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„Das Wesen der Zeit ist das Maß des Gewordenen und eine ...

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DAS WESEN DER ZEIT –SYMPOSIUMSVORTRAG – 09/07– JANINE CHRISTGEN<br />

6<br />

- JANINE CHRISTGEN<br />

Musikalisch gelingt es Zen<strong>der</strong> den Eindruck <strong>eine</strong>r „heilen Welt“, den Schuberts Musik beim<br />

heutigen Hörer so häufig zu evozieren scheint, gleich zu Beginn durch Kontrastierung zu<br />

brechen. Die drei Gr<strong>und</strong>thematiken <strong>der</strong> Winterreise: <strong>das</strong> Fremdsein, die verschmähte Liebe,<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> Wan<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Dunkelheit werden im ersten Lied <strong>des</strong> Zyklus in ihrer Gesamtheit<br />

exponiert. Wird <strong>der</strong> Zyklus häufig auf die Erfahrung verschmähter Liebe <strong>und</strong> <strong>des</strong> aus ihr<br />

resultierenden Wan<strong>der</strong>ns fälschlicherweise reduziert, so hebt Zen<strong>der</strong> die Wan<strong>der</strong>schaft <strong>und</strong><br />

die Heimatlosigkeit schon in <strong>der</strong> ausgedehnten Einleitung s<strong>eine</strong>r Interpretation hervor. Die<br />

Erfahrung <strong>des</strong> Fremdseins folgt im kontrastierenden zweiten Teil. Dem Hörer wird Schuberts<br />

Werk „fremd“, die gewohnten Klänge d<strong>ist</strong>anzieren sich <strong>und</strong> lassen den Rezipienten „neu“<br />

hören. Der Titel „Gute Nacht“ scheint somit in <strong>der</strong> Verkehrung <strong>des</strong> romantischen Topos zu<br />

<strong>eine</strong>r programmatischen Erfahrung für Wan<strong>der</strong>er <strong>und</strong> Zuhörer zu werden.<br />

Zen<strong>der</strong> beginnt die erste Strophe mit <strong>eine</strong>r r<strong>eine</strong>n Streicherbesetzung, welche den Eindruck<br />

<strong>der</strong> „heilen Welt“ durch die klangliche Assoziation <strong>des</strong> bie<strong>der</strong>meierlichen Streichquartetts<br />

vermittelt. Die zweite Strophe gestaltet Zen<strong>der</strong> durch den Einsatz <strong>der</strong> Klangfarben <strong>des</strong><br />

gesamten Orchesters, bevor die Strophe erneut im vollen Klang <strong>des</strong> Streichquartetts endet.<br />

Dieser Klangcharakter <strong>ist</strong> für Zen<strong>der</strong> die Basis s<strong>eine</strong>r nun beginnenden Kontrastgestaltung:<br />

die Reduktion auf die volkstümlichen Instrumente Gitarre <strong>und</strong> Akkordeon, die bereits alle<br />

naiv liedhaften Assoziationen <strong>des</strong> Rezipienten durch Überhöhung selbiger schwinden lassen,<br />

<strong>und</strong> die Akkordrepetitionen in pochenden Achtelnoten erwecken im Hörer bereits <strong>eine</strong><br />

Vorahnung auf <strong>das</strong> Kommende, <strong>eine</strong> gespannte Haltung, die aus <strong>der</strong> „Ruhe vor dem Sturm“,<br />

welcher in <strong>der</strong> Collage in Takt 131 hervorbricht, resultiert. Melodie, Sprachduktus <strong>und</strong> Satz<br />

werden zerschnitten. Die „heile Welt“ zerbricht. Jetzt gewinnt <strong>der</strong> Zuhörer <strong>eine</strong>n Einblick in<br />

die Innenwelt <strong>des</strong> Wan<strong>der</strong>ers. Der Rezipient soll sich involvieren, emotional affiziert werden.<br />

Ein Entzug aus Zen<strong>der</strong>s radikalem Bruch <strong>ist</strong> kaum möglich. „Lass irre H<strong>und</strong>e heulen vor...“<br />

heißt es im Text, <strong>und</strong> darauf werden alle Beteiligten noch einmal zurückgeworfen. Nun<br />

erscheint die Welt im wahrsten Sinne <strong>des</strong> Wortes „ent-täuschend“. Das chromatisch verfärbte<br />

Thema <strong>ist</strong> dem Hörer ebenso fremd geworden wie dem Wan<strong>der</strong>er die Heimat. Die<br />

onomatopoetische Textausdeutung bringt <strong>das</strong> Heulen <strong>der</strong> irren H<strong>und</strong>e plastisch hervor. In den<br />

folgenden Takten scheint Zen<strong>der</strong> zu dem gewohnten Schubertschen Klangbild zurückkehren<br />

zu wollen, doch we<strong>ist</strong> die erneute Überhöhung mittels <strong>der</strong> <strong>eine</strong> Idylle evozierenden<br />

Instrumentation bereits auf <strong>eine</strong>n weiteren Realitätseinbruch in die „Idylle“ hin. Der<br />

Wan<strong>der</strong>er liebt <strong>das</strong> Wan<strong>der</strong>n nicht, <strong>und</strong> auch die fügende Allmacht Gottes kann ihm als<br />

Begründung für sein Leid nicht genügen. Erneut bricht Zen<strong>der</strong> den musikalischen Fluss

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