. Ulrich Menzel, Autozentrierte Entwicklung in historischer Perspektive. Dogmengeschichtli.<br />

che und typologische Aspekte eines aktuellen Konzeptes., in: Khushi M. Khan (Hrsg.), Selfreliance<br />

als nationale und kollektive Entwicklungsstrategie, Miinchen 1980 S. 34<br />

24 Senghaas/Menzel1979 s. Anm. 8, S. 298 ff.<br />

25 Maurice Dobb, Entwicklung des Kapitalismus, Berlin 1970; Christopher Hill, Von der Reforma- t<br />

tion zur Industriellen Revolution, Frankfurt I New York 1977; Eric Hobsbawn, Industrie und<br />

Empire 1 und 2, Frankfurt 1969; Perry Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Stadtef,<br />

Frankfurt 1979.<br />

26 Perry Anderson, Von der Antike zum Feudalismus, Frankfurt 1978; Moshem Massarat, Hauptentwicklungslinien<br />

der kapitalistischen Weltwirtschaft, Lollar I Lahn 1976 sowie ders., Gesellschaftliche<br />

Stagnation und die asiatische Produktionsweise dargestellt am Beispiel der iranischen Geschichte,<br />

in: Studien iJber die Dritte Welt, Gtittingen 1977, S. 7· 125.<br />

27 Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, Berlin 1968, 24. Kapitel<br />

28 Senghaas I Menzel, s. Anm. (8), S. 298.<br />

29 Neben den in Anm. (25) angegebenen Arbeiten siehe vor allem Barrington Moore, Soziale Urspriinge<br />

von Diktatur und Demokratie, Frankfurt 1969, 1. Kap.; Leo Kofler, Zur Geschichte der<br />

biJrgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1966, S. 400 ff; David Landes, Der entfesselte Prometheus,<br />

Ktiln 1973, Kap. 2 u. 3; Phyllis Deane, The first industrial revolution, Cambridge 1965; William<br />

Ashworth, An economic history of England 1978 - 1939; Cambridge 1969; John Foster, Class<br />

Struggle and Industrial Revolution, London 1974; E.P. Thompson, The Making of the English<br />

Working Class, Penguin 1968; Immanuel Wallerstein, The Modern World-System I, II, New<br />

York 1974 und 1980.<br />

30 Barrington Moore, ebenda, S. 39<br />

31 Vgl. als klassische Smdie damber C.B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus.<br />

Von Hobbes bis Locke, Frankfurt 1967.<br />

32 G.E. Mingay, The Gentry, London 1976, S. 59<br />

33 Paul Bairoch, Die Dritte Welt in der Sackgasse, Wien 1973, S. 37<br />

34 V gl. Peter Kriedtke I Hans Medick I Jiirgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung,<br />

Gtittingen 1978, die das von nordamerikanischen Historikern Franklin F. Mendels und<br />

Charles und Richard Tilly gepragte Konzept der :oProto-Industrialisiemng mit den fruhen Arbeiten<br />

von Sombart und Schmoller verbinden.<br />

35 Vgl. fur die Daten vor allem Phyllis Deane, s. Anm. (29), Kap. 6; Eric Hobsbawn, ebenda, Bd. I,<br />

3. Kap.; Paul Bairoch, ebenda, S. 80.<br />

36 Paul Bairoch, ebenda, S. <strong>44</strong>; John Foster, ebenda, S. 83.<br />

37 Bairoch, ebenda, S. <strong>44</strong>; Hobsbawn I, ebenda, S. 64; Deane, ebenda, S. 100.<br />

38 Walt W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Gtirtingen 1960, 4. Kap.; Walther<br />

G. Hoffmann, Stadien und Typen der Industrialisierung, Jena 1931.<br />

39 Hobsbawn, Deane, s. Anm. (29)<br />

40 Willfried Spohn, Weltmarktkonkurrenz undIndustrialisierung Deutschlands, Berlin 1977, S. 11,<br />

88.<br />

Zur Kritik von Dieter Senghaas 133


·Ffu;~IDe aqsfiihrliche Diskussion vgl. mdne Arbeit s. Anm. (7).<br />

42 Hobsbawn I, ebenda, S. 156 .<br />

.43 Vgl. Michel Aglietta, A Theory of Capitalist Regulation. The US-Experience, London 1979,<br />

S. 72 ff; Ralph Gray / John Peterson, Economic Dellelopment of the United States, Homewood<br />

1974, Kap. 2, 3; H.]. Habakkuk, American and British Technology in the 19th Century, Cam­<br />

'bridge 1976; und als informativer Dberblick in deutscher Sprache Willi Adams (Hrsg.), Die Vereinigten<br />

Staaten lion Amerika, Fischer Weltgeschichte Bd. 30, Frankfurt 1977, Kap. 2, 3. '<br />

• <strong>44</strong> Hannsjoachim W. Koch, Der Sozialdarwinismus, Munchen 1973.<br />

45 Vgl. Hobsbawn I, ebenda, S. 7 ff; Landes, ebenda, S. 305 ff.<br />

,46 Vgl. Ulrich Menzel, S. Anm. (23), S. 42; Dieter Senghaas, Typen autozentrierter Entwicklung,<br />

in: Diskurs. Bremer BfJitriige zu WissenschaJt und GeselllfchaJt, Nr. 3, August 1980, S. 192 - 203.<br />

Vgl. als Zusammenstellung der wichtigsten iilteren Beitrage Arthur J. Taylor (Hrsg.), The Standard<br />

of Lilling in Britain in the Industrial Rellolution, London 1975 sowie als neuere Arbeiten<br />

M.W. Flynn, Trends in Real Wages 1750 -1850, in: The Economic History Relliew, Vol. 27, 1974,<br />

S. 395 - 413 und G.N. von Tunzelmann, Trends in Real Wages 1750 - 1850, Rellisited, in: ebenda,<br />

Vol. 32, 1979, S. 33 - 49, sowie vor allem die Fallstudien vonJohn Foster und die zusammenfassende<br />

Darstellung von Phyllis Deane, Kap. 15, s. Anm. (29).<br />

Hobsbawn I, ebenda, S. 162; B.R. Mitchell, European Historical Statistics 1750 - 1970, London<br />

1978, S. 39 ff; Eduardo M. Supliciy, Compromisso, Sao Paulo 1978, S. 93 (Werte fur Sao Paulo,<br />

die Tendenz fur Brasilien insgesamt ist ahnlich, statistisch aber umstrittener);<br />

Phyllis Deane, s. Anm. (29), S. 260; Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1980, Washington<br />

D.C., S. 179.<br />

D.J. Oddy, Working-Class Diets in Late Nineteeth-Century Britain in Economic History Relliew,<br />

1970, S. 314-323; Elisabeth Roberrs, Working-Class Standards ofLilling in Barrow and Lancaster,"<br />

1890 - 1914, in: ebenda, 1977, S. 306 - 321; Alves / Viera; Ellolucao do padrao do consumo alimentar<br />

da popolacao da cidade de Sao Paulo, in: Pesqu~a e Planejamento Economico, Rio deJaneiro,<br />

Dez. 1978, S. 742<br />

Simon Kuznetz, Modern Economic Growth, New Haven, 1966, S. 208, 168, 266; Pedro Malan,<br />

Income Distribution and Dellelopment in 'Brasil, 1978 Mskr.<br />

•<br />

52 Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, Berlin 1968, S.468; ders., Das Kapital Bd. 2, Berlin 1969,<br />

S.402 ff!<br />

53 vgl. Marx, Kapital Bd. 1, S. 469; Phyllis Deane, s. Anm. (29), S. 274.<br />

54 Manfred Wohlcke, Sozialer Wandel in Funktion exogen induzierter Industrialisierung in einem<br />

Entwicklungsland: Brasilien, Hamburg 1976, S. 190 I 192.<br />

55 Vgl. Paul Thompson, The Edwardians, St. Albans, 1977 und die schon kJassischen Studien].L.<br />

Hammond I Barbara Hammond, The Village Labourer (1911), The Town Labourer (1917), The<br />

Skilled Labourer (1919) die jetzt in einer neuen Reprintausgabe mit lesenswerten Einfeitungen<br />

von Mingay, Rule und Lovell, London 1978 und 1979, vorliegen.<br />

56 Zusammengestellt nach den Angaben von Hobsbawm I, s. Anm. (29), Kap. 4 und 8; ders., Sozia­<br />

Ie Dngleichheit und Klassenstrukturen in England.' Die Arbeiterklasse, in: Hans-Ulrich Wehler<br />

(Hrsg.), Klassen in der europiiischen Sozia/geschichte, Gottingen 1979, S. 53 - 65; ders., labouring<br />

Men, London 1964, S. 272 ff;John Foster, s. Anm. (29), Kap. 4; W.D. Rubinstein, The Victorilln<br />

Middle Classes Wealth, Occupation and Geography, in: Econ. Hist. Rell. 1977, S. 602 - 23.<br />

V gl. Landes, S. Anm. (29), S. 276 ff; Karin Hausen, Technischer Fortschritt und Frauenarbeit im<br />

19. Jhdt. Zur Sozialgeschichte der Niihmaschine, in: Geschichte und GesellschaJt, 1978, S. 148-<br />

169.<br />

58 Landes, ebenda, S. 300 ff; Aglietta, s. Anm. (43), S. 113 ff; Harry Braverman, Die Arbeitim modernen<br />

ProduktionsprozejS, Frankfurt 1977, S. 73 ff.<br />

59 Aglietta, ebenda, S. 94 ff; Robert A. Gordon, Economic Instability and Growth, New York<br />

1974, S. 23 ff; Emil Lederer, Umschichtung der Einkommen und des Bedarfs, in: Bernhard<br />

Harms (Hrsg.), Strukturwandlungen der Deutschen VolkswirtschaJt, Berlin 1928, S. 33 ff.<br />

Thomas Hurtienne


60 Vgl. Ernest Mandel, Der Spatkapitalismus, Frankfurt 1972<br />

61 Neben der Arbeit von Spohn, s. Anm. (40) s. dazu vor aHem Knut Borchardt, Die Industrie!!e Revolution<br />

in Deutschland, Miinchen 1972; Mottek I Blumberg, etc., Studien zur Geschichte der<br />

industriellen Revolution in Deutschland, Berlin 1960; Lotha! Baar, Die Berliner lndustrie in der<br />

industriellen Revolution, Berlin 1966; Tom Kemp, Industrialization in 19th Century Europe,<br />

London 1969, Kap. 4.<br />

62 Simon Kuznets, s. Anm. (51), S. 208<br />

63 ebenda, S. 168<br />

64 Phelps Brown: A Century o/Pay, New York 1968, S. 68 ff.<br />

65 ebenda, S. 126 ff<br />

66 Simon Kuznets, ebenda, S. 265<br />

67 Vgl. Spohn, s. Anm. (40), S. 188 ff.<br />

68 Sozialistische Studiengruppen (Hrsg.), Soiialdemokratie im Deutschen Reich 1870 - 1914, Hamburg<br />

1978, S. 33 .<br />

69 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871 - 1918, Gottingen 1973,S. 72 ff<br />

70 Vgl. Borchardt, s. Anm. (61), S. 71 ff; Spohn, s. Anm. (40), S. 114 ff.<br />

7l Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg 1935, S. 226; Hans Teuteberg, Der<br />

Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kop/ seit Beginn der Industrialisierung (1850-<br />

1975), in: Archiv fur Sozialgeschichte, 1979, S. 331 - 380; Baa!, s. Anm. (61), S. 73 ff.<br />

72 Vgl. Spohn, s. Anm. (40), S. 360 ff; James Kurth, The political consequences 0/ the product cycle:<br />

industrial history und political outcomes, in: International Organization 33, Nr. 1, 1979, S. 1 -<br />

34.<br />

73 Vgl. Borchardt, s. Anm. (61), S. 80 ff<br />

74 ebenda, S. 95 sowie Spohn, s. Anm. (40), S. 200.<br />

75 Vgl. Victor D. Lippit, Economic Development in Mejijapan and contemporary China: a comparative<br />

study, in: Cambridge Journal o/Economics 1978,2, S. 55 - 81 und Volker Hunecke, Arbeiterschaft<br />

und industrie/le Revolution in Mailand 1859 - 1892, Gottingen 1978.<br />

76 V gl. James Kurth, Industrial Change and Political Change: a european perspective, in: David Collier<br />

(Hrsg.), The new Authoritarianism in Latin America, New Jersey 1979, S. 319 - 362<br />

77 Vgl. Ulrich Menzel, Del' Entwicklungsweg Dlinemarks (1880 - 1940), Forschungsbericht Nt. 8,<br />

Uni Bremen 1980; Dieter Senghaas, Alternative Entwicklungswege von Exportokonomien, ebenda<br />

Nr. 9<br />

78 James Kurth, ebenda, S. 337.<br />

79 Vgl. Aglietta, s. Anm. (43), S. 151 ff; Paul Singer, Economia poli/ica do traba/ho, Sao Paulo<br />

1977.<br />

80 Vgl. Thomas Hurtienne, Zur Entstehungsgeschichte, Struktur und Krise des brasilianischen Akkumulationsmode//es,<br />

in: Bennholdt-Thomsen (Hrsg.), Lateinamerika, Analysen und Berichte 1,<br />

Berlin 1977, S. 70 - 96.<br />

81 Senghaas, Weltwirtschaftsordnung ... , s. Anm. (8), S. 152<br />

82 Boris Fausto, Pequenos ensaios de his/aria da Republica (1889 - 1945), Sao Paulo 1972; Joseph Love,<br />

Rio Grande do Sui and Brasilian Regionalism, 1882 - 1930, Stanford 1971 und die verschiedenen<br />

Beitrage in der Historia Geral da Civilizacao Brasileira, .Band 3, Sao Paulo 1975.<br />

83 Grundlegend fur den empirischen Nachweis ist Wilson Cano, Raizes da concentracao industria!<br />

em Sao Paulo, Rio 1977<br />

84 Ebenda; S. 64<br />

85 Versani I Versani, A industrializacao brasiieira antes de 1930, in: Versani I Barros, Formacao economica<br />

do Brasil, Rio 1977, S. 121 ff.<br />

86 VgL Cano, ebenda, S. 227 ff und Hurtienne, s. Anm. (7).<br />

87 Annibal Villela I Wilson Suzigan, Government Policy and the Economic Growth o/Brasil 1889-<br />

1945, Rio de Janeiro 1977, S. 166<br />

Zur Kritik von Dieter Senghaas


88 Luciano Martins, PoulJoir'et Developpement economique, Paris 1976, S. 202 ff; Werner Baer,<br />

The Development of the Brazilian Steel Industry, Nashville 1969.<br />

89 Thomas Skidmore, Politics in Brazil, Oxford 1967, S. 81 ff.<br />

90 Vgl. meine Arheit s. Anm. 80.<br />

91 Senghaas, Weltwirtschaftsordnung, s. Anm. 8, S. 132.<br />

92 Paulo Fontenele e Silva, Caracteristicas Estruturais da Industria Brasi/eiTa: Uma Analise de<br />

Insumo-Produto, in: Pesquisa e Planejamento Economico, August 1979, S. <strong>44</strong>7 - 480<br />

93 Senghaas, ebenda, S. 151 ff<br />

94 DIESSE, Padrao de vida da clase trabalhadora de Sao Paulo, Sao Paulo 1975, S. 46.<br />

95 Vgl. Victor Klagsbrunn, Die Entwick/ung der Landwirtschaft im Nordosten Brasiliens seit 1950.<br />

Zu den Grundbedingungen der Entstehung und Entwicklung 'der Lohnarbeit auf dem Lande,<br />

Diss. Berlin 1981.<br />

96 De Barros / D.H. Graham, A agricultura eo problema de alimentos, in: Pesquisa e Planejamento<br />

Economico, Dez 1978, Rio, S. 695 - 726; Ulrich Menzel, s. Anm. 2, S. 617.<br />

97 Vgl. Janice Perlman, The Myth of Marginality, Berkeley, 1976.<br />

98 UNIDO, World Industry since 1960: Progress and Prospects, Wien 1979, S. 42.<br />

99 s. Anm. 5<br />

100 V gl. Senghaas, Dissoziation und autozentrierte Entwicklung, in: Senghaas (Hrsg. ), Kapitalistische<br />

Weltokonomie, Frankfurt 1979, S. 391 ff.<br />

101 Vgl. Senghaas, Alternative Entwicklungswege von Exportokonomien, Bremen August 1980, Forschungsbericht<br />

Nr. 9.<br />

102 ebenda, S. 47<br />

136 Thomas Hurtienne


WECHSEL<br />

9Nll<br />

TECHNIK NA TURWISSENSCHAFT<br />

GESELLSCHAFT<br />

Schwerpunkt:<br />

Weitere Themen:<br />

Sand oder Riidchen? -<br />

Erfahrungen im Getriebe<br />

von Wissenschaft und<br />

Technik: Berichte und<br />

Selbstverstandnis von Ingenieuren<br />

und Naturwissenschaftlern<br />

aus Industrie,<br />

Forschung und<br />

Hochschule tiber Aussteigen<br />

oder Drinbleiben.<br />

Der Fall K * Wehrerziehung<br />

* Pinkeln im Weltraum<br />

* Kokereien *<br />

AKW-Bewegung in Frankreich<br />

* Schadstoff S02 *<br />

Einstein und die Folgen *<br />

VDI-Jubiliium *<br />

WECHSELWIRKUNG berichtet tiber politische Aktivitaten im naturwissenschaftlichtechnischen<br />

Bereich, Gewerkschaftsarbeit und soziale Konflikte.<br />

WECHSELWIRKUNG analysiert die soziale, politische und okonomische Funktion von<br />

Wissenschaft und Technik und zeigt deren Perspektiven und Altemativen auf.<br />

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Kalkar und anderswo. Doch die Zahl<br />

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daB sich der stolze Phonix unserer Tage nur<br />

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Marcel Buhler: *<br />

Weltmarkt, internationale Arbeitsteilung und nationale<br />

Reproduktion<br />

- Neuere jranzosische Internationalisierttngstheorien -<br />

Einleitung<br />

Die politische Okonomie in Frankreich hat in den letztenJahren die Int:errlatJlon.aillllelung<br />

der kapitalistischen Produktions~erhaltnisse als den Schwerpunkt ihrer theoretischen<br />

miihungen betrachtet. Dies hat zwei Ursachen, die auch die unterschiedliche Richtung 1m<br />

Vergleich zur linken Diskussion in der BRD erklaren konnen.<br />

Zum ersten hat die .traditionelle« Linke bis vor dem Scheitern der Linksunion versucbi,.<br />

Konzepte einer neuen, solidarischen Politik gegeniiber den Landern der Dritten Welt<br />

entwickeln (vgl. Beaud u.a. 1979). Dazu waren umfangreiche Arbeiten iiber das<br />

franzosische Kolonialsystem und dessen neokolonialistische Fortsetzung notwendig<br />

. u.a. CEDETIM 1978). Die franzosische Bourgeoisie iibt gerade in den friiheren Kolonied<br />

eine aggressive Briickenkopffunktion fUr den Imperialismus aus. Die militarischen Inter..,;<br />

ventionen in Zaire, Niger, Zentralafrikanische Republik sind Ausdtuck dieser Politik. Die.­<br />

se politischen Zusammenhange haben die Linke gleichsam gezwungen, sich verstarkt mit<br />

Neokolonialismus und abhangiger Entwicklung in der Dritten Welt auseinanderzusetzen.<br />

In der Theoriegeschi~hte entscheidend war dabei die Kritik und Uberwiiidung der Theorie<br />

»des ungleichen Tauschs« (Amin/Emmanuel), die zu neuen Konzepten fUhrte. Die "tich~· ..<br />

tigsten Arbeiten sind nicht im offiziellen Rahmen der linken Parteien entstanden. Die.<br />

zweite Ursache einer Neuorientierung der polit-okonomischen Internationalisierungstheac<br />

rie ist in der veranderten Position Frankreichs im innerimperialistischen Konkurrenzkaqrp£<br />

tusehen. W obei Frankreich sich .auf dem absteigenden Ast« befindet, da die nationaleRe-<br />

. produktion zunehmend von den dominanten imperialistischen Okonomien (USA,<br />

Japan) bestimmt wird. Die gegenwartige Krise wird von det Regierung, der Linken<br />

den Gewerkschaften a1s iiber den Weltmarkt vermittelte verstanden .• Krisc=nstrateg:ierL«<br />

sind in Frankreich daher viel starker als in der BRD iiber eine Analyse der int:errlatJlonalen<br />

Konkurrenzmechanismen entwickelt worden.<br />

Diese beiden Punkte haben zu neuen und konkreten Arbeiten im Bereich der Internationa·<br />

liSierung kapitalistischer Procluktionsverhaltnisse gefUhrt. Ich werde in 4 Thesen die wich" ..<br />

tigsten Ergebnisse der franzosischen Diskussion zusammenfassen, urn dann deren Relevanz<br />

fur die BRD-Diskussion zu umreifien. .<br />

1. Der Weltmarkt als Gegenstand der Untersuchung von Internationalisierungsprozessen<br />

ist eine Kategorie der internationalen Kapitalllerwertung. Dabei werden GesetzmaEigkei"<br />

ten der Verwertung des Einzelkapitals und der Konkurrenz in der Branche erfafit. Wesen~·<br />

• Marcel Biihler ist Dipl6m-Volkswirt und verfaBt zur Zeit eine Studie iiber Pharma-Multis indet<br />

Dritten Welt.<br />

Neuere jranzosische lnternationalisierungstheorien .


lich ist dabei die Analyse def konkreten Bewegungsformen des Einzelkapitals in def Konkurrenz<br />

und def Konzentration/Zentralisation. Die franzosische Internationalierungstheorie<br />

hat empirisch sehr sorgfaitig die historisch verschiedenen Stufen der Internationalisierung<br />

des Einzelkapitals sowie neue Bewegungsformen def Konkurrenz auf dem Weltmarkt<br />

- die multinationalen Konzerne - untersucht. Gegenstand wurde dabei zunehmend der<br />

Weltmarkt als konkretes historisches Phanomen. 1<br />

2. Auf def Ebene def internationalen Kapitalverwertung konnen weder die Kette def Hierarchie<br />

nationaler Produktionssysteme noch Mechanismen der Abhangigkeit der Lander<br />

der Dritten Welt umfassend analysiert werden.<br />

3. Die Untersuchung def Hierarchiestruktur def Weltwirtschaft sowie def spezifischen Probleme<br />

der Lander def Dritten Welt verlangen einen tieferen, qualitativen Analyserahmen.<br />

Die bloBe Analyse der Kapitalverwenung mufi dabei zwangslaufig zu kutz greifen, da dieser<br />

Ansatz letztlich eine nur quantitative Dimension erfafit. Hier 1st das neue Element def<br />

franzosischen Internationaliserungsdiskussion zu sehen: Durch die Analyse def historischen<br />

Veranderungen in der Reproduktion def dominanten Gesellschaftsformationen werden<br />

Gesetzmafiigkeiten in def Entstehung und Wirkungsweise def imperialistischen Hierarchie<br />

gesucht. Die spezifischen Probleme def abhangigen Lander def Dritten Welt konnendann<br />

als deformierte nationale Reproduktion bei verschiedenen Produktionsweisen erfaBt<br />

werden.<br />

4. Dieser Ansatz ist notwendig zur Analyse neuer Tendenzen in der internationalen Arbeitsteilung<br />

und def »N euen Weltwirtschaftsordnung


E. Maire (1978), Generalsekretar def CFDT, zeigt aber auch das wachsende gewerkschaftHche<br />

Interesse an dieser Diskussion. 3<br />

»Intetnationalisierung« weist auf ein vielschichtiges Phiinomen hin: Kulturelle Beziehungen,<br />

militarische Aggressionsakte, multinationale Konzerne, ... sind Formen und Elemente<br />

moglicher internationaler Beziehungen, wobei untetschiedliche Objekte aus verschiedenen<br />

Regionen/Nationen jeweils zu unterscheiden .sind. In diesem Aufsatz werden nut die<br />

okonomischen internationalen Zusammenhange untersucht, wobei diese auf die internationalisierte<br />

Kapitalverwertung und deren Ruckwirkungen auf die Reproduktion def verschiedenen<br />

nationalen Gesellschaftsformationen beschrankt werden. Diese starke Einschrankung<br />

ist insofern gerechtfertigt, da die okonomische Internationalisierung ein<br />

wesentliches Element der internationalen Beziehungen ist. Doch auch in dieser eingeschrankten<br />

Bedeutung ist das zu beschreibende Phiinomen der Internationalisierung sehr vidschichtig.<br />

Zunachst reden wir von zwei verschiedenen Objekten der Internationalisierung:<br />

das Einzelkapital, das den Rahmen der Kapitalverwertung innerhalb einer Nation<br />

sprengt und internationalisierte Verwertungszusammenhange in unterschiedlichen Formen<br />

entwickelt,<br />

die nationale Gesellschaftsformation, deren Reproduktionsform und -niveau dutch die<br />

jeweiligen nationalenl internationalen Kapitalverwenungszusammenhiinge wesentlich<br />

beeinfluBt wird.<br />

lch werde hier insbesondere auf drei Problembereiche eingehen:<br />

theoretische Probleme bei de! Erklarung def Internationalisierung des Produktionsprozesses;<br />

Untersuchung moglicher Erklarungen def Ursachen des langandauernden Auftchwungs<br />

des Kapitalismus nach dem 2. Weltkrieg sowie des krisenhaften Einbruchs;<br />

EinfluB beider Phanomene auf die internationale Arbeitstetlung und deren Auswirkung<br />

auf die ungleiche Entwicklung der »Beiden Welten«.<br />

Meine Datstellung beschrankt sich damit auf einige wesentliche Probleme (die fUr die Internationalisierung<br />

bedeutenden monetaren Probleme muBten weitgehend ausgeklammen<br />

werden). Es kann hier nlcht die historische Entwicklung der Internationalisierung des<br />

Kapitals nachgezeichnet werden. Ebensowenig kann auf die Frage def international


Bevor wir ,iiesen Problem bereich untersuchen, werden wit in den Grundziigen kurz die Internationalisierung<br />

des Einzelkapitals in der heutigen Form des internationalisierten Produktionsprozesses<br />

untersuchen.<br />

1. Internationalisierung des Jii11ze'll.~rpiitals<br />

Internationalisierungsprozesse im okonomischen Sinne betreffen zwei unterschiedliche<br />

Objekte: im Rahmen def Kapitalverwertung das Einzelkapital, im Rahmen def Reprodukdon<br />

def gesamtgesellschaftlichen Verhaltnisse die nationale Gesellschaftsformation. Die<br />

nun zu untersuchenden verschiedenen Formen def Internationalisierung des Einzelkapitals<br />

konnen hier nlcht historisch »abgeleitet« werden, weshalb wit uns auf eine logische Ableitung<br />

beschranken mussen. Wit gehen'also davon aus, dafi das Einzelkapital notwendig die<br />

Schranken def jeweils nationalen Kapitalverwertung iiberwinden muE. »Internationalisierung«<br />

ist damit eine spezifische Form der Kapitalverwertung, wobei das Wertgesetz nicht<br />

modifiziert witd. Modifikationen def Kapitalverwertung konnen hOchstens Formen def<br />

Konkurrenz bzw. def Extraprofiterzielung beinhalten. De! Kreislauf des Einzelkapitals<br />

kann uns Anhaltspunkte fur die unterschiedlichen Formen der Internationalisierung des<br />

Einzelkapitals liefern:<br />

G-W [ ~~ ..... P ..... W' - G' -W' - [~~ ..... P' ..... W" 5<br />

Die logisch moglichen unterschiedlichen Internationalisierungsformen haben sich histotisch<br />

in unterschiedlichen Etappen durchgesetzt. Der Begriff »Etappe« druckt dabei aus,<br />

daiS tine def Formen zu diesem Zeitpunkt die vorherrschende, die Bewegung bestimmen·<br />

de (d.h. dominante) war. 6<br />

1.1. Die verschiedenen der lm;erl~atiot.,all;sierul~g<br />

a) Die erste Stufe ist die Internationalisierung des Warenkapitals, wobei hier zwei unterschiedliche<br />

Formen zu berucksichtigen sind:<br />

Da die kapitalistische Produktionsweise notwendig zur<br />

fuhn, kOnnen<br />

dutch den Verkauf produzierter Waren im AuslandVerwertungsschwierigkeiten uberwunden<br />

werden (Internationalisierung von W' -<br />

Der Profit wird wesentlich bestimmt durch die Kosten<br />

rur die Reproduktion def Ware Arbeitskraft. Durch den billiger Rohstoffe,. billiger<br />

Lebensmittel und billiger Arbeitskraft (SHaven, Fremdarbeiter), k6nnen die Produktionskosten<br />

gesenkt und die Profite unter giinstigen Umstanden erhOht werden<br />

(Internationalisierung von G -<br />

W~~.<br />

Durch diese Intemationalisierungsform entsteht eine neue kapitalistische Arbeitsteilung,<br />

indem def Kreislauf des Warenkapitals W - G - W' sich verselbstandigt und eigene Kapitalfraktionen<br />

bildet. Das Handelskapital entsteht. Der Kolonialhandel verin<br />

selbstandiger Form beide Formen def<br />

des<br />

142 Marcel Buhler


Absatz von Waren und Beschaffung biUiget Wertbestandteile fur den Produktionsprozefi.<br />

b) Die zweite Stufe der Internationalisierung ist der Kreislauf des Geldkapitals G - W -<br />

G'. Das im Ausland angelegte ubetschussige Geldkapital dient weniger def Konttolle def<br />

auslandischen Konkurrenzproduktion als de! Renditeerzielung.<br />

c) Die dritte Stufe ist die Internationalisierung des Kreislaufs des Produktivkapitals<br />

(P' ..... P"), indem Teile des Produktivkapitals internationalisiert werden. Diese heute die<br />

polit-okonomische Internationalisierungsdiskussion bestimmende Form wollen wit konkretet<br />

untersuchen.<br />

Bei def Analyse internationalisierter Produktionsprozesse sind zwei Internationalisierungsformen<br />

zu unterscheiden:<br />

Konkurrenz verschiedener nationaler Kapitalien innerhalb derselben Branche auf dem<br />

Weltmarkt durch billige Waren (z.B. Textilsektor). Dies ist eine Internationalisierung<br />

des Warenkapitals bei national abgeschlossenen Produktionsprozessen.<br />

Verlagerung der Produktion oder von Teilen der Produktion ins »Ausland« wegen geringeren<br />

Lohnstiickkosten. Hier wird der Produktionsprozefi selbst internationalisiett.<br />

Diese Unterscheidung ist keine Haarspalterei, wei! nachgewiesen werden kann, daB def<br />

ProduktionsprozeB erst bei einer gewissen Form der Zentralisation und Konzentration internationalisiert<br />

werden kann. Die erste Form ist alt und trifft v.a. die in den kapitalistischen<br />

Industrielandern (KIL) unrentablen und wenig produktiven Branchen (Textil etc.).<br />

Es ist kein Zufall, daB die Internationalisierung des Produktionsprozesses erst nach dem 2.<br />

Weltkrieg zu eine! eigenen Form def internationalisierten Kapitalverwertung wurde: Die<br />

kapitalistische Warenproduktion wurde nicht nut umfassender, sondern auch technisch<br />

komplizierter, komplexer. Zur Herstellung einer Ware sind zunehmend mehr vorgelagerte<br />

Produktionselemente notwendig; eine Ware wird nicht mehr in einer Fabrik, sondern in<br />

einer ganzen Produktionskette hergestellt (z.B. Kuhlschranke). Teile des Produktionsprozesses<br />

sind erst dann auslagerbar, wenn dieser selbst technisch aufgeteilt werden kann. Der<br />

neue unmittelbare industrielle Produktionsprozefi (Taylorismus) hat dutch die massenhafte<br />

Dequalifikation def Lohnarbeit eine weitere Voraussetzung clamr geschaffen, daB die Produktionsstandorte<br />

weltweit geplant werden konnen (also ohne geographische Bindung an<br />

tin bestimmtes Qualifikationsniveau). Die Internationalisierung der Produktion setzt also<br />

eine bestimmte Entwicklung def kapitalistischen Produktionstechnologie voraus. Diese<br />

Stufe def Entwicklung schlagt sich in tiner neuen Existenzform des Einzelkapitalslnieder:<br />

clem GroBkonzern auf der nationalen Ebene und clem multinationalen Konzern (MNK) in<br />

clef internationalisierten Form.<br />

Konzentration und Zentralisation sind - abgeleitet aus der Kapitalakkumulation - als wissenschaftliche<br />

Kategorien nicht ausreichend, urn die MNK erklaren zu kOnnen. Auch von<br />

def stofflichen Seite her ist der MNK die adaquate Form des Kapitals. Der Konzern zidt<br />

auf die moglichst weitgehende Kontrolle def gesamten Produktionskette (vom Rohstoff bis<br />

zu Endprodukt), und zwar national wie international, vertikal wie horizontal. De! Umfang<br />

dieser Kontrolle ermoglicht eine rationale Steuerung und Planung der Produktion in def<br />

gesamten Kette fur die anarchische Konkurrenz auf dem Weltmarkt.<br />

Werden komplexe Waren produziert, so erhalt der Weltmarkt eine neue Funktion, die nUI<br />

bei dieser Form der Warenproduktion gilt: Der internationale Tauschwert einer technisch<br />

komplexen Ware Computer) setzt sich auch aus »Wertbestandteilen« zusammen, die<br />

Zulieferungen von Produktionsprozessen aus verschiedenen nationalen Gesellschaftsformationen<br />

innerhalb desselben Konzerns umfassen (z.B. Schaltungen aus Sud-Korea). Der<br />

Neuef'e jranzosische Internationalisierungstheorien 143


Weltmarkt reguliert nicht nur den Tauschwert der Ware (Computer), sondern auch die<br />

Produktivitat der vorgelagerten Produktlonsprozesse, da diese in den Tauschwert als Bestandrei!<br />

einflieBen. Zulieferungen, die mit tiner unter-durchschnittlichen Produktivitat<br />

hergestellt wurden, erhOhen den (End)Tauschwert. In gleicher Weise wird das Lohnniveau<br />

aIs weiterer Kostenbestandteil der vorgelagerten Stufen tiber den Weltmarkt mitbestimmt.<br />

Lohn- und ArbeitsprozeB eines Produktionssegments aus def vorgelagerten Produktionskette<br />

werden somit auch internationalisiert. Zur Extraprofiterzielung kann das multinationale<br />

Kapital in def Internationalisierung des Produktivkapitals nationale Produktivitatsund<br />

Lohnunterschiede ausntitzen, dieser Zusammenhang erklart die Strategie des Eim:elkapitals.<br />

Diese Moglichkeit wird vergroBert dutch die moglichst weitgehende Kontrolle der<br />

einzelnen Produktionsstufen. Hier wird ersichtlich, daB das Phanomen »MNK« nicht alleine<br />

aus den GesetzmaBigkeiten def Akkumulation abgeleitet werden sondern daB<br />

samtliche Kategorien def marxschen Analyse sowie neue, die die reale historische Entwicklung<br />

erfassen, zu dieser Form des Einzelkapitals fUhren.<br />

d) Mit dem produktiven Kapital sind aIle moglichen Ansatzpunkte der Internationalisierung<br />

des Kreislaufs des Einzelkapitals erschopft. Damit wird aber das Entstehen neuer Internationalisierungsformen<br />

keineswegs ausgeschlossen. Diese konnen z.B. aus der Veranderung<br />

def kapitalistischen Arbeitsteilung entstehen. Der tayloristische ProduktionsprozeB<br />

vertieft die Trennung einfache/komplexe Arbeit und institutionalisiert sie in der Fabrik in<br />

der Trennung Planung und Kontrolle des Produktionsprozesses I DurchfUhrung des unmittelbaren<br />

Produktionsprozesses. Diese Trennung hat sich international verselbstandigt<br />

und in einer neuen hochgradig internationalisierten Kapitalfraktion, dem Engineering-Kapital<br />

niedergeschlagen. Dieses plant und koordiniert das Erstellen schltisselfertiger Fabriken,<br />

mit def FoIge, daB def unmittelbare ProduktionsprozeB nlcht mehr yom gleichen Kapital<br />

kontrolliert wird. Diese dynamische Branche in den KIL konzentriert das technische<br />

Wissen, und def unmittelbare ProduktionsprozeB wird aus der Kapitalvetwertung abgesto"<br />

Ben. Diese spezifische Sttategie ist nicht zuletzt die Antwort des Finanzkapitals auf die<br />

Verstaatlichungen in def Dritten Welt und die Entwicklungsstrategie einiger Lander wie<br />

z.B. Algerien. 1m Gegensatz zur Direktinvestition entfallt das Verstaatlichungsrisiko, die<br />

Finanzierung ist gesichert, da meistens nationale Regierungen die schltisselfertigen Fabriken<br />

kaufen. In den KIL beschaftigt das Engineering-Kapital dne schmale Schicht von<br />

hochqualifizierten Kopf- ode! Reillbrettarbeitern, wogegen die besonders kampffreudigen<br />

Facharbeiter nicht mehr Tei! des unmittelbaren Arbeitsprozesses innerhalb des Engineering-Kapitals<br />

sind. Durch die Kontrolle def Konzeption des Produktionsprozesses tiberwacht<br />

das Engineering-Kapital die »Technologie«, d.h. denjenigen Bereich, def die Abhangigkeit<br />

wesentlich schafft. Diese Kapitalfraktion ist die Antwort des Kapitals auf die<br />

Veranderung def Weltmarktinverstitionsbedingungen und verkorpert gleichzeitig optima­<br />

Ie Verwertungsbedingungen (vgl. wm Engineering-Kapital die lREP Untersuchung, nach<br />

Palloh 1975).<br />

Zentrale Stelle fUr die Bestimmung der T iefe der heu tigen Weltwirtschaftskrise ist die Krise<br />

des vorherrschenden industriellen Produktionsprozesses - des Taylorismus. Erst ein neuer,<br />

die Kapitalverwertungsbedingungen strukturell verandernder ProduktionsprozeB konnte<br />

einen relativ stabilen Aufschwung mit sich Ob sich daraus auch neue Internationalisierungsformen<br />

ergeben kann noch nicht gesagt werden.<br />

1<strong>44</strong> Marcel Buhler


1.2. Grenzen der Internationalisiet'~ngsanalyse auf der Ebene des Einzelkapitalsl<br />

der Branche<br />

Der wesentliche Beitrag der franzosischen Polit-Okonomie liegt methodologisch in der systematisch-strukturellen<br />

Rekonstruktion der verschiedenen Analyse-Ebenen kapitalistischer<br />

Produktionsverhaltnisse. »Internationalisierung« wurde in der Polit-Okonomie bisher<br />

primar ais internationale Verwertungsstrategie des Einzelkapitalsbzw. def Branche v'hstan"<br />

den und analysiert. Diese Bereiche wurden in Frankreich insbesondere von Pallone (z.B.<br />

1975) undMichalet (z.B. 1976) systematisch und empirisch untersucht. Auf dieser"Ebene<br />

kana jedoch die internationale Arbeitstetlung (iAt) nicht untersucht und bestimmt werden,<br />

vielmehr ist dazu systematischandere Ebene der Betrachtung erforderlich. Der<br />

dazu notwendige Bruch solI an dnem Beispiel verdeutlicht werden (nach Pallone J978 I,<br />

42 ff.): Mit de! Internationalisierung des Produktiv-Kapitals ais Problem der Kapitalverwertung<br />

werden z.B. Auslagerungen von Produktionsbestandteilen innerhalb einer Produktionskette<br />

analysiert. In der Regel sind es Oligopole, die Kapital exportieren. Fur diese<br />

Oligopole bedeutet def Kapitalexport Aufrechterhaltung und Ausbreitung det oligopolistischen<br />

Position innerhalb der Branche. Fur das abhangige Land bedeutet er die Ansiedelung<br />

eines Produktionssegments ohne die dazugehorige, koharente Produktionsstrukrur.<br />

Die Akkumulationsgesetze, die den Kapitalexport erklaren konnen (tendenzieller Fall clef<br />

Profitrate innerhalb def Branche, Konkurrenz und Zentralisation auf dem Weltmarkt,<br />

Ausgleich der Profitraten zwischen den Branchen) haben nicht fur beide Internationalisierungs-Objekte<br />

die strukturell gleichen Konsequenzen, da der Import dnes Produktionssegments<br />

destrukturierende Effekte fur die nationale Produktionsstruktur haben kann.<br />

Wenn wit also die !At analysieren wollen, mussen wir einen erweiterten theoretischen<br />

Raum schaffen. .<br />

Die Internationalisierung der Verwertung des Einzelkapitals als Gegenstand traditioneller<br />

polit-okonomischer Internationalisierungstheorien kann nur entsprechend den Gesetzma­<br />

Bigkeiten des Vetwertungsprozesses betrachtet werden, wobei die Grenzen dieses Prozesses<br />

auch die Grenzen des Analyseobjektes »Internationalisierung« sind. Die Formbestimmtheit<br />

des Reproduktionsprozesses, der mehr ist ais die Summe def Einzelkapitalien, kann auf<br />

dieser Ebene nicht betrachtet werden. Diese »struktufalistische« Herleitung ist nun kein<br />

Selbstzweck. Die bisherige Betrachtung def Internationalisierung auf def Ebene des Einzdkapitals<br />

hat zu einer eigenen »Entwicklungs-Strtegie« gefuhrt: die Import-Substitutionsstrategie.<br />

Die gesamtgesellschaftliche Reproduktion fallt in dieser Strategie mit der Wachsrumsphase<br />

einiger (weniger) (Schliissel-) Branchen zusammen. Das Scheitern dieser Strategie<br />

in def Dritten Welt zeigt, daB imperialistische Abhangigkeit strukturell uber das Einzelkapital<br />

oder die Kontrolle von Schliisselbranchen hinausgehen muK<br />

Nachdem in def franzosischen Diskussion die internationalen Kapitalverwertungsstrategien<br />

des Einzelkapitals in det durch Konkurrenz und Zentralisation sich ergebenden Bewec<br />

gungsform def Branche hinreichend genau theoretisch und empirisch untersuchtwurden<br />

(vgL die bei Deubner u.a. 1979 abgedruckten Branchenstudien), konzentrieren sich die<br />

neuesten Analysen auf die Zusammenhange zwischen den Reproduktionsabteilung~n, urn<br />

lje:sel:zrrHHl,lg~,el1ten fiber Funktions~eise und Hierarchie nationaler Produktionssysteme<br />

herausfinden zu konnen .. Es ist in diesem Zusammenhang nicht vetwunderlich, daB ein<br />

Teil der Internationalisierungstheorie sich zu dner eigenen Industrie-Politik entwickelt<br />

hat. .<br />

Neuere franzosische Internationalisierungstheorien 145


2. Reproduktions- und unmittelbarer Produktionsprozejl<br />

ZurAnalyse der internationalen Arbeitsteilung wird die konkrete Form des nationalen Reproduktionsprozesses<br />

untersucht. Dabei sind zwei Thesen (zumindest implizit) der Ausga.ngspunkt:<br />

•<br />

.;... Dutch die tAt wird eine bestimmte Hierarchie nationaler Okonomien konstituiert, wobei<br />

die Kohasionsprinzipien in der dominanten Okonomie (der USA) verwurzelt sind<br />

(vgl. Aglietta/Fouet 1978, 25);7<br />

Die Konzentration und Zentralisation sind ntcht die letztlich grundlegenden Prozesse<br />

im KapitaIismus des XX. Jahrhunderts, sondern Veranderungen im Lohnarbeitsverh1lltnis<br />

und im ProzeB def erweitetten Reproduktion.<br />

biese beiden Thesen drucken eine Abgrenzung zu bestimmten traditionellen marxistischen<br />

»Theorien«, wie z.B. def »Faulnis-Theorie« oder de! »Stamokap-Theorie« aus. De!<br />

Kapitalismus/lmperialismus wird als dynamisches System verstanden, das sich in der erweiterten<br />

Reproduktion - vermittelt uber Krisen und Prosperitatsphasen - widerspruchlich<br />

weiterenrwickelt und dabei jeweils neue, spezifische Reproduktionsformen entstehen laBt.<br />

Die kapitalistische Entwicklung laBt sich durch das Begriffspaar Regulation (quantitative<br />

Entwicklung) und Krise (qualitativer Einbruch, der notwendig neue Formen def Regulation<br />

verlangt) erfassen.8 Die Analyse des Reproduktionsprozesses solI folglich die Formen<br />

def Regulation, die Einbruchstellen def kapitalistischen Entwicklung sowie neue Regulationsformen<br />

als mogliche Auswege aufschlusseln. Die Internationalisierungs-Ebene wird in<br />

dieser Analyse - formell betrachtet - gleichzeitig reduziert und erweitert, indem ein »2wei­<br />

Schritt« eingefiihrt wird: Nach der Analyse def Regulation/Krise def dominanten Okonoroie<br />

sind die Internationalisierungsprozesse als Penetrations- und Destrukturierungsprozesse<br />

nationaler Okonomien zu analysieren. Internationale Arbeitsteilung wird folglich als<br />

ProzeB von Hierarchisierung und Differenzierung verstanden.<br />

2.1. Reproduktions- und Arbeitsprozej<br />

Von den zwei ausfiihrlichsten Arbeiten in diesem Bereich ist der Beitrag von Aglietta am<br />

bedeutendsten (Aglietta 1976, Pallon 1978; zusammenfassend Granou 1979). Er untersucht<br />

sehr umfassend - entsprechend den bereits erwahnten Annahmen - die Dynamik des US­<br />

Kapitalismus als dominanter Gesellschaftsformation. Die Analyse der USA nimmt in de!<br />

fram:i:isischen Polit-Okonomie generell einen breiten Raum ein. Dies ist m.E. insofern berechtigt,<br />

als def nach dem 2. Weltkrieg einsetzende langfristige Aufschwung von def dominanten<br />

US-Okonomie ausging und in seiner Entwicklung bestimmt wurde. 9 Ich werde<br />

mit der 2usammenfassung der wichtigsten Thesen von Aglietta beginnen, wobei die Ursachen<br />

des Aufschwungs der dominaten US-Okonomie bis hin zum krisenhaften Einbruch<br />

entwickelt werden.<br />

2.1.1. Tf'ttnsfo!'mtltitm des Lohnarbeitsverhiiltnisses<br />

Akkumulation - hier verstanden als stofflicher InvestitionsprozeB - ist eine Veranderung<br />

der Produktivkrafte als notwendiger Bestandteil def erweiterten Reproduktion. Zid der Investition<br />

ist die Erzielung eines zumindest branchen-durchschnittlichen Profits. Strategien<br />

146 Marcel Buhler


def Profitmaximierung sind die absolute und relative Mehrwertproduktion. Aglietta untetsucht<br />

diese mehr formellen und auf def homogenen Ebene der Kapitalverwerrung angesiedelten<br />

GesetzmaBigkeiten in ihrer konkreten Ausgestaltung bis hin zut Formveranderung<br />

des Reproduktionsprozesses:<br />

Die absolute Mehrwertproduktion wurde seit dem 1. Weltkrieg insbesondere durch die Hrfassung<br />

und den Abbau von Unterbrechungen, Ruhe- und Wartezeiten wahrendder Arbeit<br />

erh6ht. Diese ve~mehtte Auspressung der Arbeitszeit ist verbunden mit technischen<br />

Xnderungen des Produktionsprozesses und Dequalifizierungstendenzen. Absolute und relative<br />

Mehrwertproduktion sind folglich nur schwer zu trennen. Das Konzept der »absoluten<br />

Verelendung« erhalt durch den DequaliHkationsprozeB eine sicherlich neue qualitative<br />

und quantitative Bedeutung; Palloix (1975) weist darauf daB davon insbesondere die<br />

Fremdarbeiter betroffen sind.<br />

Wenn wi! dennoch - aus analytischen Grunden - absolute und relative 1Y.!twrwertlJ'rO,'JUi~tion<br />

Hennen, so kann letztere uber zwei Mechanismen erhoht werden:<br />

Veranderung des Arbeitsprozesses (Arbeitsproduktivitat)<br />

Veranderung der Existenz bedingungen def Lohnarbeit (Senkung des Werts des variab~<br />

len Kapitals).<br />

Die Entwicklung des Kapitalismus ist nicht nur Foige def Veranderung des herrschenden<br />

Produktionsprozesses, sondern auch def Bedingungen def erweiterten Reproduktion der<br />

Lohnarbeit. Zur Analyse def Lage def Klassen im Kapitalismus sind auch die jeweils herrschenden<br />

Konsumnormen als Erscheinung def dominanten Form des Reproduktionsprozesses<br />

zu untersuchen. Dominanter ProduktionsprozeB und Enrwicklung def Konsumnor·<br />

men sind strukturelle Bestandteile def erweiterten Reproduktion. Die Analyse dieser Veranderungen<br />

ist insofern auch politisch relevant, da sie - im Gegensatz zu Zusammenbruchs-<br />

und Konspirationstheorien - Grenzen def Entwicklungs- und Integrationsfahigkeit<br />

des Kapitalismus angeben kann. Aufschwungsphasen sind Ausdruck eines ausgeglichenen<br />

und abgestimmten Wachstums def Reproduktionsabteilungen. Krisen sind Ausdruck def<br />

gegenseitigen Blockierung def Abteilungen und bereinigen Disproportionalitaten durch<br />

speziHsche Formen der Regulation.<br />

a) Veranderungen des Arbeitsprozesses<br />

Seh 1900 hat sich in den USA def ArbeitsprozeB grundlegend geandert: def Taylorismus<br />

hat durch neue Produktionsmittel zu ciner Verringerung der Arbeitsunterbrechungen und<br />

ErhOhung def Bandgeschwindigkeiten, d.h. zu einer sprunghaften Erhohung def Arbeitsproduktivitat<br />

bei gleichzeitiger kollektiver DequaliHzierung geruhrt. Er ist durch die halbautomatische<br />

FlieBbandproduktion charakterisierbar, Ausdruck def kollektiven DequaliH"<br />

kation der Lohnarbeitermassen und der bisher weitgehendsten reellen Subsumtion des Atbeitsprozesses.<br />

Strategische Variable (Produktionsnorm), die die Veranderung des Produktionsprozesses<br />

bestimmt, ist die Zeit. Die Zeitokonomie wurde dutch Schichtarbcit und<br />

zeitbezogene Lohnformen verallgemeineft. Die ErhOhung def Arbeitsproduktivitat findet<br />

ihre Grenze an der psycho-sozialen Belastba~keit des Arbeiters. Der neue ProduktionsprozeB<br />

verlangt norwendig eine Xnderung def Existenzbedingungen def Lohnarbeit, denn die<br />

mit dem Taylorismus verbundene ErhOhung def Arbeitsproduktivitat sowie die Konzentra­<br />

!ion von Maschinerie ruhrt bei Aufrechterhaltung def alten Konsumnorm zu Uberproduktionskrisen<br />

(groBe Depression vor dem 2. Weltkrieg).<br />

Neuere jranzosische Internationalisierungstheorien 147


)Vet~ncl~ng.der Existenzb~t¥ifjgungen de,. Lohnarbeit<br />

Der n~ue Produktionsprozefi und der darauf aufbauende verandette Reproduktionsprozefi<br />

wttd in der franzosischen,Debatte Fordismus genannt. Dit!ser Begriff ist noch genauer zu'<br />

~efmiCl\J'en.Er ist zwar zieI\llich eng an del} von Gramsci ~epragt!!nBegriff des »Amerikanis­<br />

!\lUS« (Gramsci 1967, dazu Hirsch 1979) ange1ehnt, durth die klarere Beschreibung des donllnanten<br />

Produktionsprozesses (Taylorismus) in Verbindung mit der fur die Arbeiterklassedominanten<br />

Konsumnorm (zentralisiette Lebens- undWohnbedingungen, Standardisi~rung<br />

der Hausarbeit, Durchdringung der »privaten« Reproduktionssphare mit Waren)<br />

,'aber auch neu bestimmt. »Das fordistische Lohnarbeitsverhaltnis verbindet eine Form def<br />

Mobilisierung und Ingangsetzung der Arbeitskrafte, beruhend auf der Trennungvon Konzeption<br />

und Ausfuhrung innerhalb des Grofibetriebs mit der spezifischen Reproduktionsform,<br />

die auf dem Kauf von Waren beruht, die in Massenproduktion hergestelli: wurden«<br />

'(Granou, u.a., 1979, S. 205, Dbersetzung durch M.B.).<br />

pie Konsumweise wird durch die Er(ordernisse der erweiterten Reproduktioll strukturiert.<br />

Dieser Zusammenhang wendet sich auch gegen die These einer naturwUchsigen Produktivktaft-Entwicklung<br />

im Zusammenhang mit der Theorie der »natur-wissenschaftlich-technis~en<br />

Revolution«, (vgl. etwa Lehrbuch 1972).<br />

Der T~ylorismus als dominanter Produktionsprozefi ist gekennzeichnet durch eine lokale<br />

KonzentratiQn an Maschinerie. Die Arbeitskraftwird ebenfalls geographisch konzentriett<br />

und drunit. die Verstadterung (»Urbanismus«) zum wesentlichen Bestandteil des Fordismhs.<br />

Der Urbanismus fuhrt zu einer neuen, verkleinerten privaten I hauslichen Reproduktionszelle:<br />

die stiidtische, proletarische Klein/amilie. Die hauslichen ReproduktionsfqOktionen<br />

werden durch den Taylorismus erweitert, indem die gesamte geistige und kor-<br />

',p~liche Wiederherstellung der Arbeitskraft in die »Nicht-Arbeitszeit« verlagert 1"ird (Folge<br />

der Aufhebung der Porositat des Arbeitstags). Da die stadtischeKleinfamilie die Schutz-,<br />

funktion der traditionellen Grofifamilie nicht mehr Ubernehmen kann, wird ein neuer und<br />

erweiterter kollektiller Konsum (Arbeitslosenversicherung, Gesundheitswesen, Rentenversicberung,Freizeititidustrie)<br />

notwendig. Das strukturelle Anwachsen des indirekten Lohnaoteils,ist<br />

Erscheinung dieser Tendenz.<br />

Der Fordismus erzeugt banalisierte Massenkonsumguter, die immer groBere Eindringung<br />

'des W~enverhaltnisses in den hauslichen Reproduktionsbereich ist Voraussetzung def<br />

Weitergabe der Produktivitatsfortschritte von Abt. I an Abt. WO Die Erweiterung der<br />

Konsumnorm ist Ursache dafiir, daB die mit der erhOhten Produktivitat hergestellten Warenmassen<br />

verkauft werden konnen. pleser Prozefi konnte - okclOomisch verkUrzt - als spe­<br />

,ziflsche Form der LOsung der Dberproduktionstendenz bezeichnet werden. Hier zeigt sich<br />

wit!der; daB der Kapitalverwertungsgesichtspunkt als ausschlieBliche Betrachtungsebene zu<br />

kurz, greife,n muB. Denn fur die Reproduktion des Lohnarbeitsverhaltnisses bedeutet diese<br />

Entwicklung, daB insbesondere die weibliche Hausarbeit immer mehr durch standardisier­<br />

.te Waren (von BouilJon-Wurfe1 bis zum Medikament) partiell ersetzt wird. Dadurch kann<br />

Frauenarbeit massenhaft in industrielle Lohnarbeit umgewande1t werden, wobei letztere<br />

vom Standpunkt des Einzelkapitals .aus profitabler ist. Die so freigesetzte weibliche AJ;­<br />

beitskJ;aft kann als flexibler Bestandteil der industriellen Reservearmee fungieren, da bei<br />

mr wie beiJugendlichen die Schutz- undReproduktionsfunktion der Familie n,och eingesetzt<br />

werdenkann. .<br />

Die Schlusselwarendes fordistischen Massenkoflsums sind foiglich das groBstadtische Mietwphnen<br />

sowie das Automobil ais Foige def Konzentration und ZentralisatiPn des Kapitals.<br />

Marcel Buhler'


So ist es denn auch nlcht ve~nderlich, daB die Krise 1974 /75 in diesenbeiden Schlus-:<br />

selbranchen der fordistischen Konsumnorm entstanden ist (Mandel 1918). Der Fordismus<br />

vereinheitlicht durch deh DequaliflkationsprozeB die Arbeiterklasse. Eine Differenzierung<br />

innerhalb der Arbeiterklasse - notwendig urn Extraproflte erzielen zu konnen - flOdel:<br />

nicht mehr entlang produktionsimmanenter, sondern externer Gegeben~eiten statt (Fremdarbeiter,<br />

Frauen, Jugendliche). Da die Warenverbaltnisse immer mehr samtliche Repro;.<br />

duktionsbereiche strukturieren, erbalt Arbeitslosigkeit den Charakter des Ausschlusses<br />

yom Konsum und der gesellschaftlichen Marginalisierung. Dieser Faktor, verbunden mit..<br />

der zunehmenden Verschuldung der privaten HllUshalte zwecks Aufrechterhaltung der<br />

Konsumnorm, kann Hinweise fUr die Strukturierung des Widerstandspotentials der Arbeiterklasse<br />

in der heutigen Krise geben.<br />

Der Fordismus - letzter Punkt unserer Liste der Strukturmerkmale - fUhrt notwendig zu einer<br />

neuen, kapitalistischen Form der Regulation von Lohnarbeit und Kapital. Taylorismusi .'<br />

- als Ausdruck von Konzentration und Zentralisation - fUhrt zu hohen Investitionen in fl.<br />

xem Kapital. Regulationsformen mussen deshalb darauf abzielen, daB der Konsum stabil ,<br />

und kontinuierlich bleibt. So ist es nicht verwunderlich, daB im Rahmen des »New Deals« .<br />

in den USA die Gewerkschaften erstmals gesetzlich anerkannt wurden und mit dem »col.<br />

lective bargaining« uber stabilisierte LohnhOhen eine adaquate Verkehrsform gefunden<br />

wurde. Die Analyse des »Fordismus« beansprucht, die Ursachen des relativ stabilen unci<br />

langfristigen Aufschwungs nach dem 2. Weltkrieg in den Griff zu kriegen.<br />

c) Krise des Fordismus<br />

Der Taylorismus als ProduktionsprozeB des Fordismus hat zur zentralen Achse die Maxi-.<br />

rnierung der Zeit-Okonomie. Diese ist an die Grenze der psycho-sozialen Belastbarkeit<br />

gestoBen, mit der Folge, daB sich der Klassenkampf als Abwehrkampf gegen diesen ArbeitsprozeB<br />

ab 1968 verscharft hat. Zudem konnte der Massenkonsum nicht mehr<br />

der Form erhOht werden, daB die kobarente E~twicklung zwischen Abt. I unci II hatte<br />

aufrechterhalten werden konnen. Die erhOhten Anforderungen an den kollektiven<br />

Konsum haben durch das Ansteigen des indirekten Lohn,anteils entweder den Massenkonsum<br />

eingeschrankt oder die Profltrate gesenkt. Der Klassenkampf hat sich insofern<br />

erweitert, als der kollektiveKonsum selbst zu dessen Objektwurde (Gesundheit, Umwelt, .<br />

Beteiligung an staatlichen Entscheidungen, Atomenergie ... ). Diese Faktoren haben zu<br />

einem qualitativen Einbruch, zur Krise des Fordismus gefUhrt. Diese Krise ist auch eine<br />

Krise des Aufschwungmodells nach dem 2. Weltkrieg. Die heutige Krise ist also nicht .'<br />

nur eine Verwertungskrise, sondern auch eine Krise des Arbeits- und Reproduktionspro-;<br />

zesses.<br />

Diese - hier abstrakt gefUhrte - Bestimmung der Krise ist in der franzosischen Debatte ausfUhrlich<br />

empirisch belegt worden (Aglietta 1978 I und II, Granou u.a. 1979, de Bernis<br />

1978). Der kapitalitische Ausweg aus der heutigen Weltwirtschaftskrise wrde zu einem<br />

neuen, dominanten ProduktionsprozeB fUhren (»Neo-Fordismus«),l1 der zwei wesentliche<br />

Momente beinhalten wrde:<br />

voll-automatische Produktion mit halb-autonomen Arbeitsgruppen und einer neuen<br />

dominanten Produktionsnorm - der Kontrolle - die von der Kapitalseite aus objektivierbarer<br />

ware als die alte Zeit-Norm. Die Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit<br />

und Kapital wrde sich insbesondere an der Kontrolle uber die Information, die das<br />

Mittel der neuen Norm ware, entziinden. Hier ist ein unmittelbarer Zus?-1Ilmenhang zu<br />

Neuere franzosische Internationalisierungstheorien 149


mem polltologischen Theorien tiber neue autoritlire Staatstendenzen gegeben (Poulantzas<br />

1978, Fach 1978, Esser I Fach 1979);<br />

weitgehende Privatisierung der kollektiven Konsumbereiche bzw. Durchdringung mit<br />

Waren in den (noch staatlichen) Bereichen (Beispiel ist die .Maschinisierung« des Ge-<br />

.' sundheitswesens).<br />

'Bin solcher n~uer dominanter Produktions- und Reproduktionsprozefi ist bis heute noch<br />

in Sicht. Ein einsetzender Aufschwung wiirde bedeuten, eine stabile Strategie des<br />

der Massenarbeitslosigkeit zu entwickeln (vgl. Junne 1979).<br />

Theorie der Reproduktion der dominanten 6konomie muB m.E. in zwei Berei­<br />

. chen weiterentwickelt werden:<br />

Die Krise des Arbeitsprozesses muB vertieft als Krise der produktiven Arbeit hergeleitet<br />

werden;<br />

die Staatsfunktionen sind von den franzosischen Polit-6konomen im Rahmen der Reproduktionstheorie<br />

nur rudimentiir infrastrukturell behandelt worden. Hier muBten<br />

die neueren wesentlichen staatstheoretischen Arbeiten (de Brunhoff 1976, Poulantzas<br />

1976, 1978) berucksichtigt werden.<br />

Verilnderungen in den kapitalistischen Konku"enzverhiiltnissen<br />

Ich werde im folgenden - thesenartig - die dem Fordismus adaquaten Regulationsmechanismen·darstellen.<br />

Veranderungen des Reproduktionsprozesses werden uber die. Konkurrenz<br />

.. als Bewegungsform vermittelt. Zentraler Ausgangspunkt ist bei Aglietta (1976) die Oberleguhg,<br />

daB Krisen durch eine massive Entwertung von flXem Kapital eine Voraussetzung fur<br />

die Restrukturierung des Produktionsapparates schaffen. Die Kapitalentwertung ist einer­<br />

{leits ein wesentliches Instrument d~r Regulation und andererseits Ausdruck der verkehrten<br />

Form der Vergesellschaftung.<br />

(4) Konzentration und Zentralisation des Kapitals<br />

Konzentration und Zentralisation sind Folge der Entwicklung der Kapitalverwertung. Der<br />

Fordismus fuhrt durch den groBen Anteil von flXem Kapital zu folgenden Besonderheiten:<br />

Produktions- und Konsumweise rnussen in einern bestirnrnten AusrnaB stabil und kontinuierlich<br />

sein. Krisen wie die groBe Depression 1929 wiirden zu so tiefen Einbruchen<br />

fumen, ,daB die Reproduktion selbst infrage gestellt ware. Dernentsprechend entstand<br />

eine neue strukturelle Regulierung der Kapitalverwertung: die Kapitalentwertung wird<br />

geplant und - urn das ubereinstirnrnen irn Wachsturn von Abt. I und II zu erreichen -<br />

beschleunigt;<br />

die disponible Finanzrnasse eines Unternehrnens wird darnit die zentrale Waffe im<br />

Konkurrenzkampf.<br />

'<br />

b) Durchschnittsprofitrate und Konku"enz .<br />

Der Mehrwert wird unter den Bedingungen des Konkurrenzkapitalismus durch das Gesetz<br />

des tendenziellen Falls der Profitrate innerhalb der Branche und des Ausgleichs der Profitraten<br />

zwischen den Branchen unter bestimmten Annahmen verteilt (vgl. zu Profitratenproblematik<br />

Deleplace 1979). Durch die dem Fordismus entsprechende Form des GroB-Betriebs<br />

(horizoni:ale und vertikale Integration, Flexibilitat durch Zulieferung) wird tendenziell<br />

das Ausgleichs-Gesetz durch eine Differenzierung der Profitraten auBerkraft gesetzt.<br />

Utsachen dieser D#erenzierung sind:<br />

150 Marcel Buhler


Grofi-Unternehmen, die ganze Produktionsketten integriert haben, konnen den Ort<br />

der Gebrauchswert-Produktion und def Verwertung trennen (Filialproduktion, Transferpreise)<br />

;<br />

Einrichtung von Markteintrittsbarrieren;<br />

Unterschiedlich geplante Kapitalentwertungen in den diversen Konzernbereichen;<br />

Technische Produktionsnormen und okonomische Tauschvorschriften, die zumindest<br />

die Konkurrenz auf dem nationalen Markt erschweren. Der Kampf urn Normen ist insofern<br />

wichtig, als die fordistische Massenproduktion nut durch eine Normierung und<br />

Standardisierung de! Produktion moglich war. Diese eminente Bedeutung der Normen<br />

ist am Beispiel def amerikanischen Automobilzulassungsvorschriften klar geworden.<br />

Die dargestellten fordistischen Regulationsformen der Kapitalverwertung haben<br />

wesentlich zum langandauernden Aufschwung der Profitiaten der Grofikonzerne<br />

den USA nach dem 2. Weltkrieg beigetragen (vgl. die ausfuhrlichen empirischen Untersuchungen<br />

von Aglietta (1976) und Andn;{f (1976).<br />

Monetares System, Inflation, Kn'se<br />

Bleibt zu entwickeln, wie sich die der kapitalistischen Entwicklung immanenten Widerspruche<br />

auf dem fordistischen Feld def Regulation kn'senhaft durchsetzen konnten. Der<br />

Fordismus hat auch zu einer weiteren Entfaltung des Kredit- und Bankensystems gefuhrt.<br />

National wie international wurde durch das Zentralbanksystem und das Bretton-Woods­<br />

Abkommen das Wahrungssystem stabilisiert. Die fordistische Form der Vermeidung von<br />

Kapitalentwertungskrisen (geplante und beschleunigte Veraltung des Kapitals) ist widerspruchlich<br />

und fuhrt zu Geldentwertungskrisen: Inflation. Dutch die geplante Veraltung<br />

des flxen Kapitals werden standig Waren mit hoheren Produktpreisen auf den Markt geworfen,<br />

als tatsachlich an Wert im Produktionsprozefi ubertragen worden ist. Da in letztet<br />

Instam nur das real Produzierte als Einkommen verteilt werden kann, kann die Lucke nut<br />

gefullt werden dutch Entwertung des allgemeinen Aquivalents: Geld. Ein weiterer krisenhafter<br />

Prozefi ist in de! dem Fordismus immanenten Tendenz des Ansteigens unproduktivet<br />

Arbeit durch den kollektiven Konsum zu sehen. Ein drittes Moment def Krise ist eine<br />

mogliche Disproportionalitat des Wachstums von Abt. I und II; def Konsumsektor kann<br />

nicht mehr die Produktivitatsfortschritte von Abt. I ubernehmen. Die Verbindung dieser<br />

Faktoren fuhren zur Krise, die notwendig national wie international als Finanzkrise auftritt.<br />

Diese speziflsche Erscheinungsform druckt das dominante Moment def Geldentwertungskrise<br />

aus. Dutch den inflationaren ProzeB konnte also eine traditionelle Kapitalentwertungskrise<br />

hinausgezogert werden, bei strukturellem Ungleichgewicht zwischen Abt. I<br />

und II bricht jedoch eine Finanzkrise als Erscheinung der beschleunigten Kapitalentwertung<br />

hervor. ,<br />

Diese Analyse def Regulationsformen und krisenhaften Einbruche der dominanten Okonomie<br />

ist auch die erste Stufe def Internationalisierungstheorie, die im folgenden dargestellt<br />

wild.<br />

Nach der Bestimmung der wesentlichen Grundzuge der neuen Reproduktionsstruktur in<br />

den dominanten Okonomien, werden nunmehr die darauf aufbauenden spezifischen For-<br />

Neuere jranzosische Internationalisierungstheorien 151


men der Intetnationalisierung en~icke1t .. Auch hier sind zwei Analyseebenen Zu unter-<br />

'scheiden: .<br />

a)Kapitalverwertung als Bewegungsform in der Konkurrenz von Einzelkapitalien und der<br />

Branche aufdem Weltmarkt,<br />

'b) Internationale Arbeitsteilung als hierarchische Kette ungleicher Enrwicklung nationaler<br />

ProduktionssystemeI Gesellschaftsformationen. Die Kategorie des »Weltmarktes« ist zu<br />

eng, um die iAt el'fassen zu konnen. Die bisher entwickelte Theorie der veranderten Reproduktionsstruktqr<br />

mufi nunmehr auf der internationalen Ebene dargestellt werden. Die<br />

~olIlplexitat der hier zu berucksichtigenden Phiinomene ruhrt zwangslaufig zu einer mehr<br />

formellen, an Beispielen orientierten Darstellung.<br />

,3.1. Konku"enz auf dem Weltmarkt<br />

Die traditionelle Internationalisierungstheorie hat die Analyse der Formen der Konkurrenz<br />

auf dem Weltrnarkt auf die traditionellen Kategorien »Profit, Extraprofit, Konzentration/Zentralisation<br />

... « beschrankt. Dabei wurden neue Formen der Konkurrenz nicht<br />

beriicksichtigt, die m.E. gerade in der heutigen Phase der ICapitalistischen Entwicklung dominant'sind.<br />

Der Taylorismus als Arbeitsprozefi des Fordismus hat durch die Standardisierung<br />

des Arbeitsprozesses auch zu standardisierten und vergleichbaren Arbeitsproduktivitatengeruhrt.<br />

Wesenclicher Inhalt der internationalen Konkurrenz innerhalb einer<br />

"Branche wird der Kampf um die Fesdegung der ruhrenden Arbeitsproduktivititt. Der Konkurtenzkampf<br />

wird dadurch technisch und arbeitsorganisatorisch normiert. Diese neue Form<br />

" derinternationalen Konkurrenz konnte bei der Stahlkrise festgestellt werden: Kriterium<br />

dec Schliefiung von Fabriken war zuallererst die internationale Produktivitatsnorm (Tonne<br />

Stahl pro Arbeitsstun'de), wahrend die Produktivitatstechnik selbst weitgehend standardi­<br />

,lSiert ist. Die Internationalisierung der Arbeitsproduktivitat ist die Erscheinung der Durchsetzung<br />

des Taylorismus als dominantem Produktionsprozefi auf dem Weltrnarkt. Es ist<br />

klar, daB das Ziel dieser Strategie die Erzielung von Durchschnitts- und Extraprofiten darstellt.<br />

Auf diesem Ansatz aufbauend konnen konkrete Internationalisierungsanalysen innerhalb<br />

der Branche und rur das Einzelkapital durchgeruhrt werden. Besonderes Gewicht wird in<br />

Frankreich auf die· genaue empirische Untersuchung der Internationalisierung des Kreislaufs<br />

des produktt'ven Kapitals als neue Form gelegt: Die Auslagerung von Produktionsstatten<br />

in abhiingige Lander der Dritten Welt als Teil dieser Strategie kann nicht ausreichend<br />

mit der Profitrnaximierung erklart werden. Der Prozefi ist historisch bedingt und verlangt<br />

eine tiefere AnalYse. Die Auslagerung wird iiberwiegend innerhalb einer komplexen Produktionskette<br />

vorgenommen (Produktion von Micro-Chips in Siidasien beispielsweise als<br />

Teil del' Computerproduktion in den USA). Damit dies iiberhaupt stattfinden kann, mufi<br />

der gesamte Produktionsprozefi zerlegbar und soweit standardisierbar sein, daB die Ergebnisse<br />

der einzelnen Produktionssegmente an einem zentralen Ort auch zu der Ware kombi­<br />

"niert werden konnen. Erst der Taylorismus schafft die produktionstechnischen Vorausset­<br />

. zungen, um das produktive Kapital innerhalb einer komplexen Produktionskette interna­<br />

"tionalisieren zu konnen.<br />

Marcel Buhler


3.2. Internationale Arbeitsteilung und nationale Reproduktion<br />

Die kapitalistische Entwicklung strukturiert in ihrer jeweils konkret-historischen Formdie>'~~<br />

nationale Reproduktion in doppelter Weise: die stofflichen Produktionszusammenhange


duktionssysteme als Ergebnis des internationalen Konkurrenzkampfs wird spater untersucht.<br />

Wesentlich ist hier, daB die Internacionalisierung des Fordismus nlcht nur die<br />

Durchsetzung speziflscher Produktions-, sondern auch spezillscher Reproduktionsnormen<br />

bedeutet. Immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens werden »amerikanisiert«.<br />

»Waldlauf« wurde als Gesundbetersport abgetan, erst als »Jogging« mit neuen Massenkonsumwaren<br />

popular gemacht wurde, wurde daraus ein amerikanisierter Volkssport. Die gesellschafdiche<br />

Breite und Tiefe der fordistischen Durchdringung ist dn wesendiches Element<br />

dner genaueren Trennung zwischen herrschenden und abhangigen Gesellschaftsformacionen<br />

(z.B. Massenkonsum/Luxuskonsum).<br />

Ein anderes, wesentliches Phanomen der kapitalistischen Entwicklung ist noch nicht betrachtet<br />

worden: die nationalen Produktionssysteme funktionieren unterschiedlich, zwischen<br />

ihnen sind einseicige Spezialisierungsprozesse festzustellen. Diese sind wiederum fur<br />

die beiden strukturell unterschiedlichen Blocke verschieden zu untersuehen:<br />

In den imperialistischen Undern hat def Fordismus zu einer Veranderung def produktionstechnisehen<br />

Zusammenhange def Abtdlungen gefuhrt. Die Banalisierung und Standardisierung<br />

des Produktionsprozesses fur den Massenkonsum hat die teehnischen Anforderungen<br />

an die Produktionsmittel erheblich vergroBtert. Es kann empiriseh gezeigt werden (Palloix<br />

1977), daB die relative Dominanz des US-Kapitalismus genau in der hOchst-entwickelten,<br />

nationalen Kontrolle Uber die technologisch fortschrittlichsten Bereiche def Produkcion<br />

fur Produktionsmittel besteht. Diese produktionstechnisch entscheidenden Bereiche,<br />

die imwesentlichen die internationale Produktivitatsnorm festlegen, werden in def framosischen<br />

Theorie »strategische Knotenpunkte« genannt. Die Position in der Hierarchie der<br />

kapitalistischen Industrielander witd wesentlich dutch die nationale, relativ autonome<br />

Konrrolle der strategischen Knotenpunkte bestimmt. 12 Natiirlich muB dieser industrielle<br />

Ansatz, der okonomische Monopolsituationen berucksichtigen kann, erweitert werden.<br />

Hierbei wird sicherlich die Analyse des jeweiligen Niveaus des Klassenkampfs eine wesent·<br />

liehe Rolle spielen.<br />

In Bezug auf die abhiingigen Under mufi das Kriterium def Breite und Tiefe des fordistischen<br />

Eindringens empirisch gefullt werden. Der Fotdismus hat offensichtlich die wesentlichen<br />

ZUge def abhangigen Reproduktion (Fehlen eines strukturell-organischen Zusammenhangs<br />

der Reproduktionsabteilungen, Verzerrung bzw. Zerstorung vorkapitalistischer<br />

Produktionsverhaltnisse) nicht aufgehoben, sondern hOchstens modillziert und differenziert.<br />

Ein Beispiel: Die Ansiedelung eines modernen, auslandischen Produktionsberriebes<br />

in dnem abhangigen Land kann fur die nationale Produktionsstruktur die Einrichtung eines<br />

isolierten Produktionssegments bedeuten, daE dessen Produktion weder den nacionalen<br />

Bedurfnissen entspricht, noch solche Verflechtungseffekte hat, daB das nationale Reproduktionsniveau<br />

erhoht wild. Die Internationalisierung def Konsumnorm hat in den abhangigen<br />

Landem eine strukturell andere Dimension: sie ist Grundlage des Luxuskonsums<br />

def stadtisehen Bourgeoisie oder Elite.<br />

b) Internationale Arbeitsteilung<br />

Generell wird die iAt als Hierarchie nationaler Okonomien unter der Dominanz der US­<br />

Okonomie verstanden. Sie wird von folgenden Ausgangspunkten her analysiert (nach Pal­<br />

Ioix1977, S. 197 ff.):<br />

- die nationale Reproduktion geht in allen kapitalistisehen Landem nicht eigenstandig<br />

und autonom vor sich, sondem als Teil def kapitalistischen Produktionsweise auf Weltebene;<br />

154 Marcel Buhler


- die' iAt kaon -wie dargestellt - nicht ubet die traditionelle Analyseebehe' der<br />

che/Kapitalvetwertung der Einzelkapitale erfa£t werden. Vielmehr mussen svs1telIla"":~<br />

tisch die Ruckwirkungen der Vetwertungsstrategie auf die jeweils nationale Kepre)dllk"<br />

tion untersucht werden.<br />

Die iAt kannauf dieser methodologischen Basis als abgestuftes System nationaler Uk.ojjj:;i~';,i<br />

mie yom Grad der »autonomen« Kontrolle des Reproduktionsprozesses her be:5wnnlt<br />

Diese »interne« Kontrolle setzt eine jeweils relative Koharenz der mternen JS..l:ilSsc~nt)tilJl.<br />

se und des Verhaltnisses der Reproduktionsabteilungen voraus. In der Bewegung nach<br />

ten, zu den Landern der Dritten Welt, wird die mterne Koharenz zunehmend von<br />

durch die dommanten Okonomien defmiert. In dieser Bewegung werden die na1t1011alc!Il·,<br />

Produktionssysteme zunehmend differenziert und polarisiert. Dieser formale Rahm~lI<br />

mull im niichsten Schritt empirisch gefiillt werden. Besonders schwierig ist dabei die klas.. .'<br />

senmafiige Bestimmung. In Anknupfung an die Arbeit von Poulantzas (1975) wirddie<br />

speziftsche Klassenkonstellation im herrschenden Machtblock abhangiger Gesellschafts~,<br />

formationen als Bundnis von Kompradorenbourgeoisie und nationaler Bourgeoisie ent-·<br />

wickelt.<br />

Indem die nationale Kontrolle strategischer Knotenpunkte emerseits, die strukturelleDe."<br />

formation abhangiger, nationaler Reproduktionsstrukturen andererseits als zentrale Kate •.<br />

gorien der Analyse der iAt entwickelt wurden, ist es moglich, die iAt unter BeriicksicntV.<br />

gung neuer Phanomene zu untersuchen. Em Beispiel: Eine entwicklungspolitische Strate-.'<br />

gie besteht darin, schlusselfertige Fabriken von multinationalen Konzernen zu etwerben.<br />

und nach der Erstellung unter nationaler Kontrolle laufen zu lassen. Dadurch solI eioe<br />

'fortschrittliche Technologie unter Begrenzung des Einflusses der multmationalen r...


Anmerkungen<br />

1m Reader von Deubner u.a. (1979) sind die wichtigsten Texte in tibersetzter Form enthalten, ieh<br />

werde hier diese These nur kurz diskutieren.<br />

2 C. Deubner (1979) hat Stand und Perspektiven def Internationalisierungsauseinandersetzung in<br />

der traditionellen Linken der BRD analysiert.<br />

3 Zur genauen Einschatzung vgl. Rehfeldt in Deubner u.a. (1979). 1eh mochte darauf hinweisen,<br />

daB die Diskussion mit]. Esser, W. Fach, G. Junne, U. Ludwig, U. Rehfeldt, F. Schlupp und G.<br />

Simonis wesentlicher Bestandteil def Ausarbeitung dieses Beitrags waren.<br />

4 vgl. das Lehrbueh von Destanne de Bernis/M. Bye (1977) oder den interdisziplinaren Reader von<br />

Coquery-Vidrovitch (1978), oder die Arbeiten von Claude Meillassoux (z.B. 1978).<br />

5 G = Geldkapital, W = Warenkapital, PM = Produktionsmittel, AK = Arbeitskrafte, P = Produktivkapital,<br />

W' = um den Me!hwert erhohtes Warenkapital.<br />

6 vgl. zur Aufarbeitung def Diskussion def »Klassiker« Michalet 1976.<br />

7 Es kann hier nicht die historische Entwicklung der Hegemonieposition def USA (vgl. Aglietta<br />

1976) und deren aktuell geschwachte Position (vgl. Aglietta/Fouet 1978) dargestellt werden - von<br />

de! Hegemonic der USA nach dem zweiten Weltkrieg und damit von de! Hegemonie tiber die<br />

langanhaltende Aufschwungphase des Kapitalismus kann sicherlich ausgegangen werden.<br />

8 DeI Ansatz, die kapitalistische Entwicklung mit dem Begriffspaar »Regulation« und »Krise« zu erfassen,<br />

ist def gesamten »Grenobler-Schule« (de Bernis, Palloix, Aglietta, Judet u.a.) gemeinsam.<br />

Theoriegeschichtlich geht dies auf den »Hierarchie«-Ansatz von Perroux und WeiHer wrUck.<br />

9 Wie jede Dominanz ist diese ein Verhaltnis, d.h. Ausdruck einer Kraftekonstellation, die widersprUchlieh<br />

und flexibel ist.<br />

10 Dieses ausgegliehene Wachstum wird als »strukturell koharent« bezeichnet. De! gleiche Begriff<br />

wird auch fUr die Verbindung beider Abteilungen in einer nationalen Gesellschaftsformation unter<br />

relativ autonomer Kontwlle verwendet, was sicherlich nicht nur ZUI Klarheit beitragt.<br />

11 Die folgenden AusfUhrungen sind sicherlich sehr spekulativ. Eine originelle Riehtung in Frankreich<br />

besteht darin, Spekulationen zuzulassen, denn nach den diversen Prognosen tiber den Zusammenbrueh<br />

des Kapitalismus sind Uberlegungen tiber das relative Stabilitatspotential mehr als<br />

nut legitim.<br />

12 Schlupp (1979) zeigt, wie mit diesem Ansatz die unterschiedliche Position def BRD gegentiber<br />

Frankreieh erklart werden kann.<br />

Litel"atu,'<br />

Aglictta, Michel (1978 I): Role du Dollar et hegemonie financzere des Etas- Unis; in: Economic et Statistique,<br />

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Reiffefs (1978)<br />

dets.: (1976): Regulation et crises du capitalisme americain; Paris, Calmann-Levy 1976 (auf<br />

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Amin, Samir (1979): De "avenir des relations economiques internationales, in: Dossier FIPAD 6,<br />

avril 1979, Nyon 1979<br />

Andreff, W.: (1976): Profits et structure du capitalisme mondial, Paris, Calmann-Levy 1976<br />

156 Marcel Buhler


,-, ,," > \<br />

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ders.: (1980 I): Theorie du Developpement et Nouvel Ordre economique international, in: Dos;<br />

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Brunhoff, Suzanne (1976 2 ): Etat et Capital, PUG I Maspero, Paris 1976,<br />

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4!s Cahiers Franl;ais, No 191: Le Commerce international, mai-juin 1979, Paris 1979<br />

Les Cahiers Fran~ais, No 192: Redeploiement au protectionisme?, juillet-sept. 1979, Paris 1979<br />

'CEDETIM (1978): L 'imperialisme franfais, Maspero, Paris 1978<br />

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10/78, Paris 1978<br />

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Destanne de Bemis, G. (1978): Les firmes tramnationales, in: Greffe I Reiffers (1978)<br />

ders. mit M. Bye (1977): Relatiom economiques internationales,Paris, Dalloz 1977<br />

Deubner, Christian (1979): Internationalisierungals Problem alternativer Wirtschaftspolitik, in:<br />

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Esser I Fach I ]unne I Schlupp I Simonis (1979): Das »Modell Deutschland« und seine Konstruk­<br />

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Esser,].; Fach, W. (1979): Internationale Konkurrenz und selektiver Korporationismus, Manuskript,<br />

Konstanz 1979, i.E.<br />

Fach, W. (1978): Souveriinitiit undTerror, in: Leviathan 3/1978<br />

Gramsci, A. (1967): Amerikanismus und Fordismus, in: Philosophie der Praxis, Frankfurt aIM 1967,<br />

367 ff ..<br />

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Greffe, X., Reiffers, X.-L., (1978): L'Occident en desarroi, ruptures d'un systeme economique, .<br />

Dunod, Paris 1978<br />

Gresi (1976): Etudes politiques industrielles - La division internal. du travail, Tome 1 e12, P.aris - La<br />

documentation fran~aise 1976<br />

Hirsch,]. (1979): Der 'nationale Sicherheitsstaat'; Frankfurt 1981<br />

Infoimationen iiber Multinatione Konzerne, 3/79, Wien 1979<br />

Informationszentrum Dritte Welt Freiburg (1978): Entwicklungspolitik - Hilfe oder Ausbeutung,<br />

Freiburg 1978<br />

]unne, Gerd (1979): Internationaliszerung und Arbeitslosigkeit, in: Leviathan 1/1979<br />

]udet, Pierre (1979): L 'economie algerienne et la logique de l'independance, in: Le Monde Diplomatique,<br />

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22.1.1980, P. 26<br />

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Maire, Edmond (1978): Pour un nouvelordre economique mondial, in: Le Monde Diplomatique,.<br />

Novembre 1978, ·S. 14<br />

Mandel, Ernest (1978): La Crise 1974 - 1978, Paris Flammarion 1978<br />

MeilltlSsoux, Claude (1978): Modalites historiques de I'exploitation et de la surexploitation, in:<br />

Coquery-Vidrovitch 1978<br />

'Michalet (1976), Ie capitalisme mondiale, PUF, Paris 197~<br />

Le Monde - Annee social et economique 1978, Paris 1979<br />

'0 N'euere franzosische Internationalisierungstheonen<br />

,ft " %<br />

157


Palloix, Christian (1978 I): Travail et production, Paris Maspero 1978<br />

defs. (1978 II): La crise du mode de production capitalisle, in: Greffe 1 Reiffers 1978<br />

clefs. (1977): Proces de Production et Crise, PUG 1 Maspero 1977<br />

defs. (1975): L'internationalisation du Capital, Ma sero 1975,<br />

defs, (1979): Les jirmes transnationaies d'origine franfaises imp/anties dans Ie Tiers Monde et<br />

i'economie du credit internationa!; in: Beaud u.a. (1979)<br />

Penouil, Marc (1979): Socio-economie dtt sous-deveioppement, Paris Dallos 1979<br />

Peroux und Weiler (FN 8) - vgL die Theoriegeschichte in: de Bemis (1977)<br />

Poulantzas, Nicos (1978): L 'etat, Ie pouvoir, Ie socialisme, PUF, Paris 1978<br />

ders., (1976): La Crise de /'etat, PUF, Paris 1976<br />

ders., (1975): La Crise des Dietalures, Masper~ 1 Seuil1975<br />

Schlupp, Frieder (1979): Internationalisierung und Krise - das »Modeli Deutschland« im metropolitanen<br />

Kapitalismus in: Leviathan l' 11979<br />

Georg (1979): Die Bundesrepublik und die neue internationale Arbeitsteilung, in: Leviathan<br />

1/1979<br />

Strahm, R., (1975): Uberentwicklung - Unterentwicklung, Lactare Verlag, Stein b/Nurnberg 1975 a<br />

United Nations (1978): Transnational Corporations in World-Development, a fe-examination, New<br />

York 1978<br />

United Nations (1973): Multinational Co prorations in World Development, New York 1973<br />

UNIDO (1979): World Industry since 1960: Progress and Prospects, Wien 1979<br />

UNCTAD (1978): Transfer of Technology - Its Implication for development and Environment, New<br />

York 1978<br />

World Bank Atlas 1979<br />

World Bank (1979): World Economic and Social Indicators, April 1979<br />

Ziebura, Gilbert (1979): Neue internationale Wirtschaftsordnung und neue internationale Arbeitsteilung<br />

- ein unaufhebbarer Widerspruch?, in: Vereinte Nationen 9/79, S. 167 ff.<br />

Das Literaturverzeichnis enthiilt Angaben zu einem empirischen Teil, der nicht abgedtuckt werden<br />

konnte, er kann beim Verfasser angefordert werden:<br />

Marcel Buhler, Gaisbergstr. 47, CH-8280 Kreuzlingen (Schweiz)<br />

158<br />

Marcel Buhler


Ein Such, das Eingriffe ins Denken und Handeln provoziert:<br />

Automationsarbeit:<br />

Empirische Untersuchungen, Tei! 3<br />

Projektgruppe Automation und Qualifikation Band VI<br />

(AS 67: ISBN 3-88619-005-6)<br />

206 S.: 15,50 OM (f. Stud. 12,80)<br />

Private Vergesellschaftung nennen wirden Widerspruch: eine Produktion, die immer noch Privatbesitz<br />

ist und zugleich nur noch gesellschaftlich. Die Anstrengungen der Unternehmer sind<br />

enorm. Wie im Wettlauf von Hase und Igel sind sie schon immer da. Je mehr Kenntnisse, je<br />

mehr Verantwortlichkeit, je mehr Durchblick die Arbeitenden haben, desto sicherer sind schon<br />

die Auffangsstrategien geplant. Wie die Arbeitenden sich in die Widerspruche verwickeln und<br />

das Private fOr Gesellschaftliches halten und umgekehrt, sind keine spitzfindigen Untersuchungen,<br />

die bedeutungslos sind gegenuber den Problemen der Arbeitslosigkeit und von dem nachsten<br />

Arbeitskampf uberholt werden. Gewerkschaftliche Gegenstrategien sind nicht einmal<br />

mehr defensiv, wenn sie nicht kennen, worauf sie reagieren. Wie die Unternehmer das Problem<br />

.Iosen, Lohnarbeiter automatisiert produzieren zu lassen, und wie sie eigene Strategien<br />

des Umgangs mit dem Neuen bauen, ist Gegenstand dieses Bandes.<br />

In dieser Reihe bereits erschienen:<br />

Band I: Automation in der BRD<br />

Entwicklung der Produklivital, Arbeitskraftestruktur und Staatstatigkeit; Genese der Automation; Ausbreitung<br />

der Datenverarbeitung; Automation in Verwaltung, Handel und Bankwesen; Automation in der Produktion<br />

)} ... daB sich die Studie durch eine FOlie statistischen und empirischen Materials auszeichnet, weil das fOr<br />

jeden von Bedeutung ist, der sich mit dem Komplex Automation beschaftigt.« (R. Katzenstein in: Blatter<br />

fOr deutsche u. intern. Politik 12/75)<br />

(AS 7: ISBN 3-920037-15-4) 18,50 DM (I. Stud. 15,00)<br />

Band II: Enlwicklung der ArbeitsUiiigkeiten und die Methode ihrer Erfassllng<br />

Entwicklung der menschlichen Arbeit, Entwicklung der Lohnarbeitstatigkeiten, exemplarische Analyse<br />

des Spinnens, Leitfragen fOr die Analyse der Automationsarbeit<br />

)} ... ist der Band weit Ober den Kreis der Industriesoziologen hinaus zu empfehlen - die Verwendung fOr<br />

Schule oder gewerkschaftliche Bildungsarbeit bielet sich geradezu an.« (Kaspar Maase in: Deutsche<br />

Volkszeitung 12/79)<br />

(AS 19: ISBN 3-920037-90-1) 15,50 DM (I. Stud. 12,80)<br />

Band III: Theorien iiber Alliomalionsarbeit<br />

Qualifikation, Kooperation, Autonomie; Positionen zur Entwicklung der Automationsarbeit; Tabellarischer<br />

Oberblick Ober Untersuchungen zur Automationsarbeit<br />

»Parteilichkeit der Wissenschaft heil3t hier konkret, nicht erneut das Alte, Negative zu beschreiben, sondern<br />

den Versuch zu wagen, Ansatze fOr einen positiven Gesellschaftsentwurf zu entwickeln.« (Christiane<br />

PreiB in: Nachrichten 8/79)<br />

(AS 31: ISBN 3-920037-51-0) 15,50 DM (I. Stud. 12,80)<br />

Band IV: Automationsarooil: Empirische Untersuchungen, Tei! 1<br />

Oberlegungen zu einer inhaltlichen Methode; Neue Produktionsstrukturen: Berufe, Arbeitsplatze, Innovation,<br />

Produktivkraft Automation, Anforderungsstruktur; Vergesellschaftung der Privaten: Aneignung, Kollektivitat<br />

»Oie wissenschaftliche Diskussion und Auseinandersetzung um die Entwicklungstendenzen der menschlichen<br />

Arbeit erMlt durch die vorliegende Studie zahlreiche neue Impulse.« (Reinhard Bispinck in: WSI­<br />

Mitteilungen 12180)<br />

(AS 43: ISBN 3-920037-12-X) 15,50 OM (I. Stud. 12,80)<br />

Band V: Automalionsarbeil: Empirische Untersuchungen, Teil 2<br />

Vergesellschaftung der Privaten: Kommunikation, Abstraktion und Anschauung, die Qualitat der Zeit, Tugenden<br />

der Facharbeiter, Nachdenken Ober den Gebrauch der Dinge, Kooperationslernen<br />

(AS 55: ISBN 3-88619-004-8) 15,50 DM (f. Stud. 12,80)<br />

Argument-Verlag, Tegeler Str. 6, D·1000 Tel.: 030/4619061


RblbllCh'<br />

Mary Kaldot<br />

Riistungsbarock,<br />

Das Arsenal der Zerstiirung<br />

und das Ende der<br />

militarischen Techno-Logik<br />

Aus dem Englischen von<br />

Ulrich Albrecht und Niels Kadritzke<br />

Rotbuch238<br />

192 Seiten . DM 14 (Abo 13)<br />

Das Buch von Mary Kaldor untersucht<br />

nicht, warum geriistet wird, sondern<br />

aufwelche Weise. Die Verselbstandigung<br />

der Riistungsproduktion,<br />

die AblOsung von der Frage, wozu<br />

Waffen gebraucht werden, tritt damit<br />

umso deutlicher zutage. Aufgrund<br />

langjahriger Forschungsarbeiten<br />

kommt die Autorin zu ihrer These<br />

von der »barocken« Riistungs6konomie:<br />

Riistung ist erstarrt zur HerrschaftsgetJarde,<br />

die imponieren und<br />

einschiichtern soli. Dabei sind die<br />

Waffensysteme nur noch technizistische<br />

»Fortschreibungen« von<br />

angeblich iiberholten System en.<br />

Immer gr6Berer technologischer<br />

Aufwand fiihrt zu immer kleiheren<br />

Veranderungen. Immer mehr qualifizierte<br />

menschliche Arbeitskraft wird<br />

in Herstellung und Bedienung von<br />

Waffen gebunden. Immer apokalyp­<br />

>tischer werden die Szenarios ihrer<br />

»Bewahrung«.<br />

Die'Autorin analysiert abet' auch die '<br />

,»erfreulichen« Erscheinungen dieser<br />

Krise: die Waffen werden immer<br />

anf~l1iger, das »,Berufsbild« der Soldaten<br />

immer spezialistischer, ihie<br />

4»Motivation« briichiger, ihre Disziplin<br />

schwacher.<br />

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